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Teil 1


„Okay, ich gebe euch noch eine Chance euer armseliges Leben zu retten. Der, der von euch mein Heimatland errät ist frei. Die Anderen kommen mit!“ Der Anführer schritt die ganze Zeit über schon an unserer Reihe entlang. Nach links, nach rechts, wieder nach links und wieder zurück. Nun blieb er stehen. Die Hände hatte er hinter dem Rücken verschränkt. Man sah ihm an, wie sicher er sich seiner Sache war. Selbstgefällig grinste er. Das Mädchen rechts von mir schüttelte ungläubig den Kopf und flüsterte, so leise, dass man es kaum verstand: „Das ist unmöglich! Woher sollten wir das denn wissen?“
„Seit lieber dankbar, dass mein Vater euch noch eine Möglichkeit zum Überleben gibt und euch nicht gleich alle einfach umbringt!“, sagte der Mann, der hinter dem Mädchen und mir stand. Dem Mädchen schien nicht klar gewesen zu sein, wie ernst die Lage in Wirklichkeit war. Vielleicht hatte sie sich noch eingeredet, dass sie hier unbeschadet raus kommen würde.
Würden meine Hände nicht hinter meinem Rücken in Handschellen stecken, ich hätte ihre Hand genommen und sie leicht gedrückt, um ihr Mut zu machen. Aber vielleicht war es auch besser so, denn ich konnte nicht abstreiten, dass keiner von uns einen Anhaltspunkt hatte, woher die Männer kamen. Sie sprachen fließend und ohne Akzent Deutsch. Auch von ihren Gesichtern hatte man nichts gesehen, nur die Augen. Den Rest ihres Gesichtes hatten sie mit Skimasken bedeckt.
Ich war mir sicher, selbst wenn wir ihre Gesichter gesehen hätten, wir hätten nicht sagen können, woher sie stammten. Das Einzige, was klar war, war dass Vater und Sohn unter ihnen waren.
Jetzt meldete sich auch einer, der etwas weiter links von mir stand: „Mach ihnen doch nicht auch noch zusätzlich Angst. Solange sich alle ruhig verhalten und tun, was wir sagen passiert ihnen nichts.“
Ich drehte meinen Kopf. Die Stimme kam mir bekannt vor. Ich hatte sie erst vor wenigen Tagen gehört. Sie gehörte dem Jungen, der am Tor zum Schulgelände gestanden hatte. Er hatte sich mit anderen Gleichaltrigen unterhalten. Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ein Mädchen hatte ihn gefragt, woher er genau kam. Ich erinnerte mich jedoch nicht mehr an seine Antwort.
„Ich mag solche Spiele. Ihr habt drei Versuche.“, sagte wieder der Anführer.
Eine ältere Frau, vom Ende der Reihe meldete sich zu Wort. Sie rief mit vor Verzweiflung quietschender Stimme: „Deutschland!“ Kaum merklich schüttelte ich den Kopf. Nein, von hier waren sie nicht.
Der Man vor uns fing an zu lachen. Es schien ihn zu amüsieren.
Wie hieß das Land? Es musste mir unbedingt einfallen.
„Zwei Versuche noch. Strengt euch an!“, rief der Vater des Mannes hinter uns, immer noch lachend.
Das Mädchen neben mir, sie war vielleicht etwas jünger, als ich, fing an zu weinen. Es musste schrecklich für sie sein. Und ich wusste es doch, es fiel mir bloß nicht ein. Doch, ich wusste es wieder. Er hatte gesagt, er komme aus Tansania. Hoffentlich kamen die anderen auch daher.
„Spanien?“, fragte ein auch etwas älterer Herr. Wieder schüttelte ich den Kopf und formte mit den Lippen das Wort: „Tansania.“
„Oh Spanien, ich glaube da bin ich noch nie hergekommen. Muss aber wunderschön sein. Wunderbar warm ist es dort.“, machte der Typ sich über den Mann lustig. „Einen Versuch noch. Ich rate Ihnen sagen Sie nur etwas, wenn sie sich auch ganz sicher sind.“
Vorsichtig tippte ich das Mädchen neben mir mit dem Fuß am Bein an. Sie drehte nur den Kopf ein wenig in meine Richtung. Die hübschen langen, braunen Harre fielen ihr so vors Gesicht, dass ich es nicht sehen konnte.
Wie unglaublich praktisch, dass genau in dem Moment der Mann, der hinter uns gestanden hatte zu seinem Vater ging und sich am Anblick der vor Angst verzogenen Gesichter seiner Gefangenen erfreute. Die restlichen Entführer standen alle außerhalb der Hörweite, solange ich nur flüsterte.
„Ich glaube ich weiß, woher die Männer kommen. Tansania, willst du es sagen?“, fragte ich vorsichtig und möglichst leise. Sie nickte und das Haar fiel ihr ein wenig aus dem Gesicht. Sie lächelte mich dankbar an. Ich lächelte freundlich zurück. Sie hatte es mehr als verdient hier raus zu kommen und zudem war ich mir auch nicht sicher, wie weit die Männer mit einem so hübschen Mädchen, selbst wenn sie weinte sahen ihre Augen noch wunderschön aus, gehen würden.
Sie drehte den Kopf nach vorne und sagte zwar immer noch mit Tränen in der Stimme, aber in sicherem Ton: „Tansania.“
Es wurde ganz leise. Das Gesicht des Anführers entgleiste. Man konnte sehen, wie seine Hände vor Wut zitterten. Auch seine Stimme zitterte, als er schrie: „Woher weißt du das? Du kannst das gar nicht wissen! Keiner wusste das bis jetzt und dann kommt ein Grünschnabel wie du und… Nein! Bringt sie um!“
Ich schnappte nach Lupft, riss erschrocken die Augen auf. Das hatte ich nicht gewollt, nie hätte ich gedacht, dass er sie umbringen würde.
Das Mädchen wimmerte.
Der Typ, der hinter der Reihe, weiter links stand sagte: „Vater, du kannst sie nicht umbringen. Sie hat es erraten. Du musst sie gehen lassen. Oder willst du, dass man dir nachsagt, du würdest dein Wort nicht halten?“
Waren denn hier alle mit einander verwandt? Eine große glückliche Familie, die nichts zu tun hatte und deswegen Menschen entführte? Kaum vorstellbar.
Schritte waren hinter meinem Rücken zu hören. Ich drehte meinen Kopf und sah zu, wie der junge Mann dem Mädchen neben mir hoch half. Sie schwankte ein bisschen. Doch es schien zu gehen und der Gedanke an Freiheit hielt sie zusätzlich auf den Füßen.
Der junge Mann, den ich damals am Tor gesehen hatte, holte einen Schlüssel hervor und Sekunden später klickten die Handschellen. Er führte sie an einem Arm zum Ausgang der Lagerhalle, in der wir uns befanden. Kurz bevor sie durch die Tür gingen drehte sie sich noch einmal zu mir um und ihr Blick und ihr Lächeln schienen zu sagen: „Das vergesse ich dir nie, vielen Dank.“
Ich nickte ihr zu. Auch der Junge drehte den Kopf. Ich konnte in seinem Blick nicht lesen, was er wohl dachte. Dann drehte er sich wieder nach vorne und gab dem Mädchen zu verstehen, dass sie weiter gehen sollte.
Ich hatte gerade einem Mädchen, dessen Namen ich noch nicht einmal kannte, wohlmöglich das Leben gerettet. Wer sich danach nicht einfach wunderbar fühlt, muss deutlich zu egozentrisch sein.
Ich sah wieder vor mich, auf den Boden. Ich fragte mich, ob er sie wohl an einem belebten Platz aussetzen würde, oder eher in einem Wald.
Umso erstaunter war, ich als keine Minute später die Türe wieder aufging und der junge Mann wieder eintrat. Verstört sah ich ihn an. Er sah zu mir herüber. Kleine Lachfalten bildeten sich um seine Augen, als er meinen Blick sah.
„Keine Sorge, ich habe ihr beschrieben, wie sie von hier aus zur nächsten Bushaltestelle kommt. Ich bin sicher sie wird´s schaffen.“, sagte er und ich konnte klar das Lächeln heraus hören. So ganz beruhigte mich das nicht, aber immer noch besser, als wenn er sie draußen erschossen hätte.
Er kam langsam auf mich zu geschlendert. Dadurch, dass er in meinem Rücken ging und ich mich schlecht umdrehen konnte wurde es etwas schwierig ihn die ganze Zeit im Auge zu behalten. Doch er ging nicht, wie ich gedacht hatte wieder an den Platz, an dem er davor gestanden hatte, sonder ging durch die Lücke, an der davor das Mädchen gesessen hatte und hockte sich vor mir hin.
„Kennst du sie? Ist sie deine Schwester?“, fragte er mich, durch seine Stoffmaske hindurch.
„Sehe ich ihr ähnlich?“, fragte ich mit Unschuldsmiene. Er schüttelte den Kopf, wieder mit den kleinen Lachfalten um die Augen. Ich fuhr fort: „Du hast dir gerade selber die Antwort auf deine Frage gegeben.“
Ich saß auf den Knien, er hockte vor mir. Seine Augen waren etwas weiter oben, als meine, was aber wahrscheinlich nur daran lag, dass er sowieso schon größer war als ich.
Normal hasste ich es, wenn die Aufmerksamkeit aller auf mir ruht, auch in diesem Fall war es mir nicht angenehm. Der Junge vor mir schien damit keine Probleme zu haben, im Gegenteil. Er schien es zu genießen als Böser im Mittelpunkt zu stehen.
„Ich bin nur etwas älter als du.“, sagte er. Das kam unerwartet, doch ich nickte nur. Ich wusste das ja bereits. Mit einem deutlichen Lächeln in der Stimme fuhr er fort: „Ich habe deiner kleinen Freundin gerade die Freiheit geschenkt. War doch echt nett von mir. Findest du nicht, dass ich mir da eine kleine Belohnung verdient habe, so etwas wie einen Kuss.“
Ich schüttelte entschieden den Kopf und sagte: „Weißt du, wer ich bin?“
„Ja, du heißt Megan. Dein Vater ist einer der Firmenchefs, in einer gut laufenden Filiale. Und du bist die Freundin von Jonas. Er wird später einmal die Firma von seinem Vater erben.“
„Falsch, ich bin ich und ich habe meinen Stolz. Ach und Jonas ist mein Ex-Freund.“ Das ging ihn zwar nichts an, aber ich wollte auch auf gar keinen Fall, dass ein falsches Bild von mir entstand.
„Das ist ja wunderbar, dann kannst du mir ja ohne schlechtes Gewissen einen Kuss geben.“
Warum hatte ich ihm gleich noch mal gesagt, dass ich nicht mehr mit ihm zusammen war? Ich schüttelte den Kopf und als er mich doch leicht fragend ansah meinte ich: „Geht nicht.
Etwas verwirrt fragte er mich: „Warum denn nicht?“
„Wegen der Maske. Fühlt sich bestimmt etwas dämlich an eine Skimaske zu küssen, wobei ich glaube, dass das auch eigentlich gar nicht das ist, was du von mir willst.“
Der Typ vor mir drehte sich zu seinem Vater und seinem Bruder um. Zu ihnen sagte er: „Ist sie nicht süß.“ Und wieder zu mir sagte er: „Ihr werdet so viel Zeit mit uns verbringen, dass ihr sowieso unsere Gesichter irgendwann sehen werdet. Da macht es auch nichts, wenn eine von euch jetzt schon mein Gesicht sieht.“
Ich fühlte mich wie eine Sechsjährige, der man alles erklären musste. Genervt seufzte ich und sagte: „Ich geb dir trotzdem keinen!“ Ich hob mein Kinn ein Stück weiter nach oben, um meiner Aussage mehr Nachdruck zu verleihen. Er zuckte leicht mit den Schultern und hob einen Arm, um sich die Maske abzuziehen. Es kam das Gesicht zum Vorschein, das ich erwartet hatte. Hübsch war er schon, auch mein Typ, ja eigentlich gefiel er mir echt gut. Die schwarzen Haare, die ihm wild ums Gesicht fielen. Seine Wangen waren niedlich rot. Einen schönen Mund hatte er auch, es wäre bestimmt schon angenehm ihn zu küssen, aber ich hatte letztlich doch keine Lust einem fremden Menschen und dann auch noch einem Entführer einen Schmatzer aufzudrücken. Aber vielleicht würde er mich ja auch einfach wieder in Ruhe lassen, wenn ich ihn auf die Wange küsste.
Als er mich nur weiter ansah griff ich mir ein Herz und beugte mich vor. Ohne Anstrengung drückte er mich wieder zurück. Seine Hände ließ er auf meinen Schultern liegen und sah mich immer noch nur an. Es machte mich unruhig, was wollte er denn jetzt eigentlich von mir? Einen Kuss ja anscheinend nicht.
Er nahm die Hände von meinen Schultern und stand auf. Ich sah zu ihm hoch und fragte: „Wie heißt du eigentlich? Du scheint ja bestens über mich Bescheid zu wissen, aber ich weiß nicht einmal deinen Namen.“
„Wie unhöflich von mir. Ich bin Sascha. Das ist mein Bruder Taylor und mein Vater Bruno.“, erklärte er mir. Ich sah, wie Taylor eine Hand hob, als Gruß. Was mir nicht ganz einleuchtete war, dass sie uns so ohne weiteres ihre Namen sagten. Normal wollten Kidnapper doch eher unerkannt bleiben, oder nicht? Und warum war Sascha aufgestanden?
Von links hörte ich einen leisen Schrei, also leise im Sinne von kaum nennenswert. Ich sah rüber. Der Wächter, der links am Ende der Reihe stand, hielt eine Frau mittleren Alters am Arm fest. Er hatte sie wohl gerade hoch gezogen. Jetzt ließ er sie los und trat hinter den Nächsten. Es war anscheinend der Ehemann der Frau, denn sobald auch er stand, fragte sie ihn besorgt: „Ist alles okay mit dir, Frank?“ Er nickte beschwichtigend.
Der Reihe nach standen ein junger Mann, eine ältere Dame, noch eine, dann ein älterer Herr und noch mal einer auf. Dann war die Reihe an mir. Doch der Mann, der davor den anderen hoch geholfen hatte ließ mich aus und machte stattdessen mit dem Mann neben mir weiter.
Fragend sah ich zu Sascha auf. Er sah meinen Blick und sagte: „Unser Flieger geht bald, wir sollten langsam aufbrechen.“
„Und was ist mit mir? Bleib ich hier?“, fragte ich ihn. Leicht amüsiert schüttelte er den Kopf und antwortete mir: „Nein, aber mein Cousin legt seine Hand nicht an das Mädchen eines anderen von uns.“
„Ich bin dein Mädchen?“
„Ja.“
„Ich bin nicht dein Mädchen und werde es auch nie sein!“, sagte ich in bestimmten Ton.
Hinter Sascha war eine Stimme zu hören. Es war sein Vater, er klang reichlich entspannt: „Sascha, jetzt hilf ihr hoch, wir kommen noch zu spät.“
Ich merkte, dass mittlerweile alle anderen Gefangenen schon standen, nur ich hockte noch auf dem Boden.
Sascha ging um mich herum und fasste mich am Arm. Nicht grob, aber entschlossen zog er daran und ich stand auf. Meine Knie waren total steif und es tat weh sie zu strecken. Am liebsten hätte ich meine Hände ausgestreckt und sie vorsichtig massiert, aber das ging ja nicht, wegen den Handschellen. Ich fühlte mich ziemlich erbärmlich. Ich konnte kaum stehen und meine Handgelenke steckten in Handschellen.
Sascha hielt mich immer noch am Arm, was vielleicht ganz gut war. Vorsichtig drehte er mich nun zu sich um.
„Ich bekomme noch einen Kuss von dir.“, sagte er und grinste mich an.
Alle um mich herum waren mit ihren Liebsten beschäftigt. Sie sprachen sich Mut zu, versicherten sich gegenseitig, dass es ihnen gut ging. War ich denn die Einzige, die keinen hier kannte? Sah ganz danach aus. Es war beängstigend.
Sascha legte mir eine Hand unters Kinn und hob es an. Er war ziemlich groß. Ich fühlte mich wie eine kleine Krabbe, neben einem riesigen Hummer. Seine Augen waren dunkel braun. Hatte ich schon erwähnt, dass ich eine Schwäche für Jungs mit dunklen Augen habe? Was
Der junge Tansanier beugte sich zu mir runter und küsste mich sanft auf den Mund. Ganz leicht nur. Ganz anders, als Jonas immer. Ich verbot mir jedes weitere Nachdenken. Das war jetzt eigentlich auch schon egal.
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich die Augen geschlossen hatte. Als Sascha sich aufrichtete öffnete ich sie wieder. Wir sahen uns tief in die Augen, ganz tief, tiefer, als ich es je mit jemandem getan hatte. Gut, er grinste, was das Ganze etwas unromantisch machte. Und auch das Lachen von seinem Vater und seinem Bruder waren nicht wirklich angenehm, aber es hätte schlimmer kommen können.
Meine Ohren wurden rot. Gerne wäre ich mir jetzt mit einer Hand durch die Haare gefahren, aber das ging ja nicht. Unbehaglich zog ich die Unterlippe zwischen die Zähne und sah zu Boden. Meine Haare fielen mir vors Gesicht, was wahrscheinlich ganz gut so war, denn sonst hätte man gesehen, wie peinlich mir das war.
Aber Rache ist süß.
Ich warf meinen Kopf nach hinten, so dass meine Haare aus dem Gesicht waren und sah zu Sascha. Er stand immer noch vor mir. Warum sollte er auch nicht?
Was gut war, war dass sie zwar unsere Handgelenke gefesselt hatte, aber nicht unsere Beine.
Ich trat Sascha gegens Schienbein und lächelte ihn an.
„Autsch!“, schrie er und rieb sich über sein Bein. „Sie hat mich getreten!“ Sein Bruder lachte laut auf und freute sich: „Verdient!“
„Jungs, wir haben jetzt keine Zeit, für solche Kinderein. Wir müssen los.“, wies ihr Vater sie zurecht.
Taylor lächelte immer noch, ging aber zu uns Gefangenen hinüber. Nein, er ging weiter. Anscheinend in einen kleinen Nebenraum, der Halle. Dort bleib er für etwa zwei Minuten, dann kam er wieder aus der Tür. Über die Schulter hatte er sich einige Maschinenpistolen oder ähnliches gehängt. In seiner Hand hielt er eine weitere.
Alle um mich herum fingen an ängstliche Laute von sich zu geben und zu zittern. Bis auf einen. Der junge Mann, dem man vorhin als Drittem aufgeholfen hatte, war anscheinend zu stolz, um Angst zu haben. Interessiert sah ich zu ihm hinüber. Sein Gesicht war versteinert. Er stand aufrecht da, die Schultern gestrafft, den Blick geradeaus gerichtet. Die Frau und der Mann, die sich fast gänzlich hinter dem stolzen Mann versteckt hatten, schienen seine Eltern zu sein.
