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Beleidigungen mit Folgen

Sie holte ihr Handy aus der Jackentaschen und schaute darauf, um die Uhrzeit zusehen. Der Bus sollte eigentlich schon seit drei Minuten hier gewesen sein.
Sie schon das Handy zurück und verstaute auch ihre eiskalten Hände in den Taschen. Die paar Grad unter dem Gefrierpunkt waren deutlich zu spüren. Ihr Atem entfuhr ihrem, von der Kälte aufgerissenem Mund in weißen Schwaden.
Sie musste sich auf ihre Zehenspitzen stellen, damit sie über die Büsche, die an der Straße hinunter gepflanzt waren, hinweg schauen konnte. Aber der 413ner Bus war immer noch nicht zu sehen. Dieser blöde Mist! Ihre Zähne klapperten schon, ihren Zehen konnte sie nicht mehr spüren und jetzt, da der Bus nicht kam, musste sie zu der relativ weit entfernten U-Bahn-Station gehen.
Ein letztes Mal schaute sie noch in beide Richtungen, die Straße hinauf und hinab, doch noch nicht einmal der Bus in die andere Richtung, den sie auch hätte nehmen können, war zu sehen.
Gerade machte sie sich auf den Weg zur Bahn, da sah sie zwei junge Männer auf sich zu kommen. Eigentlich hatte sie sich an ihnen vorbeischlängeln wollen, aber die Männer versperrten ihren Weg und kamen weiter auf sei zu. Die Hände wieder aus den Taschen nehmend wich sie einen Schritt zurück. Was sollte das?
„Hey!“, brachte sie empört hervor. Doch ihrem Wort wurde keine Beachtung geschenkt. Die zwei, anscheinend angetrunkenen, Fremden starrten mit einem widerlichen Ausdruck in ihren Augen auf sie nieder.
Der eine, der Rechte von beiden, war geschätzt 1,80m groß und überragte sie damit um zehn Zentimeter. Er hatte ein kantiges Gesicht, mit dunklen Haaren,die unter seiner hässlichen, grünen Mütze hervor schauten.
Der andere war dicker. Er hatte ein Baby-Gesicht, mit winzig kleinen Schweineäugchen und blonde Haaren. Er war nicht viel kleiner, als sein Kumpel, aber es war klar, dass der Rechte der Dominatere der zwei war. Er war auch der jenige, der sprach: „Na,was haben wir denn da?! Du bist ja  ´ne heiße Maus!“
Sie war sich nicht wirklich sicher, ob das ein schlechter Scherz sein sollte, oder ob sie besser laut um Hilfe rufen sollte. Sie entschied sich dafür die Männer mit offenem Mund und angewidertem Blick anzustarren.
Leider war ihr so kalt, dass ihr ganzer Körper anfing zu zittern.
„Du könntest mit zu mir kommen. Da können wir dafür sorgen, dass dir warm wird!“, sagte der dunkelhaarige, mit einem anzüglichen Unterton und einem Lächeln, bei dem sich ihr Mageninhalt wieder einen Weg ans Tageslicht bahnen wollte.
„Das Einzige, wofür ihr bei mir sorgt ist ein Brechreiz!“, schmiss ich ihm mit unverhohlenem Ekel entgegen.
Sein Unterkiefer mahlte, dann bewegte er sich plötzlich ganz schnell. Sie wurde von ihm nach hinten, gegen die Bushaltestellen-Werbung gestoßen. Bevor sie etwas Abstand zwischen sich und die Werbung bringen konnte, stand der größere vor ihr. Den Zweiten sah sie, wie er sich so positionierte, dass er die Straßeund den Fußweg gut im Blick hatte, damit er seinen Kumpel rechtzeitig warnen konnte.
Grob nahm der Typ vor ihr, ihr Gesicht in die Hand. Sie schlug seine Hand weg.
„Anschauen, aber nicht anfassen! Klar?!“, gab sie giftig von sich.
„Sonst passiert was?! Fängst du dann das Heulen an?!“, fragte er. Er fühlte sich ihr ins unermessliche überlegen.
Sie fingerte ihr Handy aus der Tasche und sagte drohend: „Dann rufe ich meinen großen Bruder an.“
„Ach ja? Und dann weinst du ihm was von den bösen, bösen Männern vor?“
Sie stieg gar nicht auf seine Bemerkung ein, sondern fuhr fort: „Er ist Bodyguard und war früher Türsteher. Wenn er erst einmal da ist, dann werdet ihr nichts mehr zum Lachen haben!“
„Also hässlich und dumm?“, wagte der Fremde zu sagen.
Sie zwang sich die Augen einen Moment zu schließen und tief durchzuatmen. Sie öffnete sie und holte mit der Faust aus, die den Betrunkenen genau ins Gesicht traf. Er schrie auf und sie hätte beinahe mit geschrien, so sehr schmerzte ihr Hand von dem Schlag. Wie ein Blitz war der Schmerz von ihren Fingern hinauf zum Handgelenk und dann weiter in ihre Schulter geschossen.
„Niemand bezeichnet meinen Bruder als dumm oder hässlich und schon gar nicht beides auf einmal. Das stimmt nämlich nicht!“, schrie sie und setzte noch einen drauf. Sie rammte ihm ihr Knie zwischen die Beine. Er sank wimmernd am Boden zusammen.
Sie hatte gut getroffen.
Der Blonde kam angelaufen, um seinem Kumpel zu helfen.
„Arschlöcher!“, schrie sie und rannte.

Der angeschossene Bruder

„Ian!“, trällerte Luna, während sie die letzten Stufen der steilen Holztreppe hinunter hechtete. Ian saß am Küchentisch und war gerade mit frühstücken beschäftigt. Seine kleine Schwester rannte zu dem Stuhl neben ihm und setzte sich darauf. Sie war so aufgeregt, dass sie gar keinen Hunger verspürte.
Lunas Bruder nahm noch einen Löffel Müsli in den Mund und sprach dann undeutlich: „Wieso hast du heute so gute Laune? Ist der Hamster etwa endlich tot und du glaubst du bekommst jetzt einen Hund, oder was?“
„Du bist gemein! Abda ist noch lange nicht tot! Und er ist das tollste Haustier, das man nur haben kann!“, wurde Ian an gemault. Luna schob die Unterlippe vor und verschränkte die Arme vor ihrem schmalen Oberkörper.
Ian schmunzelte, sagte dann aber zu seiner Schwester: „Natürlich ist Abda das schlauste, süßeste und beste Haustier, das man haben kann. Verrätst du mir trotzdem, warum du so gute Laune hast?“
Bei den Worten ihres Bruders fing Luna erneut an zu strahlen. Sie wusste, dass er von alleine wahrscheinlich nicht darauf kommen würde, deswegen entschied sie sich ihn noch etwas hinzuhalten und sagte: „Denk doch mal nach, was heute für ein Tag ist.“
Die Falte, die Luna von ihm kannte, wenn er nachdachte, erschien auf seiner Stirn. Er schob sich noch einige Löffel Müsli in den Mund, während er nachdachte, dann kam er irgendwann zu dem Schluss: „Ich wüsste nicht, was an dem heutigen Tag so besonders sein sollte.“
Vorwurfsvoll sah Luna ihn an. „Mama und Papa haben heute Hochzeitstag. Das kannst du doch nicht jedes Jahr wieder vergessen. Und sie sind heute Morgen schon ganz früh mit dem Auto weggefahren. Und ich hab‘ heute keine Schule.“
„Wieso hast du keine Schule, Schwesterherz?“, fragte Ian und musterte sie etwas argwöhnisch.
Ihr Grinsen wurde noch etwas breiter und sie sagte stolz: „Heute haben alle Lehrer Konferenzen, die ich im Unterricht hätte, deswegen komme ich heute mit dir zur Arbeit.“
Ian verschluckte sich an seinen Cornflakes und sein Löffel fiel ihm aus der Hand und landete laut klirrend in der Keramikschale.
„Darüber reden wir jetzt aber nochmal. Du tust bitte was? Aber ganz sicher kommst du nicht mit zu meiner Arbeit. Das kannst du dir aus deinem kleinen, süßes Kopf schlagen.“, stellt Ian klar, doch seine kleine Schwester zog zwar eine Schnute, ließ sich aber trotzdem nicht von ihrem Vorhaben abbringen.
„Natürlich komme ich mit! Mama und Papa haben auch gesagt, dass ich mit dir kommen soll.“
„Das haben sie gar nicht gesagt. Außerdem ist das gefährlich. Ich kann da doch nicht mit meiner kleinen Schwester auftauchen.“
„Mama und Papa haben dir einen Zettel geschrieben, falls du mir nicht glaubst. Liegt vorne am Eingang. Ich hole ihn für dich.“, sagte Luna und sauste zur Haustür, während ihr Bruder nur da saß und mit offenem Mund nachdachte, ob das Alles gerade wirklich geschah. Zusätzlich hatte er schon seit dem Aufstehen ein ungutes Gefühl.
Seine chwester kam wieder zurück gerannt und hielt ihm einen gelben Zett so nah vor die Augenem dass er nicht lesen konnte, was darauf stand. Er nahm ihn Luna aus der Hand und las:

Guten Morgen Ian,
da wir heute nicht das sind und Luna nicht in der Schule ist, musst du sie bitte mit zur Arbeit nehmen.
Mama&Papa

 „Ist das deren Ernst? Kannst du nicht zu irgendeiner Freundin? Zum Beispiel zu Clara?“, versuchte Ian seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Doch seine Schwester schaltete auf stur. „Ich will nicht zu einer der blöden Kühe! Ich will bei dir bleiben. Bitte, Ian, bitte. Nur heute. Nur ausnahmsweise. Bitte!“
Lunas Bruder seufzt auf. Er konnte den Bitten seiner Schwester einfach nicht wiederstehen.
Er nahm seinen Löffel und seufzte in den nächsten vollen Löffel: „Okay, aber nur heute. Das mache ich nie, nie wieder. Ist das klar, Schwesterherz?“
„Ja, ja.“, kam es nur noch trällernd von Luna, dann warf sie sich schon um den Hals ihres Bruders. Dieser konnte sich gerade noch so auf seinem Stuhl halten.
„Aber du musst machen, was ich dir sagen, wenn das nicht der Fall ist, dann schicke ich dich sofort nach Hause.“, sagte Ian in einem strengen Ton, doch auch das konnte Lunas guter Laune nichts anhaben. Sie setzte sich frech auf den Schoß ihres Bruders und drückte ihn die ganze Zeit an sich. Ian hatte sichtlich Mühe sein Frühstück zu Ende zu essen.
Endlich war die riesige Schale leer und Ian satt. Seine Schwester saß immer noch auf seinen Beinen. Er schob den Stuhl zurück, stand auf und hob gleichzeitig Luna über seine Schulter.
Luna stieß einen spitzen Schrei aus. Sie konnte es überhaupt nicht leiden, wenn ihr Bruder das mache. Mit den Fäusten hämmerte sie auf seinen Rücken ein, doch er lachte nur und drehte sich mit ihr im Kreis. Luna kreischte wieder, doch dieses Mal fand sie es gar nicht so schlimm. Irgendwie machte es ihr doch Spaß.
Ian hörte auf sich zu drehen und setzt Luna auf den Boden.
Er wies sie an: „Du isst jetzt noch was. Ich habe keine Lust, dass du sobald wir losfahren anfängst zu jammern du hättest Hunger.“
Brav setzte sich Luna an ihren Platz und schüttete Müsli in ihre Schüssel. Ian ging in der Zeit in sein Zimmer, um seine Pistole aus dem Waffenschrank zu holen. Damit kehrte er in die Küche zurück, wo er sich am Küchentisch daran machte die Waffe für den heutigen Tag vorzubereiten.
Aufmerksam sah Luna ihm dabei zu ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was genau er da tat.
„Fertig!“, rief Ians kleine Schwester, als sie auch den letzten Tropfen der Milch aus der Schale getrunken hatte.
Ian ließ sich nicht ablenken, sah sie nicht an und gab ihr den Befehl: „Dann zieh dich an. Ich kann dich nicht im Schlafanzug mitnehmen. Und vergiss nicht Zähne zu putzen.“ Er schien angespannt und etwas schien nicht so zu funktionieren, wie er das wollte.
„Jaha!“, gab Luna genervt von sich und verdrehte die Augen. Beeilte sich aber, als sie den bösen Blick ihres Bruders sah, den er ihr zugeworfen hatte.

Als beide fertig waren, Schuhe und Jacken angezogen hatten, schnappe sich Ian schnell seinen Autoschlüssel. Luna nahm ihren Kindersitz, den ihre Eltern zum Glück noch vor ihrer Abfahrt aus dem Auto genommen hatten, der neben der Tür lag und lief vor Ian, der noch die Haustüre abschloss, zum Auto. Ihr Bruder betätigte die Fernbedienung und die Schlösser der Autotüren sprangen auf. Luna wollte gerade auf den Beifahrersitz klettern, da rief Ian: „Was soll denn das werden? Du steigst hinten ein. Ich will doch keinen Flummi auf meinem Beifahrersitz haben. Ab nach hinten mit dir, sonst bleibst du gleich da!“
Luna guckte grimmig, verstaute aber sich und ihren Kindersitz auf der Rückbank des schwarzen Autos.
Als auch Ian eingestiegen war, überprüft hatte, dass Luna angeschnallt war und er sich selbst auch gesichert hatte, sagte Luna: „Ich will Musik hören. Bitte!“
Also urde das Autoradio eingeschaltet und sie fuhren los.
„Wen hast du denn heute als Klienten? Ist es ein Promi? Kann ich dann ein Autogramm von dem haben?", fragte Luna ihren Bruder, der es fast schon ein kleines Stück bereute, dass er sie mitgenommen hatte.
Trotzdem gab er sich Mühe ihr freundlich zu antworten und sie nicht anzuschnauzen: „Er ist ein Politiker. Ich glaube nicht, dass du von ihm ein Autogramm haben will und unterstehe dich überhaupt erst zu fragen. Verhalte dich einfach so, dass man nicht mitbekommt, dass du da bist. Und bleib vor allem ganz nah bei mir.“
Ian sah im Rückspiegel, wie Luna mit dem Kopf nickte. Beruhigt fuhr er weiter.
Für heute war ein Termin mit der Presse angesetzt, bei der Ians Klient eine Rede halten würde. Wenn da doch bloß nicht dieses komische Gefühl wäre. Lag es daran, dass heute seine kleine Schwester dabei war, oder war da wirklich etwas Gefährliches?

