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KAPITEL I


Diese Julinacht war ungewöhnlich klar, mit einem Himmel voller Sterne. Die Stadt war längst im Dunkel versunken und döste derweil im tiefem Schlummer. Stille herrschte, alles schlief, nur der Platz vor dem Bahnhof wachte noch einsam im grellen Schein der Neonlampen, die ihr kaltes Licht in schrägen Balken herabwarfen und um diese Zeit eine unbestimmte wolkige Zartheit annahmen. Irgendwo fauchte ein stählernes Ungetüm und rollte, von Dutzenden Waggons gefolgt, über die Brücke. Aus seinem Schlot wallten in rhythmischen, immer kürzeren Stößen weiße Wolken, während die Rohre neben dem pleuelgetriebenen Räderwerk heftige Dampfstrahlen ausbliesen. Für Sekunden blieb alles im Nebel, feiner Dampf wirbelte herab. Doch bald wurde es wieder klar, das Poltern erstarb und Stille kehrte zurück. Die Stadt mit ihren Gebäuden, Türmen und Dächern, deren flimmernde Silhouette für Momente entschwunden war, tauchte wieder auf und schickte mit dem lauen Nachtwind von Ferne ein dumpfes Grollen herauf.
Ilka stand vor dem Bahnhof, hinter sich die pendelnde Schwingtür, welche unentwegt den muffigen Geruch von feuchtem Stein, Dreck und kaltem Rauch in kurzen Schüben herauswehte und starrte hinauf zum Firmament. Ihr war kalt, doch sie mochte nicht hineingehen. Nur hier draußen, in der friedvollen Stille der Nacht, fand sie die ersehnte Ruhe. Gedankenverloren und noch immer mit tiefem Schmerz im Herzen betrachtete sie den großen Wagen, die Kassiopeia und den Polarstern. Schon immer, solange sie denken konnte, umfing sie ein Gefühl der Unvollkommenheit mit dem vagen Verdacht eines Pechvogels, dem nichts blieb, als dieses vorbestimmte Los zu ertragen, gerade wenn Umstände eintraten, die sie erneut zurückwarfen. Dann litt sie ganz besonders, auch wenn nur Bagatellen den Anstoß dazu gaben. Zurück blieb diese Reizbarkeit, die sie drängte, sich vor aller Welt zurückzuziehen und in tiefer Bitterkeit die eigene Unvollkommenheit zu betrauern. Doch seltsam - obwohl ihr auch heute wieder weinerlich zumute war und eine schmerzliche Beklemmung ihre Kehle würgte, blieb die erwartete Trübsal aus. Im Gegenteil, bald fühlte sie sich leichter. Die Schwere, die sie seit Tagen bedrückt und so kraftlos niedergeworfen, löste sich und linderte den Gram in ihrem Herzen.
Da tönte von drinnen blechern der Lautsprecher. Hastig wischte sie die Tränen fort und sah sich ängstlich um. Zum Glück hatte man es nicht bemerkt. Es wäre ihr peinlich gewesen, denn immerhin war sie kein Kind mehr und fühlte sich mit ihren neunzehn schon sehr erwachsen. Sie hatte dunkelblondes Haar und ein sympathisches Gesicht mit einer nachdenklichen, zuweilen recht ernsten Physiognomie, die der kühlen Gemessenheit ihres Wesens entsprach. Unter den geschwungenen Brauen blickten zwei helle Augen, die oft von einer traurigen Entrücktheit verklärt waren und den Eindruck einer beständigen Gedankenverlorenheit erweckten. Man hätte sie durchaus als hübsch bezeichnen können, wäre da nicht die ungewöhnliche Blässe eines Monomanen, welche diesen Liebreiz trübte und jenen kränkelnden Eindruck verriet, dem etwas Verbittertes, Zerquältes entsprang.
