Lippenstift, Mascara und Rouge
Ja, es war wiedereinmal einer von diesen Tagen. Joyce, so nannte man sie dort, stand vor dem Spiegel. Sie betrachtete sich für ca. fünf Minuten ohne auch nur eine Bewegung. Dann griff sie endlich zur Bürste, die rechts oben auf dem Frisiertisch lag. Ganz sanft glitt die Bürste durch ihr Feuerrotes, langes, lockiges Haar. Sie legte die Bürste zurück und griff zu ihrem Concealer. Davon trug sie ganz viel unterhalb ihrer Augen auf. Sie hoffte, man würde ihr ihre Müdigkeit nicht ansehen. Die gestrige Nacht hatte sie keine Auge zu getan. Niemand durfte erfahren wie schlecht es ihr ging. Niemand.
Ihre Hand wanderte zu einem kleinen, runden Behälter. Er trug die Aufschrift “Mineral Colours”. Langsam öffnete sie die Schachtel und griff anschließend zu einem großen Pinsel, der neben der Bürste lag. Dieser saugte den Puder förmlich auf. In kleinen Kreisen, verteilte sie den Puder gleichmäßig auf ihre Stirn, ihre Nase und anschließend ihr Kinn. Eigentlich hatte Joyce eine wunderschöne, reine Haut und brauche gar keine Schminke, - das hat er zumindest immer behauptet, als sie Wange an Wange nebeneinander lagen- doch es musste sein. Wenn sie dort war, musste es immer sein.
Sie betrachtete sich ein weiteres Mal lange im Spiegel. Was sie sah schien ihr ganz und gar nicht zu gefallen, doch sie hörte nicht auf sich zu schminken. Sie trug sich Rouge auf die Wangen auf, viel Rouge, keiner sollte merken wie blass sie war, denn eine perfekte Erscheinung war das “A” und “O” ihres Jobs, sie konnte es sich einfach nicht leisten, auch nur einen Makel aufzuweisen. Ihr Chef hatte den Blick für so was, und ihm entging nichts. Erlaubte sie sich nur einen Fehler, wäre dies ihr letzter Tag. So erging es einer ihrer Kolleginnen, sie hatte das ganze Szenario mitverfolgt und dies sollte sich nicht noch einmal bei ihr abspielen... Doch eigentlich wäre es die beste Lösung gefeuert zu werden. Dann würde sie wieder zu ihm zurückkehren können, gleichzeitig abhängig von ihm werden. Das ging nicht.
Bevor sie ihn verlassen hatte, verabschiedete sie sich mit nur drei Sätzen, die sie während er schlief, mit rotem Lippenstift an seinen Badezimmerspiegel schrieb: “Es tut mir leid! Ich liebe dich! Vergiss mich bitte nicht!.” Danach packte sie eines seiner Hemden in ihre braune Ledertasche ein, gab ihm einen kleinen Kuss auf die Wange und schlich zur Haustür, die sie so leise wie möglich hinter sich zu zog. Damit endete alles. Sie hielt es nicht mehr aus ihn zu belügen, oft hatte sie nachgedacht, ihm alles zu beichten. Doch sie war sich sicher, erfuhr er wer sie wirklich war, würde er sie verlassen. Genau wie alle, die sie “liebte“. Als erfolgreicher Anwalt, war sie als seine Freundin, einfach eine Schande für ihn. Nein, das konnte sie ihm nicht an tun.
Fast hätte sie das Klopfen an der Tür überhört, so versunken war sie in ihren Gedanken. “Ja” hörte sie sich sagen. “Ein Kunde ist da Joyce, er hat nach dir gefragt”, sagte die raue Männerstimme an der Tür. “Lass ihm ausrichten, dass ich in fünf Minuten bei ihm bin.”
Schnell holte sie ihren schwarzen Kayal, einen Eyeliner und unechte Wimpern aus einer Schublade heraus. Sie schminkte ihre Augen, klebte sich die unechten Wimpern auf und zog schließlich einen feinen Strich auf ihre Augenlieder.
“Warum muss sich jeder Tag meines verdammten Lebens, immer aufs neue so abspielen? Lange halte ich das Ganze hier nicht mehr aus!”, hörte sie sich sagen. Sie schaute sich wieder im Spiegel an. Es kam ihr vor, als würde sie sich durch fremde Augen betrachten. Sie mochte ihren Anblick ganz und gar nicht. Doch ihr blieb nichts anderes übrig...
Joyce griff zum roten Lippenstift. Sie sah zu, wie sich ihre vollen Lippen langsam rot färbten. Rot: seine Lieblingsfarbe. Er. Patrick. Der Patrick, der ihr zwei Tage zuvor einen Heiratsantrag gemacht hat.