„Wow, sind das viele Leute!“, staunte Luna, als sie hinter der Bühnenverkleidung hervorlugte. „Sind die Alle nur hier, um dir beim Reden zu zuhören?“
„So ist es. Ich habe auch einige wichtige Sachen, die ich erzählen muss.“, antwortet ihr der Klient ihres Bruders. Luna schaute ihn ehrfürchtig an. Selbst bei ihrer Theateraufführung waren nicht so viele Leute anwesend gewesen. Und dabei wirkte er so unscheinbar. Er hatte braune, graumelierte Haare, war glattrasiert und etwas kräftiger gebaut. Zudem war er nicht beeindruckend groß. Vielleicht um die 1,75 m. Außerdem hatte er viele Falten im Gesicht und rochgenau wie Ian nach Zigarettenrauch, nur noch um einiges stärker.
Lunas offener Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen, während sie mit voller Überzeugung sagte: „Später werde ich auch Politiker! Dann hört mir auch mal Jemand zu.“
Ians Klient sah amüsiert auf sie herunter, aber das sah sie nicht, denn sie hatte sich schon wieder umgedreht und staunte weiter über die große Menschenmasse, die sich in diesem riesigen Saal, eingefunden hatte.
Lunas Bruder beugte sich zu ihr herunter und raunte ihr zu: „Ich habe doch gesagt du sollst dich so verhalten, dass Niemand mit bekommt, dass du da bist. Der Mann muss sich auf seine Arbeit konzentrieren und alle anderen hier auch. Am besten setzt du dich unten mit zu den Journalisten. Schaffst du es alleine dir einenPlatz zu suchen?“
Empört sah Luna zu Ian und sagte: „Klar schaffe ich das alleine! Ich bin doch kein Kind mehr!“
Aber genau das war sie noch. Ian hätte sie gerne Zuhause gewusst, oder sie wenigstens zu einem Platz im Raum gebracht, bei dem er sicher war, dass sie gut aufgehoben war. Doch er konnte nun leider nicht hier weg. Er hatte eine Schutzperson, auf die er aufzupassen hatte.
Ian nickte und schickte seine Schwester weg.

Luna hatte einen Platz in der vierten Reihe gefunden. Neben einer junge Frau. Luna hatte gesehen, dass sie Bonbons dabei hatte, war zu ihr gegangen, hatte gefragt, ob neben ihr noch frei wäre. Die nette blonde Dame sagte ja und nahm ihre Tasche und die Jacke von dem Stuhl und Luna konnte sich neben sie setzten. Als sie saß fragte die Frau, was so ein junges Fräulein, wie sie hier machte. Das hatte Luna sehr geschmeichelt, weswegen sie bereitwillig ihre Frage damit beantwortete, dass sie ihren Bruder, der Bodyguard war, begleitete, weil sie heute keine Schule hatte. Die Frau bot ihr ein Erdbeer-Bonbon an und Luna konnte nicht nein sagen. Sie war begeistert. Die Bonbons waren rosa. Genüsslich lutschte sie es.
Die Blonde, trug ein blaues Top, zusammen mit einer dunklen Jeans und erzählte etwas nervös sie hätte heute das erste Mal die Möglichkeit einen Artikel ganz alleine für die Redaktion, bei der sie arbeitete, zu schreiben.
Im Gegenzug dazu erzählte Ians kleine Schwester, dass sie schwer beeindruckt von den ganzen Menschen war, die nur gekommen waren, um einem einzigen Mann beim Reden zu zuhören. Und dass sie später aus eben diesem Grund auch Politikerin werden wollte. Und dann würde sie ihren großen Bruder als Bodyguard engagieren und der würde ihr überall hin folgen und immer gut auf sie aufpassen.
Die Frau lachte und gab ihr den Rat sie sollte erst einmal die Schule abschließen.
Da trat Ian, gefolgt von seiner Schutzperson, auf die Bühne.
Der Politiker stellte sich auf ein kleines Podest, an dem auf etwa Brusthöhe einige Mikrofone angebracht waren. Ian stand neben ihm und ließ seinen Blick einmal aufmerksam über die Menge im Saal schweifen. Als er Luna erblickte blieben seine Augen kurz an ihr hängen, aber sein Gesicht zeigte keine Regung. Seine Schwester wiederstand dem Drang ihm zu zuwinken und begnügte sich mit einem leichten Lächeln.
„Ist das dein Bruder?“, fragte die Frau in dem blauen Top, die sich zu Luna herüber gebeugt hatte. Sie nickte. Dann fing die Schutzperson an zu reden.
Luna musste sich eingestehen, dass sie kaum ein Wort von dem, was er sagte, verstand. Sie fand es sehr einschläfernd. Das Einzige, was sie wach hielt waren die Erdbeer-Bonbons, von denen sie sich so viele nehmen durfte, wie sie wollte.
Luna beobachtete ihren Bruder. Er sah sich erstaunlich hektisch im Raum um. So kannte sie ihren Bruder nicht. Etwas schien nicht in Ordnung zu sein. Aber sie war noch zu junge, um wirklich alle Zeichen deuten zu können, sonst wüsste sie,d ass er Angst hatte, die er versuchte zu unterdrücken. Er ahnte wohl das, was gleich passieren würde.
Als die Rede des Politikers weiter anhielt flüsterte Luna ihrer Sitznachbarin zu: „Das ist mit zu langweilig. Das dauert viel zu lange. Ich mach‘ später doch was anderes.“
Die junge Journalistin kicherte. Sie versuchte zwar es zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht. Zum Glück schien sich keiner der Anwesenden dadurch gestört zu fühlen, nur Ians Kopf fuhr bei diesem Geräusch herum. Er wusste, dass das Geräusch aus der Richtung kam, wo seine kleine Schwester saß. Er hatte dieses schreckliche Gefühl, dass etwas schief gehen würde und machte sich Sorgen um seine Schwester. Doch er sah nur eine junge Frau, die angestrengt versucht ruhig zu werden und sich dabei die Hand vor den lachenden Mund hielt.
Und dann hörte er den Schuss. Er wollte abspringen und sich vor seine Schutzperson werfen, doch er kam nicht vom Boden hoch.
Die Erkenntnis, dass er getroffen war, kam in dem Moment auf, als er auf die Bühne fiel. Neben ihm landete ein weiterer Körper. Ian wusste: Das war seine Zielperson.
Und dann hörte er den spitzen Schrei, der auf dem allgemeinen Gebrüll, das im Saal herrschte, heraus stach und seinen Namen schrie. Luna!
Ian spürte den stechenden und brennenden Schmerz auf der linken Seite seiner Hüfte. Wissend, dass dieser Schuss nicht tödlich war, schloss er kurz die Augen und atmete zitternd tief durch. Der Schmerz schien ihm die Luft zu rauben.
Leute knieten sich neben ihn, sprachen ihn an, doch er stieß alle weg. Der Notarzt war schon gerufen worden.
Kleine Hände fassten nach seiner Rechten. Ian umschloss sie fest, drehte seinen Kopf nach rechts und öffnete seine Augen wieder. Er sah in das Tränen überströmte Gesicht seiner kleinen Schwester.
Er hob die linke Hand und vor lauter Schmerzen wurde ihm kurz schwarz vor den Augen, bevor er wieder sehen konnte, aber dafür war ihm übel. Er ignorierte es und wischte Luna vorsichtig die Tränen von den Wangen, aber sie wollten einfach nicht aufhören aus ihren Augen zu quellen.
„Bitte nicht sterben Ian!“, verlangte Luna und ihre Stimme brach, als sie von heftigem Schluchzen geschüttelt wurde.
Ians Stimme war kaum zu hören, als er sagte: „Werde ich ganz sicher nicht. Ich lasse meine kleine Schwester nicht alleine. Versprochen. Aber bitte hörauf zuweinen. Ich kann das nicht mitansehen. Da werde ich selber ganz traurig.“
„Ich kann aber nicht aufhören“, schluchzte Luna.
Die Zeit, bis der Notarzt kam, verbrachten sie schweigend und Hände haltend. Als der Arzt kam, wurde Luna von ihrem Bruder weggezogen, der zu schwach war, um etwas dagegen zu tun. Luna wurde abseits des ganzen Getümmels geparkt. Der riesige Saal war leer. Nur auf der Bühne herrschte ein unangenehmes Treiben, welches Luna vor Augen führte, was passiert war. Zitternd brach sie zusammen. Im ersten Moment nahm niemand Notiz davon. Erst Minuten später, wurde ein Arzthelfer auf sie aufmerksam. Er wickelte sie in eine Decke und brachte ihrein Glas mit Wasser.
Aufmunternd sagte der junge Arzt zu Ian: „Wir kriegen dich schon wieder hin.“
Lunas Bruder leckte sich kurz über die trockenen Lippen und fragte vorsichtig: „Was ist mit meiner Schutzperson?“
„Es tut mir Leid.“, sagte der Arzt und schüttelte betreten den Kopf. „Mein Kollege konnte nichts mehr für ihn tun. Er ist tot.“
„Fuck!“, entfuhr es da Ian. Es mussten zwei Schüsse gewesen sein, doch er hatte nur einen gehört.
Drei Jahre machte er nun diesen Job und jetzt war seine Schutzperson tot. Davor war immer alles gut gegangen. Er wusste, dass er nie wieder diesen Job ausführen würde. Er war zwar gut, verdammt gut, in diesem Job, aber erneut würde er sich nicht trauen die Verantwortung über einen anderen zu übernehmen.
Luna kam wieder zu ihm. Und gemeinsam fuhren sie ins Krankenhaus. Ihre Eltern kamen. Luna musste ebenfalls im Krankenhaus bleiben. Sie hatten einen Schock erlitten und die Ärzte wollte sie für einige Tage zur Beobachtung dort behalten. Man hatte sie mit ihren Bruder in einem gemeinsamen Zimmer einquartiert.
In dieser Nacht weinten sich Ian und Luna sich in den Schlaf. Luna laut und mit vielen Schluchzern. Ian leise und ohne eine weitere Regung dabei zu zeigen.