Taylor verteilte die Pistolen an die anderen Entführer. Auch ein zweiter Mann war in den Raum gegangen und hatte welche geholt. Insgesamt waren es 17 Männer und ein dutzend Gefangene. Mit mir mitgezählt.
Auch Sascha bekam eine dieser Maschinenpistolen. Also Taylor sie ihm aushändigte trat ich reflexartig einen Schritt zur Seite. Sascha hing sie sich lässig über die Schulter. Immer hin schoss er nicht gleich los, was gut war. Auch Saschas Vater nahm die Pistole über die Schulter. Alle andern behielten sie in der Hand. Nicht im Anschlag, aber doch so, dass sie notfalls schießen konnten. Und ich war mir sicher, dass sie schießen würden, falls nötig.
„Aufbruch Leute!“, sagte Bruno laut. Jeder der Kidnapper schnappte sich einen der Gefangenen, nahm ihn oder sie grob am Arm. Einige, der Männer, die jüngeren von ihnen, wurden von zwei in die Mitte genommen. Ich fragte mich, wer mich nehmen würde, doch keiner kam auf mich zu. Also dachte ich mir, geh ich einfach mal so hinter den anderen her, doch Sascha hielt mich am Arm fest. Er zog mich näher zu sich heran. Unwillig trat ich auf ihn zu.
Der stolze junge Mann ging an uns vorbei. Er warf mir einen Blick zu, der nicht zu deuten war. Sascha schien ihn auch gesehen zu haben und er gefiel ihm nicht, denn er drückte meinen Oberarm noch fester. Es tat weh, doch ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen.
Die beiden Männer, die den Stolzen an den Armen hielten waren ziemlich kräftig gebaut. Selbst wenn er versuchen würde wegzulaufen, sie würden ihn festhalten. Er hatte keine Chance.
Er wurde weiter gezogen. Er drehte den Kopf wieder nach vorne und ich sah ihm nach.
Saschas Griff wurde etwas weniger schmerzhaft.
Taylor trat neben uns und fragte, während auch er sich seine Maske vom Kopf zog: „Kommt ihr dann?“
Sascha nickte und gab mir zu verstehen, dass wir in fast die entgegengesetzte Richtung gehen würden, als die anderen. Wir gingen an dem Raum vorbei, aus dem Taylor vorhin die Pistolen geholt hatte, weiter zu einer schweren Türe, die Bruno für uns aufhielt. Wir gingen hinaus, zuerst Taylor, dann Sascha und ich und dann Bruno, der dann auch gleich die Türe abschloss.
Ich fand mich in einer Garage wieder. Es stand ein Auto darin. Eine Limousine. Es hätten noch viel mehr Autos hinein gepasst.
Ich war noch nie mit einer Limousine gefahren. Ich fragte mich, wie das wohl sein würde. Wie sich heraus stellte sollte ich es innerhalb der nächsten zwei Minuten heraus finden.
„Wer sitz vorne und wer hinten?“, fragte Sascha seinen Bruder, der zum Garagentor ging und es öffnete. Er hielt den Knopf gedrückt und drehte sich zu seiner Familie um und grinste. „Ich würde mal sagen, da vorne wenigstens einer sitzen sollte, der einen Plan davon hat, wo wir lang müssen, sitze ich vorne.“ Sein Bruder entgegnete nichts.
Ich erschreckte mich, als Bruno den Wagen aufschloss. Der Schlüssel oder der Wagen gab dabei ein ungewöhnliches Piepen von sich.
Mit der Fröhlichkeit eines Kindes in der Stimme sagte Bruno: „Alles einsteigen bitte. Die Fahrt beginnt in kürze.“
Diese Männer benahmen sich wirklich nicht, wie Entführer, eher wie eine Familie, die gerade einen netten Ausflug macht.
Was Sascha dann tat, war irgendwie komisch. Er nahm den Schlüssel für die Handschellen aus der Tasche und öffnete damit eine Seite, von meinen Fesseln, aber auch nur eine. Dann nahm er die noch immer gefesselte Hand in seine und schloss die Handschelle um sein Handgelenk.
Wie ein junger Verliebter zog er mich zum Auto, hielt mir sogar die Türe auf.
„Danke.“, sagte ich artig. Ich wollte mich auf die hintere Bank setzen. Da die aber ziemlich weit von der Türe entfernt war musste ich leicht gebückt stehen bleiben und warten, bis Sascha eingestiegen war und die Türe zugemacht hatte.
Er ließ meine Hand auch nicht los. Sogar als wir dann auf der Rückbank saßen, behielt er sie in seiner Hand. Es war nicht unangenehm. Seine war schön warm und wärmte meine eiskalten Finger. Das Einzige, was nicht so angenehm war, war dass meine Hand dabei auf seinem Bein lag.
Der Wagen fuhr an. Er rollte durch das Tor und hinaus auf einen Schotterweg. Automatisch schloss sich das Tor hinter uns. Ich konnte nicht nach vorne, zu Bruno und Taylor schauen. Eine dicke, dunkel getönte Scheibe verhinderte jeden Sichtkontakt. Ich war quasi mit Sascha alleine. Auch aus den Fenstern konnte man nicht sehen. Nicht nur von außen waren sie schwarz, auch von innen sah man nicht mehr als sein eigenes Spiegelbild. Nur am Geräusch der Reifen erkannte ich, dass wir inzwischen nicht mehr auf Schotter, sonder auf einer geteerten Straße fuhren.
Um ehrlich zu sein, machte es mich kribbelig an Sascha gekettet zu sein. Nicht wie Schmetterlinge im Bauch, sondern auf eine ganz andere Art. Angenehm oder unangenehm, konnte ich nicht sagen.
Langsam waren meine Finger wärmer. Nicht unbedingt warm, aber auf jeden Fall nicht mehr ganz so kalt wie am Anfang.
Ich saß neben Sascha. Wir schwiegen. Was hätten wir auch sagen sollen? Gerade, als ich das gedacht hatte sagte Sascha: „Möchtest du vielleicht ein bisschen schlafen. Wir werden lange fahren und die letzten Stunden müssen für dich auch nicht so angenehm gewesen sein.“
Ich nickte, hatte aber eigentlich nicht vor zu schlafen. Aber ich tat so, als würde ich es tun. Mit geschlossenen Augen, möglichst ruhiger Haltung und Atem saß ich da.
Nach einiger Zeit, ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen war, schien er sich sicher zu sein, dass ich schlief und machte die Handschellen von seine Händen ab. Ich merkte es daran, dass er möglichst vorsichtig meine Hand anhob, dann klackte es und Bruchteile später legte er meine Hand ganz vorsichtig auf den Sitz. Er war wohl aufgestanden.
Ich öffnete meine Augen ein wenig.
Sascha hatte sich mir gegen über auf die Bank gesetzt und beugte sich gerade nach vorne und suchte anscheinend etwas unter dem Sitz.
Was mir zu erst gar nicht aufgefallen war, war dass er nicht mehr seinen Rollkragenpullover trug. Er lag neben ihm auf dem Sitz.
Sascha richtete sich wieder auf, in den Händen einen Schuhkarton, und sah mir in die Augen.
Seine Mundwinkel zuckten als Anzeichen für ein Lächeln.
Er stellte sich den Karton auf die Beine und öffnete ihn. Heraus nahm er etwas schwarzes, aus Stoff, dann legte er den Pulli hinein und stellte ihn neben sich. Er dem das schwarze Ding und es stellte sich heraus, dass es sich um zwei schwarze T-Shirts handelte. Das eine hatte er in der linken, das andere in der rechten. Der einzige Unterschied bei den beiden T-Shirts lag am Ausschnitt. Das rechte hatte einen runden und das linke einen V-Ausschnitt.
Mit verschmitzter Stimme fragte er: „Welches soll ich anziehen? Das hier, oder das?“ Er hob abwechselnd das Linke und das Rechte hoch. Ich nahm es auch eigentlich nur am Rande wahr. Meine Aufmerksamkeit lag viel mehr bei seinem nacktem Oberkörper. Seine Armmuskeln bewegten sich bei jeder Bewegung. Seine Schultern waren muskulös und breit. Sein Six-Pack klar zu erkennen.
„Möchtest du meine ehrliche Meinung wissen?“, fragte ich ihn ruhig. Ebenso ruhig antwortete er: „Ja, bitte.“
„Also gut. Ich finde das in der Mitte am besten.“
Er lachte. Es war eine andere Reaktion, als ich gedacht hatte. Ich hatte gedacht, er würde sich einfach eines überziehen und mir komische Blicke zu werfen. Doch das tat er nicht. Nein, er legte die Shirts einfach zurück in den Karton und schob ihn wieder unter den Sitz. Dann kam er wieder auf meine Seite.
Ich nahm meine Hand zur Seite, damit er sich hinsetzen konnte.
„Wie viel Uhr ist es?“, fragte ich ihn. Ich hatte schon in der Halle keine Ahnung mehr gehabt, wie spät es war und jetzt war auch noch der letzte Rest von meinem Schätzvermögen flöten gegangen.
„Das ist unwichtig.“, antwortete mir Sascha abweisend. „Und jetzt gib mir wieder deine Hand!“ Davon, dass er eben noch gelacht hatte war jetzt nichts mehr zu spüren. Er kommandierte mich in einem Ton herum, bei der einem Angst und Bange werden konnte. Mit einer Kälte in der Stimme, die ich noch nie gehört hatte.
„Du sagst mir wahrscheinlich auch nicht, wo wir hinfahren, oder?“, fragte ich, obwohl die Antwort ganz klar Nein heißen würde.
Sascha streckte die Hand aus und wollte mein Handgelenk, mit der Handschelle nehmen. Ich zog die Hand weg. Es war zwar nicht schlimm gewesen an ihn gefesselt zu sein, aber besser war es selbstverständlich ohne einen Fixpunkt von dem man sich nicht nach Belieben entfernen kann.
Der Wagen fuhr über eine Schwelle, oder ähnliches und ich nutzte die Gelegenheit und wollte so weit wie möglich von Sascha wegrutschen. Doch er packte mich am Oberarm und hielt mich fest. Mit der anderen Hand zog er meinen Arm zu sich. Dabei verdrehte er meine Schulter so, dass ich kurz aufschrie und sofort wieder verstummte. Ich hörte auf mich zu wehren. Es tat mir mehr weh, als dass es mir weiterhalf.
Sascha hielt mich hart am Handgelenk fest, während er näher zu mir rutschte. Mit seiner rechten Hand griff er um meinen Kopf herum, dabei drückte er mich an sich. Er roch ganz wunderbar. Dennoch versuchte ich mich aus seiner Umschlingung zu befreien. Ungeduldig drückte er mich fester an sich.
Er nahm meine Hand wieder in seine und schloss die Fesseln auch um sein Handgelenk. Sascha ließ seinen Arm weiter nach unten sinken, etwa auf die Höhe von meinem Magen. Wir saßen da wie zwei Verliebte, die nicht genug von einander bekommen konnten.
Einige Minuten saß ich noch angespannt da. Doch mit der Zeit wurde es zu anstrengend. Sascha würde keinen Kompromiss mit mir eingehen. Ich würde hier sitzen bleiben müssen. In der Zeit konnte ich ja versuchen ihn auszuhorchen. Vielleicht über etwas Privates, denn über den Verlauf der Entführung würde er mit Sicherheit schweigen.
„Hast du eine Freundin?“, das war einfach die erstbeste Frage, die mir einfiel.
Schade, dass ich ihm nicht ins Gesicht sehen konnte.
Er antwortete, als hätte er auf diese Frage gewartet: „Nein. Und jetzt frag nicht weiter. Schlaf lieber.“
„Die ganze Zeit sagst du mir, ich soll schlafen, aber du selber schläfst nicht oder wie? Und was hast eigentlich mit deiner Pistole gemacht?“
„Hast du es denn nicht mitbekommen? Taylor hat sie mir abgenommen, bevor ich eingestiegen bin.“
„Aha. Und was ist mit deiner Mutter? Wo ist sie?“
„Als ich etwa fünf war, hat sie uns bei unserem Vater gelassen und ist abgehauen.“
Dickes Fettnäpfchen. Aber Saschas Stimme war keine Kränkung anzumerken. Vielleicht hatte er sich damit abgefunden und dachte inzwischen, dass es so sicher besser ist.
„Und wo fahren wir hin?“, versuchte ich es noch einmal.
„Megan, du weißt, dass ich dir die Frage nicht beantworten werde und jetzt sei still und versuch zu schlafen.“
„Warum denn…“
„Hörst du nicht? Du sollst still sein!“, ich zuckte unter seiner Stimme zusammen. Mutter hatte auch immer so mit mir geredet, kurz bevor sie mich geschlagen hatte. Die Erinnerung tat weh, mehr als ihre Schläge. So gerne hätte ich eine Mutter gehabt, die mit mir Einkaufen ging, wenn ich neue Sachen brauchte. Meine hatte dann immer nur mit mir geschimpft und mich mit jemand anderem los geschickt, und wehe wir hatten zu viel Geld ausgegeben. Dann gab es eine Woche nichts zu essen, außer mal eine Scheibe trockenes Brot.
Sie hatte mich oft geschlagen. Meinem Vater hatte ich anfangs nichts erzählt. Ich war noch zu klein. Ich hatte nicht verstanden, dass meine Mutter mir damit etwas antat, ich spürte immer nur ihre Schläge, nicht die seelischen Verletzungen, die sie damit auch hinterließ. Ich dachte, sie tat mir damit kein Unrecht. Ich dachte ich müsse mich einfach mehr anstrengen, damit sie mich mochte. Ich begriff nicht, dass Mütter ihre Kinder normalerweise so liebten, wie sie waren und sie sich ihre Liebe nicht erst verdienen mussten.
Mein Vater war nicht oft zu Hause gewesen, sodass er nichts von den Schlägen, die meine Mutter in meinem Gesicht verteilte, bemerkte.
Damals hatte die Welt für mich aus der Bestrafung meiner Mutter und meinen Fehlern bestanden. Die Köchin, die bei uns gearbeitet hatte, hatte es dann wohl meinem Vater erzählt. An einem Tag, an dem meine Mutter mich so fest geschlagen hatte, dass mein ganzes rechtes Auge zugeschwollen und meine Lippe aufgeplatzt war. Mein Vater war auf Geschäftsreise. Als er hörte, was bei uns zu Hause jeden Tag los war, kam er auf der Stelle nach Hause.
Er stritt lange mit meiner Mutter. Ich hatte mich oben in meinem Zimmer verkrochen. Mutter würde sehr sauer auf mich sein, dachte ich mir damals. Ich hatte geweint, sehr stark. Mein zugeschwollenes Auge hatte davon wieder einmal zu schmerzen begonnen.
Als die Zimmertür auf ging, dachte ich meine Mutter würde reinkommen, doch es war mein Vater. Er nahm mich in den Arm und setzte sich mit mir auf dem Schoß auf den Boden. Lange saßen wir da.
Wie alt war ich da gewesen? Ich glaube so etwa sieben Jahre.
Mein Vater hatte mich ganz fest gehalten, und mir mit einer bloßen Umarmung so viel Liebe gegeben, wie ich schon lange nicht mehr gespürt hatte. Ich hatte die Augen geschlossen und es einfach genossen, wie mein Vater mich sanft hin und her wiegte.
Irgendwann fragte ich ihn, wo Mama sei. Er antwortete, sie packe ihre Sachen, sie werde ausziehen, weg von uns. Er versprach mir, dass sie mir nie wieder weh tun würde.
Ich sah meine Mutter noch einmal nachdem Vater mir das versprochen hatte. Während ihrer Abfahrt. Ich stand an meinem Fenster und sah hinunter zur Ausfahrt, wo ein Wagen stand und neben diesem Wagen stand meine Mutter. Vor meiner Mutter stand unsere Köchin, ich glaube Greta hieß sie. Schadenfroh sah sie zu, wie das Gepäck von meiner Mutter hinten ins Auto geladen wurde.
Als Mutter zu mir nach oben sah, erschrak ich. Sie sah so gemein und böse aus. Schnell ging ich einige Schritte vom Fenster zurück.
Meine Mutter war immer böse auf mich gewesen. Ich hatte Jahre später noch einmal versucht mich an etwas Schönes zu erinnern, was ich mit Mutter erlebt hatte. Mir war nie etwas eingefallen. Nur die Schläge und ihre Stimme tauchten immer wieder in Träumen von mir auf. Oft erwachte ich davon, total verweint.
Die Stimmte, die Stimme meiner Mutter, ich würde sie niemals vergessen können und nie diese Verachtung in ihr bei ganz normalen Dingen. Die Ungeduld, bevor sie mich schlug.
Sollte Sascha genauso sein? Würde er mich auch schlagen? Würde es genauso weh tun, wie bei meiner Mutter? Er war stärker, aber er war auch nicht meine Mutter. Seelisch war es sicher nicht ganz so belastend, wie damals als es meine Mutter war, aber ein Schlag von ihm und ich würde zu Boden gehen.
Meine Mama! Ich hatte ihre Zuneigung so vermisst. Das war eigentlich noch schlimmer. Für mich hatte sie nur Verachtung und Missbilligung übrig. Für ein kleines Kind war das gar nicht gut. Dachte ich mir so aus eigener Erfahrung.
„Hey, was ist denn? Du weinst ja.“, sagte Sascha leise zu mir.
Ich weinte? Tatsache, große Tränen liefen mir aus den Augen, die Wange hinunter. Jetzt wo er es gesagt hatte, musste ich schluchzen. Ich hielt mir die freie Hand vor den Mund.
Die Handschellen klickten wieder einmal. Ich wischte mir mit beiden Händen über die Augen.
Sanft schob Sascha mich in eine aufrechte Sitzhaltung. Dann hockte er sich vor mir auf den Boden des Autos.
Er legte mir seine großen Hände auf die Knie. An seinem einen Handgelenk baumelten die Fesseln.
Vorsichtig fragte er: „Ist es wegen eben? Aber du weißt doch, dass ich dir das nicht sagen kann. Warte kurz, ich zieh mir schnell ein T-Shirt an, das du voll weinen kannst.“
Sascha krabbelte hinüber zu der Kiste, unterm Sitz, zog sie heraus, nahm das Erstbeste und zog es über. Es war das mit dem V-Ausschnitt. Danach setzt er sich wieder neben mich und zog mich zu sich an die Brust. Ich drückte mich an ihn und heulte wie ein Schlosshund.
Irgendwann, nach langer Zeit hatte ich keine Tränen mehr und ich war so erschöpft, dass ich einschlief.

