Marvin blickte den Abgrund hinunter, die Tränen in seinen Augen waren schon getrocknet. Wie tief er wohl war? Bestimmt mehr als zwanzig Meter. Doch tiefer als Marvin in den letzten Tagen gefallen war, konnte der Abgrund bestimmt nicht sein.
Was dort unten war? Wasser? Steine? Vor lauter Nebel konnte er es nicht richtig erkennen. Es war Jahre her, dass er hier gewesen war, viele Jahre. Er war damals fünf Jahre alt gewesen, jetzt war er achtzehn. Doch trotz dieser langen Zeitspanne konnte Marvin sich noch genau daran erinnern, wie es damals gewesen war. Mit seinem Vater war er spazieren gegangen und zu diesem Abhang gelangt, der nur etwa zwanzig Minuten zu Fuß von seinem Zuhause entfernt war. Doch dieses eine mal hatte ihn so schockiert, dass er immer einen großen Bogen um den Wald machte, der in dem Abgrund endete, obwohl er den Weg nach so vielen Jahren immer noch genau kannte.
Sein Vater und er waren damals eher zufällig in diese Gegend gekommen. Sie hatten sich verquatscht und waren ohne es zu merken in den Wald gegangen, vor dem der Vater solche Angst hatte. Denn dieser Abgrund war kein gewöhnlicher Abgrund: Er führte in den Tod, wie in der ganzen Gegend bekannt war. Das hatte auch Marvins Tante, die Schwester seines Vaters, feststellen müssen. Sie war eine junge Frau, die nicht mit ihren Problemen klar kam. Sie fing damals an verrückt zu werden und schließlich endete ihr Leben an diesem Punkt, an dem Marvin nun stand.
Würde sein Leben nun ebenfalls hier enden? Marvin hielt nicht viel von solchen Gedanken. Einige seiner Freunde hatten viel Erfahrung damit, wie man seine Probleme vergessen konnte. Viele tranken Alkohol, wenn es ihnen schlecht ging, und auch einige ritzen sich. Marvin hielt nicht viel davon. Ritzen war für ihn etwas „für Leute, die nicht mit ihren Problemen klar kommen“ und für welche, „die psychisch gestört sind“. Er selbst kam auch nicht immer mit seinem Leben klar, wie jetzt. Doch trotzdem war für ihn Ritzen keine Lösung. Auch Alkohol trank er nicht oft, denn der Mann seiner Tante war Alkoholiker gewesen und hatte sie nicht zuletzt dadurch mit in den Tod und an diese Klippe getrieben.
Für Marvin war es sehr schwer zu verstehen was damals passiert war. Oft hatten er und sein Vater darüber gesprochen und dieser hatte es ihm in aller Ruhe erklärt. Doch jetzt, jetzt wo er älter war redeten sie nicht mehr darüber. Marvin wusste gar nicht wann er überhaupt zum letzten mal mit seinem Vater geredet hatte. Was heute schon wieder in seinen vier Wänden vor gefallen war, konnte man nicht in die Kategorie eines vernünftigen und normalen Gespräches einordnen. Marvin saß mit seinen Eltern am Mittagstisch, als sie ihn wieder anmeckern musste, was jedoch für Marvin in der letzten Zeit nichts Neues war. Streit war in seinem Haus in den letzten Wochen normal gewesen. Immer wieder Kleinigkeiten brachten seine Eltern zur Weißglut, wie auch heute. Marvin hatte vergessen das Essen, was er kochen musste, zu salzen und prompt entflammte eine Diskussion, die in einem dieser Streits endete, die Marvin bis heute nicht wikrlich verstehen konnte.
Er ging in sein Zimmer, wie schon eine Woche zuvor. Doch hatte ihn letztes Mal noch jemand zurückgehalten das Haus zu verlassen, war diesmal niemand mehr da. Marvin packte also nichts ein außer seinen Glücksbringer, einen Sternschlüsselanhänger, der ihn schon sein Leben lang begleitet hatte, und flüchtete aus seinem eigenen Zuhause, in dem er aufgewachsen war.
Diesmal war es alles anders als noch vor einer Woche. Denn seine Eltern waren nicht die einzigen Sorgen, die er hatte. Oft fühlte er sich von einigen seiner Freunde im Stich gelassen. Wer war da, wenn man ihn mal brauchte? Fast niemand. Klar gab es einige die für ihn da waren, doch das war auch mal mehr mal weniger. Sie alle hatten selbst Sorgen, was Marvin auch vollkommen verstand. Doch einige seiner Freunde kamen nur zu ihm, wenn sie niemand anderen mehr hatten.
