Florian saß gerade im Bus, als ihn wieder ein Moment der Schwäche überkam. Ihm schossen Tränen in seine blauen Augen. Schnell kramte er eine Packung Taschentücher aus seiner Hosentasche und nahm sich eins, um sich die Tröpfchen aus dem Gesicht zu wischen. Er war ziemlich aufgeregt. Es war das erste Mal, dass er seinen Vater besuchte – und das mit sechzehn Jahren.
Jedoch hob sich Florians Besuch bei seinem Vater wesentlich von Besuchen anderer Kinder bei ihren Vätern ab. Florians Vater war verstorben, vor fünf Jahren. Florian konnte sich schon gar nicht mehr richtig an die Zeit erinnern, die er mit seinem Vater verbracht hatte. „Ich weiß nur noch, dass er mir immer in Mathe geholfen hatte“, dachte Florian mit einem lachendem und einem weinendem Auge an die Zeit zurück, wie er es oft schon getan hatte.
Das war auch fast das Einzige, an das er sich noch erinnerte – an das er sich erinnern wollte.
Nach dem Tod seines Vaters hatte sich für Florian viel verändert. Er war von dem Gymnasium auf die Realschule herunter gestuft worden, da er sich nicht mehr richtig hatte auf die Schule konzentrieren können und die Situation ihn zu sehr belastete, überforderte, fast verrückt machte. Auf dem Gymnasium war er einmal Klassenbester, jetzt auf der Realschule einer der Schlechtesten.
Für ihn war der Tod seines Vaters einfach unerträglich gewesen. Er und sein Vater waren immer ein unzertrennliches Paar . Daher war es jetzt auch das erste Mal, dass Florian zum Grab seines Vaters ging. Er hatte die kompletten Jahre, die er zusammen mit seinem Vater verbracht hatte, einfach aus seinem Gedächtnis gelöscht. Dies war besser für ihn, wie auch die Psychologin gesagt hatte, bei der sich Florian bis vor einigen Wochen jeden Mittwoch zum Gespräch einfand. So konnte er den Schmerz, dem ihm der Tod des Vaters gebracht hatte, besser verkraften.
Am Anfang hatte Florian noch geglaubt, dass sein Vater einfach abgehauen war, da er – bis zu diesem Zeitpunkt – nie einen Grund erfahren hatte, warum sein Vater gestorben ist. Heute wusste er, dass er ertrunken sein musste, in den Fluten, die ihn bei einer Schifffahrt überrascht hatten. Sein Vater war für immer von der Erde verschwunden, das wusste Florian tief im Inneren, denn sein Vater hätte ihn nie im Stich gelassen und wäre zurückgekehrt, wenn er den Unfall überlebt hätte. Doch der Gedanke, dass er irgendwann zurückkommen könnte, bei dem Florian sich einige Male noch ertappen musste, hielt den Jungen am Leben.
Heute wollte Florian seiner Vergangenheit endlich ins Auge blicken. „Mal sehen, wie das Grab überhaupt aussieht. Ich habe es ja noch nie gesehen“, hatte der Junge, der seine Spannung kaum noch zügeln konnte, sich gesagt, bevor er den Weg an das Grab seines Erzeugers angetreten hatte.
Um die lange Busfahrt etwas zu verkürzen holte Florian nach kurzer Zeit sein Handy aus der Tasche und spielte ein Spiel in dem es darum ging Flugzeuge abzuschießen. Dabei ging er sich manchmal kurz durch sein braunes, weiches Haar. Das machte er öfter, es war eine kleine Macke von ihm.
Nach weniger als fünf Minuten hielt der Bus an und der Junge stieg aus. Er ging durch die große Friedhofstür, die er nur mit Ach und Krach öffnen konnte, und machte sich auf den Weg zum Grab seines Vaters.
Die Gräber waren in Reihen gegliedert, jede hatte einen Buchstaben, mit dem die Nachnamen der Verstorbenen anfingen. Für manche Buchstaben gab es zwei, manchmal sogar noch mehr, Reihen. „Es muss ja ziemlich viele Reihen mit 'S' geben“, dachte Florian angespannt und auch ein wenig verkrampft, als er gerade an der vierten Reihe, auf der 'S' stand, vorbei gegangen war.