Als ich aufwachte, saß ich immer noch in den Armen von Sascha. Er hatte seinen Kopf auf meinen gelegt und schien auch zu schlafen. Eigentlich schon süß.
Vorsichtig drehte ich mich in seinen Armen. An seinem einen Handgelenk hatte er immer noch die Handschellen, am Anderen eine Uhr. Welch ein Glück, dass das Ziffernblatt genau in meine Richtung zeigte. Es war 02:05 Uhr. Jetzt war nur noch die Frage, ob nachts oder nachmittags. Welche Tageszeit auch immer, ich hatte Hunger.
Ich stand jedoch nicht auf und suchte nach etwas Essbarem, sondern blieb sitzen und wartete, dass Sascha aufwachte.
Die Zeit verging. Mittlerweile war es fast 4 Uhr.
Auf Grund des neben mir schlafenden Saschas nahm ich an, dass es nachts war. Schlief mein Bruder auch? Und mein Vater? Machten sie sich Sorgen? Bestimmt, aber hatten sie auch die Polizei gerufen, denn obwohl mir keiner bis jetzt etwas getan hatte wollte ich doch lieber nach Hause.
Ich versuchte mir auszumalen, wie Marc wohl reagiert hatte, als er merkte, dass ich nicht zu Hause war. Hatte er gleich angenommen, dass etwas nicht stimmte, oder dachte er, ich sei noch mit einer Freundin weggewesen? Nein, ich war mir ganz sicher, dass er sehr, sehr schnell gemerkt hatte, dass was falsch war. Er hatte bei so etwas einen sechsten Sinn.
Er war auch eigentlich gar nicht mein echter Bruder, aber das machte für uns keinen Unterschied. Als Mama damals gegangen ist, kam bald darauf eine neue Frau. Mit ihrem kleinen Sohn. Sie zogen bei uns ein. Sie kümmerte sich wunderbar um ihren Sohn, für mich hatte sie nicht viel übrig, aber ihr Kleiner mochte mich. Oft spielte er mit mir, obwohl er eigentlich schon zu groß dafür war. Das hatte ihm nie etwas ausgemacht. Er war einfach immer da für mich. Er war die Person, die mir am meisten bedeutete, sogar manchmal mehr als mein Vater.
Aber mein Vater war ja auch kaum da. Im Gegensatz zu Marc. Marc war Marc. Immer wenn ich ihn brauchte, war er zur Stelle. Als ich mir mit zehn das Handgelenk verstaucht hatte, hatte er den Krankenwagen gerufen.
Oder einmal, als ich gerade neu in die fünfte Klasse gekommen war, da hatten sich die anderen über mich lustig gemacht. Alle lachten sie über mich, sogar der Lehrer. Ich hatte ganz schrecklich geweint. Da war mein Bruder rein gekommen. Mit anderen aus seinem Jahrgang. Sie wollten sich gerade als neues Schulsprecherteam vorstellen.
Ich weiß noch, ich bin aufgesprungen und zu ihm hingerannt und hab ihn ganz fest umarmt. Er hatte mich mit hinaus, von der Klasse weg, genommen und mich erst mal getröstet.
Marc war ein wunderbarer Mensch. So voller Geduld und Liebe für andere. Aber auch er hatte jetzt keine Mutter mehr. Sie war bei einem Autounglück ums Leben gekommen. Damals war er schrecklich traurig. Ich meine, er wohnte bei einem Mann, der nicht sein Vater und kaum da war, mit einem kleinen Mädchen, das bei fast allem Hilfe brauchte. Obwohl ich wusste, dass ich auch eine Art Belastung für ihn war, ließ er mich das nie spüren. Bei allem wo ich Hilfe brauchte, half er mir. Und für Arbeiten lernte er auch mit mir. Er war der beste große Bruder, den ich mir nur wünschen konnte. Ich hatte mir vorgenommen, dass wenn ich Kinder hatte, dass ich mich genauso gut um sie kümmern wollte, wie er sich um mich gekümmert hatte.
Naja, also ganz früher, als er halt gerade neu bei uns eingezogen war, da war es natürlich schon so gewesen, dass wir am Anfang nicht so recht wussten, was wir von einander halten sollten. Und bei einigen Sachen, zum Beispiel als ich die Keksdose einmal haben wollte, da musste er dann auch seine Mutter um Hilfe bitte. Aber er war sehr schnell erwachsen geworden und hatte dann auch fast die Rolle meiner Eltern übernommen. Ich liebte ihn zwar nicht wie meinen Vater, sondern wie einen Bruder, aber er war nun mal immer der, der da war. Er war ein fantastischer Bruder.
Bestimmt würde er auch nicht zu Hause einfach rumsitzen und abwarten, bis die Polizei uns gefunden hatte, sondern er würde sich auf eigene Faust etwas einfallen lassen, um mich zu finden. Mit dem sicheren Gedanken, dass Marc mich finden würde, schloss ich noch einmal die Augen und versuchte zu schlafen. Doch ich döste nur leicht vor mich hin.
Als Sascha seinen Kopf von meinem nahm öffnete ich wieder die Augen. Die Tür ging auf. Ich musste doch fester geschlafen haben, als ich gedacht hatte, denn ich hatte nicht mitbekommen, dass wir angehalten hatten.
Noch bevor die Tür richtig offen stand, hatte ich mich gerade hingesetzt und war ein kleines Bisschen von Sascha weggerutscht. Geleichzeitig hatte Sascha meine Hand genommen und die Handschellen wieder zuschnappen lassen. Ganz leise.
Taylors Wangen waren nicht so süß rot wie die seines Bruders, aber auch er sah gut aus. Muss man ja so sagen. Aber im Gegensatz zu seinem Bruder hatte ich ihn noch nie bei uns an der Schule gesehen. Vielleicht ging er ja auch auf eine Realschule, oder eine andere.
Verschlafen rieb ich mir über die Augen. Ich musste gähnen. Ich hielt mir die Hand vor den Mund. Zähneputzen würde ich gerne mal wieder, aber da musste ich mich noch etwas gedulden.
Taylor stieg zu uns ins Auto. In der Hand hatte er kleine Tüten, auf denen McDonalds stand.
„Fang Bruder!“, rief er seinem Bruder voller Elan zu.
Sascha fing die Tüte lässig mit seiner freien Hand auf. „Danke Bruder.“; davon, dass er eben noch geschlafen hatte, war nichts mehr in Saschas Stimme zu hören.
Würde ich auch diesen Fastfood-Fraß bekommen? Eigentlich war es egal, Hauptsache etwas zu essen.
Belustigt sag Taylor mich an und fragte: „Kannst du auch fangen?“
„Wenn du richtig wirfst, klar.“, entgegnete ich. „Aber bis jetzt hat es kaum einer geschafft, für mich richtig zu werfen, also versuch es lieber nicht.“
Sascha neben mir musste kichern. „Wirf es mir zu, ich geb es ihr.“, schlug er dann vor.
Also warf Taylor mein Essen seinem Bruder zu und der gab es mir dann. Die Tüte war angenehm warm. Zum Glück wollten Sascha und ich nicht gleichzeitig unser Essen aufmachen, oder er ließ mir einfach den Vortritt. Ich öffnete sie also. Darin war, den Himmel sei Dank, kein Hamburger oder sonst ein Burger, sondern nur Chicken-MCNuggets. Und ein Stäbchen, dass man es halt essen konnte.
Ich hielt den Behälter in der gefesselten Hand und aß mit der freien Hand.
Sascha machte es genauso.
Seine Uhr hatte er an der linken Hand getragen, also war er auch Rechtshänder, genau wie ich. Und jetzt musste er mit der Linken essen, das nannte ich Pech. Aber Mitleid hatte ich mit ihm reichlich wenig.
Das Essen war jetzt nicht das Beste, das ich je gegessen hatte, aber es war okay. Auch Taylor blieb bei uns sitzen und aß. Mir sollte es recht sein.
Als wir alle fertig waren, sammelte Taylor den Müll ein. Er öffnete die Türe erneut und stieg aus, dabei ließ er die Autotür offen. Ein kühler Luftzug wehte ins Innere der Limousine. Mir war davor gar nicht so aufgefallen, wie stickig es hier drinnen war. Vorsichtig sah ich zu Sascha. Er erwiderte meinen Blick, ohne dass man seinen Blick hätte deuten können.
„Können wir uns auf die andere Seite setzten? Näher zur Tür?“, fragte ich ihn. Es schien, als würde er kurz darüber nachdenken, aber dann schüttelte er den Kopf.
Enttäuscht wand ich mich von ihm ab und ließ mich tiefer in die Polster der Sitze fallen. Aber hätte mir diese Antwort nicht von Anfang an klar sein müssen? Wahrscheinlich. Aber solange die Tür offen stand, wollte ich mich nicht beschweren.
Mit seiner linken Hand, der Freien, schob mir Sascha meine Haare hinters Ohr. Ich reagierte nicht weiter.
Behutsam fragte er mich: „Hat es dir denn einigermaßen geschmeckt?“ Ich zuckte nur mit den Schultern und sah ihn nicht an.
„Jetzt schmoll doch nicht.“
„Ich schmoll überhaupt nicht!“, fauchte ich ihn an.
„Ich sehe schon.“
Ach sollte er doch sehen, was er wollte!
Sascha wollte wieder meine Hand nehmen. Ich schloss sie zur Faust und keifte ihn an: „Lass mich in Ruhe!“ Nicht sehr nett, ich weiß, aber mir doch egal. Sascha seufzte. Er hatte sicher noch nicht oft mit pubertierenden Mädchen zu tun gehabt.
Und ich würde jetzt in Rede-Streik gehen. Kein Wort würde ich mehr sagen, bis… Bis ich das bekam, was ich wollte. Jetzt musste ich nur noch überlegen, was genau ich wollte. Und bis ich es wusste, würde ich ihn auch nicht mehr ansehen.
Taylor kam wieder zu uns. Er fragte mich: „Und Megan, wie war das Essen?“ Ich antwortete ihm nicht und sah ihn auch nicht an.
„Sie ist beleidigt, weil sie sich nicht an die Tür setzten darf.“, erklärte Sascha seinem Bruder. Er hörte sich schon etwas genervt an.
„Sascha, wir machen hier jetzt eine kleine Pause. Papa schläft vorne. Wenn du magst, kann ich hier kurz übernehmen, damit du rausgehen kannst.“, bot Taylor an. Na das war ja ganz toll, die konnten draußen rumlatschen wie sie wollten und ich musste hier sitzen bleiben. Ich wollte auch raus. Mal ein wenig die Beine strecken und mal aufs Klo oder so, aber nicht hier rumhocken!
Doch mein Bewacher sagte nur: „Nein, danke für das Angebot, aber ich bleibe hier. Aber wenn du magst, kannst du ja raus gehen.“
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Taylor nickte und aufstand. Er ging raus und schloss die Tür.
Sascha machte sich irgendwo neben sich zu schaffen und dann, mit einem Klick, ging die Klimaanlage an.
Etwas erleichtert atmete ich einmal tief durch. Auch Sascha schien die zwar nicht ganz frische, aber dafür kühle Luft zu genießen. Er lehnte sich zurück und legte seine Hand auf meine, die immer noch zur Faust geschlossen war.
Wie lange würde Marc wohl brauchen? Würde er es überhaupt schaffen mich zu finden?
Stille breitete sich aus. Nicht nur, dass wir nicht mit einander redeten, nein es war klar zu spüren, dass jeder seinen Gedanken nach hing. Woran er wohl dachte?
Die Wagentür wurde aufgerissen und Taylor steckte seinen Kopf durch die Öffnung. Erschrocken war ich zusammen gefahren. Sascha drücke beschwichtigend meine Hand.
So schnell, dass man ihn kaum verstand sagte Saschas Bruder: „Wir müssen weiter. Ich wünsche eine angenehme Fahrt.“ Und da schloss sich die Türe auch schon wieder.
Sascha fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Ich drehte meinen Kopf schnell wieder in die andere Richtung.
„Ach Megan, jetzt stell dich doch nicht so an! Wir haben dir doch überhaupt nichts getan. Und jetzt hör auf so beleidigt zu sein und rede wieder mit mir!“, sagte Sascha.
„Und worüber soll ich mit dir reden?“, ich hatte ihm ruckartig meinen Kopf zu gewandt und funkelte ihn böse an. „Soll ich dich anflehen, du mögest mich doch bitte am Leben lassen? Ne mein Lieber, so eine bin ich nicht. Und außerdem würde das nichts an der Situation ändern!“
„Und außerdem hat niemand vor dich umzubringen!“
„Sei still! Du hast mich entführt! Ich bin an dich gefesselt und du hast mich geküsst! Was meinst du, wie man sich da fühlt?“
„Der Kuss war doch toll.“
„Für dich vielleicht, aber ganz sicher nicht für mich!“
„Vielleicht gefällt dir der ja besser.“, sagte Sascha, beugte sich vor und wollte meinen Kopf in seine freie Hand nehmen. Ich schlug sie weg und gab Sascha eine Ohrfeige.
Laut keifte ich ihn an: „Untersteh dich!“ Oh wunderbar, ich hatte ein neues Motto. Küss niemals ein wütendes Mädchen!
Sascha rieb sich seine Wange. Beinah überrascht sagte er: „Das tat weh.“
„Das sollte es auch!“, fauchte ich zurück. Taylors Bruder schüttelte den Kopf. Er nahm wieder einmal den kleinen Schlüssel für die Handschellen heraus. Misstrauisch beobachtete ich ihn, als er das Schloss an seinem Handgelenk öffnete. Er stand auf und ging um mich herum, auf meine rechte Seite. Er wies mich an: „Komm ein Stück näher.“
Verwirrt tat ich, was er sagte. Er zog das lose Ende der Handschellen weiter nach oben, ich musste meinen Arm etwas strecken. Das Ende, das eben noch um sein Handgelenk geschlossen war, schlang wer jetzt um den Haltegriff des Autos.
Plötzlich wurde mir klar, was er vor hatte. Ich riss die Augen auf.
„Nein, lass mich!“, schrie ich ihn an. Ich riss an meinem Arm, es hatte keinen Sinn. Er hielt mich ohne weiteres fest. Ich stemmte mich dagegen. Trat mit den Füßen nach Sascha. Meine noch freie Hand hatte ich hinter meinem Rücken versteckt.
„Gib mir deine andere Hand!“, befahl er mir, mit fester, aber nicht lauter Stimme. „Und hör auf dich so zu wehren!“ Ich hörte auf wie wild um mich zu treten und schüttelte den Kopf. Ich wollte da nicht wie ein nasser Sack hängen, wollte nicht an das Auto gekettet sein.
Fordernd streckt er die Hand aus und sagte: „Gib mir jetzt deine Hand, sofort!“ Ich schüttelte wieder den Kopf. Sascha streckte seinen Arm aus und wollte meinen packen. Doch ich drehte mich weg. Das interessiert ihn aber kein Stück. Er griff noch einmal danach und dieses Mal erwischte er mich. Ich drehte mein Handgelenk in seinem Griff hin und her. Es brachte nichts.
Sascha ließ die Handschelle um mein rechtes Handgelenk zu schnappen. Verzweifelt rüttelte ich an meinen Fesseln. Tränen der Wut bahnten sich ihren Weg in meine Augen.
Sascha nahm mein Gesicht in eine Hand und sagte scharf: „Megan, beruhig dich!“
Ich spuckte ihn an. Sollte er doch dahin gehen, wo der Pfeffer wächst.
Sascha schüttelte mich, schüttelte meinen Kopf. Konnte er mich denn nicht einfach in Ruhe lassen, mich wieder nach Hause bringen?
Ich machte mich von ihm los, eigentlich ließ er mich los, und kroch ganz an die Wand das Wagen. Da blieb ich sitzen, mit angezogenen Beinen. Meine Tränen wischte ich mir an meinen Armen ab.
Mein Peiniger ließ sich neben mir mit einem Seufzen nieder. Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht.
„Du hast selber schuld. Ich lass mich nun mal nicht gerne Schlagen.“, sagte Sascha.
„Und ich lass mich nun mal nicht gerne von dir küssen!“, gab ich kühl zurück. „Was habt ihr eigentlich mit mir vor? Geht es um Lösegeld?“
Sascha massierte sich mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel.
„Megan, wie oft denn noch? Ich werde es dir nicht sagen. Hör endlich auf zu fragen.“
„Du bist aber auch selber daran schuld.“
„Warum?“
„Du hättest mich ja nicht entführen müssen. Das hast du dir selber eingebrockt. Ich habe nicht darum gebeten.“
„Du hast ja recht, aber lass uns versuchen das Beste draus zu machen.“
„Aber ganz sicher nicht. Verlass dich drauf, ich mach dir das Leben schwer!“
„Megan, du bist doch ein vernünftiger Mensch. Also hör auf die wie ein Kleinkind aufzuführen.“
„Du hast leicht reden. Du hast den Schlüssel, für die Handschellen. Ich habe nichts!“ Und er konnte sich alles nehmen, was er wollte.
„Und ich kann mir alles nehmen, vergiss das nicht.“, meinte Sascha. Verächtlich sah ich ihn an. Ich hatte zwar eben genau das Gleiche gedacht, aber davon musste er nichts wissen.
Er beugte sich zu mir hinüber und schob meine Füße von der Sitzfläche. Dann kam er noch näher, nahm mein Gesicht erneut in seine Hand und dieses Mal konnte ich mich nicht wehren.
Er küsste mich. Erneut. Vielleicht hätte ich ihn treten können, aber was dann passieren würde wollte ich mir lieber nicht aus malen. Deshalb ließ ich es über mich ergehen. Und, dachte ich mir, wenn er mir den Mund mit Lauge auswaschen würde, wäre das sicher schlimmer, als ein kleiner Kuss.
Als er sich wieder von mir löste leckte er sich einmal kurz über seine Lippen. Ich wischte mir meinen Mund an meinem Ärmel ab. Ich zog die Beine wieder an. Auch meine Tränen, die mir inzwischen über die Wangen liefen, wischte ich an meinen Ärmeln ab.
Sascha stand immer noch vor mir. Ungehalten schrie ich ihn an: „Hau endlich ab und lass mich in Ruhe!“
„Ich hab auch noch Klebeband dabei, als wenn du nicht leise bist kleb ich dir was drüber.“, drohte er mir.
Die Limousine machte eine scharfe und sehr überraschende rechts Kurve. Meine Füße rutschten vom Sitz. Kreischend wurde ich gegen die Wand des Autos gedrückt.
Taylor hatte uns zwar gesagt, dass wir weiter mussten, aber ich hatte nicht gemerkt, wie wir los gefahren waren.
Sascha kam aus dem Gleichgewicht und stürzte. Genau auf meinen Schoß. Was für ein bescheuerter Zufall. Und das musste natürlich ausgerechnet mir passieren. Und dann auch noch mit ihm.
Ich hätte ihn ja liebend gerne runter geschubst, aber ging ja wieder einmal nicht.
Unter seinem Gewicht musste ich auf keuchen. Er fiel mit dem Rücken gegen die Lehne der Rückbank, ich würde sagen, er hatte es gemütlicher, als ich.
Als das Auto endlich wieder um die Kurve war und normal weiter fuhr schrie ich Sascha ungehalten an: „Geh sofort runter! Das tut weh! Und eigentlich müsste es andersherum sein. Du bist mir zu schwer! Runter von meinen Beinen! Auf! Der! Stelle!“
Sascha sah mich ziemlich unbeeindruckt an. Er zuckte mit den Schultern und stemmte sich dann mit einer Hand an der Rückenlehne ab.