Schweren Herzens nahm sie ihre Tasche, stieß die Pendeltür auf und schlurfte, durch die Last ihrer Tasche behindert, gemessenen Schrittes, noch immer unter der Befangenheit ihres Schmerzes, der ihre Ermattung noch steigerte, durch die große Halle. Als sie eintrat, blendeten die grellen Neonlampen, welcher von der riesigen Deckenkuppel den ganzen Saal wie eine Feuersbrust erhellte. Die Wartehalle war etwa zur Hälfte mit Reisenden gefüllt, von denen einige schläfrig auf den Bänken lungerten, andere wiederum hinter ausgebreiteten Zeitungen die Nase über die vielen angetrunkenen Soldaten rümpften, die nach beendetem Urlaub in kleineren Gruppen zusammenstanden, sich unterhielten, lachten und blitzende Blicke umherwarfen. Der kalte Zigarettenrauch machte die ohnehin von Bierdunst geschwängerte Luft noch muffiger. Vor dem Kartenschalter drängte sich eine lange Schlange, die mittlerweile weit zurückragte. Ein Bahnsteigfeger klapperte mit seinem Besen zwischen Bänken entlang, und die quietschende Bistrotür gegenüber stand niemals still.
Unterdes rollte erneut ein dumpfes Grollen durch die Halle, ließ den Boden zittern und erstarb schließlich im Quietschen stählerner Räder. Kurz darauf quoll eine gewaltige Menschenflut die Treppe herab, welche durch die lange Schalterschlange am Fortkommen jäh behindert, ins Stocken geriet, sich aufspaltete, durcheinander drängte und schließlich nach allen Seiten auseinander strömte. Überall Lärmen und Tönen, ein fürchterliches Gewühl. Ilka drängte zwischendurch und zwängte sich zur anderen Seite. Widerwillig durchquerte sie die Unterführung mit ihren ewig feuchten Kachelwänden, tappte die Treppe hinauf und erreichte schließlich den Bahnsteig. Aber auch hier wimmelte es von Menschen, unter ihnen ebenfalls viele Soldaten, die in kleineren Gruppen zusammenstanden, tranken und schwatzten.
Während einige, etwas abseits, mit weinenden Mädchen turtelten, zockten andere mit leeren Streichholzschachteln, nuckelten an halbvollen Schnapsflaschen und stachelten sich gegenseitig zum neuen Einsatz an. Wieder andere saßen auf Bänken oder Taschen und starrten mit trüben Augen vor sich hin. Genervte Urlauber drängten zwischendurch. Andere harrten stumm aus, die Hände in den Taschen und das Kinn nervös in Richtung Einfahrt gereckt. Ein älterer Herr mit weißer Mütze und dem Gesichts eines Pensionärs erklärte seiner Frau fortwährend, dass man schon richtig sei. Diese zweifelte noch immer, was ihn nur noch mehr erregte.
Ilka stellte sich zögernd neben die Bank. Mit dem zusammengerafften Blouson unter den verschränkten Armen und dem Gefühl eines faden Unbehagens, eines ‘nicht recht Wollens’ und ‘doch Müssens’, hielt sie nun Ausschau nach dem Zug. Dabei fiel ihr, Gott weiß warum, die Außenwand des riesigen Hallengebäudes auf, die sich unmittelbar hinter dem Bahnsteig auf langer Front erstreckte. Mit ihren trüben Glaseinsätzen zwischen den maroden Stahlträgern mündete sie oben unter ein gewölbtes Dach, welches die zu beiden Seiten hin offene Bahnsteighalle über die gesamte Länge mit zum Teil von Witterung zerfressenen Wellblechsegmenten überdeckte. Die Scheiben, von Staub und Ruß schon arg getrübt, ließen dabei die äußeren Gleisanlagen mit ihren Lichtern und Signalen nur noch verschwommen erkennen. Graue Farbfetzen, vom Alter spröde geworden, blätterten von den Verkleidungsblechen, und die eisengenieteten Querspanten waren vom jahrelang angesammelten Dreck schwarz und rostig geworden, so dass ständig der Geruch alten Metalls in der Luft lag.
Plötzlich, inmitten ihrer Gedankenversunkenheit, bemerkte sie einen schwankenden Mann, der einen Schluck aus einer Flasche nahm. Haltsuchend lehnte er sich gegen einen Laternenmast und sah sich mit pöbelhaft geröteter Miene um. Oh Gott, er sah ja herüber! Hastig drehte sie sich weg und schaute verlegen auf die Uhr. Doch zu spät. Er hatte sie bemerkt und wankte sogleich heran.
„He, du, hast mal Feuer?“, lallte er und legte frech den Arm um ihre Schulter.