Der Bus

„Ich sehe du warst einkaufen?“, sagte Luna. Sie war gerade aus dem Hauseingang des Mehrfamilienhauses getreten.
„Was eine herzliche Begrüßung wieder einmal. Das wäre doch nicht nötig gewesen.“, machte sich ihr Bruder über Luna lustig. Sie strich sich nur müde einige Haarsträhnen aus der Stirn. Sie hatte nicht wirklich Lust auf die Kommentare ihres Bruders. Sie sparte es sich auch zufragen, was in den Tüten war. Sie würde eh keine Antwort bekommen, immerhin war bald Weihnachten.
Doch ihr Bruder wollte sie nicht ohne ein Lächeln davon kommen lassen und versuchte deswegen sein Glück: „Willst du gar nicht wissen, was ich gekauft habe?“
„Nein, danke. Das sind sowieso Weihnachtsgeschenke.“, gab Luna etwas genervt zurück, zog sich ihren lilafarbenen Träger der Umhängetasche über den Kopf und ging erhobenen Hauptes an Ian vorbei.
Verblüfft schaute er zuerst auf den Rücken seiner Schwester, dann kurz auf seine Einkaufstüten, in denen die schon verpackten Weihnachtsgeschenke für alle Familienmitglieder lagen.
Schon an der Hecke, die das Haus vom Gehweg trennte, angekommen, blieb Luna stehen. Sie sah sich nach Ian um, der sich gerade auf den Weg gemacht hatte ihr zu folgen.
Damit ihr Bruder ihr nicht böse werden konnte, weil sie so kalt zu ihm war, bot sie ihm an: „Ich kann die was abnehmen, wenn du möchtest.“
Aber Ian schüttelte den Kopf. Also zuckte Luna die Schultern und weil ihr Bruder schon bei ihr angekommen war, ging sie neben ihm her, weiter zur Bushaltestelle.
„Du hättest wirklich nicht mitkommen müssen“, sagte Luna zu ihrem Bruder, während sich die Geschwister gleichzeitig auf die kleine Bank unter dem Bushaltestellendach setzten. „Sonst lässt du mich docha uch immer alleine fahren.“
„Du kannst mir erzählen, was du willst. Ich glaube dir nicht, dass es dich so kalt lässt, was vor zwei Wochen passiert ist. Auch wenn ich es erst vor zwei Tagen von dir erfahren durfte“, stellte Ian klar.
Luna blitze ihn böse an. Sie hasste es, wenn ihr Bruder meinte zu wissen, wie sie sich fühlte und dann auch noch recht damit behielt.
„Eben! Es ist zwei Wochen her!“, schnappte sie deswegen dagegen. „Als ob die heute die gleiche Scheiße noch einmal abziehen würden. Ich brauche keinen Babysitter mehr, der auf mich aufpassen muss. Danach ist doch auch nichts mehr passiert und ich bin inzwischen sechzehn, falls du es nicht mitbekommen haben solltest!“
Wütend verschränkte Luna die Arme vor der Brust. Ian seufzte. Seine kleine Schwester hatte sich von dem lieben, kleinen, süßen Mädchen zu einer temperamentvolle jungen Frau entwickelt. Er würde wohl immer das kleine, verletzliche Wesen in ihr sehen, dass sie noch bis vor etwa fünf Jahren war.
„Tut mir Leid, Schwesterherz. Ich weiß doch, dass du gut alleine klar kommst, aber ich habe mir eben Sorgen gemacht. Und ich dachte mir, dass es dich vielleicht freust, wenn ich mitkomme. Außerdem konnte ich so ganz hervorragend Geschenke kaufen gehen.“, versuchte er sie zuerweichen. Mit Erfolg. Luna nahm ihre Hände runter und legte sie auf ihren Schoß.
Sanft sagte sie: „Ich freu mich immer, wenn wir etwas zusammen machen. Ach, ich kann dir einfach nicht lange böse sein.“
„Stimmt, das konntest du nie.“, zog Ian seine Schwester mit einem breiten Grinsen auf. Ein wenig erwartete er, dass sie ihm gegen die Schulter schlug, so wie sie es öfters tat, wenn er sich über ihr Eigenarten und Angewohnheiten amüsierte. Doch sie lehnte sich nur rüber zu ihm und fiel ihm um den Hals. Ian war im ersten Moment so perplex, dass er gar nicht reagierte, dann aber nahm er sie fest in den Arm. Solch ein öffentlicher Gefühlsausbruch war für Luna überaus ungewöhnlich. Deshalb genoss es Ian auch so lange, wie nur möglich.
Seine kleine Schwester versuchte sich aus seiner Umklammerung zu befreien, doch er hielt sie so fest, dass sie nicht von ihm weg kam.
„Lass mich los!“, sagte Luna laut. Erhielt aber als einzige Reaktion einen Gegenfrage von Ian: „Wieso denn?“
„Ich kann Körperkontakt nicht ausstehen!“, kam es giftig von Ians kleiner Schwester. Der lachte nur und drückte sie noch fester an sich.
„Ich kann Körperkontakt nicht ausstehen!“, kames giftig von Ians kleiner Schwester. Der lachte nur und drückte sie nochfester an sich.
„Aber du hast doch angefangen.“, kam es unbestreitbar von Ian. Doch als Ian merkte, dass sich seine Schwester wirklich immer unwohl fühlte, drückte er sie ein letztes Mal liebe voll an sie, ließ sie dann aber los.
Glücklich wieder ihren Körper für sich zu haben, atmete Luna erleichtert aus und ging sogar noch ein bissen auf Abstand zu Ian.
Luna konnte sich selbst nicht erklären, woher dieses Gefühl immer kam, aber sie geriet regelmäßig, weil jemand sie mehr oder weniger unabsichtlich berührte, in Panik, was manchmal mit blutigen Armen endete, weil sie sich so sehr daran fest gekrallt hatte. Seit kurzem war es sogar so schlimm, dass sie ihrer Familie körperlich so gut es ging aus dem Weg ging, dass bloß keiner auf die Idee kam sie zu knuddeln. Ihren Eltern fiel das nicht weiter auf, nur Ian hatte es mitbekommen. Trotz des großen Altersunterschiedes waren sich die zwei Geschwister sich sehr nahe. Er hatte ein gutes Gespür für seine Schwester und machte sich Sorgen um sie. Natürlich hatte er die blutigen Arme gesehen, es aber nie gewagt sie darauf anzusprechen, aus Angst sie würde sich vor ihm verschließen.
Da hielt der Bus vor ihnen. Schnell standen sie auf und jeder der Zwei kramte seine Fahrkarte hervor.
Ein halbstarker möchte gern Gangster wollte sich vordrängen, aber Ian verwies ihn mit seinen breiten Schultern nach hinten und ließ seine Schwester vor. Sie zeigte ihre Karte und setzte sich gleich auf den Sitz hinter dem Fahrer. Luna bevorzugte die Sitze möglichst weit vorne. Dann konnte sie immer sehen, was auf sie zukam. Neben ihr war gerade noch genug Platz für Ian und einen schmalen Spalt zwischen ihnen, dass Luna nicht in Panik geriet.
Sieben Stationen mussten sie fahren, bevor es für die Geschwister hieß: Raus aus dem Bus, durch das Gedränge, die Treppen hinunter und in die U-Bahn. Wenn sie Glück hatten, dann erwischten sie die, die bis zu ihrer Station durch fuhr. Ansonsten mussten sie noch einmal fünf Minuten zusätzlich warten und das war bei den heutigen Temperaturn kein wirklicher Spaß.
Der Bus war gerade angefahren, da hatte Luna schon ihr neuestes Notizbuch hervor geholt. Es war dunkelbraun, mit einem Herzin der Mitte, das mit den französischen Worten für: „Ich liebe dich!“ beschrieben war.
Interessiert sah Ian zu ihr herüber. Seine Brauen waren in die Höhe geschossen, als er gesehen hatte, dass seineSchwester ein Notizbuch hervor geholt hatte.
Neugierig fragte Lunas großer Bruder sie: „Wo hast du das denn her? Das kenn ich noch gar nicht.“
Luna konnte sofort spüren, wie ihre Wangen von einem zarten Rot überzogen wurden. Nervös nestelte sie an dem Gummiband, welches das Notizbuch geschlossen hielt.
„Das habe ich zum Geburtstag bekommen“, sagte sie wahrheitsgemäß. Nur verschwieg sie von wem.
Betont gleichgültig fragte Ian weiter: „Und worum geht es da? Hast du schon was reingeschrieben, was dein alter Bruder einmal lesen dürfte?“
„Ich habe schon 42 Seiten, aber die werde ich dir ganz bestimmt nicht, gerade wenn ich weiter schreiben möchte, zu lesen geben. Du brauchst wieder drei Stunden, bist du fertig bist. Vielleicht ja zu Hause.“, sagte Luna entschieden und fuhr die Miene ihres Kugelschreibers aus.
Flehend fragte Ian: „Darf ich dann wenigstens erfahren, worum es da geht?“
Luna seufzte. Hatte ihr Bruder erst eine neue Geschichte gerochen, an der sie schrieb, ließ er nicht locker, bis er ihr auch das letzte Geheimnis dazu entlockt hatte.
„Also gut. Es geht um ein Mädchen, das jeden Tag in den Zoo geht, um die Tiere dort zu zeichnen.“, erzählte Luna knapp.
Jetzt ging dir Fragerei los: „Hat sie nichts Besseres zu tun? Keine Familie, mit der sie mal etwas unternimmt?“
„Nein. Ich Vater war ein One-Night-Stand und ihre Mutter kannte seinen Namen nicht. Sie ist Drogen abhängig und alle ihre Geschwister sind in Pflegefamilie gekommen.“
„Versucht sie Kontakt zu ihren Geschwisterna ufzubauen?“
„Klar, aber es klappt nur bei ihrer älteren Schwester. Und jetzt würde ich gerne schreiben, also Klappe zu!“
Erstaunlicherweise beließ es Ian dabei. Genüsslich fing Luna an ihren Stift über das Papier tanzen zu lassen.
Zwei Stationen hatten sie bereit hinter sich gebracht. Luna hatte sie nur am Rande ihres Bewusstseins registriert, während Ian jedes Mal die neuen Fahrgäste genau gemustert hatte.
Dritte Station. Ein eisiger Windhauch wehte von draußen herein. Dieses Mal sah auch Luna auf.
Drei Männer waren eingetreten. Luna konnte nichts Ungewöhnliches an ihnen finden, trotzdem schaffte sie es nicht ihren Blick von ihnen zu lösen und weiter zu schreiben. Vielleicht lag es daran, dass an dieser Haltestelle normalerweise niemand ein oder ausstieg.
Ian hatte da ein noch weit aus ungemütlicheres Gefühl. Diese Typen wollten ihm beim besten Willen nicht gefallen. Obwohl sie überhaupt nichts Ungewöhnliches taten. Sie standen vorne beim Fahrer und kauften ihre Fahrkarten.
Leise raunte Ian seiner Schwester zu: „Wir setzen uns nach hinten!“
Luna kam gar nicht erst auf die Idee zu wiedersprechen. Sie rutschte zum Mittelgang. Ian war schon aufgestanden und hatte mit seinem Rücken die fremden Typen von Luna abgeschnitten.
Immer auf genügend Raum bedacht, schlängelte sich Luna nach hinten, wo sie schon zwei freie Plätze neben einander entdeckt hatte. Ihr Bruder folgte ihr ganz dicht auf den Fersen.
Der Bus war nicht voll, so dass die Geschwister immer noch gut erkennen konnten, was vorne vor sich ging.
Ian machte Luna nervös, weswegen sie sich entschied erst in der Bahn oder zu Hause weiter zu schreiben. Sie packte gerade das Notizbuch in ihre Tasche zurück, als von vorne Gebrüll zu hören war: „Alle bleiben sitzen! Keiner rührt sich! Du, Fahrer, mach die Türen zu, oder ich puste dir das Hirn aus dem Kopf!“
Der Bus bestand nur noch aus hysterischem Geschrei. Luna entfuhr ein leises Wimmern, welches ihren Bruder sofort zu ihr sehen ließ.
Hier im Bus spielte sich etwas ab, was man sonst nur aus Krimis kannte und nie selber erleben wollte. Drei Männer, alle bewaffnet hatten einen Bus in ihrer Gewalt. Und keine Rettung schien in Sicht.
Der Mann, der ihr Anführer zu sein schien hatte seine Waffe auf den Kopf des Busfahrers gerichtet. Die anderen zwei zielten auf keine bestimmte Person. Eherauf alle auf einmal.
Ian wusste nicht, wie ihm geschah. Er hatte Luna begleiten wollen, um sie notfalls vor Betrunkenen zu retten, die ihr an die Wäsche wollten. Und jetzt saß er hier, mit seiner Schwester, in einem Bus, dergerade entführt wurde.
„Fresse halten!“, brüllte der Anführer so laut, dass man ihn über die Angstschreie hinweg hören konnte. Sofort wurde es ruhig. Nur vereinzelt waren noch Paniklaute zu hören. Die Türen des Buses schlossen sich.
Der nächste Befehl kam: „Fahr los! Und der Rest von euch gibt sein Handy ab! Wenn ich jemanden erwische, der sein Handy behält, wird es ihm nicht gut ergehen.“
Luna fiel auf, dass hauptsächlich ältere Frauen in diesem Bus saßen.
Der kleine, aber sehr kräftig aussehende, Entführer, der anscheinend am Ende der Dynastiekette, der kleinen Gruppe, stand, holte einen Stoffbeutel hervor, mit dem er durch den Bus ging. Er hielt ihn mit einer Hand fest. In der anderen hatte er immer noch seine Waffe, mit der auf jede einzelne Person zielte, die ihm ihr Handy geben sollte.
Verängstigt gaben die Passagiere dieses Höllentrips ihre Mobiltelefone ab.
Zwischen den etwa sieben alten Damen war nur ein etwas jüngerer Typ, in Anzug und Krawatte. Er zögerte, als er an der Reihe war sein Handy abzugeben, holte es dann aber doch hervor und ließ es in den Beutel fallen.
Vom Busfahrer kam vorsichtig die Frage: „Wohins oll ich denn fahren?“
Eine berechtigte Frage. Luna und Ian stellten ihre Lauscher auf, um ja nicht zu verpassen, in welche Richtung es gehen sollte. Doch der Anführer sprach leise und genau in dem Moment, wo er ansetzt zu sprechen, waren sie an der Reihe mit der Handy-Abgabe.
Ian musterte die Waffe. Sie war echt.
„Hey! Handy her!“, schrie der kahlköpfige Entführer. Und holte schon mit der Waffe aus, um Ian den Pistolengriff an den Kopf zu schlagen.
Luna griff schnell ein. Sie hatte ihr Handy bereits hervor geholt und rief schnell: „Hier!“
Der Glatzköpfige schien nicht der hellste zu sein und schaute sie verdutzt an.
„Mein Handy. Ich muss es abgeben.“, half ihm Ians kleine Schwester auf die Sprünge. Zum Glück war er dadurch so abgelenkt, dass er den Arm wieder senkte, ohne Ian dabei verletzt zu haben.
Lunas Handy, das sie gerade vor einigen Tagen zum Geburtstag von ihrer Mutter bekommen hatte, und das ein wunderschönes Blumenmuster auf der roten Rückseite hatte, verschwand in dem Beutel. Ein bisschen schmerzte es sie schon, dass es jetzt wohl für immer weg war.
Inzwischen hatte Ian sein Handy aus der Jackentasche gekramt und ließ es ebenfalls mit einem verbissenen Gesichtsausdruck in den Beutel fallen.
„Herzlichen Dank!“, gab der Verbrecher mit einem ekelhaften Grinsen von sich. Luna roch seinen Atem. Er roch nach Zigaretten und Menthol. Als er an ihren vorüber geschritten war, kam noch ein weiterer Geruch hinzu. Moschus.
Angewidert, über die nicht sehr wohlriechende Mischung, rümpfte Luna die Nase.
Angsterfüllt beugt sich Luna zu ihrem Bruder und raunt: „Sind das echt Waffen?“
„Ja. Leider schon. Hör zu: Ich möchte, dass du machst, was sie sagen und dich so gut es geht aus der Gefahrenzone hältst. Ist das klar?“, fragte er mit solch einem Nachdruck, dass Luna kurz zusammen zuckte. Sie nickte nur als Antwort auf seine Frage. Das ließ ihn etwas entspannen. Um die alten Schrullen im Bus machte sie Ian weitaus weniger Sorgen. Wenn keine von ihnen in Panik geriet, dann würde ihnen nichts passieren. Nur von seiner Schwester wusste er, dass sie ungerne Befehlen folgte und auch manchmal sehr impulsiv reagieren konnte.
Ganz leise, so dass Ian es fast überhört hätte, hauchte Luna: „Ich habe Angst.“
„Ich passe auf dich auf. Mach dir keine Sorgen. Wir stehen das gemeinsam durch.“, ermutigte sie ihr Bruder beinahe genauso leise. Doch Luna vermutete, dass Ian nicht halb so zuversichtlich war, wie er vorgab. Trotzdem war es tröstlich ihn an ihrer Seite zu haben.