Ich hing da wie ein schlaffer Sack, total fertig und gegen die Wand geschleudert. Mein Entführer auf mir. Ich konnte mich kaum noch bewegen, meine Hände waren an dem Haltegriff, an der Decke gekettet, meine Beine wurden von einem mehr als 70 Kilo schweren Mann zerquetscht. Wer da noch ruhig bleibt, den möchte ich gerne mal kennen lernen. Sollte es überhaupt so jemanden geben.
„Wenn du nicht sofort runter gehst, dann schreie ich so lange, bist du endlich weg bist!“, schrie ich ihn weiter an. Ich holte tief Luft und schrie. Laut und grell. Ich war mir ziemlich sicher, dass Bruno und Taylor, im Vorderenteil der Limousine auch noch meinen Schrei hören mussten.
Schnell stand Sascha auf, er sah mich entgeistert an. Dann griff er in seine Hosentasche und holte eine Rolle Klebeband hervor.
Ich hatte inzwischen aufgehört zu schreien.
Mein Entführer war einige Schritte von mir zurück gegangen. Jetzt kam er drohend näher und hielt mir das Klebeband unter die Nase. Seine Stimm klang kaum wütend, eher kalt, eiskalt, als er sagte: „Noch ein einziges Mal und ich klebe dir den Mund zu! Ich habe keine Lust mir von dir die ganze Zeit auf der Nase herum tanzen zu lassen.“
Ha, wenn er schon der Ansicht war, ich würde das tun, dann würde ich das auch tun.
Ich trat nach ihm, nicht einmal, nicht zweimal, sondern zigmal. Sascha versuchte meine Beine fest zu halten, aber ich trat zu, mit der Kraft der Verzweiflung. Ich wollte doch nur wieder nach Hause. Zu meinem Vater und zu Marc. Ich vermisste ihn schrecklich. Sie sollten mich gehen lassen, zu ihm zurück lassen.
Ich weinte, ich schluchzte und ich schrie, während ich Sascha mit immer weiteren Tritten malträtierte. Einmal gelang es ihm eines meiner Beine zu fassen zu kriegen, aber ich trat gegen seine Hand und er ließ mich wieder los. Das ganze Dauerte vielleicht keine Minute, da hielt der Wagen auch schon ruckartig.
Die Türe flog auf und Bruno schrie zu uns: „Was ist denn hier los? Sascha, ist es denn so schwer eine 16-Jährige unter Kontrolle zu behalten? Da vorne kann man sich ja überhaupt nicht mehr konzentrieren! Sorg gefälligst dafür, dass sie ruhig ist!“
Als die Türe aufgegangen war, war Sascha herum gefahren. Ich hatte aufgehört zu treten und mich wieder möglichst weit in meine Ecke zurück gezogen.
„Ja Papa.“, sagte Sascha brav.
Ganz anders als er war ich nicht gerade scharf darauf brav zu sein. Nein ich würde so gut es ging versuchen Bruno, Taylor und Sascha das Leben zur Hölle zu machen. Meine Stimme überschlug sich einigemal, als ich schrie: „Ich werde nicht still sein! Ich will nach Hause! Ich verlange, dass Sie mich auf der Stelle wieder nach Hause bringen! Sie können mich nicht einfach so entführen, Sie Arschloch!“
Normal beschimpfte ich keine Menschen und auch keine Tiere, aber dieser Mann hatte es verdient, aber so was von!
Bruno sprang in den Wagen, stieß Sascha zur Seite und schlug mir ins Gesicht. Mein Kopf flog zur Seite und schlug hart gegen das Auto.
Meine Haare lagen vor meinem Gesicht. Ich blieb so. Leise weinte ich vor mich hin. Kurz war mir schwarz und schlecht geworden, doch das war fast gleich darauf auch wieder verschwunden, aber mein Kopf dröhnte und meine Wange brannte teuflisch.
Die Tür schlug zu und kurz darauf noch eine. Bruno saß wieder vorne hinterm Steuer und fuhr los.
Ich blieb immer noch so sitzen. Sie sollten mich in Ruhe lassen. Ich wollte keinen sehen und nichts mehr hören. Aber Sascha ließ mich nicht in Ruhe. Er hatte sich neben mich gehockt und strich mir meine Haare aus dem Gesicht. Hinter mein Ohr. Dann zog er mich nach oben und lehnte mich gegen die Rückenlehne. Ich wehrte mich nicht, warum auch? Damit er mich auch schlug? Eben wäre es mir noch egal gewesen, aber die Ohrfeige von seinem Vater hatte mich wieder wachgerüttelt.
Die Klebebandrolle warf Sascha neben mich und holte stattdessen etwas anderes aus seiner Hosentasche. Eine Packung Taschentücher. Er zog eines heraus und schob dann das Klebeband weg, damit er sich setzen konnte. Ich zuckte zur Seite. Aber die Sitzbank war da zu ende. Ich konnte nicht weiter weg.
„Sssssssssschhhhhhhht.“, machte Sascha. Er strich mir eine Strähne hinters Ohr, die mir wieder vors Gesicht gefallen war. Jetzt nahm er das Taschentuch, faltete es auseinander und tupfte damit auf meiner Wange herum. Es tat weh. Öfter fuhr ich vor Schmerz zusammen. Doch Sascha ließ sich dadurch kein Stück irritieren(?). Stetig tupfte er weiter. Aber warum tat er das?
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass das Taschentuch an einigen Stellen rot war. Blutrot. Sein Vater hatte mich blutig geschlagen. Das hört sich jetzt total heftig an, ist aber eigentlich nicht so schmerzhaft.
„Heute Abend sind wir da. Dann hast du dein eignes Zimmer und kannst ordentlich schlafen.“
Versuchte Sascha gerade tatsächlich mich abzulenken? Es schien fast so.
„Und dann hast du auch dein eigenes Badezimmer. Da drin kannst du dann erst einmal duschen oder Händewaschen, oder sonst was tun. Wir haben für dich auch extra das große Zimmer, mit dem Blick auf den Garten fertig gemacht. Ich hoffe es gefällt dir. Sonst kannst du mit mir tauschen. Von meinem Zimmer aus kann man die Straße, die zu unserem Haus führt ganz gut sehen. Also ich würde mit dir tauschen, aber ich weiß nicht, wie gut mein Vater oder unser Chef das finden würden. Aber wenn du magst kann ich sie mal fragen. Vielleicht sagen sie ja doch ja.“
Ich reagierte nicht auf sein Angebot. Ich blieb einfach ganz still sitzen. Ab und an lief mir eine Träne über die Wange. Meine Hände hatte ich um den Griff, um den auch die Handschellen führten, geklammert.
„Und wir haben eine Köchin.“, redete Sascha weiter. „Sie heißt Sara. Sie kommt aus Spanien, spricht aber super deutsch. Ihr Essen schmeckt köstlich. Du musst es unbedingt probieren.“ Und so redete er weiter. Über alle Dinge, die mich heute Abend erwarten würden. Ich hörte ihm zu und heimlich verglich es mit meinem zu Hause. So wie es schien war unser Haus zwar moderner, aber das von Sascha klang viel größer und anscheinend hatten sie auch mehr Bedienstete, als wir. Aber eines hatten sie nicht, was bei mir zu Hause war. Meinen Bruder. Dort würde Marc nicht mit mir zusammen lernen oder backen oder sonst etwas tun. Er war nicht da. Wann ich ihn wohl wieder sehen würde? Würde ich ihn überhaupt irgendwann mal wieder sehen? Ich wusste es nicht und es half mir auch nicht weiter darüber nachzudenken.
Ich achtete nur noch auf Saschas Stimme. Sie war einlullend, immer der gleich Tonfall, ein monotones Geräusch, wunderbar angenehm.
Als er dann schließlich abbrach und fragte: „Wirst du jetzt still sein, oder muss ich dir den Mund zu kleben und deine Beine auch fesseln?“, erschreckte ich mich ein wenig. Ich sah ihn an. Das Taschentuch hatte er herunter genommen, erwartungsvoll sah er mich an. Als ich erst einmal eine Weile schwieg hob er fragend eine Augenbraue und um seiner Frage Nachdruck zu verleihen griff er hinter sich und nahm das Klebeband zu Hand. Als auch dann nichts sagte fragte er noch einmal: „Wirst du still sein?“
Ich nickte nur.
„Gut. Und was ist mit treten? Wirst du mich wieder treten?“
Wahrheitsgemäß zuckte ich mit den Schultern, ich wusste es nicht. Kam darauf an, was er tat.
„Soll ich dir deine Füße zusammen binden?“
Ich schüttelte den Kopf, nein, das sollte er nicht. Gefesselte Hände waren schon schlimme genug.
„Okay, aber dann darfst du mich auch nicht mehr treten. Versprichst du mir das? Megan, versprichst du mir das?“
Ich hatte auf den Boden geschaut. Als er meinen Namen sagte sah ich ihn wieder an. Nach einem kurzen Zögern nickte ich dann zaghaft. Leicht strich er mir über den Kopf. Ich war minimal zusammen gezuckt, aber er hatte er gemerkt und seine Hand wieder zurück gezogen. Etwas betreten sah jetzt auch er auf den Boden. Zwischen uns herrschte Stille. Er stand auch nicht auf, er blieb neben mir sitzen.
Lange saßen wir so neben einander. Er hatte seine Arme auf seinen Oberschenken abgestützt. Ich hielt immer noch den Griff umklammert.
Die meiste Zeit waren wir gerade aus gefahren, schnell und zielstrebig, aber jetzt fuhren wir langsamer und um mehrere Kurven. Mir fiel auf, dass ich schon wieder Hunger hatte. Und Durstig war ich. Ich brauchte dringend schnell was zu trinken. Vorzugsweise kaltes, klares Wasser.
Sascha neben mir war aufgestanden. Er steckte sich die Klebebandrolle wieder in die Hosentasche. Auch das blutige Taschentuch war auf einmal verschwunden.
Die Limousine wurde immer langsamer und blieb dann stehen. Von vorne waren die Wagentüren zu hören. Ich zog wieder die Beine an. Versteckte mich hinter ihnen.
Sascha ging zur Tür und öffnete sie. Er sah hinaus. Er stieg nicht aus, aber er beugte sich weiter nach vorne. Ich konnte Taylors Stimme hören. Er sagte: „Was war denn da vorhin los? Papa war ziemlich wütend, als er danach wieder eingestiegen ist.“
Ich konnte sehen, wie Taylors Bruder nur den Kopf schüttelte. Dann ging er wieder ein Stückchen weiter nach hinten, weiter in das Auto hinein. Taylor folgte ihm.
Grelles Sonnenlicht strömte zur die Öffnung der Tür. Kurz war ich davon geblendet, doch nach einigem blinzeln hatten sich meine Augen daran gewöhnt. Das Licht, das im Wagen herrschte war gelblich, fast schon schummrig.
Der Wind, der von draußen herein wehte war deutlich kühler, als der von der ersten Rast. Aber er war nicht kalt.
Taylor kam auf mich zu. Er hockte sich vor mir auf den Boden. Ich hatte mein Gesicht halb hinter den Beinen versteckt.
Freundlich fragte Taylor: „Könntest du bitte deine Beine einen Augenblick herunter nehmen?“
Ich sah von ihm zu Sascha. Er hatte eine Hand in seiner Hosentasche. Eilig nahm ich die Füße wieder einmal vom Sitz.
Saschas Bruder nahm mein Gesicht ein eine Hand und drehte es nach rechts. Scharf zog er die Luft ein. Sah die Schramme so schlimm aus, die mir sein Vater zugefügt hatte? Kaum zu glauben, nach einem Schlag.
Taylor ließ mein Kinn wieder los und stand auf und sagte zu seinem Bruder: „Da hat der Gute ja mal wieder ordentlich zu gelangt.“ Sascha nickte. „Ich gehe jetzt gleich mal was zu essen holen. Aber dieses Mal etwas anderes, als heute Morgen.“
„Und etwas zu trinken, bitte.“, sagte ich sehr leise und sehr vorsichtig.
„Bring ich dir auch mit, klar.“, versicherte er mir. Danach stieg er aus und verschwand aus meinem Blickfeld. Dafür tauchte jemand anderes auf. Bruno. Er kam zu uns herein.
„Du hast sie ja gar nicht geknebelt, Sohn!“, sagte er ungehalten zu seinem Sohn. Dieser stellte sich schützend vor mich und verteidigte sich: „Sie hat doch auch nichts mehr gesagt. Außer eben, dass sie etwas zu trinken haben möchte. Aber sonst hat sie keinen Laut von sich gegeben. Und gewehrt hat sie sich auch nicht mehr, es wäre also absolut nutzlos sie dann zu knebeln und noch weiter zu fesseln.“
„Und wenn sie es doch macht? Was machst du dann? Noch ist sie ruhig, aber bald schon wird sie dir wieder die Fahrt zur Hölle machen. Also sorg lieber jetzt schon vor, als dich dann später zu beschweren.“
Ich zog schützend die Beine an. Eigentlich war ich nur noch damit beschäftigt meine Beine anzuziehen und wieder vom Sitz zu nehmen.
So weit es die Handschellen zu ließen winkelte ich die Arme an und nahm sie dicht vor die Brust.
Bruno sah mich abschätzend an und auch Sascha hatte seinen Oberkörper gedreht, um mich an zu sehen. Ihre Blicken waren nicht einzuschätzen. Ich wusste nicht was als nächstes passieren würde, aber das wusste ich sowieso schon die ganze Zeit über nicht mehr. Meistens hatte ich auf Risiko gesetzt, das schien mir im Moment nicht ratsam.
„Vielleicht hast du Recht und sie ist in Zukunft vernünftig, aber wenn sie doch Dummheiten machen sollte wirst du die Verantwortung dafür tragen, ist das klar?“, fragte Saschas Vater seinen Sohn streng. Der nickte ernsthaft. Ich wagte immer noch nicht auszuatmen, erst als Bruno wieder weg war entspannte ich mich ein wenig.
Sascha setzte sich an die offene Tür. Er sah hinaus, während wir schweigsam warteten, dass Taylor mit dem Essen wieder kam. Kurz darauf kam er auch schon wieder. In der einen Hand hatte er drei von diesen Pappschalen, in denen das Essen transportiert wird, wenn es warm bleiben soll. In der andere eine Literflasche Wasser. Stilles Wasser. Ich freute mich jetzt schon darauf. Taylor setzte sich, sein Bruder stand auf. Er nahm ihm die Flasche aus der Hand und kam zu mir herüber. Die Flasche war so eine, mit einer Art Mundstück oben, so dass man fast einen Strohhalm hatte. Mich erinnerte das zumindest immer an einen.
Er setzte sich neben mich und öffnete den Deckel der Falsche. Ich dachte schon er würde zuerst trinken, doch er hielt mir die Flasche hin. Wieder einmal die Beine runter und die Arme zur Seite, damit sie nicht störten. Sascha hielt mit den Trinkaufsatz an den Mund und dann er kippte er die Flasche, nicht viel, nur so, dass ich ohne Probleme trinken konnte. Und ich trank. Ich hätte auch noch weiter trinken können, als Sascha die Flasche wieder runter nahm, doch ich sagte nichts. Eigentlich hatte ich auch genug und mich anstellen, wie eine verwöhnte Göre wollte ich auch nicht.
Sascha machte den Decken wieder zu und stellte sie zwischen seine Füße auf den Boden.
Taylor meldete sich zu Wort: „Sascha, ich hab Salat für sie, den sollte sie vielleicht selber essen. Meinst du, du könntest sie für einen Augenblick los machen, oder zumindest eine Hand?“
Sascha sah mich abschätzend an. Ich versuchte nicht allzu verängstigt zurück zu schauen. Ob es mir gelang? Ich weiß es nicht.
Sascha nickte nachdenklich. Dann beugte er sich zu mir herüber und machte mein rechtes Handgelenk los und schloss die Handschelle um mein linkes. Jetzt hatte ich sie ganz an meinem linken Handgelenk und konnte immer noch nicht weg, weil sie immer noch um diesen Haltegriff führte.
Sascha nahm die Pappschale, die Taylor ihm hin hielt entgegen und setzte sie mir auf die Knie, während er sagt: „Hier, iss.“
Mit einer Hand öffnete ich den Deckel. Daran lag eine Gabel und Salat. Er sah gut aus, frisch und mit Dressing, das nicht aussah, wie schon einmal verdaut. Und es war auch nicht so viel Dressing, dass gleich jedes Salatblatt oder jede Gurkenschreibe davon triefte. Ich nahm die Gabel und stach sie in eine Scheibe Tomate und Gurke. Nach und nach verschlag ich den ganzen Salat. Er war erstaunlich gut.
Erst als ich die Plastikgabel wieder hinein gelegt und den Deckel geschlossen hatte stieg mir der Geruch nach Currywurst in die Nase. Leicht angewidert rümpfte ich sie.
Von der Tür her fiel ein Schatten in den Wagen. Ängstlich sah ich in die Richtung. Bruno sah zu uns herein und wies seine Söhne an: „Beeilt euch, wir wollen weiter!“
Mehr sagte er nicht und war auch schon wieder verschwunden. Ich hatte meine rechte Hand wie als könnte sie mich schützen um die Pappschale gekrallt.
Taylor und sein Bruder schlangen den Rest von ihrem Essen hinunter, nahmen mir dann mein Essensbehältnis ab. Taylor stieg aus, um die Saschen wegzuschmeißen. Sascha blieb nach wie vor bei mir im Auto sitzen.
Unsere Tür wurde wieder zugeschlagen und auch von vorne hörte man kurz darauf das Geräusch von schließenden Türen. Der Motor wurde angelassen. Die Limousine rollte los.
Sascha stellte sich vor mich hin. Er machte mir ziemlich Angst, wie er da so hoch vor mir aufragte.
„Gib wieder deine Hand her. Ich werde das Risiko nicht eingehen.“, wies er mich an. Brav streckte ich meine Hand nach oben und die Handschellen schlossen sich wieder um mein rechtes Handgelenk. Danach setzte sich Sascha auch wieder und die Fahrt verlief einige Zeit ohne etwas Erwähnenswertes.
Plötzlich holperte der Wage nur noch vor sich hin. Ich fragte mich, was los war. Wir wurden ziemlich durchgeschüttelt. Aber zum Glück fuhren wir nicht mehr, als fünf Minuten über diesen wohl etwas alten Weg. Dann hielt der Wagen an.
Mein Begleiter stand auf und öffnete die Türe. Dann kam er zurück zu mir und schloss, oho, meine Handfesseln auf. Auf beiden Seiten. Etwas verwundert sah ich ihn an, doch ich wollte mich nicht beschweren.
Sascha streckte mir eine Hand hin. Ich nahm sie ohne wirklich darüber nach zu denken. Sie war kräftig und wiedermal angenehm warm.
Er zog mich hoch und mit zur Tür. Die Handschellen hatte er in der anderen Hand. Würde er mich gehen lassen? Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Das würde er nicht machen und sein Vater würde es nicht zu lassen. Aber vielleicht durfte ich ja draußen etwas herum laufen und dann konnte ich gleich versuchen abzuhauen. Flucht erschien ein guter Plan zu sein. Auch wenn ich noch nicht wusste wohin, in welche Richtung und ob es überhaupt gelingen würde. Wenn dann nur mit sehr viel Glück, aber wer weiß, vielleicht hatte ich ja heute dieses Glück. Aber kampflos würde ich nicht aufgeben. Natürlich, ich konnte nicht einfach irgendwohin laufen und schon gar nicht wenn Sascha neben mir stand und mich an der Hand hielt.
Und was wenn wir schon da waren? Was wenn wir vor dem Haus standen, das Sascha mir beschrieben hatte? Was wenn ich gar

