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Vor einigen Jahren machte ich im Rahmen meines Volontariats die Bekanntschaft eines Kollegen, der mich fachlich sehr förderte. Natürlich war er mir auch anderweitig zugetan, und es dauerte nicht lange, bis erste Avancen folgten. Wenn ich darüber errötete, lächelte er, obgleich in seinem Lächeln auch etwas Leidvolles oder, richtiger gesagt, Menschenliebe oder höhere Empfindung lag ... ich verstehe das nicht besser auszudrücken; aber die Gesichter hochgebildeter Menschen können meiner Ansicht nach nicht den Ausdruck einer triumphierenden, siegbewussten Glückseligkeit tragen, sie wirken immer irgendwie leidend, selbst in Situationen des Glücks. Doch nicht davon soll hier die Rede sein, obgleich es durchaus interessant ist, wie viel mitunter der Blick eines krankhaft keuschen Mannes ausdrücken kann, wenn er von der Liebe gepeinigt ist und das gerade ein Momenten, da er lieber in die Erde versinken möchte, als irgend etwas durch ein Wort oder Blick zu verraten. Glücklicherweise war unsere Zusammenarbeit nur von kurzer Dauer, so das sich die Situation nicht noch weiter verkomplizierte. Dennoch machte dieser Mensch auf mich einen tiefen Eindruck.

Als es anlässlich unserer letzten gemeinsamen Referatsfeier zu einem Eklat kam, welchen unser Chef - von allen nur ’General’ genannt – im trunkenen Zustand provozierte, verließ er verbittert den Saal. Am nächsten Tag schickte er mir folgenden Brief, welchen zu kommentieren ich dem Leser überlasse. Nachdem ich ihn von allen Tatsächlichkeiten retuschiert und grammatikalisch leicht angepasst habe, möchte ihn hier als Beitrag einstellen. Möge man sich selbst ein Bild von seiner gequälten Seele machen, die im Grunde, wenn auch etwas verschroben, so doch unter all den Emporkömmlingen noch die ehrlichste und somit menschlichste war.


Verehrteste,


Sicher haben Sie sich über meinen plötzlichen Aufbruch gewundert, aber nach einem solchen Affront blieb mir keine Wahl. Wie kann man sich nur so benehmen, und ich stand auch noch direkt daneben. Kein Wunder, dass ich wie eine Tomate errötete. Und obgleich ich völlig schuldlos war, wurde ich von den anderen begafft, als hätte ich diesen Bock geschossen. Offenbar ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass ein Fehltritt des Leiters immer auch seinen Unterstellten trifft. Oder meinen Sie, man könnte sich in einer solchen Situation hinstellen und sagen: „Halt, meine Herrschaften, ich gehöre zwar zu ihm, möchte aber nicht mit ihm verglichen werden“?

Oh nein, lassen Sie sich gesagt sein, hier wirken andere, höhere Kräfte, denen man sich beugen muss, will man nicht zermalmt werden. Sie werden sich noch meiner Allegorie von der ’Randerscheinung’ bzw. des Winzlings im Vergleich zur Dominanz des Generals erinnern. Folglich ist Ihr Versuch, in zweifellos solidarischer Absicht mich durch ihr Geplauder auf ein anderes Thema zu lenken, durchaus tröstlich, ändert jedoch nichts am Fakt. Ich war gekränkt und dachte nicht daran, diese Kränkung zu vergessen. Sie meinen, ich übertreibe? Nun gut, dann erklären Sie mir bitte, wie es angehen kann, dass Sie als Neuling sofort in den Genuss einer ganz persönlichen Geste, namentlich eines Gläschens Sekt kamen, hingegen ich trotz meiner Freundlichkeit überhaupt nicht beachtet wurde. Im Ernst. Denn als er sich so sporadisch zwischen uns drängte und lautstark die Kellnerin anpöbelte (fehlte nur noch der Klaps auf deren Po), geschah das in einer despektierlichen Nichtachtung meiner Person. Sie werden jetzt sicher denken, ich bilde mir das nur ein, aber da irren Sie. Oder können Sie mir erklären, was sein Zwischendrängen sollte, wenn nicht, um mir zu zeigen, wer hier der Platzhirsch ist? Und wenn ich die ganze Zeit hinter seinem Rücken schwieg, dann nicht aus Angst, sondern aus Protest. Gewann ich doch den Eindruck, dass es Ihnen schmeichelte, von diesem Stiesel so galant umgarnt zu werden. Nun ja, wer kann es Ihnen verdenken. Immerhin könnte er so manches für sie richten, womit ein kleiner Beamter wie ich nicht dienen kann.

Aber lassen sie sich nicht blenden. Das ist alles nur Fassade. In Wahrheit ist er maßlos selbstsüchtig, brutal und skrupellos, auch wenn er durchaus zu reden versteht und sich gelegentlich in parlamentarischen Posen übt. Gern rühmt er sich fremder Ideen, auf die er sich mächtig was zugute tut, manche nennen ihn sogar clever, nur weil er sie so zu verpacken weiß, dass man deren Ursprung nicht mehr erkennt. So werden hier alle auf Kosten anderer Fettgewordene bezeichnet, die absolut nicht aber auch gar nichts bewirken, sich selbst aber um so wichtiger nehmen und doch vom ewigen Faulenzen und Nichtstun anstatt eines Herzen nur eine Fettklumpen haben. Solche Typen zeichnen sich durch grobes Witzereißen und maßloses Stolztun aus. An Wertvollem ist bei ihnen nicht zu finden. Sie gleichen jenen Gaunern, die es so weit getrieben haben, dass sie am Ende davon überzeugt sind, Gaunereien seien legitim. Dabei versichern sie überall, sie seien die Ehrlichkeit in Person, woran sie womöglich sogar selber glauben. Im Vordergrund steht aber nur die eigene Person, das goldene Ich, welches, von allen Seiten bewundert, die ganze Welt für einen Spiegel hält, worin es sich selbstgefällig betrachten kann. Für alles hat es eine fertige Phrase parat, besonders für die Bekundung dessen, was die richtigste und von der Vernunft gerechtfertigte Philantrophie ist, kurzum ein riesenhafter bis zu Platzen aufgeblähter Sack, der meine ganze Verachtung verdient.