„Ich habe alle Handy! Nur dieser Typ behauptet er hätte keines“, kam es von hinten und der gesamte Bus drehte den Kopf, um zusehen, wer gemeint war. Dort saß ein schmaler und blasser Typ. Etwa in Lunas Alter. Er trug eine Brille mit dickem, schwarzem Rand, die sein Gesicht noch länger aussehen ließ. Seine wasserstoffblonden Haare waren zurück gegelt. Luna und Ian konnte ihn beide nicht ausstehen. Auf den ersten Blick schon nicht. Ian erinnerte er an die Besserwissen, die damals mit ihm gemeinsam zur Schule gegangen waren und meinte sie wüssten alles besser, als die Lehrer. Luna verband mit ihm dieselbe Art von Leuten. Und sie war sich sicher, dass er ganzbestimmt ein Handy hatte. Und zwar immer das neuste, was auf dem Markt erschienen war.
In Gedanken rügte sie sich für ihre Vorurteile. Sie kannte ihn nicht und vielleicht war er ganz anders, als sie ihn einschätzte.
Dieses Mal kam von vorne eine Stimme. Es war die rechte Hand des Anführers, der am Kopf des Buses geblieben war. „Wenn er keines hat, dann lass ihn und wirf die Handys raus!“
Er war nicht der hellste, sonst hätte er seinem Gefährten befohlen den Jungen abzutasten, ob er nicht doch eines hatte.
Die Glatze schaute noch einmal auf den blassen Jungen, als wollte er doch wiedersprechen, drehte sich dann aber um und ging zu der hinteren Tür des Buses.
Der Kerl mit der Brille atmete erleichtert aus.
Dem Busfahrer wurde nun von dem Anführer befohlen: „Mach die hinteren Türen auf und dann fahr weiter!“
Ganz kurz blieb der Bus am Straßenrand stehen und öffnete seine Türen. Hinter ihnen hupten einige Autos.
Der Beutel mit den Handys landete im Graben neben der Fahrbahn. Luna fuhr erneut zusammen. Es schien ihr, als könnte sie den Schmerz, der auf den Boden treffenden Handys, spüren.
Ian legte ihr eine Hand auf die zusammengesunkene Schulter.
Der Bus fuhr weiter. Die ersten fingen an zu weinen. Sie glaubten nicht mehr daran ihre Familie jemals wieder zu sehen. Es war ein schockierender Anblick: Überall lagen sich weinender alte Damen in den Armen und klagten sich gegenseitig ihr Leid.
Luna konnte nur wie versteinert da sitzen. Vor ihren Augen verschwamm die Welt. Sie spürte sich selbst und ihren Körper nicht mehr. Sie kam nicht mehr an ihre eigenen Gefühle heran. Eine stahlharte Mauerh atte sich um sie geschlossen. Die Hände, die Beine, die Schultern, alles war gefühlslos. Das junge Mädchen spürte noch nicht einmal, wie ihr rechtes Bein unkontrolliert anfing zu zucken.
Angsterfüllt sah Ian, wie weit seine kleine Schwester abgedriftet war. Er versucht sie zu beruhigen, in dem er ihr beide warme Hände auf das wackelnde Bein legte, aber sie reagiert gar nicht darauf. Stattdessen fingen nun auch noch ihre Finger der linken Hand an heftig zuzucken.
Luna merkte, dass ihr Bruder sie ansprach, konnte sogar seine Worte verstehen, ich Bedeutung aber nicht. Sie wollte ihm irgendetwas antworten, aber ihr Mund weigerte sich strikt dagegen sich zuöffnen. Sie schrie sich in Gedanken selbst an, doch ihr Inneres verkroch sich nur noch mehr, machte der gefühlslosen Seite in ihr immer mehr Platz sich auszubreiten.
Ian rüttelte sie an der Schulter, versuchte sie damit zurück zu holen. Seine Schwester rückte nur noch weiter von ihm weg und presste sich gegen die kalte Fensterscheibe.
Eindringlich sagte er zu ihr: „Schwesterherz, sieh mich an, bitte.“ Er konnte genau erkennen, wie sie sich bemühte ihre Augenauf ihn zu richten. Wie sie mit sich selbst kämpfte, damit sie in seine Augen sehen konnte. Doch als sei es endlich doch geschafft hatte waren ihre Augen mit purer Angst gefüllt und weit aufgerissen. Panisch und unkontrollierbar zuckten ihre Augen über Ians Gesicht, hin zu seinen Augen, auf seinen Mund, über seinen Kopf, zu seinen Augen.
Liebevoll legte ihr Ian seine Hände an ihre Wangen und bedeckte mit seinen Daumen ihre Augen.
Sie fing an heftiger zu atmen.
„Scht, scht, kleine Schwester. Ich bin doch da. Dein Bruder ist bei dir und passt auf dich auf.“, sagte Ian mit seiner tiefen Stimme, ganz nah vor ihrem Gesicht. Sie konnte ganz klar den Zigarettenraucha us seinem Atem riechen. Bracht er sie sonst zum Husten, hatte er in diesem Moment etwas vertrautes. Luna atmete tief ein, dann nahm Ian seine Hände von ihrem Gesicht und sie öffnete die Augen.
Sie musste noch einige Male blinzeln, dann sah sie ihren Bruder wieder als das, was er war: Ihr Beschützer, der schon immer an ihrer Seite war und auf sie aufgepasst hatte. Trotzdem, ihr Mund wollte sich noch immer nicht bewegen.
Der Bus war inzwischen aus der Stadt raus und fuhr über die Autobahn.
Eine rundliche alte Dame fragte sehr laut und grimmig: „Wo bringen Sie uns hin?“
„Klappe, Oma!“, schrie sie der Dumme an. Er hatte eine Mütze auf, weswegen man seine Haare nicht sehen konnte, und eine große Nase, die wohl schon öfters gebrochen war. Luna glaubte, dass er etwa so groß war, wie ihr Bruder.
Obwohl sie eine klare Ansage bekommen hatte, war die Frau nicht still. Sie zeterte weiter: „Entschuldigen Sie, ich habe doch nur gefragt…“
Sie kam nicht weiter, weil ihr der Griff einer Pistole über den Schädel gezogen worden war. Aus einer Wunde an ihrer Schläfe floss langsam Blut. Einige der Businsassen schrien vor Schreck auf. Darunter auch Luna. Sie verbarg ihren Kopf schnell an der Schulter ihres Bruders, damit keiner ihre Tränen sah. Sie hörte, wie Ian mit den Zähnen knirschte. Er strich ihr beruhigend über ihre langen, schwarzen Haare und drückte ihr sogar einen leichten Kuss auf den Kopf.
„Hört auf zu heulen! Ich will keinen Laut mehr hören!“, brüllte der Anführer. Luna krallte sich nur noch fester in die Jacke ihres Bruders.
Liebevoll wollte er sie von sich schieben, aber sie hielt ihn so fest, dass er es nicht schafft, ohne ihr weh zu tun, deswegen ließ er es lieber bleiben und legte ihr beschützend einen Arm um die Schultern.
Im Bus wurde es ruhig. Jeder der Insassen starrte auf den dreckigen Boden des Buses. Nur Ian war mutig genug hoch zu sehen und den Blicken der Entführer auch noch mit Hass zu begegnen. Davon angestachelt ging der Anführer auf ihn zu und blieb mit einem widerlichen Grinsen vor ihm stehen.
„Was haben wir denn da? Ein Macker mit seiner Heulsuse.“, sagte er und genoss seine Rolle als Bösen sichtlich.
Doch Ian hatte nicht vor, das so auf sich sitzen zu lassen: „Niemand redet so über meine Schwester!“  
Der Bus fuhr auf einen Parkplatz. Außer ihnen stand dort, an diesem späten Mittwoch im Dezember, niemand.
„Die Kleine ist deine Schwester? Na so was. Sieh mich an, Kleine!“
Luna musste sich die Wörter ihres Bruders gewaltsam wieder ins Gedächtnis rufen, dass sie alles tun sollte, was ihr befohlen wurde.
Langsam schaffte sie es sich von der Schulter ihres Bruders zu lösen. Mit den Handrücken wischte sie sich die nassen Tränenspuren von den Wangen und hob nach und nach ihren Blick. Bis sie dem Anführer direkt in die Augen sah. Sie waren braun. Harmlos braun, aber so ausdruckslos, dass es Luna nicht nur einen kalten Schauer über den Rücken und die Arme jagte.
„Nanu, du bist ja noch ganz jung“, wunderte sich der Entführer. „Verrate mir, wie alt du bist.“
Luna räusperte sich und sagte leise: „Ich bin 16. Was wollen Sie von uns?“
Der Typ streckt eine Hand nach Luna aus. Kurz vor ihrem Gesicht stoppe sie plötzlich. Ian hatte ihn am Handgelenk gepackt und ihn damit daran gehindert, dass er Hand an seine Schwester legte.
Ungläubig sah der Anführer auf Ian herab. Diesem stellten sich die Nackenhaare auf. Dennoch war er fest entschlossen niemanden an seine kleine Schwester heran zu lassen.
Luna war ihrem Bruder dankbar. Keine Frage. Gleichwohl wünschte sie sich, er hätte es nicht getan. Irgendwie schien sie vorher gewusst zu haben, was als nächstes passierte.
Es geschah alle, ganz schnell.
Der Anführer holte mit der freien Hand aus und traf Ian mit der Faust ins Gesicht. Luna schrie auf und Ian wäre von seinem Sitz gefallen, hätte Luna nicht rechtzeitig beherzt zugegriffen.
Sie zog ihn zu sich, legte ihm eine Hand an die Wange und hob seinen Kopf so, dass sie ihm in die Augen blicken konnte. Der Ausdruck in seinen Augen sagte ihr, dass er zwar Schmerzen hatte, aber alles okay war.
Lunas Blick blieb an der aufgeplatzten Unterlippe hängen. Unglücklich verzog Ians kleine Schwester bei diesem Anblick das Gesicht. Dieser wiederum reagierte darauf mit einem Lächeln und wischte mit dem Handrücken das Blut weg, das aus der Wunder hervorquoll. Er hatte schon mehr für weniger einstecken müssen. Das wusste auch Luna, weswegen sie langsam wieder ihre Hände von seiner dicken Winterjacke löste.
„Mädchen, komm her!“, kam es völlig unbeeindruckt vom Anführer. Luna überlegte kurz, ob sie sich weigern sollte, da hatte ihr Bruder plötzlich einen Pistolenlauf am Kopf. Sie war dem Anführer wohl nicht schnell genug gewesen, oder er hatte damit gerechnet, dass sie sich stur stellte.
Erschrocken schrie Luna: „Nicht schießen!“
Sie sah auf einmal wieder die Szene vor sich, in der ihr Bruder halb tot vor Schmerzen am Boden lag und sich seine Kleidung und der Boden unter ihm rot vom seinem Blut gefärbt hatte.
Schnell huschte sie an ihrem Bruder vorbei und stellte sich vor den Entführer. Er war wohl knapp über 1,80m groß. Seine braunen Haare waren zerzaust und er hatte einen guten Körperbau. Er trug ein enges, schwarzes T-Shirt und darüber eine dunkelblaue Fleecejacke. Hinzu kamen noch eine Jeans und dunkelgrüne Turnschuhe.
„Eine schöne Schwester hat du“, wendete sich der Boss an Ian. Dieser knirschte erneut mit den Zähnen und ballte beide Hände zu Fäusten.
Wieder wurde die Hand nach Lunas Gesicht ausgestreckt und wieder wurde sie wieder davor bewahrt und wieder wünschte sie sich es wäre nicht passiert.
Das Klingeln eines Handys war zu hören. Alle Augenpaare, die im Bus waren, richteten sich auf den Besserwissen in der letzten Reihe. Dessen Gesicht war nun nicht mehr blass, sondern so rot wie eineTomate.
Luna wurde unachtsam zur Seite gestoßen, als der Anführer wutentbrannt auf den Störenfried zu schoss. Er packte ihn am Jackenkragen und hob ich von seinem Sitz und soweit nach oben, dass er nurnoch mit den Fußspitzen den Boden berühren konnte.
Die Worte kamen wie ein Knurren auf dem Mund des Chefs: „Gibt dein Handy her! Das wirst du bereuen, dass du dich mit mir angelegt hast!“
Mit deutlich zitternden Händen zog der Blonde sein Handy aus der Hosentasche. Luna hatte Recht gehabt. Ein neueres gab es auf dem Markt nicht.
Der Boss krallte es sich, ließ es auf den Boden fallen, wobei das Display splitterte, dann trat er einige Male darauf, bis es vollkommen kaputt war.
Der arme Naive wurde auf den Gang zwischen den zwei Sitzreihen des Buses geschleudert und blieb stöhnend liegen. Eilig kniete sich Luna neben ihn. Ihm schien nichts weiter passiert zu sein, bis auf dass er mit dem Hinterkopf auf den Boden geschlagen war.
Ians kleine Schwester wollte ihm aufhelfen, da wurde sie ruhig angewiesen: „Du wirst ihn nicht anfassen. Geh zurück!“
Mit zur Abwehr erhobenen Händen, ging Luna einige Schritte rückwärts.
Der Anführer hob sein Opfer vom Boden auf und rammte ihm die Faust in den Magen. Einmal. Die Luft fuhr aus seiner Luge. Zweimal. Er stöhnte laut auf, vor Schmerzen. Dreimal. Luna schrie: „Aufhören! Bitte!“
Sie konnte das nicht mit ansehen. Ihr standen erneut die Tränen in den Augen. Ein süffisantes Lächeln breitet sich auf dem Gesicht des Anführers aus.
„Wie süß, die Schöne setzt sich für das Biest ein“, sagte er und ließ den armen Kerl, dem bis eben noch seine ganze Aufmerksamkeit gehört hatte, einfach auf den Boden fallen. Er kam langsam auf Ians kleine Schwester zu. Sie stand mit zitternden, aber zu Fäusten geballten Händen da.
Der Boss trat ganz nah vor sie. Er roch nach Waschmittel und seine Körperwärme reichte bis zu Luna herüber.
Ian saß wie auf heißen Kohlen da. Nur eine falsche Bewegung des Mannes und er würde ihm den Kopf abreißen, soviel stand fest.
Sanft strich der Entführer über Lunas Wange. Sie zuckte vor der Berührung zurück, er ließ sich davon nicht beeinflussen.
„Du bist ziemlich süß, weißt du das?“, fragte er ganz leise. Eine Träne löste sich aus Lunas Auge und kugelte ihre Wange hinunter. Sie beachtete die feuchte Spur nicht weiter und sah ihm angeekelt in die Augen.
„Nehmen Sie ihre Hände weg und sagen Sie endlich, was Sie wollen!“, fauchte Luna und schlug seine Hand zur Seite.
Sein Gesicht verzog sich zu einer grimmigen Maske, bevor er mit einer Hand nach ihrer Kehle griff. Sie war nicht schnell genug zurück gewichen, so dass sich jetzt eine Hand fest um ihren Hals geschlossen hatte.
„Niemand redet so mit mir! Merk dir das!“, knurrte der Entführer unter zusammengebissenen Zähnen hervor.
Ian war von seinem Sitz gesprungen, um seiner Schwester zu Hilfe zu eilen, da stand auf einmal der dumme Entführer vor ihm und zielte mit seiner Waffe auf Ians Kopf. Fest biss Lunas großer Bruder die Zähne aufeinander und zwang sich ruhig zu bleiben und nicht auf die Entführer loszugehen.
„Hinsetzen!“, bekam er den Befehl und Ian befolgte ihn. Ein Tropfen Blut löste sich von seinem Kinn und fiel auf seine Hose. Gleichzeitig versuchte Luna zu schlucken, konnte es jedoch nicht, da ihr Hals so sehr zugeschnürt wurde. Doch sie wusste: Er konnte stärker zu drücken. Sie hatte noch keine Probleme zu atmen. Flüchtig wurde ihre Kehle noch etwas fester zusammen gedrückt, dann ließ der Chef sie los.
Schnell ging Luna auf Abstand.
„Du willst wissen, was ich von euch will? Nichts. Ihr seid nur das Mittel zum Zweck. Ich will meinen Bruder aus dem Gefängnis holen und dafür brauche ich halt ein Druckmittel. Euch“, wurden sie von dem Anführer mit einem selbstgefälligen Lächeln aufgeklärt. „Und du, meine Liebe, wirst für mich bei den Bullen anrufen und ihnen sagen, dass sie meinen Bruder gefälligst frei lassen sollen!“
„Das wird sie nicht machen!“, kam es entschlossen von Lunas Bruder.
„Ach? Und was glaubst du hast du an Entscheidungskraft?“
„Keine Sorge, Ian. Ich mache das schon“, mischte sich Luna ein. Sie sah Ian fest in die Augen und gab ihm zu verstehen, er solle besser den Mund halten. Ian ballte seine Hände ganz fest zu Fäusten, wobei er sich die Fingernägel in die Handfläche bohrte. Kontrolliert zwang er sich die Hände wieder zu öffnen und flach auf seine Beine zu legen.
Wie ein stolzer Vater legte der Entführer einen Arm um Lunas Schultern und sagte: „So ein braves Mädchen.“
Unbehaglich, an der Grenze zur Panik, wand sich Luna und schaffte es schließlich, dass sie losgelassen wurde.
Der Kahlköpfige reichte ihr einen DinA4 Zettel, auf dem in kleinen Buchstaben ein Text gedruckt worden war.