keine Fluchtmöglichkeit mehr bekam? Aber hatte Sascha nicht gesagt, wir würden erst heute Abend ankommen? Was wenn wir jetzt schon da waren und wir empfangen wurde? Was würde mich erwarten, in diesem Haus, in dem ich anscheinend gefangen gehalten werden sollte? Etwas Schlimmes? Hoffentlich nicht.
Doch als wir aus der Limousine stiegen traten wir auf eine Blumenwiese. Mit ganz vielen Gänseblümchen und Löwenzahn und Hahnenfuß und sonstige Kräuter und Blümchen. Sie erstreckte sich vor mir bis zum Horizont. Ich sah mich ein wenig um. Links war noch ein bisschen etwas von der Straße zu sehen, auf der wir eben gefahren waren. Anscheinend eine Landstraße, aber auf keinen Fall eine Autobahn. Sie hatte keine Begrenzungen an den Seiten. Deswegen hatte Bruno auch so einfach auf die Wiese fahren können. Rechts erstreckte sich ein Wald in unerkennbare Weiten. Anscheinend ein Naturwald, dann überall lag totes Holz. Und die Bäume standen so dicht neben einander, dass man kaum hindurch zu kommen schien. Aber es war der perfekte Fluchtweg.
Klar die Straße war befahren, nur im Moment anscheinend nicht, aber würde ich dorthin laufen, in der Hoffnung ein Auto zu treffen, dessen Fahrer anhalten würde, Bruno, Taylor und Sascha hätten mich in Windeseile wieder eingeholt, schließlich hatten ein Auto und ich war zu Fuß. Nein, da erschien mir der Wald als sicherer Fluchtweg.
Wie als hätte ich geahnt, dass ich rennen musste hatte ich am Tag meiner Entführung Turnschuhe angezogen. Von Puma in schwarz und weiß.
Damit es Sascha nicht auffiel, dass ich in Richtung Wald starrte sah ich hinauf zum Himmel. Die Sonne stand schon lange nicht mehr im Zenit, trotzdem sah es nicht so aus, als würde es bald dunkel werden. Der Himmel war strahlend blau und nur vereinzelt waren Federwölkchen zu sehen. Ich musste die Augen zusammen kneifen, weil es so hell war. Sowieso war ich das gelbliche Licht aus dem Auto gewöhnt und hier an der frischen Luft war alles so strahlend und bunt.
Ich ließ Saschas Hand los und auch er ließ mich los. Das erste, was ich machte war, ich streckte mich. Die Arme weit über den Kopf, den Rücken durchgedrückt.
Belustig sah mir Sascha zu. Ich wartet darauf, dass er mich sagte, warum wir angehalten hatten. Und das sagte er mir dann auch: „Der Wagen hat komische Geräusche gemacht, ich sollte mir das mal anschauen. Wenn du magst kannst du etwas um das Auto rum gehen, aber nicht weiter weg, immer nur drum herum, ist das klar?“
Ich nickte. Natürlich war das klar, das hieß aber nicht, dass ich mich auch daran halten würde. Ganz im Gegenteil, Regeln waren da um gebrochen zu werden. Aber eine Frage hatte ich noch: „Und wie lange wird das dauern?“
„Mal sehen, ich werde meinen Vater gleich bitten, dass er noch mal ein Stück fährt und dann mal sehen ob ich den Fehler finde.“
Ich nickte verstehend. Wenn ich in seinem Rücken war und er mich nicht sehen konnte, dann würde ich laufen, nahm ich mir vor. Hoffentlich würde er es nicht allzu schnell bemerken. Aber ich dachte mir, wenn ich davor einige Male ganz brav um die Limousine herum gegangen war, dann würden sie keinen Verdacht mehr schöpfen. Hoffte ich zumindest. Aber jetzt hieß es erst einmal unauffällig bleiben.
Taylor kam zu uns. Sascha nickte ihm zu. Sein Bruder sagte: „Unser Vater sitzt noch hinterm Steuer, er würde dann gleich ein Stückchen fahren, damit du mal das Geräusch hörst. Ich würde so lange auf Megan auf passen. Ist das okay?“
Taylors Bruder sagte nichts, sonder nickte nur. Lächelnd streckte Taylor mir die Hand hin. Ich sah noch einmal kurz zu Sascha und nahm dann die Hand seines Bruders. Sie war kühl, aber ebenfalls kräftig.
Er zog mich hinter sich her auf die andere Seite der Limousine. Wir blieben ein Stück weiter bei der Motorhaube stehen, als wir davor gestanden hatten. Auch Sascha war mit uns auf die rechte Seite gekommen. Jetzt setzte der Wagen ein Stück vor. Ich konnte kein ungewöhnliches Geräusch erkenn, doch Sascha runzelte die Stirn. Er sah eindeutig besorgt aus.
Bruno hielt wieder und seine Söhne, Taylor führte mich an der Hand, kam noch vorne zur Motorhaube. Bruno stand schon da und öffnete sie gerade, als wir da ankamen. Alle drei Männer beugten sich über das Innenleben der Limousine. Und ich fing an meine Runden zu drehen. Sie führten ziemlich viel gerade aus, da die Limousine ziemlich lang war. Aber was machte das schon. Immerhin hatte ich ziemlich lang nur gesessen. Da war ich für jede Bewegung dankbar.
Anfangs behielten mich Sascha und Taylor immer noch so ein bisschen im Auge, doch Sascha musste sich ziemlich bald auf den Motor und so konzentrieren und auch Taylor fand das, was Sascha machte deutlich interessanter, als mir beim Gehen zuzuschauen. Mir sollte es recht sein. Dann konnte ich immerhin früher abhauen. Es schien auch so, als würde die Reparatur noch etwas dauern.
Als die Männer gerade über etwas diskutierten und ich genau hinter ihnen war drehte ich mich um. Zuerst machte ich kleinere Schritte rückwärts, doch dann rannte ich. So schnell ich konnte. Ich machte möglichst große Schritte. Noch schien keiner bemerkt zu haben, dass ich weg war.