Und nun nehmen sie mich. Was hingegen habe ich schon zu bieten, außer dem eintönigen Leben eines Junggesellen, der bei seiner alten Mutter lebt und zum Frühstück Milch trinkt. Würden sie jemals mit einem eingefleischten Junggesellen bei dessen Mutter Milch trinken? Na also. Weshalb muss ich mir solche Gedanken machen? Zu meinen Hobbys zählen neben Wanderungen vor allem ausgiebige Gespräche mit älteren Leuten, denen ich von mir erzählen, gleichviel ob sie zuhören oder nicht. Ich lache eigentlich nicht sehr gern und hänge lieber meinen Gedanken nach, die mich zuweilen völlig spontan überkommen und dann zu manchen, für Außenstehende recht unverständlichen Emotionsausbrüchen führen. Abends sitze ich nach dem Glücksrad oft noch lange im Lehnstuhl neben meiner Stutzuhr, deren eigensinniges Ticken unter dem Glassturz ich stundenlang zuhören kann ohne nur einen einzigen Gedanken zu verschwenden.

Warum ich so bin, weiß ich nicht. Aber ich habe das schon mal durch; damals mit der Gabriele ... Nun gut, da war ich zwanzig Jahre jünger, aber was war das für ein Hallo. Mama war einer Ohnmacht nahe, als sie mitbekam, welch ’unlautere Person’ ich anbrachte - eine Mutter von zwei Kindern, die in einer Wurstbude arbeitet und nur einen Ernährer für die Kinder sucht. So war es wohl auch, denn als ich sie mal darauf ansprach und ihr auf den Kopf zu sagte, was Mama sagte, wurde sie ganz rot. Ich habe mich zwar hinterher schrecklich geärgert, war dann aber doch froh darüber. Natürlich war die Sache schnell erledigt und Mama hat mir verziehen. Dennoch hatte ich noch lange danach ein seltsames Gefühl, was es mir unmöglich machte, ihr noch einmal zu begegnen.

Und nun Hand aufs Herz, würden Sie einen solchen Misanthropen einem Strahlmann wie ihm vorziehen? Ersparen Sie mir die Antwort, diese Frage war rein rhetorisch. Komisch ist nur, dass Sie ihr manchmal ähneln, und obgleich Sie keine zwei Kinder haben und in einer Wustbude arbeiten, wünschte ich mir, es wäre so. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht, weil Sie trotz Ihrer Jugend sehr gesetzt und reif wirken, so wie Gabriele? Wie machen Sie das nur, zumal es hier so viele Leute gibt, die sich unglaublich erwachsen fühlen und doch so maßlos kindisch sind? Vielleicht komme ich mir deshalb in Ihrer Nähe wie ein törichter Junge vor. Oder glauben Sie wirklich, ich hätte nicht bemerkt, dass meine Versuche, Ihre Aufmerksamkeit zu erwecken scheiterten? Ja, mehr noch, ihr beiläufiges „Hm“, oder „Ist da toll“, während meiner gelegentlichen Monologe war kränkend, denn einige Male war es gar nicht ’so toll’ und ein ’Hm’ passte auch nicht. Aber ich habe Sie erkannt, Sie schützen nur ein Desinteresse vor, um uninteressant zu wirken, erreichen aber damit genau das Gegenteil - und das ist die ganze Perfidie.

Erinnern Sie sich noch an mein Gleichnis von der Nichtigkeit, bzw. Randerscheinung? Ausnahmsweise antworteten Sie nicht mit einem ‚Hm’, sondern Sie stellten daraufhin einen erfrischenden Vergleich zu sich selber her, worauf ich so lachen musste, dass mir beinahe die Prothese verrutschte. Glauben Sie mir, das war gespielt, denn innerlich habe ich gekocht, denn ich hatte sofort bemerkt, wie das gemeint war. Wie sonst wäre es zu erklären, dass mich plötzlich das unbändige Verlangen überkam, Ihre Hand zu nehmen und zu streicheln - und hätte sich nicht dieser Trottel zwischen gedrängt, wer weiß. So gesehen danke ich ihm sogar, hätte aber nicht erwartete, Sie so schnell zu verlieren.

Und da Sie jetzt nicht mehr da sind, betrachte ich manchmal Ihren leeren Schreibtisch. Dann stelle ich mir vor, Sie säßen noch dort und rede sogar mit Ihnen. Und manchmal ist mir, als hörte ich Ihre Stimme und führe richtige Dialoge - ist das nicht ulkig? Hab sogar schon im Lexikon nachgeschlagen, was Ihr Sternzeichen aussagt. Mama sagt, ich hätte mich doch sehr verändert, hätte jetzt des öfteren ganz rote Backen und solch einen verträumten Blick. Kann das sein, angesichts meiner so für gewöhnlich ausdruckslosen Physiognomie? Ich bin verwirrt. Sie werden verzeihen, aber auch wenn wir uns nun nicht mehr sehen, werde ich noch oft an Sie denken.

Ergebenst, Ihr W.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.11.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
in Erinnerung an einen alten Kollegen

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