Hallo, hier spricht eine Geisel. Bitte unterbrechen Sie mich nicht, bis ich fertig gesprochen habe. Ich und einige weitere Personen sind in einem Bus gefangen. Die Entführer hören mit. Sie verlangen für unsere Freilassung, dass Jack Müller aus dem Gefängnis freigelassen wird und zu dem Parkplatz kurz vor Hamburg gebracht wird, zusammen mit einem Fluchtfahrzeug. Sie haben eine Stunde Zeit. Kommen Sie dieser Forderung nicht nach oder überschreiten die Zeitanweisung, werden die Entführer alle fünf Minuten eine Geisel umbringen.

Schwer schluckte Luna, als sie die letzten Zeilen las. Trotzdem war sie fest entschlossen keine Schwäche den Entführern gegenüber zu zeigen, auch wenn sie wusste, dass es dafür bereits zu spät war, nach ihrem Heulkrampf vorhin.
„Während meine Süße hier bei der Polizei anruft, klebt ihr anderen die Fenster mit Zeitungspapier zu, so dass man nicht mehr rein schauen kann! Habt ihr das verstanden? Das gilt übrigens auch für dich. Ian“, kam der Befehl von dem Boss, wobei er Ians Namen besonders quälend böse aussprach.
Zeitungen wurden an die Gefangen verteilt und Klebeband. Überstürzt wurde sich daran gemacht, die Scheiben blickdicht zu verkleiden. Luna bekam ein Handy in die Hand gedrückt, auf dem nur eine einzige Nummer eingespeichert war, die sie anrufen musste und auf laut stellen sollte.
Während Ian zusammen mit dem Blonden, der immer noch entsetzliche Schmerzen hatte, mit der Zeitung und dem Klebeband kämpfte, ließ er seine kleine Schwester nicht eine Sekunde aus den Augen.
Eine Polizistin meldete sich am anderen Ende der Leitung und Luna trug den Text, der ihr gegeben worden war, fehlerfrei vor. Sie stockte noch nicht einmal, als es ums Morden ging.
„Hören Sie, wer auch immer Sie sind, der hinter der Entführung steckt, es liegt nicht in unserer Macht, einen Sträfling frei zulassen. Wir werden ihren Forderungen nachkommen, aber wir brauchen mehr als eine Stunde Zeit“, erwiderte die Frau, die in der Polizeizentrale am Telefonhörer saß, mit einer ruhigen und klaren Stimme.
Ihr Entführer riss Luna das Handy aus der Hand und knurrte hinein: „Ich weiß genau, dass Sie, wenn Sie wollen, meinen Bruder innerhalb von zehn Minuten aus der Zelle holen können. Verkaufen Sie mich nicht für blöd, oder die erste Geisel stirbt auf der Stelle! Die Zeit ist runtergesetzt auf fünfzig Minuten! Beeilen Sie sich besser!“
Die Verbindung wurde unterbrochen. Luna wurde zu ihrem Bruder geschickt, um ebenfalls die Fenster abzudecken.
Ian fragte sie: „Ist alles klar bei dir?“
Luna nickte nur und Ian drückte ihr einen weiteren Kuss auf ihre Haare, so wie er es früher immer getan hatte, wenn er sie ins Bett gebracht hatte und sie Angst hatte, dass er sie im Dunklen alleine lassen würde.
„Ich bin bei dir“, flüsterte Lunas Bruder ihr ins Ohr und ein seliges Lächeln legte sich auf ihre Lippen, während sich ihr Herzschlag wieder beruhigte und ihre Finger nicht mehr ganz so kalt zu sein schienen.
Und während noch die letzten Fenster verklebt wurden herrschte in den Polizeizetrale hektisches Treiben. Vorbereitungen wurden getroffen. Die Zivilkleidung, die Jack Müller erhalten sollte wurde mit einem Peilsender versehen, das Fluchtauto, erhielt eine Tankfüllung von nur wenigen Litern, die Polizeieinheiten wurden vorbereitet und mehrere Rettungswagen gerufen, damit sie sich um mögliche Verletzte unter den Entführten kümmern konnten.
Die Fenster im Bus waren dicht. Da es draußen eh schon dunkel war, fiel es nicht weiter auf, dass keine Sonnenstrahlen sich durch das dünne Papier der Zeitung kämpften. Viel mehr leuchtete der Bus von innen heraus. Der Motor des Buses lief und die Heizung arbeite auf Hochtouren. Alle Businsassen hatten bereits ihre dicken Winterjacken ausgezogen und auf Sitze neben, vor oder hinter sich gelegt.
Die alte Dame mit der Verletzung an der Schläfe hatte inzwischen ein Pflaster darüber geklebt bekommen. Leider hatte ihre Freundin nur noch welche von ihrer Enkelin dabei, weswegen jetzt eine wunderschöne, rosafarbene Prinzessin ihr Gesicht zierte.
Ians Lippe hatte auch bereits aufgehört zu bluten und Luna hatte sich daran gemacht, ihm mit einem Taschentuch, das sie von dem Anzug-Typen bekommen hatte, das angetrocknete Blut vom Kinn und Hals zu wischen. Aber immerhin waren keine weiteren Menschen verletzt worden.
Der Anführer der Entführer ging unablässig im Bus auf und ab. Die anderen zwei saßen mit ihren Pistolen in der Hand in der Nähe der Geiseln, die alle samt in den hinteren Teil des Buses gescheucht worden waren. Vor einigen Minuten waren die ersten Streifenwagen auf den Parkplatz gefahren. Doch man hörte nichts von ihnen, man erkannte sie nur an den roten und blauen Lichtern, die durch die Zeitung ein lustiges Farbenspiel zauberten.
Eine halbe Stunde blieb noch, bis die Polizei mit Jack Müller auftauchen sollte. Sein Bruder wurde immer nervöser.
„Ich könnte etwas vorlesen, vielleicht ist es dann nicht mehr ganz so erdrückend hier drin“, schlug Luna leise vor. Wahrscheinlich machte sie diesen Vorschlag mehr für sich, dass sie nicht die ganze Zeit ihre panischen Gedanken im Kopf herum rührte, als viel weniger für den Rest der Geiseln. Trotzdem waren vereinzelt Köpfe, die nickten und sie ansahen, während sie warteten, dass Luna eines ihrer vielen Notizbücher hervorzog und anfing zu lesen.
Ians kleine Schwester räusperte sich und begann zu lesen: „Die Welt schien aschgrau für Marlin. Vorhin, als sie bei sich zu Haus in den Kühlschrank geschaut hatte, war er wieder einmal bis auf den letzten Rest leer gewesen. Nur eine einsame Flasche Bier stand noch in der Tür, doch gerade als Marlin den Kühlschrank wieder schließen wollte, kam ihr Mutter und nahm den letzten Einwohner des Kühlschrankes und öffnete ihn.“
Gebannt hingen alle Blicke auf Lunas Lippen. Ian lehnte sich entspannt zurück. Er war inzwischen freier Autor, doch verwunderte es ihn immer wieder, wie talentiert seine kleine Schwester war. Die Wörter schienen wie Zaubersprüche aus ihr heraus zu fließen und jeden in ihren Bann zu ziehen, der damit in Berührung kam. Er könnte ihr einfach stundenlang zuhören, in denen er alles vergaß. Wenn er gerade an seinen Büchern nicht weiter kam, ging er zu Luna und ließ sich von ihr, ihre neuesten Werke vorlesen.
Von hinten schlang er seine Arme um Lunas schmalen Körper und legt seinen Kopf auf ihre Schulter. Sie ließ sich davon nicht irritieren und las ruhig weiter. Und erst als sich Luna bequemer hinsetzen wollte ließ Ian sie wieder los.
Luna las immer weiter. Sie verbesserte Fehler, wenn sie welche entdeckte. Irgendwann merkte sie, dass der Boss vor sie getreten war. Sie zwang sie nicht aufzuschauen und einfach weiter zu lesen, aber ihre Stimme zitterte.
Luna konnte gerade noch einen Satz zu Ende vorlesen, da traf sie die Rückseite einer Hand auf die rechte Wange. Ihr Kopf flog zur Seite und das Notizbuch fiel laut zu Boden. Es schien Ians kleiner Schwester so, als würde ihre ganze rechte Seite des Kopfes in Flammen stehen. Dennoch wagte sie es nicht ihr eigenen Hände an die Wange zu haben, aus Angst, es könnte als eine Drohgebärde verstanden werden. Aber gegen die Tränen, die sich wieder in ihren Augen sammelten, konnte sie nichts tun. Bevor sie überhaupt realisiert, was geschehen war, tropfen die ersten großen, schweren und salzigen Tränen auf den Boden.
„In meinem Bus wird nicht vorgelesen! Ist das klar, oder muss ich noch deutlicher werden?!“, kam die klare Drohung des Anführers, der sich ganz nah zu Luna gebeugt hatte. „Sie mich an, Kleine! Ich habe dich gefragt, ob du das verstanden hast!“
Am Kinn wurde Lunas Gesicht so gedreht, dass sie dem Anführer in die Augen schauen musste. Stumm schluckte sie, dann nickte Luna.
Der Entführer strich sanft von Lunas Schläfe an, abwärts, bis zu ihrem Kehlkopf. Wieder musste Luna schwer schlucken.
Dann, auf einmal wurde ihr wieder ins Gesicht geschlagen, mit den Worten: „Ich glaube nicht, dass du deine Lektion gelernt hast.“
Luna hatte sich darauf eingestellt, alles mit geschlossenen Augen über sich ergehen zu lassen, doch weitere Schläge blieben aus und sie wurde von starken Armen nach hinten gezogen. Vorsichtig öffnete sie wieder die Augen.
Ian hatte seine kleine Schwester hinter sich gezogen und den Arm des Anführers gepackt, der gerade wieder zuschlagen wollte. Die beiden Männer lieferten sich ein Blickduell, bis Ian knurrte: „Du wirst ihr nie wieder wehtun!“
Überraschenderweise ließ er es auf sich sitzen. Mit einem Ruck befreite der Böse seinen Arm aus Ians schraubstockartigen Griff. Dieser ließ ihn erst aus den Augen, als er einige Meter auf Abstand gegangen war. Dann schaute Ian nach seiner kleinen Schwester, die sich inzwischen mit angezogenen Beinen und auf die Knie gelegten Kopf ganz nah an das mit Zeitungverklebte Fenster zurückgezogen hatte.
Vorsichtig legte Lunas älterer Bruder ihr eine Hand auf das Haar und strich liebevoll darüber. Angstvoll und mit vom Weinen verquollenem Gesicht sah sie zu ihrem Bruder auf, der mit seinem Daumen die nassen Spuren aus ihrem Gesicht wischte. Sie schenkte ihm als Dank dafür ein mattes, schiefes Lächeln, das sein Herz zum Schmelzen brachte.
„Schluss, mit den Rührseligkeiten!“, brüllte Jack Müllers Bruder und holte mit dem Pistolengriff aus, als würde er ihn Luna über den Schädel ziehen wollen. Mit einem spitzen Schrei machte sie sich ganz klein und schütze ihren Kopf mit ihren Armen.
Der Typ grinste böse. Er hatte genau das, was er wollte: Jemand, der Angst vor ihm hatte.
Ian spürte nur unbändige Wut in sich. Seine Schwester war ein taffes, starkes und wie er bisher glaubte, ein furchtloses Mädchen und dieser Kerl hatte sie zu etwas gemacht, dass man kaum noch einen Menschen nennen konnte.
Luna schaukelte im Sitzen immer wieder vor und zurück, während sie murmelte: „Nicht! Nicht! Nicht!“
Und während Luna immer weiter versuchte, sich zu beruhigen, und Ian immer stärker dem Drang wiederstehen musste, sich kopflos auf die Entführer zu stürzen und so lange auf sie einzuprügeln, bis sie tot am Boden lagen, verging die Zeit, die der Polizei blieb, um Jack Müller an den Ort des Geschehens zu schaffen.
Und dann, endlich, kurz vor Ablauf des Zeitlimits, ertönt eine laute, männliche Stimme, die über ein Megafon mitteilte: „Jeremy Müller, der Bus ist umstellt! Wir haben Ihre Bedingung erfüllt. Ihr Bruder ist hier und das Fluchtfahrzeug ebenfalls. Lassen Sie jetzt die Geiseln frei!“
Jeremy Müller, der Bruder von Jack Müller und Anführer der Geiselnehme, knurret nur: „Träumt schön weiter, ihr blöden Bullen! Mädchen, kommt her zu mir!“
Luna zuckte zusammen, richtete sich aber in der nächsten Sekunde zu voller Größer auf und ging mit erhobenem Kopf auf Jeremy Müller zu. Sie hatte keine Angst. Mit einem Mal war jegliche Furcht aus ihrem Körper gewichen. Ihre Gefühle stumpften wieder ab und sie ließ sich von ihrem Unterbewusstsein leiten.
„Mach die Türen auf! Und ihr Zwei sorgt dafür, dass keine der Geiseln  abhaut!“, wurden dem Busfahrer und Jeremys Komplizen Aufgaben übertragen.
Jeremy krallte sich Luna und zog sie vor seinen Körper, während er ihr die Pistole an den Kopf hielt. Gewaltsam schob er sie vor sich her, raus aus dem Bus an die bitterkalte frische Luft. Im ersten Moment war die Kühle erfrischend, doch gleich darauf begannen auch schon Lunas Zähne zu klappern.
Ian saß immer noch in der Hitze des Buses. Nervös spielte er mit seinen Fingern. Dann kam der Befehl von Jeremy Müller: „Kommt Jungs! Wir dampfen ab!“
Ohne auch nur einen Moment zu zögern rannten die zwei Mittäter von Jack Müllers Bruder hinaus in die Nacht und zu ihrem Fluchtfahrzeug.
Lunas Bruder war der erste, der nach draußen trat. Panisch sah er sich nach seiner kleinen Schwester um, die er völlig aufgelöst in den Armen einer pummeligen Polizistin fand.
Erleichtert und ein wenig besitzergreifend riss Ian sie an sich und barg sein Gesicht an ihren duftenden, schwarzen Haaren. Luna krallte sich an ihn und weinte noch heftiger.
Bei späteren Fragen ihrer Familie, was denn dort draußen abgelaufen sei, konnte sie nur mit dem Kopf schütteln und wahrheitsgemäß antworten, dass sie keine Erinnerungen mehr daran hatte. Ihr Gedächtnis hatte alle Erinnerungen ausgelöscht, oder zumindest so gut verschlossen, dass noch nicht einmal Luna selbst daran kam.

