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Stellen Sie sich vor, Sie werden zu Beginn einer neuen Tätigkeit von einem älteren Kollegen sogleich mit einer überschäumenden Herzlichkeit erstickt, indem er Sie umarmt und drückt, als wären Sie schon Jahre miteinander bekannt. Natürlich besitzen Sie Takt genug, sich diesem Zudringen mit anerkennendem Bemerken zu den netten Blumen im Fenster oder irgend etwas anderem zu entziehen. Niemals aber werden Sie in einer solchen Situation sagen, was Sie wirklich denken. Das verlangt schon der Anstand. Vielmehr werden Sie darauf vertrauen, im richtigen Moment schon die rechten Worte zu finden, so dass sich so etwas im Laufe der Zeit ohnehin glättet. Aber leider funktioniert das nicht immer. Manche unter ihnen sind einfältig genug, ihre selbstkreierte Wunschwelt rücksichtslos durchzusetzen. Doch nicht aus Egoismus, wie oftmals unterstellt wird, sondern vielmehr aus einem Übermaß an Güte und Herzlichkeit, was sie allerdings nicht in die nötige Form zu bringen verstehen, weil sie für bestimmte Signale unempfänglich sind. Dies lässt aber nicht unbedingt auf einen schlechten Charakter schließen. Im Gegenteil, zuweilen sind unter ihnen die ehrlichsten und aufrichtigsten Menschen zu finden, weil sie ungeachtet der unterschiedlichen Außenwirkungen ihr Herz ganz offen zu Tage tragen (welcher unter uns sozusagen Vernünftigen, würde das schon tun?). Allein der Umstand, dass sie unter einem Übermaß an Zutrauen zum eigenen Verstande leiden und demnach auf Kontrollen durch die Vernunft verzichten, macht sie noch lange nicht zu Dummköpfen, allenfalls zu Sonderlingen, die aufgrund ihrer Eigenart von ihrer Umwelt oft als närrisch verkannt werden. Das ist ein entscheidender Unterschied. Vielmehr schlummern unter ihnen zuweilen unglaubliche Talente, welche sich zum Beispiel auf die seltene Kunst verstehen, vermittels einer nahezu ungefilterten Reflexion des eigenen Ichs andere sozialdeterminierte Zusammenhänge aufzudecken und somit einen Einblick in die Komplexität gesellschaftlicher Verhaltesmuster gestatten. Natürlich gelingt das nur, wenn das Vertrauen desjenigen in die Unfehlbarkeit der eigene Intuition geradezu sklavische Züge annimmt, und wie kann das besser geschehen als durch das tiefste und innigste Gefühl, das einen Menschen befangen kann - der Liebe. Ist das erst mal erreicht, eröffnen sich erstaunliche An- und Einsichten, wie der nachfolgende Brief beweist.