Erschrocken fuhr sie um. Es war ein Bursche von Anfang zwanzig, in schwarzblauen Jeans und einem karierten Hemd, worüber er einen schäbigen Anorak mit roten Ärmelstreifen trug, der nach Rauch und billigem Fusel stank. Sein schütteres Haar war ihm im Suff über die Stirn gefallen und sein Atem stank wie ein Schnapsfass.
„Nein, Nichtraucher“, antwortete sie schroff und entwandt sich seinem dreisten Zudringen. Doch der Trunkenbold setzte nach, grabschte nach ihrem Nacken und wühlte in ihrem Haar, wobei er mit seiner hellen Fistelstimme unentwegt auf sie einquatschte, als hätte er wochenlang mit niemandem geredet. Dabei kicherte er immerfort, allein seinen wollüstigen Gedanken verhangen, die mit abschätzig geschürzten Lippen zu zeigen, er sich nicht scheute. Und hatte ihn ihre Abwehr anfangs noch belustigt, wurde er schließlich ärgerlich.
„Halt doch endlich still ... Warte, gleich... Na also.“ Nun betrachtete er mit riesigen Augen einen winzigen Fussel, den er wie eine unschätzbare Kostbarkeit zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. „Und wenn ich noch mal... vielleicht...“
„Oh nein, danke, nicht nötig.“ Sie lächelte gequält, nahm ihre Tasche auf und wich weiter zurück.
„Mach ich aber gern.“
„Kann ich mir vorstellen. Aber bemühen Sie sich nicht, ich warte hier auf jemanden. Er muss bestimmt gleich kommen.“
Doch obwohl er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, legte er erneut den Arm um sie, was er wohl witzig fand, denn er zischte, den Finger an die feuchten Lippen gelegt, im sichtlichen Bemühen, seinen Worten eine gewisse Vertraulichkeit zu geben: „Pssst, Lütte, musst keine Angst haben, ... aber du sollst nicht lügen.“
Erneut nahm er einen Schluck, wobei ihm der Schnaps übers Kinn sabberte und versicherte, nicht besoffen zu sein.
Aber warum half denn niemand? Ilka versuchte sein lästiges Zudringen abzuwehren, indem sie sich brüsk entwand. Doch niemand beachtete sie. Selbst der ältere Herr neben ihr blieb stumm. So ein Feigling! Anstatt ihr zu helfen, wie es sich gehörte, tat er so, als habe er nichts gesehen. Damit nicht genug, - jetzt stellte er sich noch weiter abseits, um nur nicht behelligt zu kommen.
„Aber Schnuckel, ich will doch nur...“
Schon wieder grabschte dieser freche Kerl sie an. Er sollte das lassen! Gerade als sie sich etwas losmachen konnte, um ihm eine zu kleben, wurde er plötzlich zurückgerissen.
„Schon gut, Rolli, sagte ein Matrose in dunkelblauer Uniform, den sie zuvor gar nicht bemerkt hatte. Er hatte ihn an der Schulter gefasst und zog ihn nun sanft aber bestimmt zur Seite. „Setz dich – hier ... So ist’s besser.“ Daraufhin plumpste der Betrunkene wie ein nasser Sack auf die Bank, wo er mit seinem verschobenen Schafsgesicht entgeistert zu ihm aufschaute, ohne sich im geringsten zu widersetzen.
Sogleich entschuldigte der andere sich für das Benehmen seines Kameraden, der wohl zu viel getrunken habe. Nun ja, am Urlaubsende käme so etwas schon mal vor, aber deswegen wäre er bestimmt kein schlechter Kerl, versicherte er und suchte wiederholt das Ganze zu bagatellisieren.