Ein spezielles und trauriges Ende, das mein Bruder sich von mir gewünscht hatte

Luna las immer weiter. Sie verbesserte Fehler, wenn sie welche entdeckte. Irgendwann merkte sie, dass der Boss vor sie getreten war. Sie zwang sich, nicht aufzuschauen, und einfach weiter zu lesen, aber ihre Stimme zitterte.
Luna konnte gerade noch einen Satz zu Ende vorlesen, da traf sie die Rückseite einer Hand auf die rechte Wange. Ihr Kopf flog zur Seite und das Notizbuch fiel laut zu Boden. Es schien Ians kleiner Schwester so, als würde ihre ganze rechte Seite des Kopfes in Flammen stehen. Dennoch wagte sie es nicht ihr eigenen Hände an die Wange zu haben, aus Angst es könnte als eine Drohgebärde verstanden werden. Aber gegen die Tränen, die sich wieder in ihren Augen sammelten, konnte sie nichts tun. Bevor sie überhaupt realisiert, was geschehen war, tropfen die ersten großen, schweren und salzigen Tränen auf den Boden.
Ian stürzte sich auf den Anführer. Niemand schlug seiner kleinen Schwester ins Gesicht, ohne hinterher in einem Krankenhaus zu landen. Dafür würde er sorgen.
Er packte den Boss am Kragen und schmiss ihn auf den Boden. Beide Männer rangen am Boden miteinander. Entsetzt darüber schlug Luna beide Hände vor den Mund. Was tat ihr Bruder da nur? Er würde nur noch mehr verletzt werden.
Dem Anführer war seine Pistole aus der Hand gefallen, aber Luna fiel es nicht auf, sie war zu sehr auf ihren Bruder konzentriert. Vielleicht hätte sie mit der Waffe das nahende Unheil abwenden können. Vielleicht auch nicht…
Bei der Rauferei wurde ihr Notizbuch, das immer noch am Boden lag, noch weiter von Luna weggeschleudert. Sie musste dem Impuls, ihm hinterher zu hechten, mit all ihrer verbliebenen Kraft wiederstehen.
Die alten Frauen schrien und alle flüchteten möglichst weit weg von dem miteinander raufenden Haufen. Nur Luna konnte sich nicht bewegen. Wie festgefroren saß sie da, mit weit aufgerissenen Augen und der blutenden Lippe, weil sie sich daran festbiss, ohne etwas zu spüren.
Irgendwann, nach nur wenigen Sekunden, handelten die rangniedrigeren Entführer und richteten ihre Pistolen auf Ian.
Der ganz niedrige hatte nicht den Mumm, um zu schießen, das konnte man in seinen Augen ablesen. Aber der andere war so blöd, dass er einfach alles tat, ohne vorher wirklich darüber nachzudenken. Hauptsache mit der Entführung lief nichts schief.
Luna registrierte die erhobenen Pistolen nur aus dem Augenwinkel. Sie schrie auf, dachte nicht lange nach und schmiss sich vor ihren Bruder, der gerade mit dem Rücken zu den Waffenläufen lag.
Der Schuss traf sie in den rechten Bauchbereich. Der Schmerz war unvorstellbar. Ihr Augen rollten in ihren Höhlen nach hinten, so dass nur noch das Weiß zu sehen war.
Luna war schwarz vor den Augen und am liebsten würde sie sich übergeben, so schlecht war ihr vor Schmerz. Sie krümmte sich und presste beide Hände auf die blutende Wunde.
Durch den Knall des Schusses auseinander getrieben standen sowohl Ian als auch der Anführer auf. Letzterer war genau bei seiner Waffe wieder hochgekommen, die er sich so gleich schnappte.
Ian fiel neben Luna auf die Knie und bettete ihren Kopf vorsichtig auf seinem Schoß. Er war geschockt. Noch nicht einmal die Tränen wollten ihm kommen, so unwirklich war dieser Moment für ihn.
Irgendwie schaffte es Luna ihre Augen auf den geliebten Bruder zu richten und es standen Schmerz und Trauer darin. Trotz der Tränen, die ihre Haare und ihr Gesicht herunter liefen, schaffte sie es irgendwie ein klägliches Lächeln zu Stande zu bringen.
Es brach Ian das Herz. Er hielt seine sterbende Schwester im Arm, während er nur zu sehen konnte, wie das Leben mit jedem Tropfen Blut, den sie verlor, weiter aus ihr herausfloss. Er wollte diese dicke, rote, hässliche Flüssigkeit wieder in ihren Körper zurück schieben, aber er wusste, dass es nicht funktionieren würde und er Luna für immer verlieren würde. Es war zu spät sie zu retten.
Mit einem Aufschrei aus Wut und Verzweiflung riss Ian seine Schwester an sich, so dass ihr Gesicht neben seinem war.
Ganz leise konnte er noch ihre letzten Worte verstehen, die sie ihm ins Ohr flüsterte: „Ich habe dich lieb, Bruderherz. Und sag bitte Marc, dass ich ihn sehr gerne hatte…“
Und dann herrschte Totenstille. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Ian drückte seine kleine Schwester noch fester an sich. Ihr Blut tränkte seine Kleidung.
Bitterlich weinte er in ihre dunklen Haare, die so frisch rochen, als wäre Luna am Leben und nicht tot. Sanft flüsterte er ihrem leblosen Körper zu: „Ich liebe dich auch bis zur Unendlichkeit, Schwesterherz!“
Mit einer entschlossenen Bewegung zog er seine Jacke vom Sitz und legte sie auf den Boden. Liebevoll und ganz sanft legte er Lunas Kopf darauf ab. Sie sollte nicht auf dem dreckigen Boden liegen.
Luna hatte ihre Augen geschlossen und so sah es danach aus, als würde sie nur schlafen, aber genau das machte Ian nur noch verzweifelter.
Er merkte nicht, wie ihm die Tränen über sein Gesicht rollten, nur diese riesige Lücke, die nach Lunas Tod in seinem Herzen aufgerissen war.
Ein Schluchzen schüttelte seinen Körper, bevor Ian aufstand und sich mit versteinertem Gesicht zu dem Anführer um drehte. Der Hass in Ians Augen loderte, als er blitzschnell auf ihn zu sprang, wildentschlossen ihn umzubringen. Doch leider hatte Ian einen großen Nachteil beider Sache. Er war unbewaffnet.
Kurz bevor er dem Anführer zu nahe kam schoss dieser auf ihn. Zwei Mal. Beide Kugeln verfehlten nur knapp sein Herz.
Ian fiel auf seine Knie und schlug dann der Länge nach hin. Er war noch nicht tot, aber so gut wie. Die Welt um ihn herum verschwamm und fühlte sich plötzlich kalt und leer an.
Eine einzelne, winzige Träne löste sich aus dem Augenwinkel des Anführers. Er weinte nicht um sich, weinte nicht weil er einen Menschen erschossen hatte, weinte nicht um Ians Tod. Er weinte weil er Lunas Anblick so traurig und berührend fand.
Bei seinem letzten Atemzug dachte Ian an diesen Jungen, Marc, dem er eine Nachricht von Luna hatte ausrichten sollen. Ob sie wohl von ihm das neue Notizbuch bekommen hatte?