Verehrteste,



ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, Ihnen noch mal zu schreiben, obgleich es eigentlich nicht nötig wäre. Aber was im Leben ist das schon, so dass es auf ein paar überflüssige Zeilen mehr nicht ankommt. Wie ich bereits erwähnte, habe ich Ihren Fortgang sehr bedauert, weil Sie für mich etwas Besonderes waren und das nicht nur im übertragenen Sinne. Lange habe ich darüber nachgedacht, was mich an Ihnen faszinierte, zumal es an Ihrem Äußeres kaum gelegen haben kann (Sie werden meine Offenheit verzeihen, aber da ich keinerlei Ambitionen habe, nehme ich mir die Freiheit zu sagen, was ich denke und meine, Ihnen damit auch zu entsprechen). Für meine Begriffe waren Sie einfach zu spack; auch finde ich Ihre Stimme zu leise, und Ihre Haltung könnte ebenfalls straffer sein. Das wäre in Ihrer angestrebten Position vorteilhaft, wo ein telegenes Äußeres favorisiert wird und man ohnehin auf jedes Detail achtet. Aber wem sage ich das, angesichts Ihrer täglichen Schminkcollage, was besonders unter den Kolleginnen reichlich Missfallen fand. Vielmehr war es Ihr erstaunlicher Wankelmut gegenüber solchen Dingen, was nicht nur mich verwirrte. Fast scheint es, als forderten Sie manches erst heraus, um dann davor zurückzuschrecken. So etwas ist zwar halbherzig und zeugt von mangelndem Selbstvertrauen, zugleich aber ein Zeichen unerwarteten Herzensgüte, die Sie noch nicht so kaltblütig berechenbar werden lässt, wie es andere in solchen Situationen zweifellos wären. Darum ein paar kleine Tipps: Lassen Sie Ersteres bloß niemanden spüren, sonst wird man Sie eines Tages gnadenlos zerfleischen, das Zweite hingegen sollten Sie niemals verlieren, wollen Sie noch ein Mensch bleiben und als solcher geachtet werden. Ich werde ohnehin nie verstehen, wie es kommt, dass sich manche Leute für ein bestimmtes Ziel zerreißen, anderen hingegen so etwas von selbst zufällt. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, - ich habe Sie noch nie für einen Karrieristen gehalten, und wenn ich diesen Vergleich hier anführe, dann nur, weil andere so etwas denken, allen voran jene, die nicht müde werden, jetzt, wo Sie nicht mehr da sind, allerlei Schmutz über Sie zu schütten und sich als Besserwisser zu präsentieren, die sie von Anfang an durchschaut hätten. Was wird nicht alles für ein Unsinn geredet. Demnach sollen Sie mich absichtlich als Partner ausgewählt haben, weil Sie um meine vermeintliche Labilität wussten. Ebenso wäre Ihr Verständnis für meine persönliche Situation die ganze Zeit nur geheuchelt gewesen, um mich für ihre Zwecke zu missbrauchen; kurzum, man kramte alles hervor, was nur hervor zu kramen war und scheute selbst vor solchen Tiefschlägen nicht zurück.
Sie glauben gar nicht, welche ehrenwerten Kollegen daran beteiligt waren; Leute, die sonst nie den Mund aufbekommen, plötzlich jedoch eine Eloquenz an den Tag legten, dass man sich nur wundern konnte. So etwas macht sich ja auch gut, vor allem wenn man selbst mit einigem im Argen steht. Sogar der ehrenwerte L. (Sie wissen doch, jener schlaksige Kerl mit den altmodischen Karottenjeans, der bei uns immer so lange kopierte und Sie dabei so schamlos anfunkelte) zählte zu den Hauptakteuren. Ausgerechnet er, der gerade Ihnen seine Hilfsbereitschaft versicherte und sich als vehementer Verfechter eines vorurteilsfreien Arbeitsklimas präsentierte. Als ich ihm das neulich vorhielt, guckte er nur ganz dumm, und als ich ihm meine Ansichten darüber noch mal erklärte, guckte er noch dümmer. Ich habe lange überlegt, woher sein plötzlicher Umschwung rühren mag und habe dafür nur eine Erklärung; er neidet mir etwas. Das ist für jemanden wie mich völlig neu, zumal er sich für gewöhnlich in dieser Rolle sieht und dies auch glaubhaft zu vermitteln versteht. Vielleicht habe ich mich deshalb in meinem Eifer etwas vergessen und ihn angebrüllt und eine Entschuldigung verlangt. Wenn er sie verweigerte, dann nur auf Furcht von der Wahrheit, das sah ich klar und sagte ihm das auch.