Sie indes, noch immer vom Schrecken gelähmt, fand diese Ausflucht reichlich daneben, zumal ihr jedes Verständnis für solche Taktlosigkeiten fehlte. Und da er es merkte, zurrte er schließlich verlegen, mehr aus Befangenheit denn Notwendigkeit, seinem Kumpel den Reißverschluss zu, nahm ihm die Flasche aus der Hand und stopfte sie kopfüber in die Mülltonne. Doch seltsam, - obwohl sie noch immer so verbittert und gereizt war und sich in ihrem gekränkten Stolz wie eine Schildkröte in ihren Panzer verkroch, bereit, sich jeder Annäherung aufs Schärfste zu widersetzen, beruhigten sie seine Worte, ja machte ihr der Umstand, dass er sie gleich duzte, gar nichts aus. Im Gegenteil, statt beleidigt zu sein, fand das sogar drollig, weil damit jede Distanz verschwand. Was blieb, war eine sonderbare Komik, in der es ihr bestimmt nicht schwergefallen wäre, ihn einen Dummkopf zu nennen, diesen großen, kleinen Jungen, der wohl noch immer glaubte, sie hätte ihn nicht längst durchschaut.
Einen Augenblick wusste sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Aber dann gab sie ihm unmissverständlich zu verstehen, dass sie keinen Wert auf irgendwelchen Beistand lege und durchaus alleine klarkäme. Er sah sie daraufhin verwundert, gleichsam bedauernd an, zuckte nur die Achseln und konstatierte gleichmütig: „Dann eben nicht.“
’Blöder Affe!’ dachte sie, den Blick stur an ihm vorbei gerichtet.
Er wollte weggehen, kam jedoch auf einen Schritt noch mal zurück und sagte dann mit verändertem Ton: „Dort vorn findest du die Militärstreife. Sie haben immer das erste Abteil. Setz dich in ihre Nähe und es wir dich niemand mehr belästigen.“ Und dann kehrte er wieder zu seiner Gruppe zurück, während der Betrunkene noch immer auf der Bank saß, die Beine weit fortgereckt, das Kinn auf die Brust gesenkt und vor sich hin döste.
Oh, wie graute ihr bei dem Gedanken an die folgende Fahrt, die vollen Abteile, die schlechte Luft und die vielen betrunkenen Kerle. Und wenn sie ihr Freund, dieser verdammte Hendrik, nicht in im Stich gelassen hätte, wäre das auch nicht passiert.
Für einen Moment fühlte sie ihre Einsamkeit in ganzer Härte, was ihre Bitterkeit gegen alle Welt nur noch steigerte. Sie war verzweifelt, hätte schreien können und dachte daran umzukehren. Und doch war zugleich auch eine merkwürdige Stille in ihrer Herzgrube, durchsetzt von einer zarten Süße, welche den gewohnten Schmerz linderte.
Während der folgenden Minuten ertappte sie sich, wie ihr Blick zögernd zu ihm zurückkehrte. Er rauchte und nahm hin und wieder einen Schluck aus einer Flasche, die dort die Runde machte. Hendrik würde das niemals tun. Er wusste was sich gehörte, besaß Etikette - vor allem trank er nicht, schon gar nicht aus einer Flasche. Eigentlich stieß sie so etwas ab, und sie sollte sich abwenden, hätte nicht gerade diese Geschmacklosigkeit ihre Neugier erweckt.
Ein Mädchen war jedenfalls nicht in seiner Nähe, auch wenn er einen seltsamem Armreif um das rechte Handgelenk trug - das war ihr irgendwie aufgefallen. Aber warum interessierte sie das? Natürlich interessierte sie das nicht, sie stellte nur fest. Er war kaum älter als sie, war nicht sehr groß, eher untersetzt, hatte in der Mitte gescheiteltes dunkelblondes Haar, eine schmale gerade Nase und graue, kalte Augen, wie sie fand. Zudem besaß er herbe, ein wenig kantige Züge, was ihm eine gewisse Strenge verlieh, welche jedoch durch ungewöhnlich sanften Augen gemildert wurde. Im Gegensatz zum rauchigen Räuberzivil des anderen trug er eine Marineuniform, bestehend aus einer dunklen Klapphose und einer taillierten Bluse, die im Nacken in den typischen tiefblauen Kragen auslief. Zwei Orden und eine blaue Kordel mit silbernem Abzeichen prangten an seiner linken Brust. Und obgleich er im Grunde ziemlich nachlässig, vielleicht sogar etwas verroht wirkte und ganz und gar nicht ihren Vorstellungen von einem Matrosen entsprach, war dennoch etwas an ihm, das nicht recht zu bestimmen war und ihre Aufmerksamkeit weckte.