Das erste Treffen

Er war ihr Bruder.
Sie war seine Schwester.
Er war zwanzig Jahre älter als sie.
Die Liebe zwischen den beiden war nicht zu bestreiten. Besonders, wenn man einmal miterlebt hatte, wie die zwei sich schrieben. Sie gaben sich gegenseitig genau das, was sie nie hatten. Ganz spezielle, nur für diese eine Person gaben sie ihr Bestes, was sie hatten.
Sie konnte nur recht gut schreiben und entwarf für ihn eine Kurzgeschichte nach der anderen. Er war hingegen vielseitig begabt. Er schrieb, hatte sein erstes Buch veröffentlicht, er sang, war für sie im Tonstudio gewesen, damit sie Schlaflieder von ihm hatte und sich nachts nicht mehr alleine fühlte. Außerdem brachte er seine kleine Schwester mit Videos von kleinen Zaubertricks zum Staunen, die sie zwar ohne weiteres durchschaute, sie aber trotzdem total begeisterten. Sie war fasziniert von seinen Händen, die Karten verschwinden lassen konnten und Karten in eine leere, verschlossene Flasche zaubern konnten.
Sie brachten sich gegenseitig zum Lachen und zum Weinen. Er erzählte ihr von seinem harten und beschwerlichen Leben. Sie erzählte, wie sie in ihrem eigenen Leben immer wieder um Anerkennung und Respekt kämpfte. Sie ergänzten sich auf einer Ebene, die die meisten Menschen gar nicht erst für sich entdecken.
Er war einfach genau das, was sie in ihrem ganzen bisherigen Leben vermisst hatte. Eine starke Schulter, die nicht nachgab, wenn sie sich darauf stützte. Sie brauchte keine Angst zu haben, dass sie ins Leere fiel, denn er war da und er würde mit seinem Leben für sie da sein, wenn es nötig war. Ob sie es nun wollte oder nicht: Er passte auf sie auf. Kümmerte sich um sie. Sprach ihr Trost zu, wennsie am Boden war. Sie brauchte es noch nicht einmal mit einem Wort zu erwähnen. Er merkte es an der Art, wie sie ihm schrieb und ob sie ihm schrieb. Und bei ihm hatte sie auch nicht das Gefühl, als müsse sie auf ihn Rücksicht nehme, als wäre er so zart besaitet, dass er bei der kleinsten Belastung das Handtuch warf und in ein tiefes Loch abrutschte, nur weil seine Schwester gerade nicht gut drauf war. Mit niemanden sonst hatte sie eine so enge Bindung. Nur zu ihrem Freund, aber der war weit weg und hatte eigene Probleme, mit denen er in seinem jungen Alter klar kommen musste. Wenn sie sich hätte entscheiden müssen, wem es schlechter ging, ihm oder ihr, sie würde sich ohne zu überlegen für ihn entscheiden, ob es nun der Wahrheit entsprach oder nicht.
Was sie für ihn war, wusste sie nicht genau. Sie war über Nacht, völlig unbewusst, zu seinem kleinen Engel geworden. Ein geliebter Mensch war aus seinem Leben getreten und sie, die ihm nur an diesem Abend beistehen wollte, war in die Lücke gerutscht und hatte sein Leben mit einem neuen Glanz erfüllt. Und diesen Glanz versuchte er so gut es ging zu beschützen und versicherte ihr immer wieder aufs Neue, dass er bei ihr war, sie niemals aus den Augen ließ und sie vor allen Bösartigkeiten der Menschheit beschützte.
Und genau dieses Wissen half ihr heute dabei, den Gang zu ihrem Arzt zu meistern. Nicht, dass er irgendetwas bedrohliches an sich hatte, es war viel mehr die Angst davor, was mit ihr gemacht wurde.
Ihre Mutter fuhr sie mit dem riesigen schwarzen VW-Bus zu der Praxis. Sie saß auf dem Beifahrersitz, angeschnallt natürlich und dachte an ihren Bruder. Das einzige, was sie an ihm nicht schätzte, war, dass er rauchte und trank, zwar nicht in Übermengen, aber es war trotzdem gesundheitsschädigend. Sie würde ihn heute Abend bitten, nicht zu trinken, während er mit ihr schrieb. Denn irgendwie rief das ein sehr unbehagliches Gefühl in ihr hervor. Sie selbst konnte nichts mit Dingen anfangen, die sie möglicherweise abhängig machten. Wie zum Beispiel Alkohol und Zigaretten.
Er hatte auch immer noch eine Kurzgeschichte geplant, nichts aufregendes, nur etwa zwei Seiten, mit ihr zusammen zu schreiben.
Sie war in Gedanken bei der Kurzgeschichte, überlegte sich, was man als Aufhänger nehmen könnte, da sah sie nach rechts. Sie überquerten mit ihrem Auto gerade eine winzige Kreuzung. Ihre Mutter hatte Vorfahrt, wie ihr das Schild mitteilte, aber von rechts kam ein kleineres Auto direkt auf sie zu geschossen. Der Fahrer sah sie noch, rechtzeitig, wie sie dachte.
Er trat auf die Bremse, versuchte seinen Wagen am weiterrollen zu hindern, es hätte auch beinahe geklappt, da splitterte das Fenster auf der Beifahrerseite. Die Tür wurde eingedrückt und sie schrie vom Schmerz gepeinigt laut auf, versuchte noch mit den Armen ihren Kopf vor den vielen Glasscherben zuschützen, aber sie konnte spüren, wie sich winzige Splitter in ihre Haut bohrten und stecken blieben. Aus den Wunden floss Blut hervor, dass ihren ganzen Körper zu bedecken schien.
Der Wagen ihrer Mutter geriet ins Schleudern, drehte sich mehrmals um seine eigene Achse, bevor er endlich halb auf dem Bürgersteig zum Stehen kam.
Gnädigerweise wurde sie ohnmächtig, so dass sie von ihren teuflischen Schmerzen im Oberkörper und den vielen, unzähligen Schrammen an ihren Armen und ihrem Gesicht nichts mitbekam.
Kurz tauchte ihr Bewusstsein wieder auf, nach dem man sie aus dem Auto befreit hatte und gerade in einen Krankenwagen schob. Es war alles so gleißend hell vor ihren Augen, weswegen sie sie schnell wieder schloss, nur um wieder in bodenlose Schwärze abzusinken.

Flatternd öffneten sich ihre Augenlieder. Im ersten Moment war alles verschwommen und noch grau, von der Schwärze, die sie bis eben umgeben hatte. Schließlich wurde ihre Sicht klar. Sie erkannte die weiße Decke über sich und sie konnte das Desinfektionsmittel riechen, auch wenn ihr der Oberkörper bei jedem Atemzug schrecklich wehtat. Sie blieb ruhig liegen und versuchte den Schmerz nach unten zu kämpfen, was allerdings damit endete, dass ihr Gesicht schmerzte und ihre Arme brannten.
Sekundenlang war ihr schlecht vor Schmerz und sie dachte schon, sie müsse sichübergeben, bis auf einmal ihr Gespür gedämpft wurde.
Ganzlangsam und vorsichtig drehte sie den Kopf nach rechts und staunte nicht schlecht. Neben ihrem Bett, in dem kleinen unbequemen Sessel, saß ihr Vater.
„Wo ist Tom?“, galt ihre erste Frage ihrem Freund.
Ihr Vater, der nachdenklich auf den Boden geschaut hatte, richtete seinen erstaunten Blick auf seine Tochter. Diese dachte schon, er würde ihr nicht mehr antworten, und leckte sich über die aufgerissenen Lippen, um ihre Frage noch ein weiteres Mal zu stellen. Doch da stand er auf und kam auf sie zu.
Ihr Vater wollte ihr über die Stirn streicheln, aber er fand keine Stelle, die nicht von blutigen Schrammen bedeckt war, weswegen er die schon erhobene Hand wieder herunter nahm.
„Keine Sorge, wir haben ihm Bescheid gesagt. Seine Eltern haben es so hingebogen, dass es okay ist, wenn er zu dir fährt, auch wenn er Schule hat. Wie geht es dir so?“, wollte ihr Vater wissen.
Sie zuckte mit den Schultern. Ein stechender Schmerz durchzuckte dabei ihre rechte Seite und sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht vor Schmerzen zu schreien oder aufzustöhnen.
Leise beichtet sie ihrem Vater: „Ich habe ein bisschen aua.“
„Weißt du noch, was passiert ist?“
„Ja, ich hatte mit Mummy einen Autounfall. Wo ist sie? Ist sie okay?“
„Sie und dem Fahrer, der euch gerammt hat, ist nichts passiert. Sie ist Zuhause, um sich um deine Schwestern zu kümmern“, sagte ihr Vater in einem Tonfall, als wäre es das Natürlichste auf der Walt, dass ihre Mutter nicht hier war, während sie mit höllischen Schmerzen im Krankenhaus lag, sondern sich um ihre Schwestern kümmerte. Sie musste die Zähne fest aufeinander beißen, um nicht einen bösen Kommentar dazu abzugeben. Irgendwie war es auch typisch, dass sie die Einzige war, die etwas abbekommen hatte. Aber immerhin war ihr Vater hier. Aber nicht mehr lange, wie sich gleich herausstellte:
„Ich wollte eigentlich auch gerade gehen, wenn das okay ist. Ich hatte einen langen Arbeitstag.“
Sie sah zu den zwei Fenstern, die in ihrem Zimmer waren. Es war stockduster draußen, bis auf die Lichter in den Fenstern gegenüber.
„Papa, kann ich hier irgendwie ins Internet? Ich muss wirklich ganz dringend jemandem schreiben.“
Ihr Vater überlegte einige Sekunden, dann kam er zu dem Schluss: „Ich werde mal eine der Schwestern fragen. Ich komm dann noch mal, um mich zu verabschieden.“
Und damit war er auch schon aus dem Zimmer.
Sie sah sich um. Sie hatte ein eigenes Zimmer. Links von ihrem Bett stand ein etwa hüfthoher Nachttisch, mit einer kleinen Leselampe darauf. An der linken Wand, wo sich auch die Tür befand, stand ein Schrank aus hellem Holz.
Rechts neben ihrem Bett standen noch zwei Sessel. Mehr gab es nicht. Alles in allem war es auch ein sehr kleines Zimmer. Schwere weiße Vorhänge hingen neben den Fenstern.
Ihr Vater kam wieder. Das Schwesternzimmer schien nicht weit weg zu sein.
„Sie können dir gleich noch einen Laptop bringen, der ins Internet kann. Aber ich muss jetzt wirklich los, sonst meckert deine Mutter wieder mit mir. Mach‘s Gut, mein Schatz.“, sagte er, schnappte sich seinen Mantel, der über der Lehne des Sessels lag, strich ihr kurz über den Kopf, was sie nur mit größter Anstrengun güber sich ergehen lassen konnte, doch als er ihr auch noch einen Kuss auf die Haare geben wollte, schob sie ihn weg und sagte grimmig: „Du musst gehen!“
Ihr Vater nickte und wunderte sich nicht weiter über ihr seltsames Benehmen. Er war inzwischen fast schon daran gewöhnt, dass sie ihn ablehnten.
Ihr Vater ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren und sobald er aus der Tür hinaus war, atmete sie auf der einen Seite erleichtert aus, auf der anderen Seite fühlte sie sich nun schrecklich alleine. Hätte sie wenigstens ein Zimmer mit anderen Patienten, vielleicht sogar welche in ihrem Alter, dann wäre es vielleicht leichter zu ertragen, dass sich ihre Familie so wenig um sie kümmerte.
Nach schier endlosen Minuten, in denen sie auf dem Rücken lag und ihren Kopf von der einen Seite auf die andere drehte, um eine gemütliche Position zu finden, in der er nicht so sehr weh tat, trat endlich eine der Schwestern ein. Auf ihrem Namensschild stand: Schwester Marion. Sie war ungefähr Anfang vierzig und hatte fast nur noch graue Haare auf ihrem Kopf.
Marion begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln und den netten Worten: „Na, ist alles klar bei dir? Kann ich dir etwas Gutes tun? Ich habe dir übrigens den Laptop mitgebracht.“
Dankend lächelte sie zurück und bat: „Ich würde mich gerne aufsetzen, bin aber nicht sicher, ob ich das ohne Hilfe schaffe. Und ich würde gerne wissen, was ich eigentlich habe, dass ich im Krankenhaus bleiben muss.“
Schwester Marion stellte den bereits angeschalteten Laptop auf das kleine Schränkchen neben dem Bett und half ihr vorsichtig beim hinsetzen, wobei sich etwas in ihre rechte Seite zu fressen schien, so stark waren ihre Schmerzen. Endlich hatte sie es in eine aufrechte Position geschafft.
„Bei dem Autounfall, den du mit deiner Mutter hattest, ist das Fensterglas gesplittert und du hast etliche Schrammen im Gesicht und an den Armen davongetragen. Hinzu kommt, dass du dir zwei Rippen gebrochen hast, und eine Gehirnerschütterung hast du auch noch. Trotzdem hast du mächtig Glück gehabt“, informierte Schwester Marion sie.
Gebrochene Rippen? Na, hervorragend.
Da sie so ängstlich war, weil sie plötzlich in einem Krankenhaus aufgewacht war und nun völlig alleine war, mit Leuten, die sie nicht kannte, gab sie keine weitere Bemerkung bezüglich "Glück gehabt" ab. Sie war die Einzige, die verletzt worden war und ausgerechnet ihr wollte man nun verkaufen sie hätte Glück gehabt? Klar wusste sie, dass sie auch hätte sterben können, aber trotzdem empfand sie die Wortwahl als nicht gerade richtig geraten.
Sie begnügte sich mit einem Nicken und sah sehnsuchtsvoll auf den Laptop.
Schwester Marion verstand, reichte ihn ihr, verabschiedete sich aber auch gleich darauf wieder, da sie von einem anderen Patienten zu sich gerufen worden war.
Sie öffnete den Browser und ging auf die Seite, über die sie immer mit ihrem Bruder kommunizierte. Er wurde ihr als online angezeigt. Mit flinken Fingern loggte sie sich ebenfalls ein und tippe ihm eilig eine Nachricht.