Jetzt aber geschah etwas Sonderbares. Anstatt ihm zu zürnen, begann ich innerlich zu triumphieren, ja ich begann seine fühlbare Unsicherheit zu genießen und das auch noch aus tiefstem Herzen. Damit nicht genug, - ich war mir nicht zu schade, das ganz offen zu zeigen, etwas, was sonst nur er in Perfektion beherrscht. Denn obgleich seine Behauptungen jeder Grundlage entbehrte, erhöhte sie mich in ungeahntem Maße, so dass ich ihm fortan ganz anders gegenübertreten kann. Er belächelt mich auch nicht mehr. Selbst seine zweideutigen Bemerkungen, womit er mich vor kurzem noch gern vornehmlich in Gegenwart anderer foppte, unterbleiben. Im Gegenteil, fast scheint es, als fürchte er mich seither und wagt mir nicht mal mehr in die Augen zu sehen.
Oje, man kann in einer solchen Situation glatt zum Unmenschen werden, zumal mich mein Hochgefühl fast schon wieder zum Mitleid mit ihm zwang. Und noch etwas; seither erscheint er mir auch gar nicht mehr so übermächtig, sondern eher klein und winzig. Aber vielleicht war er das schon immer und vermochte nur mit seinem Gehabe darüber hinwegzutäuschen. So etwas soll es geben.
Was bin ich nur für ein Trottel. Fast schon an die fünfzig, habe ich das alles nicht bemerkt. Offenbar bedurfte es erst einer jungen Praktikantin, die mit ihrem Charme hier alles durcheinander bringt, um mir die Augen zu öffnen. Wer weiß, vielleicht sind Sie wirklich eine Hexe, wie die liebenswerte Kollegin Z. neulich meinte, als sie einen gehässigen Vergleich zwischen Ihnen und Ihren Vorgängerinnen anstellte.
Natürlich wusste ich von Anfang an, dass meine Avancen sinnlos waren. Sie habe sich ja auch alle Mühe gegeben, mir das möglichst schonend beizubringen, wofür ich Ihnen übrigens noch danken möchte, denn Sie hätten mich ja auch lächerlich machen und dafür viel Beifall ernten können. So aber haben Sie es nicht getan und dabei so viel Takt bewiesen, das es die anderen nicht merkten. Gestatten Sie mir deshalb, die Flamme in meinem Herzen noch eine Weile zu bewahren. Mit etwas Kraft werde ich über die ganze Sache sicher irgendwann hinwegkommen und am Ende sicher darüber lachen, wie über eine dumme Begebenheit, die im Leben nun mal kommt und geht. Dennoch möchte ich keine Sekunde davon missen, nicht mal den Schmerz, der dabei unvermeidlich ist. Doch was wäre ein Leben schon ohne Qual? Erst dadurch zeigt sich der wahre Wert eines Gefühls, indem wir durch das Leid seine Bedeutung erfahren. So gesehen gibt es kein vollendetes Glück. Das wahre Glück findet seine Wurzeln in der Bescheidenheit, wozu nun mal Fehlbarkeit und Makel gehören. Erst sie machen aus ihm etwas Besonderes, Erstrebenswertes, was ich durch Sie erfahren durfte.
Aber auch wenn unser Abschied jetzt entgültig ist und Sie Ihr Glück anderweitig finden werden, so wird mich das nicht davon abhalten, noch oft an Sie denken, als einen Menschen, der in mein Herz gedrungen ist ohne mich zu verletzen und dem ich mich dafür auf ewig in Dankbarkeit verbunden fühle. Wenn ich jetzt im Nachhinein über den Sinn unserer Begegnung grübele, so fällt mir die Antwort nicht leicht. Aber offenbar gibt es etwas, was jenseits aller Dinge liegt und uns auf anderer, höherer Ebene verbindet. Nur wer das Glück hat, so was erleben zu dürfen, kann von sich behaupten, wirklich gelebt zu haben.
Nun ist die Welt wie sie ist, und nur ein Narr wird das nicht akzeptieren. Eines aber ist gewiss; alles kommt wie es muss. Auch wenn wir niemals eine Chance hatten, so war es doch schön, davon zu träumen. Und deshalb bin ich nicht verzagt, denn mir bleibt etwas, was mir niemand nehmen kann. Ich werde mich immer in Wärme an Sie erinnern, als einen Menschen, der aus all dem Schlechten immer noch das Beste zu machen verstand. Möge Ihnen das Glück auf all Ihren weiteren Wegen gewogen bleiben,

für immer, Ihr W.

Impressum

Texte: in Erinnerung an einen alten Kollegen
Tag der Veröffentlichung: 03.01.2009

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