Warum könnte sie sich nicht einfach abschminken und zu ihm laufen? In seine lieblichen Augen blicken, ihm die hellbraunen Haare zerwuscheln, sich in seine Arme werfen und seine Umklammerung fest an ihrem Körper spüren? Er gibt ihr immer das Gefühl von Liebe und Geborgenheit. Er gibt ihr das Gefühl einzigartig und wunderschön zu sein. Er beteuerte mehrmals, wie hübsch sie war- ohne Schminke. Nur er durfte sie ungeschminkt sehen. Nur vor ihm nahm sie ihre Maske ab. Nur er kannte ihr wahres ich, jedoch nicht ihr dunkles Geheimnis.
Alles wäre so einfach, sie dürfte nie wieder hierher kommen, müsste nur zu Patrick, ihm alles beichten und für immer bei ihm bleiben. Ja, so würde sie das machen. Jetzt gleich würde sie ihre Sachen zusammenpacken und zu ihm zurückkehren. Sie stand auf, holte eine große Tasche aus dem Schrank. Sie war gerade dabei ihre Sachen in die Tasche zu werfen, als diese raue Männerstimme wieder zu ihr ins Zimmer drang: “Joyce, der Kunde wartet”. Sie ließ die Tasche fallen, ging zu ihrem Frisiertisch und sprühte sich mit Parfum ein.
Umgeben von einer Parfumwolke und mit ihrer aufgetragenen Maske begab sie sich zur Tür um ihren Kunden zu empfangen. So schnell war ihr Traum geplatzt, so schnell waren ihren guten Vorsätze dahin. Sie wollte das alles eigentlich gar nicht. Doch irgendetwas, tief in ihr, zwang sie dazu und rechtfertigte ihr Tun. Sie hielt sehr an Mary Wollstonecrafts Theorie fest: “Ehe ist legale Prostitution”. Trotz aller Liebe zu Patrick, wollte sie niemals abhängig von einem Mann sein. Würde sie ihren Job hier aufgeben, hätte sie kein Einkommen, wäre Patricks “Eigentum” und auf ihn angewiesen. Doch das wollte sie nicht, sie war eine unabhängige, starke Frau, die Männer von SICH abhängig machte und nicht umgekehrt. Schon als Teenager hat sie diese komischen Tussen, die wegen eines Jungen, der sie verlassen hat, stundenlang geflennt haben gehasst und seitdem schwor sie sich, nie dieses Schicksal teilen zu müssen auch, wenn sie dazu dem Schicksal einen Strich durch die Rechnung ziehen müsste.
Doch bei aller Willenskraft, sie liebte ihn.
Mit glasigen Augen öffnete sie die Tür. Doch als sie ihren Kunden sah erstarrte sie. “Na endlich, der Herr hat lange auf dich gewartet”, sagte die raue Stimme. Doch Joyce reagierte nicht. Sie verstand die Welt nicht mehr. Er hier? “Woh-”, “psst.. Sag jetzt nichts Joyce, ich rede!”, sagte Patrick zu ihr. Er lief auf sie zu und sah ihr tief in die haselnussbraunen Augen. “Ich wusste von allem Joyce, die ganze Zeit. Ich wusste wo du arbeitest, was du arbeitest, wer deine Kunden sind und wie sie mit Vor- und Nachnamen heißen”. Tränen liefen Joyce die Wangen hinunter. Jetzt war es soweit. Auch er würde sie verlassen, wie alle die sie vorher geliebt hatte es taten. Sie konnte es nicht fassen, tatsächlich weinte Sie, die starke, selbstbewusste Frau weinte jetzt... Um einen Mann... Verdammt, sie ist abhängig von ihm geworden. Unbewusst. Doch gefallen lassen würde sie sich das nicht.
Patrick lief auf sie zu. “Doch trotz all dem verlasse ich dich nicht, Joyce!”. Er schloss sie sanft in seine Arme. “Und wehe DU verlässt mich noch mal! Du weißt gar nicht, was du mir gestern angetan hast! Sag mir, dass du mich niemals verlassen wirst!” Joyce schluchzte und vergrub ihr Gesicht noch tiefer in seiner Brust. “. Sie liebte ihn. Doch es ging nicht. „Antworte mir Joyce, bleibst du immer an meiner Seite?” Sie blickte zu ihm auf, sah ihn durch ihre glasigen Augen an, löste sich aus seiner Umklammerung, stieß ihn von sich weg, lief in ihr Zimmer und verriegelte die Tür hinter sich. “Ehe ist legale Prostitution”, hörte sie sich sagen. “Doch nicht mit mir mein lieber. Ich bin nicht eine von diesen Mädchen. “
Verwundert und verwirrt zugleich sah er ihr nach. Mit leerem Blick blieb er noch eine Weile vor der Tür stehen, doch sie kam nicht. Er drehte sich um und ging auf den Ausgang zu. “Patrick! Warte”! Ruckartig drehte er sich wieder zu Joyces Zimmertür. Ein breites Grinsen schmückte sein Gesicht und ein unscheinbares Lächeln das ihre.