BabyAngel: Hallo Bruderherz. Wie geht’s dir? Ich liege gerade im Krankenhaus.

Paul.Black: Krankenhaus? Wie? Was? Wieso? Was hast du jetzt schon wieder angestellt, liebes Schwesterherz? Bist du okay? Ich habe mir schon Sorgen gemacht, weil du dich solange nicht gemeldet hast. Muss gleich wieder eine rauchen.

Paul.Black: Schwester, antworte endlich. Ich bin schon ganz krank vor Sorgen!

BabyAngel: Lass die scheiß Zigaretten weg! Ich hasse es, wenn du rauchst, dann fühle ich mich immer so schuldig, besonders wenn du es tust, weil du dir Sorgen um mich machst.
Mir ist nichts weiter passiert. Ich hatte einen Autounfall. Zwei Rippen sind gebrochen, ich bin nur noch Geschnetzeltes, weil mich das kaputte Glas wohl ziemlich zerkleinert hat. Ich habe noch in keinen Spiegel geschaut und werde das wohl auch lieber erst einmal lassen. Aber meine Arme sehen schon ziemlich schlimm aus. Zumindest die Stellen, die nicht verbunden sind.
Ich liege jetzt also im Stadtkrankenhaus von Hamburg. Meine Mutter ist nicht hier. Sie war mit mir um Auto, aber sie und der andere Fahrer, der den Unfall verschuldet hat, haben keine Schramme abbekommen. Nur ich, weil der andere Wagen unser Auto genau an der Beifahrertür, da wo ich saß, getroffen hat. Mein Vater war kurz hier, hat mich dann aber gleich wieder alleine gelassen. Manchmal kann ich meine Familie einfach nur hassen. Wieso lassen sie mich jetzt alleine?

Paul.Black: Oh mein armes Schwesterherz! Musst du noch lange dableiben?

BabyAngel: Ich weiß es nicht. Könnte schon sein. Das heißt auch, dass ich wahrscheinlich nicht wirklich oft mit dir schreiben kann.

Paul.Black: Das macht nichts. Aber wie ist das mit dem Autounfall denn passiert?

BabyAngel: Wir hatten Vorfahrt und sind über eine Kreuzung gefahren. Da kam er einfach plötzlich von rechts. Er hat erst kurz vor dem Zusammenprall angefangen zubremsen…

Paul.Black: Bitte nicht weinen, Schwester. Ich bin doch bei dir. Ich liebe dich, mein honeymoon.

Sie hatte überhaupt nicht bemerkt, wie ihr die Tränen zuerst in die Augen gestiegen waren und inzwischen über ihre Wangen rollten. Doch als sie seine mit so viel Liebe geschriebenen Worte las, huschte ein kleines Lächeln über ihr Gesicht.
Entschlossen wischte sie das salzige Nass von ihren Wangen, die dabei entsetzlich schmerzten, und schrieb zurück:

BabyAngel: Ich habe dich auch lieb. Woher weißt du nur immer, wenn es mit schlecht geht?

Paul.Black: Ich weiß es nicht. Ich nehme es nur an. Dann habe ich immer so ein komisches Gefühl. Aber ich denke du solltest dich jetzt auch weiter ausruhen.
Ichliebe dich, Schwesterherz! Ich denke übrigens du bekommst morgen eine Überraschung von mir. Ich verrate dir, aber nicht, was es sein wird.
Pass auf dich auf. Kisses

BabyAngel: Jetzt hast du mich neugierig  gemacht! Aber ich bin nicht sicher, ob ich morgen wieder ins Internet kann.

Paul.Black: Das macht nichts. Und jetzt zisch ab ins Land der Träume!

BabyAngel: Jaha, ist ja gut! Du aber auch.

Paul.Black: Mache ich. Ich bin stolz, dein Bruder sein zu dürfen.

Mit diesen wunderschönen Worten noch vor Augen loggte sie sich wieder aus und fuhr den Laptop herunter.
Mit schmerzverzerrten Gesicht arbeitete sie sich unter ihre Decke und schloss die Augen. Sie war zwar wohl eine ziemlich lange Zeit ohnmächtig, aber das hatte ihr keine Energie gegeben, eher im Gegenteil. Deswegen war sie froh, als sie endlich in einen traumlosen schlaf glitt, der ihr wieder Kraft zurückgab.
Am nächsten Morgen wurde sie von einem leisen Klopfen an der Tür geweckt. Eine kleine Frau trat ein. Sie war noch total verschlafen, rieb sich aber schnell den Schlaf aus den Augen.
Die kleine Frau hieß Veronika, zumindest stand das auf ihrem Namensschild. Sie hatte offene, freundliche Augen, mit denen Veronika auf sie herunter lächelte, während die sich schmerzhaft daran erinnern musste, wieso sie hier im Krankenhaus war.
„Ich habe dir Frühstück gebracht. Ich dachte du könntest ruhig was vertragen. Moment, ich helfe dir auf“, bat Veronika ihre Hilfe an. Sie nahm das Angebot gerne an.
Veronika hatte das Tablett mit  ihrem Frühstück darauf auf den kleinen Nachttisch gestellt. Der Laptop war schon weg.
Endlich hatten die zwei jungen Frauen es gemeinsam geschafft sie in eine sitzende Position zu verfrachten, da wurde ihr das Tablett, auf dem ein Franzbrötchen und eine Scheibe Brot und dazu noch etwas Marmelade lagen, auf die Beine gestellt. Bei dem bloßen Anblick lief ihr schon das Wasser im Mund zusammen.
Veronika verließ das Zimmer wieder und sie machte sich daran, alles zu verputzen, was auf dem Tablett war.
Später an diesem Tag klopfte es wieder.
„Herein!“, sagte sie und erwartete, dass jemand aus ihrer Familie eintreten würde, aber es war ihr Freund Tom, der vorsichtig die Tür öffnete und herein schaute.
Ein Freudestrahlen ging über die Gesichter der beiden Verliebten. Tom trat ein und schloss die Tür leise wieder hinter sich. Ihr Freund stellte sich an ihr Bett und nahm ihre Hand, die sie ihm entgegengestreckt hatte.
„Hey!“, brachte sie nur mit einem breiten Grinsen im Gesicht zu Stande. Tom hob ihre Hand an seine warme Wange. Die zwei hatten sich seit über einem Monat nicht gesehen. Immerhin wohnten sie beide über 500 Kilometer voneinander entfernt und gingen beide noch zur Schule.
Liebevoll zog sie ihren Freund zu sich herunter und küsste ihn auf den Mund. Dieser Kuss war genauso aufregend und wunderschön, wie ihr allererster. Das war fast der einzige Vorteil, den sie an ihrer Fernbeziehung sehen konnte. Man hatte ständig seinen ersten Kuss noch einmal.
„Deine Eltern haben mir erzählt, was passiert ist und in welchem Krankenhaus du liegst, also habe ich eine Zugfahrkarte gekauft und bin zu dir. Ich hoffe du freust dich“, flüstert Tom, der seine Stirn an ihre gelehnt hat. Den Schmerz, den sie dabei empfand, unterdrückte sie dabei einfach.
Sie musste schlucken, bevor sie sagen konnte: „Natürlich freue ich mich! Ich liebe dich.“
„Du siehst ziemlich fertig aus.“
„Habe ich mir schon gedacht. Hab gar nicht erst in den Spiegel geschaut.“
„Ich finde dich trotzdem wunderschön.“
„Danke, du Schleimer!“, sagte sie und schubste ihn ganz leicht von sich weg. „Ich bin so froh, dass du gekommen bist. Es ist schrecklich langweilig hier. Und meine Familie ist auch nie da. Wie lange kannst du bleiben?“
Das Paar unterhielt sich noch lange. Sie scherzten und lachten und Toms Freundin war froh, endlich nicht mehr alleine sein zu müssen.
Als es gegen den späten Nachmittag ein weiteres Mal klopfte, war sie sich ganz sicher, dass es ihre Familie sein musste. Jemand anderes konnte es einfach nicht sein, da war sie sich sicher. Doch wer dann durch die Tür trat gehörte nur in ihren Augen zur Familie.
Als sie sah, wer eintrat, blieb ihr die Luft weg. Er war so ungefähr die letzte Person gewesen, mit der sie gerechnet hatte. Selbst bei ihren „Freundinnen“ hätte sie es noch eher verstanden, wenn die plötzlich auftauchen würden. Selbst der Eintritt von Brad Pitt hätte sie nicht mehr wundern können.
Sekundenlang starrten sich die zwei Geschwister nur an, mit offenem Mund.
Er räusperte sich, trat ganz ein und schloss die Tür wieder. Sie bekam den Mund immer noch nicht zu. Er ging um ihr Bett herum und schüttelte Tom die Hand, der nicht ganz so erstarrt war wie sie.
„Hallo, ich bin ihr Bruder. Du musst Tom sein. Freut mich dich kennen zu lernen“, stellte er sich vor. Verdattert schüttelte Tom seine Hand und nickte nur.
Sie musste sich sehr zusammen reißen, ihre Augen von ihrem Bruder auf ihren Freund zu richten und ihn zu bitten: „Könntest du vielleicht einen Moment draußen warten?“
Tom war ziemlich sauer deswegen, aber ihrer Meinung nach sollte er es verstehen. Missmutig ging Tom vor dir Tür.
Sie saß immer noch mit offenem Mund da, als er sagte: „Darf ich mich setzen? Ich habe dir doch gesagt, dass du heute eine Überraschung bekommst.“
Sie starrte ihn nur weiter an, als er sich einen Stuhl nahm und sich neben ihr Bett setzte.
„Du… Aber… Das ist doch… Wie kommst du hier her?“, fragte sie und ihr Kopf schien zu überhitzen.
Ihr Bruder war um einiges ruhiger, aber auch er schien aufgeregt zu sein: „Ich bin mit dem Auto her gefahren, um zu sehen, wie es meiner Schwester geht. Du siehst wirklich aus wie Geschnetzeltes. Bist du sonst okay?“
„Ja,ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Ich bin total geschockt dich zu sehen, aber ich freue mich richtig, dass du nur für mich hier her gekommen bist.“
„Ich hätte gedacht, dass deine Familie hier ist, aber anscheinend ist doch nur dein Freund gekommen.“
Wieder klopfte es an der Tür. Ein bleiches Mädchen, mit rotgefärbten Haaren steckte den Kopf zur Tür herein. Melani, eine von ihren Freundinnen war gekommen und da tauchte noch ein zweiter Kopf auf. Es war Kara.
Beide Freundinnen kamen ins Zimmer und starrten ihren Bruder an. In beiden Köpfen schwirrte derselbe Gedanke: Man, ist der groß und gutaussehend!
„Hallo Kara, hey Melani. Was macht ihr denn hier?“, fragte sie immer verblüffter. Ihre Freundinnen hatten sich noch nie um sie gekümmert, wenn es ihr schlecht ging. Das war eine Premiere für sie. Und außerdem hatte, soweit sie wusste, den beiden niemand erzählt, dass sie im Krankenhaus lag.
Ihr Bruder räusperte sich und erklärte: „Ich habe den beiden gesagt, dass du mit gebrochenen Rippen im Krankenhaus liegst und sie nicht wirklich deine Freundinnen sind, wenn sie nicht wenigstens einmal zu Besuch kommen.“
Und da waren sie also. Mit einem bitteren Lächeln musterte sie die Zwei. Eigentlich hätte es ihr klar sein müssen, dass sie nicht wirklich freiwillig hierher zu ihr kamen. Aber jetzt waren sie hier, und wie es aussah hatte Kara ein Geschenk dabei. Aber ihr Geburtstag war doch schon drei Wochen her, dachte sie bei sich.
„Stören wir?“, fragte Melani vorsichtig.
Sie zögerte nicht lange, um sie wieder loszuwerden: „Naja, also ein bisschen schon. Und das könnte hier noch etwas dauern.“
Die zwei Mädchen nickten, doch bevor sie wieder gingen gaben sie ihr das Geschenk.
Doch irgendwie neugierig geworden öffnete sie das Geschenkpapier und heraus kam ein hellblaues, wunderschönes Notizbuch, mit einem passenden Stift dazu. Jetzt hatte sie noch ein dreiundzwanzigstes für ihre Sammlung.
„Es wäre nicht nötig gewesen, den beiden Bescheid zu sagen. Sie haben mich schon immer alleine gelassen. Das wird sich auch nicht ändern.“, sagte sie zu ihrem Bruderund legte mich einem Schulterzucken das Notizbuch zur Seite.
„Aber jetzt bin ich ja da. Ich bin immer bei dir, egal was ist. Ich passe auf dich auf!“, sagte er mit einer Ernsthaftigkeit, die ihr Herz erwärmte.
Sie lächelte leicht und sagte ganz leise: „Ich weiß. Und ich bin froh, dass du da bist.“
Erstreckte seine Arme aus und fragte vorsichtig: „Darf ich dich in die Arme nehmen, Schwesterherz?“
EinenMoment dachte sie nach, dann sagte sie: „Aber nur ausnahmsweise. Du weißt ja, bei mir gilt eigentlich: Anschauen? Ja. Anfassen? Nein.“
Und dann lagen sich die zwei in den Armen. Nach so langer Zeit, die sie nur miteinander geschrieben hatten.

Impressum

Texte: Henrike S.
Bildmaterialien: Jeremy Jackson
Lektorat: Markus H.
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Im Gegensatz zu allen anderen meiner Bücher schreibe ich dieses nicht nur wegen dem Spaß an der Freude, sondern auch, weil ich meinem Bruder etwas ganz persönliches schenken möchte, das von Herzen kommt.

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