Allein das Wissen um seine Nähe empfand sie plötzlich als beruhigend. Darüber hinaus gab es ihr das warme Gefühl, interessant, vielleicht sogar attraktiv zu sein. Und gerade das war vermisste sie schon seit langen: Eine Aufwertung ihrer Persönlichkeit, die endlich all die schrecklichen Zweifel dämpfte, welche sie in letzter Zeit in teilweise fürchterliche Komplexe getrieben hatten. Hendrik, dieser Zyniker, hatte diese noch durch seinen Sarkasmus genährt, indem er sie fortwährend foppte, sie hätte zu viele Sommersprossen, ihre Schenkel seien zu stramm und ihr Busen für ihr Alter zu groß. Zudem hatte er sich am Ende immer häufiger wie ein selbstverliebter Snob aufgeführt, dessen arroganter Dünkel kaum noch zu ertragen war. Nein, sie mochte nicht mehr daran denken, nicht jetzt.
Der Lautsprecher tönte erneut und kündigte die Einfahrt des Zuges an. Die Reisenden nahmen ihre Sachen auf und traten von der Bahnsteigkante zurück. Noch einmal schaute sie zu ihm rüber. Er hatte mittlerweile seinen Seesack geschultert, und plötzlich trafen sich ihre Blicke. Da schoss ihr das Blut in die Wangen und sie senkte verlegen den Kopf. Doch als sie den Blick wieder hob, hatten sich die Menge bereits verschoben, so dass sie ihn nicht mehr sehen konnte.
„Passen Sie doch auf!“, fluchte eine Stimme dicht hinter ihr und riss sie augenblicklich aus ihren Gedanken.
Erschrocken fuhr sie sich um. Oh Gott, sie musste der Dame hinter ihr auf die Füße getreten haben und das auch noch so unglücklich, dass diese nun jammernd beiseite humpelte. Der Mann an ihrer Seite - es war der ältere Pensionär - begann in seiner Hilflosigkeit sogleich lautstark zu lamentieren und beklagte diese Ungeschicktheit, der es wohl zu danken sei, dass sie nun keinen Sitzplatz mehr bekämen. Fortwährend beschimpfte er seine Frau, ohne im geringsten zu bedenken, dass allein Ilka Schuld an diesem Umstand trug.
„So beruhigen Sie sich doch“, stammelte sie, noch immer völlig konfus und selbst den Tränen nahe. „Ist sicher nur halb so schlimm, bin selbst Krankenschwester - lassen Sie mich mal sehen.“
Und ungeachtet des ganzen Durcheinanders, der allgemeinen Drängelei und dem lautstarken Gezeter des Mannes, kniete sie vor der Jammernden nieder, zog behutsam deren Schuh aus und betastete den geröteten Knöchel. Dann zog sie ihr gelbes Seidentuch vom Hals und bandagierte ihn so gut es eben ging.
„Jetzt besser? Versuchen Sie den Fuß ruhig zu halten und die Schwellung wird schnell...“
„Sie haben gut reden!“, fiel ihr der Mann ins Wort. „Wie soll sie das denn machen, bei dem Gedränge?!“
Und da die Frau tatsächlich nicht zu jammern aufhörte, griff sie ihr kurzentschlossen unter den Arm, schulterte auf der anderen Seite ihre Tasche und führte sie, unter der hilflosen Anteilnahme des völlig überforderten Mannes zur erst besten Waggontür.
„Entschuldigung“, bat sie die Leute, welche die Aussteigenden dichtgedrängt umlagerten. „Sie werden verzeihen, aber die Dame hier hat sich verletzt.“
Man sah sich um, und widerwillig bildete sich eine kleine Gasse, die ihnen den Zutritt ermöglichte. Vorsichtig setzte Ilka den schmerzenden Fuß der Frau auf die Stufe und schob sie schließlich Schritt für Schritt in den Wagen. Dort drängte sie weiter voran, neben sich die humpelnde Frau, deren Arm über ihrer Schulter immer schwerer wurde und die sich ganz offensichtlich darin gefiel, möglichst leidend zu wirken. Danach folgte ihr Mann, dessen ungeduldiger Blick auf der steten Suche nach einem möglichst freien Platz bereits weit nach vorne schweifte, ohne darauf zu achten, wie sehr er ihr dabei den schweren Koffer gegen die Beine rammte.
