1.
Der Mond hing am Himmelszelt und warf sein trübes Licht auf die Erde, die in der nächtlichen Dunkelheit schlief. Nebel, der sich mit dem Rauch von gewaltigen Flammen mischte, umhüllte das Dorf, das einst als das prächtigste und schönste gefeiert wurde. Heute, kaum ein Jahr später, war von den ländlichen Hütten und Feldern nicht mehr viel übrig geblieben. Das geübte Auge erkannte höchstens noch vereinzeltes Mauerwerk und einige verkümmerte Dachziegel, die den von Finsternis getränkten Boden bepflasterten. Die einzigen Überbleibsel eines wütenden, unbändigen Sturms aus Flammen, Asche und tödlicher Glut.
Das Feuer hatte sich durch die dünnen, nicht gerade widerspenstigen Holzwände gebrannt und das Dorf innerhalb weniger Stunden ins Jenseits befördert; ihm jedes Leben und jeden Menschen genommen.
Fast jedes Leben.
Fast ...
Ein kleiner Junge hatte sich aus den tödlichen Flammen retten können. Er saß benommen, verunsichert zitternd, auf einem zerfetzten Baumstumpf, den die Glut durch große, grelle Flammen gezeichnet und verunstaltet hatte. Trotz der Splitter, die wie Dornen aus dem Balken heraus ragten, fand der Kleine eine Stelle, auf der er sitzen konnte.
Das Gefühl, an diesem ruhigen und vertrauten Platz zu verweilen, war angenehm erholsam. Obwohl den Jungen gleichzeitig eine tiefe Trauer schmerzte, die wie ein brennender Dolch in sein Herz stieß. Der Stumpf war einmal, bevor die grellen Flammen das Dorf heimgesucht hatten, sein Lieblingsbaum gewesen. An Tagen, an denen er traurig, wütend, oder einfach nur erschöpft war, hatte er ihn aufgesucht, um Halt und Aufmunterung zu bekommen. Der Junge hatte dort die Zuflucht gefunden, die er in seinem eigenen Haus mit fünf Geschwistern nie gehabt hatte. Genau wie jetzt, wo alles um ihn herum verendet und sich in eine einzige Wolke aus Staub verwandelt hatte.
Tränen schossen dem Kleinen in die Augen. Er versuchte zwar die düsteren Gedanken zu verdrängen, doch die Realität holte ihn mit jedem Blick in seine Umgebung ein. Er war kaum älter als zehn, sich jedoch bereits bewusst, dass dieses Feuer sein ganzes Leben verändern würde, ihn in den Abgrund riss. Er würde die Dorfbewohner und seine alte, vertraute Heimat nie wieder sehen.
Tot.
Alle tot.
Seine Freunde – tot.
Seine Eltern – tot.
Die Häuser – tot.
Die Bitterkeit der Wahrheit ließ ihn vor den Geschehnissen erzittern. Er klammerte die Hände wie Krallen an seine Arme. Seine Fingernägel – soweit er noch welche hatte – gruben sich in das Fleisch seines eigenen Körpers. Blut tropfte langsam auf den Boden. Unbemerkt. Nicht hörbar. Von niemandem. Außer von dem kleinen Waisenjungen selbst. Es war, als wäre nichts von Bedeutung. Nicht einmal sein eigenes Leben, das ihm wie durch ein Wunder erhalten geblieben war.
Im nächsten Moment verschwanden die dunklen Gedanken und wichen einer grenzenlosen Leere. Kummer, der ihn von Innen auffraß und selbst die Trauer nicht mehr zuließ, durchfloss seinen Geist. Er fühlte sich einsam, wertlos. Das Feuer hatte ihm den Sinn seines Lebens genommen.
Der Junge stand auf. Mit einem Schritt verschwand er aus dem schwarzen Nebel, der sich seit dem Feuer aus Asche und Ruß gebildet hatte. Erst als er im Licht des Mondes stand, wurde erkennbar, welche Erinnerungen an diesen schicksalhaften Tag ihm geblieben waren. Welche Narbe er von jetzt an ewig mit sich herumtragen musste. Und das
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Alle Rechte liegen beim Autor. Jede Übereinstimmung mit lebenden oder einmal gelebten Personen wäre rein zufällig.
Tag der Veröffentlichung: 05.04.2009
ISBN: 978-3-943142-34-1
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme diese Geschichte allen Menschen die ein gutes Herz haben. Auf das sie es stets schaffen, das Dunkle in ihrem Inneren zu besiegen.