Nach zwei weiteren Reihen kam Florian endlich zu dem Buchstaben, den er gesucht hatte: Das 'T'. „Jetzt muss ich nur noch unseren Nachnamen finden.“ Florian war sich sicher, dass er dafür nicht sehr lange brauchen würde. Er war zwar traurig über den Tod seines Vaters, aber trotzdem war er froh, endlich mal das Grab seines Vaters sehen und zu diesem sprechen zu können, auch wenn er nicht wusste ob sein Vater ihn, da wo er war, hören würde.
Als er seinen Nachnamen gefunden hatte, kam Florian fast gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. So hübsch hätte er sich das Grab niemals vorstellen können. Auf dem dunklen Sand waren mehrere Blumensträuße und ein kleiner Busch, den Florian damals mit seiner Mutter zusammen gekauft hatte, ragte heraus. Zudem lag vor dem Grabstein noch eine sehr hübsche Rose, die nicht älter als einen Tag schien und somit frisch hinlegt worden sein musste.
Als Florian nun auf den Namen seines Vaters blickte, der in den Stein eingemeißelt war, kamen in ihm viele Erinnerungen an seine Vergangenheit hoch. Er versuchte sie zu verdrängen, ließ sie jedoch nach einigen Sekunden bereits gewähren und in seine Gedanken eindringen. Er erinnerte sich unter anderem daran, wie er mit seinem Vater Mathe gelernt hatte, wie sie zusammen im Garten Fußball spielten und wie die beiden einmal in der Woche zusammen schwimmen gewesen waren.
Als nächstes kam eine ganz besondere, traurige Erinnerung in ihm hoch. Er wusste noch als wäre es gestern gewesen, wie er von der Schule nach Hause kam und sein Vater noch nicht da gewesen war. Überall hatte er ihn gesucht, da er dachte, dieser hätte sich versteckt. Jedoch konnte Florian ihn nirgendwo finden.
Seine Mutter kam schließlich zu dem Jungen, nahm ihn in ihre Arme und flüsterte: „Dein Vater wird bestimmt bald kommen. Mache dir keine Sorgen, mein Schatz. Es wird alles gut.“ Doch dann vergingen die Tage. Sein Vater war immer noch spurlos verschwunden. Eine Woche nachdem seine Mutter eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte, kamen die Polizisten und überbrachten den beiden die Nachricht von dem Bootsunglück, dass sich an der Küste der Nordsee zugetragen hatte. Zu diesem Zeitpunkt war für Florian und seine Mutter eines klar: Er musste gestorben sein.
Während in Florian all diese Erinnerungen hoch kamen, schossen ihm die Tränen in die Augen. Er ließ seinen Kopf in seine Händen versinken. Eigentlich weinte der Junge nicht oft, doch die Geschichte um seinen Vater hatte ihn schon desöfteren aus der Fassung gebracht
Plötzlich hörte Florian eine Stimme. „Warum weinst du mein Sohn?“ Geschockt drehte Florian sich um. Er wollte seinen Augen nicht trauen – aber vor ihm stand sein Vater. Dieser guckte ihn durchdringlich an. Florian guckte verblüfft zurück.
Er wusch sich die Tränen mit dem Ärmel aus dem Gesicht, noch immer fest davon überzeugt, dass er sich irrte oder eine Halluzination vor sich sah. „Bist du es wirklich? Bist du es, Vater?“
Der Mann, der wie sein Vater aussah, nickte.
„Wie? Was?“ Dem Jungen fehlten die Worte. Nach einigen Anläufen brachte er doch einen vernünftigen Satz zustande: „Wie kommt es, dass du hier bist und nicht tot?“
Sein Vater schwieg. Dann guckte er in Richtung Himmel: „Weißt du, mein Sohn. Es war alles ganz anders, als du und deine Mutter gedacht habt!“
Texte: Sämtliche Personen und Geschehnisse sind frei erfunden,
Gemeinsamkeiten mit reellen Personen und Ereignissen wären rein zufällig.
Tag der Veröffentlichung: 28.06.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch meinem (lebenden und bei mir Zuhause wohnenden) Vater, der immer für mich da ist!