‚ “Nein, ich verlasse dich niemals Patrick, ich bleibe immer an deiner Seite!” Mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht lief sie zu ihm, griff nach seiner Hand und ließ sie nie wieder los...’ Blablabla...
Typisches Ende... Für Schwächlinge... Doch bei Joyce lief alles anders.
Anders als erwartet.
“Der Kunde möge eintreten!”, sagte sie. Verwundert starrte Patrick sie an. “Bitte mein Herr, genießen sie es, Joyce est la Crème de la Crème! Kunden die einmal bei ihr waren kommen IMMER wieder!”, flüsterte die raue Männerstimme Patrick zu. Patrick immer noch verwundert blieb stehen. Joyce setzte ihr unwiderstehliches, verführerisches Lächeln auf, zwinkerte ihm zu, nahm ihn an die Hand und zog ihn zu sich ins Zimmer.
“Kannst du mir mal bitte erklären was das soll?”, fragte er sie. “Leg dich ins Bett, ich komme gleich”, antwortete Joyce. Gespannt und genervt zu gleich, tat er was sie sagte.
Ein paar Minuten später kam Joyce wieder ins Zimmer. In der Hand hatte sie zwei Gläser, gefüllt mit Wein.
“Denkst du nicht, dass ich endlich eine Erklärung verdient habe?!”, fragte Patrick genervt. “Das wird ein unvergesslicher Tag Patrick, für dich und mich, mach einfach mit und stelle bitte keine Fragen!” Sie reichte ihm sein Weinglas.
Er richtete sich auf und fing an, an seinem Glas zu nippen.
Sie nahm ihm das Glas ab, stellte es neben ihres auf die Kommode. Sie betrachtete ihn lange, küsste ihn anschließend. “Ich geh mich fertig machen”, flüsterte sie. Er spürte ihren Atem ganz nah an seinem Gesicht. Sie konnte nur verrückt sein, dachte er, und er liebte diese verrückte Frau, davon war überzeugt.
Ihre Beziehung war von Anfang an sehr leidenschaftlich... Und verrückt, genauso wie sein Mädchen, so temperamentvoll wie kein anderes. Er liebte sie. Er konnte nicht ohne sie. Deshalb ließ er vieles über sich ergehen. Deshalb verließ er sie nicht, nachdem er herausgefunden hatte, wer sie wirklich war und was sie arbeitete. Deshalb machte er ihr trotz dessen einen Heiratsantrag. Manchmal gab es Höhen und Tiefen, doch ihnen wurde nie langweilig. Deswegen hielten sie es auch 5 Jahre miteinander aus. Seine längste Beziehung bis jetzt.
Sie kam wieder. Ausdruckslos starrte er sie an, er verstand die Welt nicht mehr.
Joyce hatte eine Pistole auf ihn gerichtet. Wenn er sie schon abhängig von sich gemacht hatte, musste er sterben. Ihre Hände zitterten, doch ihr Gesichtsausdruck war entschlossen wie noch nie und voller Schmerz zugleich. Was sie tun musste, zerfraß sie innerlich.
Schnell sprang er auf. “Was ist in dich gefahren Joyce?!” Er lief auf sie zu. “Keinen Schritt näher Patrick!” . “ Joyce, aber warum, ich liebe dich doch, ich möchte dich heiraten, ich will dich, keine andere, dein Job ändert nichts an der Tatsache, dass ich nicht ohne dich leben kann, ich verlass dich nicht! Niemals! Lass den Unsinn. Leg die Pistole hin, Joyce, antworte mir doch?!”
Sie war sehr blass. Kleine Schweißperlen verteilten sich auf ihrer Stirn.
Plötzlich fiel sie zu Boden.
“Joyce, was ist passiert, was ist los, Joyce antworte mir doch, Joyce, bitte, sag was, JOYCE!”
Doch es kam keine Antwort.
“Ein unvergesslicher Tag“, wie sie sagte.
Sie war fort.
Sie verließ ihn.
Für immer.
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2010
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