Das letzte Kapitel einer anderen Geschichte
Die Wandlerin
Sein Herz stockte. Kein Schrei? Warum schrie das Baby nicht? Warum schrie es nicht? Eine Totgeburt? Nein, das durfte nicht wahr sein!
Er ließ die Hand seiner Frau los und lief rasch um das Bett herum. Ihre Nachbarin, die bei der Geburt hatte zur Seite stehen wollen, hielt ein Baby in den Armen.
Erneut stockte sein Herz. Die kleinen Augen waren offen und suchten ihre Umgebung ab. Er wagte es nicht zu atmen. Die Haut des Babys leuchtete in einem zarten Blau.
„Geben Sie mir das Kind!“, forderte er mit sich überschlagender Stimme.
Die verwirrte Nachbarin gehorchte sofort und gab ihm das leuchtende Wesen. Er nahm es auf seinen Arm und sah es an. Die zarte Haut leuchtete immer noch blau. Das Baby schrie nicht. Aber es lebte. Es sah ihn an und streckte einen Finger in die Höhe – es zeigte hoch an die Decke. Es meinte wohl den Himmel.
Tränen liefen über das Gesicht des Mannes. Aber was waren es für Tränen? Waren es Tränen aus Freude, dass dieses mit Gewalt gezeugte Kind lebte? Oder aus Trauer um das Leben, das es würde führen müssen? Oder doch eher vor Glück, weil dieses kleine Wesen der Welt wieder den Frieden schenken konnte? Er wusste es nicht. Aber die Tränen liefen über seine Wangen und er drückte das kleine Wesen wie einen kostbaren Schatz an sich. Er würde es lieben wie sein eigenes Kind. Ja, das würde er.
Seine Frau hatte das Kind nicht in den Arm nehmen wollen. Nein, sie hasste es. Das wusste er. Konnte er sie vielleicht sogar verstehen? Nein, eigentlich nicht. Das arme Wesen war doch nicht Schuld an ihrem Leid.
Sein ältester Sohn – Helo – kam in die Küche, wo er auf einem Holzstuhl saß und nachdenklich nach draußen blickte.
„Papa?“
Er ließ seine Gedanken kurz los und blickte den jungen Mann an.
„Ja?“
Helo setzte sich zu ihm. Die Kerze auf dem Küchentisch warf nur noch schwaches Licht. Nach einer kurzen Pause fragte er leise: „Warum hat das Baby bei seiner Geburt nicht geschrieen? Und warum hat seine Haut so blau geleuchtet?“
Er lehnte sich zurück und sah seinen Sohn mit einem traurigen Lächeln an. „Kennst du die Prophezeiung der Wandlerin? Die der Welt den Frieden schenken kann?“
Helo sah ihn an. „Nein, du hast mir nie etwas davon erzählt.“
Ein gedankenverlorener Blick traf seinen Sohn. „Dieses kleine Mädchen – deine Schwester – ist eine Wandlerin. Die einzige Wandlerin, die diese Welt je gesehen hat. Weißt du, was eine Wandlerin ist?“
Helo schüttelte mit dem Kopf.
„Erzähle es niemandem. Es könnte ihr Todesurteil sein. Ihr Leben steht im Dienste Neshúms. Sie wird uns das Gleichgewicht wieder schenken können. Sie kann die Geknechteten von den Ungerechten befreien. Aber es wird in der Prophezeiung nicht gesagt, ob sie überleben wird.“ Seine traurigen Augen ruhten auf seinem Sohn.
Helo schwieg einen Augenblick. „Was ist das für eine Prophezeiung?“
Prolog
Ich, Sapient, ehemaliger Magier des Clans der Aquaner, möchte hiermit eine Geschichte vieler bewundernswerter und bewegender Schicksale erzählen.
Insgesamt möchte ich eine Erinnerung an das Schicksal von ganz Neshúm anfertigen. Viele bemerkenswerte Persönlichkeiten haben dazu beigetragen, Neshúm wieder in ein erträgliches Gleichgewicht zu lenken. Nicht ohne Stolz kann ich von mir behaupten, dass auch ich eine dieser Personen gewesen bin. Aber es hat mich auch viel Überwindung gekostet so viel zu geben - meinen Saphir, und damit meine Macht und mein unendliches Leben. Nun ist mein Leben endlich und bald werde ich wohl schon das Antlitz dieser Welt verlassen. Allerdings sind mein Leben und meine Macht kein zu hoher Preis für unser erreichtes Ziel.
Viel mehr betrauere ich den Tod anderer – der Mana, der Zwerge, der Elben... Aber ich betrauere insbesondere den Tod meiner Mitmenschen - auch wenn ich in früheren Jahren nie gedacht hätte, dass ich mich jemals so sehr zu Menschen hingezogen fühlen würde. Wahrscheinlich lag dies am Einfluss der anderen Clansmitglieder. Von meinem Clan habe ich mich jetzt jedoch gelöst und ich bin mir sicher, das Richtige getan zu haben. Ich bereue manche Taten meines Clans, bereue jedoch nicht, mich von ihm losgesagt zu haben.
So betrauere ich den Tod des Volkstribunen der Dalriader, Barko, der mir mein bester Freund war und es auch jetzt noch in gewisser Hinsicht ist. Ich vermisse noch immer seine warme und gutmütige Art. Seine Hände waren nicht zum Töten geschaffen – aber sie taten es, um die Geliebten vor Unheil zu schützen. Ihn verlor die Welt allzu bald.