„Sascha! Sie ist abgehauen.“, rief mir mein Bruder zu. Ich sah auf. Er stand neben der Tür, die in den hinteren Teil der Limousine führte. Die Türe war offen. Er hatte also wahrscheinlich gerade hinein geschaut, ob sie da war.
„Warum hast du nicht besser aufgepasst? Du wolltest dich doch um sie kümmern und jetzt ist sie weg!“, schrie ich Taylor an. Dieser Idiot von Bruder. Konnte sich aber auch nie auf seine Aufgabe konzentrieren. Auf Megan acht zu geben war nun wirklich nicht schwer. Sie war ein 16 jähriges Mädchen. Das konnte doch nicht so schwer sein.

„Und wo ist sie jetzt?“, schrie ich meinen Bruder weiter an, während ich mir meine Hände notdürftig an einem Lappen neben mir abwischte.

Kleinlaut antwortete er: „Sie läuft in Richtung Wald. Du bist am schnellsten. Wenn dann holst du sie ein.“

Natürlich, ich durfte jetzt wieder sein Fehler ausbügeln, aber was solls. Dafür sind wahrscheinlich ältere Brüder da.

Blitzschnell drehte ich mich um und lief los. Sie hatte den Wald noch nicht ganz erreicht. Ich musste mich beeilen, sonst würde ich sie aus den Augen verlieren.