„Wer würde mich vermissen?“, fragte Marvin sich, als er an der Klippe stand. „Wer würde mich vermissen?“ Diese Frage hatte er sich in letzter Zeit so oft gestellt. Sein bester Freund? Der kümmerte sich nur um seine Freundin. Er war zwar auch für Marvin da, doch oft hatte der Junge das Gefühl, dass er ihm nur mit halben Herzen zuhörte, was Marvin zu dem Glauben brachte, auch er würde ihn nicht vermissen, solange er seine Freundin hatte. Vielleicht Marvins beste Freundin? Die würde ihn bestimmt vermissen – dachte Marvin jedenfalls bis gestern. Oft saßen sie zusammen, telefonierten jeden Tag in letzter Zeit und Marvin hatte ihr wirklich alles anvertraut. Er fühlte sich bei ihr wohl, geborgen und wusste das jemand da war, solang sie bei ihm war. Sie gab ihm halt, als er keinen Ausweg mehr wusste und hielt ihn in den letzten Wochen am Leben.
Jedes Mal wenn sie sich gesehen hatten, nahm sie ihn in den Arm und tröstete ihn. Sie heilte die Wunden, die durch den Stress mit seinen Eltern und seinem besten Freund entstanden waren und löschte seine Tränen. Er hatte sehr oft das Gefühl sie war die Einzige, die ihn verstand – und vor allem war sie die Einzige, in deren Nähe er alles andere vergessen konnte.
Marvin wusste gar nicht mehr, was er ohne seine beste Freundin machen würde. Oft fragten seine Freunde die beiden, warum sie nicht zusammen waren, wenn sie die beiden beim Kuscheln und Flirten sahen. Sie wären doch so ein schönes Paar...
In seiner momentanen Situation konnte Marvin auch echt eine Freundin gebrauchen, obwohl er immer sehr glücklich als Single war. Doch seine beste Freundin? Das war einfach unmöglich. Das wusste er genau so gut wie sie. Doch wusste er zu dem Zeitpunkt noch nicht was ihn erwarten würde.
Gestern war wieder so ein Tag, an dem Marvin die Geborgenheit, die seine beste Freundin ihm gab, gebraucht hätte. Doch diesmal war sie, im Gegensatz zu den ganzen Wochen zuvor, nicht da. Auf seinen Anruf folgte nur ein kurzes „Tut mir Leid, ich habe gerade keine Zeit. Es ist sowieso besser wenn wir nicht mehr so viel zusammen machen. Denn ich möchte nicht, dass die Leute falsch von uns denken. Es war echt schön die letzten Wochen, aber es ist genug.“
Marvin fühlte sich nach dem recht kurzen Telefonat nicht nur leer und verletzt, sondern auch verarscht. Verarscht von dem Mädchen, von dem er gedacht hatte, sie sei seine beste Freundin. Verarscht von dem Mädchen, bei dem er die Tage zuvor noch im Arm gelegen und ihr all seine Probleme anvertraut hatte. Und nicht zuletzt verarscht von dem Mädchen, von dem er gedacht hatte, sie und er wären unzertrennlich.
Marvin stand also nun an diesem Abgrund, der mit Sicherheit den Tod brachte. Den Tod? Oder vielleicht eher die Erlösung? Was hatte er denn noch zu verlieren? Nichts. Marvin guckte also ein letztes mal in die Luft, als ihn Gedanken in den Kopf schossen: Sein bester Freund, wie die beiden sich damals noch jeden Tag gesehen und zusammen gelacht hatten; seine Eltern, die damals oft mit ihm redeten und sich für seine Sorgen und Probleme interessierten; und zuletzt seine beste Freundin, die mit ihm vor einigen Tagen noch Arm in Arm lag und sich seine Sorgen anhörte. Das alles hatte er nun nicht mehr, es war Vergangenheit.
Der Junge setzte zum Sprung an. Er hörte plötzlich, wie aus dem Busch Menschen hervorkamen. Die Stimme seines besten Freundes schrie, brachte aber keinen vernünftigen Ton heraus. Auch seine Eltern waren nicht im Stande einen kompletten Satz zu sprechen. Nur seine beste Freundin, die flehend rief, war klar und verständlich zu hören: „Spring nicht. Du weißt doch, dass ich immer für dich da bin.“ Doch es war bereits zu spät. Marvin spürte nur noch wie er aufprallte und seine Knochen zersplitterten...
Texte: Die Rechte des Buches liegen beim Autor. Jede Übereinstimmung mit lebenden oder einmal gelebten Personen wäre rein zufällig
Tag der Veröffentlichung: 09.05.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch allen meinen Freunden, die immer für mich da sind