So betrauere ich auch den Tod des jungen Prinzen, der immer stur auf seine Meinung bestand und seine Rechte, egal, was auch passierte, durchsetzte. Ich muss sagen, dass ich diesen Burschen noch mit am meisten vermisse. Ich habe ihm einiges gelehrt - er mir jedoch auch, wenn auch unbewusst. Ich vermisse noch heute dieses Temperament, dieses Feuer, das er geradezu versprühte.
Auch Divo, ein mutiger junger Herr, ist zu einem unserer wichtigsten und aufopferungsvollsten Gefährten geworden. Ich muss ehrlich sein – ich hätte nie gedacht, dass er und sein Bruder Riagon uns so zur Seite stehen werden. Aber man muss einen Menschen erst kennen lernen, um ihn beurteilen zu können und sollte nicht nach seiner Herkunft oder nach seinem Äußeren gehen. Das habe ich von den beiden gelernt. Die Söhne des tallischen Herrscherapparates stürzten ihren eigenen Vater, um die Welt vor ihm zu schützen…
Dann muss ich auch immer wieder an Erko denken, der Sohn meines treuen Freundes Barko und der Bruder von Dana. Er hat seine kleine Schwester – die einzige Schwester, die ihm noch geblieben war – immer beschützt und mehr geliebt als sein eigenes Leben. Er war einer der wenigen, die von Anfang an wussten, wer sie wirklich war. Ich habe es immer bewundert, wie er dieses Mädchen geliebt hat, obwohl die eigene Mutter sie so sehr verachtet hat. Ich vermag es nicht in Worte zu fassen, wie sehr er gelitten haben muss, als man sie beide trennte und er wusste, dass sie so vieles ohne ihn durchstehen musste.
Ja, Dana! Das kleine schüchterne Mädchen, dessen Welt nach dem Tod des Vaters vollkommen zusammengebrochen war! – Eigentlich war er ihr Ziehvater. Aber nicht das Fleisch und das Blut machen einen Vater aus, sondern das Herz. Aus ihrem Tagebuch, das sie mir vor ihrem Schicksal anvertraut hat, kann ich vieles erzählen, wovon sonst wohl nie jemand etwas erfahren hätte. Ihr Leben ist von so vielen Ereignissen geprägt, die alle einer besonderen Erwähnung bedürfen. Ihr persönliches Schicksal ist so eng mit dem von ganz Neshúm verflochten, dass ich es hier noch nicht auszusprechen wage. Sie hatte kein eigenes Leben. Nein, das hatte sie nie. Sie konnte nie bestimmen, was geschehen sollte. Das haben fortwährend andere für sie getan. Heute schäme ich mich, dass auch ich so sehr über ihr Leben bestimmt habe. Aber es war notwendig. Es war ihr Schicksal. Wir haben ein Leben in den Dienst der Welt gestellt. Aber es war ein hoher Preis – wenig Glück und viel Unglück für ein junges Mädchen, das lange zu wenig wissen durfte, um zu verstehen. Ist es Recht ein Leben zu opfern, um möglicherweise eine ganze Welt zu retten?
Es bedarf noch einer Erwähnung so vieler tapferer Seelen. Ich möchte sie jedoch nach und nach benennen, so wie es auch in der harten Realität geschehen ist. Ich kann sie gar nicht alle aufzählen, denn jeder, auch wenn seine Rolle noch so gering war, hat doch einen wesentlichen Teil in unserem aller Kampf beigetragen.
Man kann sagen, dass es mit dem Kampf eines einzigen Volkes begann – aber es wurde zu einem Kampf zwischen all den verschiedenen Völkern von Neshúm; zwischen Zwergen, Elben, Elfen, Riesen, Mongulen, Menschen und allen anderen Wesen. Es war ein Krieg der Welt um die Welt. Ein Kampf unter Giganten?
Dieser Kampf – dieser Krieg - hat viele Leben gefordert und es ist wohl viel mehr ein Zufall, dass gerade ich einer der Überlebenden bin. Aber wahrscheinlich wandle ich nur noch auf Neshúm, um ein Gedächtnis an diese Ereignisse zu verfassen.
Ich sehe es als meine Pflicht an, immer nur die genaue Wahrheit wiederzugeben. Wenn manche Begebenheiten auch noch so unangenehm waren, sollen sie dennoch nicht verfälscht werden. Ein jeder soll wissen, zu was für Schandtaten Menschen und andere Wesen fähig sein können. Vieles mag zwar unwirklich und einfach unfassbar erscheinen - ich kann bislang oftmals selbst kaum glauben, dass es geschehen ist - aber dennoch hat es sich genau so wie in meinen Schilderungen zugetragen.
Auch wenn mein Herz schwer wird, wenn ich mich wieder an all diese Geschehnisse erinnere, so möchte ich jetzt doch endlich mit der Niederschrift beginnen. Ein jeder soll wissen, was wirklich geschehen ist. Darum werde ich nun in das Reich der Fantasie eintreten und jeden, der begierig zu erfahren ist, mit mir nehmen und ihn, oder sie, auf den verschlungenen Pfaden meiner Gedanken sicher führen...
Tag der Veröffentlichung: 06.10.2008
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