In den Abteilen war es stickig. Überall hing der bittere Dunst von Zigaretten und Alkohol in einer verbrauchten miefigen Luft, die sich an den Scheiben in kleinen Tröpfchen niederschlug. Hinzu kam die grelle Deckenbeleuchtung, die alles in ein milchiges Hell tauchte - ein grelles, beißendes Hell, das nach der vorangegangenen Dämmerung in den Augen brannte. Natürlich war es auch hier brechend voll, und außer übermüdeten stummen Gesichtern, die bei ihrem Eintreten gereizt und nervös reagierten, war hier nichts zu erwarten. Niemand würde sich erbarmen, schon gar nicht wegen einer älteren Dame, die in Begleitung eines stieseligen Mannes war.
Auch im zweiten Abteil nichts anderes. Im dritten schließlich wurde sie fündig. Gleich hinter Tür in einer Ecke bemerkte sie einen ziemlich stutzerhaft gekleideten Herren, der, den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt, mit weit aufgesperrtem Munde schnarchte. Den Platz neben ihm belegte eine große Reisetasche, die offenbar nicht mehr ins Gepäcknetz passte.
„Sie werden entschuldigen, ist dieser Platz noch frei?“ sprach sie ihn unvermittelt an.
Ohne jedoch die geringste Notiz von ihr zu nehmen, wuchtete sich der Herr unwirsch auf die andere Seite, um seinen Schlaf fortzusetzen.
„He, Sie! - ist dieser Platz noch frei?“, wiederholte sie ihre Frage und rüttelte seine Schulter.
Erschrocken riss er die Augen auf.
„Wenn sie so freundlich wären, ihre Tasche... nun ja, diese Frau hier hat sich am Fuß verletzt, und es wäre nett, wenn...“
Nun musterte er die Dame, und die Art, wie er es tat, ließ seine Gedanken erraten.
„Nun ja, liebend gerne, junge Frau“, begann er sich zu winden, „wirklich, aber ich weiß nicht, w--wohin mit meiner Tasche? Dort sind viele zerbrechliche Dinge drin... Sie verstehen... und außerdem muss ich Sie ja nicht daran erinnern, dass wir uns hier in einem Abteil für Platzkarten befinden.“
„Ach so, ...aber haben Sie denn zwei?“
„Zu meinem Bedauern ja.“ Unter einem süßsauren Lächeln kramte er die beiden Coupons hervor.
Ilka war außer sich, und sie hätte ihm sicher ein paar sehr deutliche Worte an den Kopf geworfen, wenn nicht gerade in diesem Augenblick eine Stimme irgendwo aus dem Hintergrund gerufen hätte: „Ach, das ist ohnehin kein guter Platz... Kommen Sie hier rüber, hier ist noch was frei.“
Ilka, die noch keine Zeit gefunden hatte, zu sehen, wer sie da so unvermittelt ansprach, nahm den Arm der Frau von ihren Schulter, und als sie sich umsah, erkannte sie niemand anderen als den Matrosen.
„Oh, danke - vielen Dank, wirklich, das ist wirklich sehr nett...“, stammelte sie und bugsierte die Dame mit der Routine einer geübten Therapeutin in jene Ecke, die nun offensichtlich frei geworden war, während ihr Mann sogleich den Mittelgang mit seinen sperrigen Koffern verbaute und sich erschöpft und sichtlich erleichtert darauf niederließ. „Strecken Sie den Fuß aus und versuchen ihn, in der nächsten Zeit nicht zu belasten... Und Sie –“, diese Aufforderung galt dem Mann, der sie noch immer böse ansah“, Sie sollten darauf achten und etwas mehr Rücksicht auf sie nehmen.“
„So lassen Sie mich doch endlich!“, schimpfte die Frau plötzlich schnippisch und stieß sie unsanft fort. „Reden Sie mir nicht dauernd von Rücksichtnahme, nicht Sie! ... Kurt, gib mir doch bitte die Tabletten, - na du weißt schon, die kleinen grünen, in der rosa Schatulle.“
Ilka war sprachlos. Und als sie nun auch noch mit ansehen musste, wie fidel die Dame plötzlich aufsprang, um die Tabletten, die ihr Mann in seiner Schusseligkeit nicht gleich fand, selbst aus der Tasche zu nehmen, wurde sie rot. Schon wollte sie sich weiter nach vorne drängen, einzig von den Gedanken getrieben, nur weg von dieser undankbaren Person, als der Matrose sich erneut einmischte.