Noch ging mein Atem normal, doch schon bald würde ich keuchen und nicht mehr können. Aber da vorne waren auch schon gleich die ersten Bäume. Im Wald würde es hoffentlich relativ einfach werden meine möglichen Verfolger abzuschütteln.
Ich sah mich um. Und Tatsache. Sie hatten schon bemerkt, dass ich weglief. Sascha lief mir hinterher. Die anderen blieben beim Wagen. Aber noch hatte ich einen guten Vorsprung, gegenüber Sascha. Aber er holte auf. Er war verdammt schnell.
Das er sportlich war, dass hatte ich ja schon gesehen, aber das er so schnell war hatte ich nicht gedacht. Aber darüber durfte ich nicht länger nachdenken. Ich musste nach vorne sehen und mich auf meine Flucht konzentrieren.
Meine Füße flogen über den Boden und da hatte ich auch schon den Rand des Waldes erreicht. Da war auch schon der erste Baum, dem ich ausweichen musste.
Ich lief erst einmal ein Stück weiter in den Mischwald hinein. Äste und Zweige schlugen mir ins Gesicht. Äste von Nadel- und Laubbäumen. Sie taten weh. Ich versuchte möglichst viele mit meinen Armen abzuwehren. Das Ergebnis war, dass sich meine Jacke, meine wunderschöne Jeansjacke, die mir mein Vater aus Peru mitgebracht hatte, sich ein einem Zweig verfing. Schnell schlüpfte ich aus den Ärmeln und lief ohne sie, nur noch im Top weiter. Ich hatte ein weißes Top angezogen. Hier im dunklen Wald fiel es ziemlich auf, aber auch darauf durfte ich keine Rücksicht nehmen.
Langsam ging mir die Puste aus. Ich konnte nicht mehr, aber ich hörte schon Sascha hinter mir. Wie seine Schuhe die auf der Erde liegenden Zweige zerbrachen. Die Blätter, die raschelten, wenn er einen Ast zur Seite schob. Ich schlug einen Haken. Lief nach rechts weiter.
Ich glaube noch hielt ich mich ganz gut. Sascha hatte mich immer noch nicht erreicht. Mein Atem ging zwar stoßweise und tat schrecklich in den Lungen weh, doch ich würde nicht aufgeben, bis ich entweder ohnmächtig umfiel, oder bis Sascha mich eingeholt hatte und mich gewaltsam zur Limousine zurück schleifte.
Neben mir wuchs eine wilde Rose, oder ähnliches. Auf jeden Fall hatte es Dornen. Und diese Dornen schrammten einmal über meinen ganzen Arm. Schmerzvoll verzog ich mein Gesicht. Es brannte höllisch, aber ich rannte weiter. Versuchte nicht auf die Verletzungen zu achten.
Ich kam ganz gut voran. Vor mir wuchsen keine Bäume, so dass ich gerade aus laufen konnte, ohne immer ausweichen zu müssen. Doch Sascha würde mich sehen, wenn ich hier weiter so geradeaus lief. Da war mein gerader Weg auf einmal zu Ende.
Vor mir verlief ein Fluss. Und zu beiden Seiten des Flusses war ein breiter Streifen, auf dem Gras und wieder einige Blumen wuchsen.
Eine Sekunde lang dachte ich daran über den Fluss zu springen, entschied mich dann aber dagegen. Im Sportunterricht war ich immer die Schlechteste im Weitsprung gewesen, so sehr ich mich auch angestrengt hatte, ich war nie weiter, als 2,5 Meter gesprungen. Das würde in diesem Fall vielleicht sogar noch reichen, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Nicht wenn ich es vermeiden konnte.
Meine Füße berührten kaum den Boden. Aber ich versuchte noch schneller zu laufen. Mit meiner grauen Jeans gar nicht so einfach. Meine Lunge schien zu brennen und jeden Augenblich zu zersplittern, doch ich rannte weiter.
Ich rutschte aus. Ich konnte Sascha hinter mir schon keuchen hören. Er hatte also doch noch gesehen, wo ich lang gelaufen war. Schnell rappelte ich mich wieder hoch. Rannte schon weiter, als ich noch nicht einmal wieder ganz auf beiden Füßen stand.
Da vorne, etwas 20 Meter entfernt von mir, wurde der Grasstreifen immer schmaler, doch eine kleine Einbuchtung, wieder nach links, in den Wald hinein ließ mein Herz schneller schlagen. Vielleicht konnte ich ihn ja da abhängen.
Ich rannte darauf zu. Rutschte mehr um die Ecke, als das ich lief und blieb erschrocken stehen. Nichts mit abhängen, nein. Hier war die Reise zu Ende.
Ein riesiger, verwachsener Baum versperrte mir den weiteren Weg. Links und rechts von mir umschloss er mich auch. Daran hoch klettern konnte ich auch nicht. Der Stamm bestand zwar aus mindestens fünf verschiedenen Baumstämmen, aber kein Ast hing tief genug, als das ich mich daran hinauf ziehen hätte können. Und auch die Rinde war so glatt, meine Schuhe wären sofort wieder abgerutscht. Nein, von hier gab es kein Entrinnen. Es sei denn…
Ich wirbelte herum. Wenn ich wieder aus dieser Sackgasse hinaus lief, vielleicht könnte ich dann noch ein Stück weiter am Fluss entlanglaufen und einfach irgendwann in den Wald abbiegen. Aber ich wusste, dass es nicht klappen würde. Ich hatte die Bäume gesehen. Sie standen viel zu dicht neben einander. Ich machte einen Schritt nach vorne und gleich wieder zurück.
Sascha kam schon fast gemächlich um die Ecke. Er schnappte nicht ganz so erbärmlich wie ich nach Luft.
Argwöhnisch ging ich noch einen Schritt nach hinten. Ich warf einen raschen Blick über die Schulter. Ich würde nicht noch einen Schritt machen können. Da stand schon der Baum.
Ich sah Sascha fest in die Augen. Herausfordernd. Er kam noch mehr auf mich zu. Stellte sich breitbeinig vor mich hin und verschränkte die Arme vor der Brust. An ihm vorbei kommen würde ich jetzt wohl nicht mehr. Er brauchte nur seine Arme auszustrecken und er würde den Baum berühren.
Da viel mir spontan ein Name für den Baum ein. Baum-des-gefangen-seins. Hübsch, oder?
Sascha fand anscheinend den Atem zum Reden leichter als ich. Ich war mir sicher, sobald ich etwas sagte würde ich umfallen. Mit kräftiger Stimme sagte er: „Das war doch ein nettes kleines Wettrennen. Und der Sieger bekommt einen Kuss. Und der Sieger bin, wie es aussieht, ich. Und du bekommst von mir einen, weil du mir den Nachmittag so wunderbar versüßt hast.“
Skeptisch hob ich eine Augenbraue. Auch ich verschränkte jetzt die Arme vor der Brust und hob mein Kinn etwas an. Da sah ich etwas. Etwas, dass ich eben verloren hatte und jetzt an Saschas Hand hing. Beziehungsweise sie hing nicht, sondern wurde fest gehalten. Meine Jeansjacke. Ich machte große Augen. Er hatte also auch noch die Zeit gehabt meine Jacke aus den Fängen der Zweige zu befreien. Überrascht sah ich wieder Sascha ins Gesicht. Er lächelte. Das machte mich sauer. Konnte er mich nicht einfach wieder zum Auto bringen, mich fesseln, anschreien und so weiter, ohne so eine Show daraus zu machen.
Wütend schloss ich die Hände zu Fäusten, ließ die Arme an meinem Körper hinab hängen und spannte sie an. Ein stechender Schmerz fuhr mir in den rechten Oberarm.
Leise gab ich einen gequälten Laut von mir.
„Was hast du?“, fragte Sascha besorgt.
Ich schrie zurück: „Nichts, was dich etwas angehen würde! Und können wir jetzt bitte zurück gehen? Ich wüsste nicht, was es für einen Sinn machen würde, wenn wir noch länger hier bleiben würden.“
Ich versuchte so gut es ging meinen verletzten Arm hinter dem Rücken zu verstecken.
„Zuerst bekomm ich noch meine Küsse.“
Genervt seufzte ich. Und sagte, ja ich konnte wieder reden, es war erstaunlich, wie schnell man wieder zu Atem kam: „Vergiss es! Ich mach da nicht mehr mit. Wenn du jemanden küssen willst, dann leg dir eine Freundin oder einen Hund zu, aber lass mich da bitte raus.“
Sascha schüttelte den Kopf, grinste und sagte dann: „Wir gehen nicht, bevor ich nicht zwei Küsse von dir bekommen habe.“
„Okay, wir machen einen Deal. Ich geb dir zwei Küsse, aber du machst die Augen zu. Einverstanden?“
Natürlich wollte ich ihm keine wirklichen Küsse geben. Sonder nur auf die Wangen. Einen links und den anderen rechts.
„Einverstanden.“, stimmte Sascha zu und schloss die Augen.
Etwas zögerlich ging ich auf ihn zu. Blieb stehen und stellte mich auf die Zehenspitzen. Warum musste dieser Typ auch so groß sein?
Um nicht umzukippen hielt ich mich mit meiner gesunden Hand an seiner Schulter fest.
Schnell, bevor ich es mir noch mal anders überlegen konnte küsste ich ihn einmal rechts und einmal links auf die Wange. Dann ließ ich seine Schulter los und sank zurück auf den ganzen Fuß.
Ohne auf eine Reaktion von Sascha zu warten ging ich an ihm vorbei, den Wiesenpfad zurück, den wir gerannt waren.
Hätte ich nicht eigentlich wissen müssen, dass er mich kriegen würde? Klar hätte ich es wissen müssen, aber die Hoffnung stirbt zu letzt.
Eine Hand packte meinen rechten Arm. Ich schrie einmal schrill und durchdringend auf. Ich wurde herum gedreht, auch dabei hätte ich am liebsten geschrien, doch ich verkniff es mir.
Ein Kuss. Jemand küsste mich. Sascha. Sascha küsste mich. Schon wieder. Würde das denn niemals aufhören? Würde ich für den Rest meines Lebens diesen Typen küssen müssen? Und selbst wenn, das hieß ja nicht, dass dieser nicht auf der Stelle beendet sein würde.
Kräftig drückte ich gegen Saschas Brust. Er gab dem Druck anfangs etwas nach, doch dann nahm er eine seiner Hände zur Hilfe. Mühelos drückte er meine Hand weg und küsste mich einfach weiter.
Seine andere Hand hatte er mir etwa auf Taillenhöhe auf den Rücken gelegt. Ich versuchte trotzdem einen Schritt zurück zu machen. Es klappte, erstaunlicherweise.
„Das ist ein Kuss.“, belehrte er mich.
Ich forderte ihn hinaus: „Und davon willst du noch einen?“ Er nickte. „Dann bekommst du auch eine Ohrfeige. Kuss und Ohrfeige gibt es jetzt nur noch im Doppelpack.“
Sascha musste lachen. Wütend sah ich ihn an. Er würde ja schon sehen, wie erst es mir war.
„Megan, du weißt doch, wie ungerne ich geschlagen werde. Das willst du nicht wirklich. Es würde dir mehr wehtun, als mir. Überleg es dir lieber noch mal.“, meinte Sascha immer noch lachend.
Entschlossen sah ich ihn an. Seine Drohungen machten zwar Eindruck auf mich, aber das musste er ja nicht wissen.
Er schien meinen Blick richtig gedeutet zu haben. Mit leichtem Wehmut in der Stimme sagte er: „Na gut, mach wie du meinst, aber gib nicht hinterher mir die Schuld dafür.“
Und er beugte sich wieder hinunter zu mir und gab mir einen Kuss. Ich bleib stehen und gab ihm eine Ohrfeige. Sein Kopf flog zwar etwas zur Seite, aber ich wusste, dass meine Schläge nicht hart waren.
Etwas in Saschas Augen blitzte, als er grimmig nickte.
Und ehe ich mich versah hatte Sascha mich hoch gehoben und mich wie einen Sack Mehl über seine Schulter gelegt.
Kochend vor Wut schlug ich ihm mit den Fäusten auf den Rücken und schrie so laut ich konnte.
Er hielt mich locker mit einer Hand an den Beinen. Ich würde sowas nicht können, aber ich hatte auch nicht so gut trainierte Muskeln wie er.
„Hör auf, oder ich lasse die in den Fluss fallen!“, ermahnte er mich. Ich hörte zwar auf mit den Händen gegen seinen Rücken zu trommeln, nicht aber zu schreien.
Mein Entführer ließ mich zu Boden gleiten. Ich hatte ihm echt zu getraut, dass er mich in den kleinen Fluss neben uns fallen lassen würde, aber anscheinend hatte ich mich geirrt.
Als Sascha mich losgelassen hatte ging ich eilig einige Schritte auf Abstand zu ihm. Er kramte nach irgendwas in seiner Hosentasche. Inzwischen hatte ich auch wieder aufgehört zu schreien.
Er zog etwas hervor, anscheinend genau das, was er gesucht hatte. Das Klebeband.
„Nein, das wagst du nicht! Ich will das nicht Sascha!“, warf ich ihm entgegen und hob abwehrend meine Hände.
„Was du willst interessiert niemanden. Ich hatte dich davor gewarnt, aber du wolltest ja nicht hören. Und wer nicht hören will, der muss eben fühlen!“
Er trat auf mich zu. Ich drehte mich um und rannte. Dieses Mal in Richtung Auto.
Sascha hinter mir gab einen unwilligen Laut von sich.
Ich bemühte mich wirklich schnell zu laufen, aber ich war noch so von eben erschöpft, dass ich das Gefühl hatte kaum vom Fleck zu kommen. Und so erstaunte es mich auch gar nicht, als mich Sascha fest hielt, noch bevor ich den Grasstreifen verlassen hatte.
Mit einer einzigen fliesenden Bewegung drehte er mich erneut zu sich herum, zog ein Stück vom Klebeband ab, riss es ab und klebte es mit vor den Mund. Ich hob schon die Hände, um es wieder abzumachen. Doch da drückte er auch schon meine Handgelenk zusammen, fesselte mich und klebte mir noch eine Stück von diesem hervorragendem Klebeband auf den Mund.
„Bleib so stehen!“, wies er mich an.
Ich gehorchte, was sollte ich schon anderes tun? Ich versuchte auch nicht noch einmal das Klebeband von meinem Mund zu entfernen. Es hatte doch eh keinen Sinn. Es würde mir nur noch mehr Unannehmlichkeiten bereiten.
Auch meine Füße wurden zusammen gebunden, auch wenn dies eher notdürftig geschah. Ich konnte gerade so noch stehen, ohne umzufallen, doch ich würde keinen Schritt mehr tun können.
Mit seiner Arbeit anscheinend äußerst zufrieden richtete Sascha sich wieder auf und hob mich erneut über seine Schulter. So machten wir uns wieder auf den Weg zurück zur Limousine. Ich freute mich jetzt schon wieder ins Innere des stickigen Wagens zu kommen. Naja mehr oder weniger.


„Da ist er!“, konnte man schon vom weiten die Rufe von Taylor hören. „Er hat sie gefunden!“
Na ganz toll. Selbstverständlich hatte er mich gefunden, wie könnte er auch nicht? Mir auf einmal zum Heulen zumute. Das Adrenalin war weg und ich würde bald wieder in einer Limousine sitzen, die mich irgendwo hin brachte, wo ich dann weiter gefangen gehalten werden sollte. Warum sollte ich denn nicht weinen? Ganz einfach, es würde mir nichts bringen. Es würde nichts an der Situation ändern. Also lieber doch nicht anfangen zu flennen. Wobei ja auch gesagt wird, dass weinen gut für die Seele ist. Man baut dadurch Stress ab. Ich sah das, ob ich weinen würde oder nicht. Ich ließ mich einfach überraschen. Das klingt jetzt komisch, aber wenn man weinen muss, dann muss man das halt, wenn nicht dann nicht. Aber das konnte man vorher nie wissen.
Ich spannte meine Bauchmuskeln an und stützte mich noch zusätzlich an Saschas Rücken ab, um zu sehen, wie nahe wir schon waren. Schon ziemlich nah. Sascha machte gerade die Tür ins Innere auf.
Geschickt ließ er mich ein Stück fallen und fing mich dann so auf, dass ich in seinen Armen hing, als hätten wir gerade unseren Hochzeitstag. Also einen Arm unter meinen Knien und den anderen unter meinen Schultern.
Er beachtete mein erschrecktes Aufschreien gar nicht, was auch durch das Klebeband ziemlich gedämpft wurde.
Ängstlich krallte ich mich in Saschas T-Shirt fest.
Davon völlig unbeeindruckt stieg er mit mir auf den Armen ein und setzte mich wieder hinten in der Ecke ab. Mit einem knappen: „Bleib da!“, verschwand er noch mal kurz.
Ich blieb in meiner Ecke. Sie gab mir etwas, das Trost ähnelte. Vielleicht Sicherheit oder Zuversicht?
Eine Träne. Ich musste also doch weinen. Na toll, das konnte ich jetzt eigentlich nicht auch noch gebrauchen.
Ich wischte die Träne weg.
Sascha kam wieder. In der einen Hand hatte er immer noch meine Jacke, in der anderen hielt er die Handschellen und das Klebeband. Die Jeansjacke warf er unachtsam mir gegenüber auf die Sitzbank, legte dann das Klebeband neben mich und die Handschellen auch. Dann holte er ein kleines Klappmesser aus den Weiten seiner Hosentasche hervor. Er ließ es aufspringen. Ich zuckte zusammen. Was hatte er vor?
Ohne ein Wort zu sagen nahm er meine zusammen geklebten Hände und durchtrennte das Klebeband. Entschlossen riss er den Rest Klebestreifen von meinen Armen, nahm die Handschellen und hängte mich wieder über den Haltegriff des Autos. Das Abreißen tat kaum weh. Viel weniger, als ich gedacht hatte.
Dann durchtrennte er auch das Klebeband. Ich hatte eine lange, graue Jeans an, deswegen tat es kein Stück weh, als er es auch da abriss. Das über meinem Mund ließ er selbstverständlich dran. Und meine Füße band er auch wieder zusammen. Oder klebte sie zusammen. Das war in diesem Falle das gleiche.
Mein Arm tat weh. Ich hätte nicht gedacht, dass er mir so viele Probleme machen würde. Aber das würde vorbei gehen.
Dieses Mal waren meine Beine so fest gefesselt, dass es weh tat. Unangenehm drückten sie gegeneinander. Ungeschickt drehte ich sie so, dass es möglichst nicht mehr wehtat.
Sascha war wieder hinaus gegangen und hatte dabei die Tür so fest zu geschlagen, dass die gesamt Limousine gewackelt hatte. Es war dunkel um mich herum. Der Motor war aus, weswegen auch die kleinen gelblichen Lampen nicht an waren. In dieser Dunkelheit saß ich jetzt, hörte von draußen die aufgebrachten Stimmen der Männer und weinte. Ich konnte gar nicht anders.
Missmutig drehte ich mich auf die rechte Seite. Nur mit der Schulter gegen die Polster der Rückenlehne gelehnt. In dieser Position ging es einigermaßen. Die Schulter war kaum angekratzt und meine Beine rieben so auch nicht allzu schmerzvoll aneinander.
Ich weinte lautlos. Nur die Tränen liefen mir über die Wangen. Ab und an wurde ich von einem Schluchzer geschüttelt. Wie lang saß ich hier wohl so da, mit dem Rücken zur Tür? Ich weiß es nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass es zehn Minuten waren, aber möglich wäre auch, dass es eine Stunde war. Irgendwann waren draußen die Stimmen leiser geworden. Ja, für einige Zeit hatte ich gar nichts gehört. Doch dann wurden sie wieder Lauter, wieder leiser, wieder lauter und immer so weiter. Aber ich konnte nie etwas verstehen.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Sascha kam mit einem Erste Hilfe Kasten rein. Ich hatte meinen Kopf so weit, wie nötig, um ihn zu sehen, herum gedreht. Er schloss die Tür und fast gleichzeitig gingen der Motor und damit auch die Lämpchen an.
Etwas geblendet blinzelte ich. Ich machte mir nicht die Mühe meine Tränen wegzuwischen. Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an.
„Wie geht es deinem Arm?“, fragte dieser Schwachkopf. Als ob ich darauf antworten könnte. Dachte dieser Typ denn überhaupt nicht mit? Immerhin war er es ja gewesen, der mich geknebelt hatte. Konnte man so vergesslich sein, oder machte er das mit Absicht?
Ich reagierte auf jeden Fall nicht. Der Schwachkopf setzte sich vor mich auf die Knie. Die Limousine fuhr los. Es holperte wieder ganz schön, als das Auto eine Wende und wieder Richtung Straße fuhr.
Als wir wieder auf geradem Teer fuhren öffnete Sascha den Kasten. Er nahm ein kleines Fläschchen und einen langen Stoffstreifen heraus. Davon riss er ein Stück ab, faltete es und legte es über den Deckel, der Flasche, die auf dem Boden stand.
Sascha streckte sich nach oben, löste die Handschellen von meinem rechten Handgelenk und schloss es zum zweiten Mal um mein linkes. Ich musste mich wieder drehen, da Sascha meine rechte Hand in seine Richtung zog. Er nahm die kleine Flasche, kippte etwas von ihrem Inhalt auf den zusammengefalteten Stofffetzen. Ich ließ meine Hand ruhig da liegen, wo er sie hingelegt hatte.
Vorsichtig, beinah sanft strich er mit dem Lappen über meinen Arm und da wusste ich, was das für eine Flüssigkeit war. Desinfektionsmittel. Es brannte höllisch. Ich gab keinen Laut von mir, aber mir liefen weitere Tränen über die Wangen.
Sascha packte die Sachen wieder ein und schob den Kasten weiter unter die Rückbank. Dann machte er auch meine andere Hand los. Die Handschellen fielen auf den Boden. Keinen von uns interessierte es.
Sascha setzte sich neben mich. Er wusste ganz genau, dass ich nichts machen würde. Ich würde hier sitzen bleiben, bis die Fahrt vorbei war. Vielleicht würde ich versuchen das Klebeband abzumachen, aber auch das würde kaum einen Unterschied machen, sagen würde ich eh nichts.
Er nahm mich ganz fest in seine Arme. Drückte mich an sich. Ich spürte seine Wärme. Ich klammerte mich an ihn, als wäre er der einzige Halt, den es gab.
Er zog meine Beine auf seinen Schoß. Ich verbarg mein Gesicht an seiner Schulter und heulte wie ein Schlosshund. Das Klebeband löste sich von ganz alleine. Die ganzen Tränen hatten den Kleber von meiner Haut gelöst.
Liebevoll wiegte Sascha mich hin und her. Ich weinte immer weiter. Mal leise, mal laut.
Irgendwann hatte ich keine Tränen mehr, aber das fiel mir nicht mehr auf. Ich war eingeschlafen.