„Machen Sie sich nichts daraus. Benehmen ist nun mal nicht überall selbstverständlich ... Aber wenn Sie wollen... -?“
Er wies hinter sich und bot ihr seinen Platz an, der sich schräg gegenüber befand. Aber sie wollte kein Mitleid; es kränkte und setzte sie herab. Sie war Frau genug, solche Dinge alleine zu meistern. So erwachte ihr altes Misstrauen mitsamt ihrer Gereiztheit, so dass es am Ende bei einem schroffen: „Nein, danke, nicht nötig“, blieb.
„Wie weit müssen Sie denn?“
„Bis Endstation, warum?“
„Dann sollten Sie lieber annehmen.“
„Es ist wohl doch besser, wenn...“
Doch schon hatte er seinen Seesack aus dem Gepäcknetz gerissen und dafür ihre Tasche reingequetscht. „So - und nun setzen Sie sich. Wenn woanders was frei wird, können sie ja wechseln.“
„Aber ich kann doch nicht ...“
„Machen Sie sich darüber keine Gedanken.“
„Das kann ich nicht annehmen... Also, geben Sie mir bitte meine Tasche ... sofort.““
„Wie Sie wünschen.“
Doch gerade als er die Tasche wieder herunternehmen wollte, hörte man von draußen ein fürchterliches Gebrüll. Einige der Armisten waren aneinander geraten und lieferten sich ein lautstarkes Wortgefecht, von dem jedoch nur Fetzen zu verstehen waren. Dann knallte es, Bierschaum quoll unter der Türe hindurch und ein lautstarkes Poltern ließ die Wand erzittern. Der Matrose schob ihre Tasche wieder zurück. „Wenn es Sie beruhigt; wir können uns diesen Platz ja teilen.“
„Teilen? Wie stellen Sie sich das vor?“
„Ganz einfach; nach der Hälfte der Zeit wechseln wir. Immerhin stehen uns noch einige Stunde bevor, und die können bei dem Gedränge ganz schön lang werden. Außerdem wird sie hier kaum jemand belästigen ... Nun machen Sie schon, bevor ich es mir anders überlege.“
Das alles brachte er so ohne jede Ironie und Aberwitz hervor, was sie abermals verwirrte, zumal sie ihr Selbstverständnis dazu verpflichtete, stets zu einer eigenen Entscheidung zu kommen. Einen Moment wollte sie widersprechen. Doch irgendetwas hielt sie abermals davon ab. Warum auch? Was hatte er schon getan, ihr seinen Platz angeboten. Na und? - das verpflichtete doch zu nichts. Also setzte sie sich mit dem faden Empfinden eines widerwilligen Gehorsams, ohne den Blick von ihm zu nehmen, wobei sie jedoch zu ihrer Verblüffung feststellte, dass er plötzlich das Abteil verließ und sich nach draußen im Gang zu den anderen gesellte. Allein sein mausgrauer Seesack blieb neben ihr zurück.
Sie geriet in Verwirrung. Ganz deutlich konnte sie ihn jetzt durch die trübe Türscheibe erkennen, wie er bei diesen Typen stand und dort erneut zur Flasche griff. Offenbar entbrannte ein Gespräch, wobei er den anderen etwas zu erklären schien, ab und an wies er mit dem Kinn in ihre Richtung. So ein mieser Kerl! Wer weiß, was er jetzt erzählte? Wütend starrte sie vor sich hin, ganz auf sich und ihren tiefen Schmerz fixiert. Doch wie auf andere Gedanken kommen? Es war zum Verrücktwerden! Ihr Buch befand sich noch in ihrer Tasche, und diese hatte er tief ins Gepäcknetz gedrückt, woraus sie es ohne fremde Hilfe kaum herausbekäme. Doch sich zu bewegen und womöglich erneut alle Blicke auf sich zu ziehen, wagte sie nicht. Also blieb ihr nichts, als sich zu fügen.

Impressum

Texte: die Geschichte einer Liebe
Tag der Veröffentlichung: 28.10.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
in Erinnerung an meinen Vater

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