Sie schlief, welch ein Glück. Bis eben hatte sie noch schrecklich geweint. Das alles musste sie ziemlich fertig machen. Das alles wäre nicht so schlimm gekommen, wenn jeder von uns seinen Job richtig machen würde. Mein Bruder hatte auf sie aufpassen sollen. Und was war geschehen, sie war weggerannt. So ein dummes Mädchen. Und ein noch viel dümmerer Bruder. Nachdem ich sie zurück gebracht hatte und sie wieder im Auto saß, hatte ich Taylor ordentlich die Leviten gelesen. Was bildete der sich eigentlich ein? Er konnte sie doch nicht so leichtfertig aus den Augen lassen! Verdammt! Das würde Ärger vom Chef bedeuten. Und genau diesen Ärger würde ich bekommen. So eine Scheiße! Und ihr Arm sah schlimm aus. Das würde Abzug geben. Abzug von dem Geld, das er uns auszahlte, wenn wir einen Auftrag ausgeführt hatten.
Das durfte doch nicht Wahr sein. Dieser Vollidiot von Bruder. Er konnte von Glück sagen, dass er mein Bruder war. Sonst hätte mit Sicherheit der Krankenwagen kommen müssen.

Genervt fuhr ich mir mit den Fingern durchs Haar. Dabei fiel mein Blick auf Megan. Sie sah wunderbar friedlich aus im Schlaf. Warum konnte sie so nicht immer sein? Unser gesamter Auftrag wäre leichter. Dann könnte es selbst mein Bruder wohl kaum noch versauen.
Wahrscheinlich hätte ich ihm die Aufgabe, während der Reparatur des Autos, nicht geben dürfen. Ich hätte selber auf sie aufpassen müssen. Sie notfalls an mich ketten müssen. Aber was passiert war, war passiert. Da konnte ich jetzt auch nichts mehr dran ändern.
Verdammt, das hätte nie passieren dürfen!

Wieder sah ich hinab auf Megan. Ihre Haare waren ihr vors Gesicht gefallen. Ich strich sie ihr hinters Ohr. Ich drückte sie noch einmal an mich. Sie war ein starkes Mädchen. Und küssen konnte sie. Selbst wenn sie sich wehrte war es schön. Heimlich fragte ich mich, wie es wohl wäre, wenn sie mich zurück küssen würde. Würde sie dann eher leidenschaftlich oder vorsichtig küssen?

All solche Fragen spukten mir im Kopf herum. Aber sie waren verboten. Verbotene Gedanken. Und besonders bei dieser „Ware“ war es gefährlich. Die Muttergefühle für dieses kleine Geschöpf waren schon fast unnormal stark. Aber letztendlich war sie eh nur ein Mädchen von vielen. Nichts Besonderes. Und doch tat es weh diesen Gedanken zu denken. Weiß der Teufel warum. Aber ich musste das Nachdenken einstellen. Das einzige, was jetzt wichtig war, war, dass sie dort ankam, wo sie hin sollte. Zum Chef. Alles andere würde sich dann auflösen.



Etwas rüttelte an mir. Hartnäckig, ließ nicht locker, bis ich die Augen aufgeschlagen hatte. Müde hob ich den Kopf und rieb mir über die Augen. Ein kalter Luftzug wehte über mich hin weg. Ich fröstelte. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus. Ich rieb darüber.
Von hinten drückte etwas gegen mich. Schnell richtete ich mich auf und drehte mich um. Aufmerksam sah mir Sascha in die Augen und sagte: „Dir ist kalt.“ Das hatte er ja hervorragend festgestellt. Dennoch ergaben seine Worte im ersten Augenblick keinen Sinn für mich.
Er stand auf. Verwundert sah ich ihm zu, wie er zur gegenüberliegenden Sitzfläche ging und meine Jacke holte. Er streckte sie mir hin. Zitternd nahm ich sie. Warum war es hier so kalt? Verwirrt sah ich mich um.
Etwas klackte. Erschrocken sah ich auf. Sascha hatte wieder sein Messer hervorgeholt und kniete sich jetzt vor mich hin. Er löste ein weiteres Mal die Fesseln um meine Füße. Dann half er mir beim Aufstehen. Ich zog die Jacke über und während ich das machte fiel mein Blick auf die kleine Straßenlaterne, die zu uns ins Innere schien.
Wir traten ins Freie. Da standen noch mehr von diesen Laternen. Eine Allee hinunter. Und bis hinauf zu einer großen Treppe, die zu einer riesigen Tür führte. Ein noch viel riesigeres Haus gehörte zur Tür. In den meisten Fenstern brannte noch Licht. Eigentlich sah es sehr einladend aus. Da drinnen würde es bestimmt herrlich warm sein. Ich sah mich nach Sascha um. Er war genau hinter mir stehen geblieben. Dass er so nah bei mir stand, hatte ich gar nicht bemerkt. Er nahm mich am Arm, am linken. Nicht grob, aber entschlossen und führte mich den Kiesweg entlang zur Treppe. Die Treppe hinauf und durch die Tür. Wir kamen in einen kleinen hell erleuchteten Raum und durchschritten ihn, bis wir in einen zweiten weitaus größeren kamen. Auch dieser war hell und freundlich. An den Wänden hingen Porträts, aber keiner kam mir bekannt vor. Wie sollten sie auch? Wahrscheinlich waren es Familienporträts. Der Boden war mit einem dicken Teppich ausgelegt. Mich erinnerte diese Haus irgendwie an eines der Schlösser, in dem ich einmal mit Marc gewesen war.
Sascha steuerte mich auf eine kleinere Tür auf der rechten Seite des Raumes zu. Sie war geschlossen. Und anscheinend auch verschlossen, denn Sascha holte einen Schlüssel hervor und schloss sie auf. Er führte mich hindurch. Und weiter durch unzählige Räume. Ich hatte das Gefühl er führte mich im Kreis. Doch kein Raum sah aus, wie der davor. Wir gingen eine Treppe nach oben. Eine einzige Stufe knarzte. Irgendwann, als ich die Orientierung vollkommen verloren hatte, betraten wir einen kleinen Raum, naja so klein war er auch nicht. Er war etwas dreimal so groß wie mein Zimmer zu Hause.
Und in diesem Zimmer standen: ein Bett, das mehr einem Meer aus Stoff und Kissen ähnelte, ein Schrank, der fast eine ganze Wand einnahm, ein Schreibtisch, hm ja, der sah normal groß aus, ein passender Stuhl dazu, und dann waren da noch diese zwei wunderbaren, überdimensionale großen Fenster, zu beiden Seiten des Bettes. Sie reichten fast vom Boden bis zur Decke. Und von der einen Zimmerecke bis zum Bett, dann war Wand und dann wieder Fenster. Wenn das hier ein Hotel wäre, dann wäre das hier das teuerste Zimmer. Aber mit Sicherheit. Vorsichtig sah ich vom Fenster zu Sascha. Er machte eine Geste in Richtung der Fenster und lächelte. Ermuntert lief ich zu dem linken Fenster und blieb davor stehen. Ehrfürchtig sah ich hinaus in den Garten. Garten war gar kein Ausdruck. Es war vielmehr ein Park. Überall waren riesige, runde Beete, mit den verschiedensten Blumen angelegt.
Weit hinten stand ein Pavillon. Rosen rankten sich über das Dach und die Dachpfeiler. Hübsch sah das aus. Sehr hübsch.
Ich ließ mich in den Schneidersitz fallen, stützte mich vorne mit den Händen ab und sah mit offenem Mund hinunter auf die Blumen.
„Wäre es möglich, dass ich hinuntergehe? Ein bisschen spazieren?“, fragte ich ohne den Blick von der künstlich angelegten Natur abzuwenden.
IN einem angenehmen, entspannten dunklen Ton versicherte Sascha mir: „Aber sicher. Allerdings nicht mehr heute. Morgen können wir gehen.“
Zwar hatte ich alleine gehen wollen, aber solange ich überhaupt gehen konnte war mir egal mit wem. Aber es hätte mir klar sein müssen, dass er mich nicht alleine gehen lassen würde.
Während ich nickte, sagte ich: „Okay, dann morgen.“
„Ich lass dir noch etwas zu essen machen, von Sara.“ Sara? Das war doch die Köchin, oder? Aber alles andere würde im Bezug auf Essen auch nicht passen. Wer auch immer sie war, sie würde mir etwas zu essen machen und das machte sie mir schon äußerst sympathisch.
Sascha verabschiedete sich: „Ich komm gleich wieder. Mach solange, was du willst. Das einzige was du nicht darfst ist dieses Zimmer und sein Bad zu verlassen.“
„Und was ist mit umbringen? Darf ich Selbstmord begehen?“, fragte ich ihn völlig ernst.
„Nein, das solltest du auch nicht machen, um deinetwillen.“
Um meinetwillen? Um Himmelswillen, ich wollte gar nicht hier sein!
Eine sanfte Berührung an meiner Schulter. Ich drehte mich um und sah auf zu Sascha. „Bis später“, sagte er lächelnd.
„Bis später“, gab ich ausdruckslos zurück. Einfach weil es mir unhöflich erschien seine Verabschiedung nicht zurück zu geben. Ich drehte mich wieder nach vorne.
Das Schloss der Tür klickte leise. Das war das Zeichen für mich, dass Sascha weg war.
Interessiert stand ich auf. Das Zimmer hatte es mir angetan. Ich schlenderte hinüber zum Schreibtisch, dessen Füße in einem Schnörkel endeten. Mit den Fingerspitzen strich ich übers Holz. Eine komische Angewohnheit, ich weiß. Es langen ein paar Blanco Blätter, ein Bleistift, einige Buntstifte und ein Radiergummi auf dem Tisch. Ich schenkte den Sachen und dem Bürostuhl keine weitere Aufmerksamkeit.
Der Schrank war mein nächstes Untersuchungsobjekt.
Ich öffnete die Türen. Auf den Innenseiten waren Spiegel angebracht. Ich wollte gar nicht erst wissen, wie schrecklich ich aussah, also öffnete ich die Schranktüren ganz und konzentrierte mich nur auf den Inhalt.
Der Schrank war tiefer, als er auf den ersten Blick aussah. In verschiedenen Höhen waren Bretter angebracht, auf denen Stapelweise die Klamotten lagen.
Ein ganzes Fach war BHs gewidmet. Es lagen blaue, grüne, violette, orangene, türkisene, rote, gelbe, rosafarbige, schwarze und weiße darin. Und alle möglichen anderen Farbabstufungen waren vertreten. Einige waren aufreizend, andere eher züchtig. Hochgeschlossen oder fast durchsichtig, etwas dazwischen oder ganz etwas anderes. Alles was das Herz begehrte.
Ich nahm wahllos einen vom vordersten Stapel. Es war ein himmelblauer Push-Up-BH mit Spitze am oberen Rand. Ich befühlte den Stoff. Eindeutig Seide.
Die Körpchengröße sah richtig aus und den Rest konnte man einstellen. Zumindest passen würde er mir.
In diesem Zimmer hatte wohl vorher eine Frau gewohnt, die die gleiche Kleidergröße hatte, wie ich.
Ordentlich faltete ich den BH wieder zusammen und legte ihn zurück.
Auf dem Brett darüber lagen Hosen. Jeans. Links waren die Langen und rechts die Kurzen.
Ich entdeckte eine Jogginghose ganz hinten, auf dem untersten Brett. Ich nahm sie heraus. Aus ihr und einem weiten T-Shirt würde ich mir einen Schlafanzug basteln.
Ich fand eines, in lila, mit der Aufschrift „I’m sexy and I know it!“. Ich würde mal sagen: Interessant.
Aber irgendwie fand ich es auch ganz witzig, also nahm ich es heraus. Es würde schon keinem wehtun, wenn ich es für eine Nacht trug. Außer vielleicht meinem Selbstzweifel.
Ich ließ meinen Blick noch einmal über die restlichen Kleider wandern.
Ich hoffte, niemand würde etwas dagegen haben, wenn ich mir die Sachen auslieh.
Nachdenklich sah ich auf meinen neuen Pyjama. Ich schloss die Türen des Schrankes. Als ich wieder aufsah erblickte ich eine Tür. Es war aber nicht die, durch die ich dieses Zimmer betreten hatte.
Ich legte meine geborgten Sachen aufs Bett und trat neugierig auf die Tür zu. Kurz blieb ich vor ihr stehen, dann drückte ich die Klinke herunter und trat in ein Badezimmer. Darin war alles, war man brauchte. Eine Dusche, ein Klo, ein Waschbecken. Neben dem stand ein etwa hüfthohes Schränkchen, in dem sich anscheinend unterschiedliche Shampoos und Schminkutensilien befanden.
Aber das woran ich im Moment am meisten interessiert war, war die Dusche.
ich hockte mich hin, nahm ein Shampoo heraus, das nach Grapefruit roch, stand wieder auf und schlüpfte schnell aus meinen Klamotten.
Eine heiße Dusche war jetzt genau das Richtige.
Lange, okay es war nicht so lange, ließ ich die wohltuende Wärme auf hinab rauschen. Ich wusch meine Haare, meinen Körper und alles, was so mit dazu gehörte.
Noch müder, als ich davor schon gewesen war, stieg ich aus der Dusche.
Mit einem wunderbar weichen Handtuch, das schon bereit gehangen hatte, trocknete ich mich ab.
Nur in Unterwäsche am Leib und den Rest meiner Kleidung im Arm ging ich zurück in das große Zimmer.
Meine Klamotten, die graue Röhrenjeans, das weiße Top, meine Socken und die Jeansjacke hatte ich zusammengelegt und warf sie jetzt achtlos auf den Stuhl.
Schlurfend ging ich wieder zum Bett und setzte mich.
In dem Schränkchen, aus dem ich das Shampoo genommen hatte, hatte ich auch Haargummis gefunden. Einen hatte ich herausgenommen und mir einen hohen Pferdeschwanz gemacht. Jetzt schwangen meine rotbraunen nassen Haare lustig hinter meinem Kopf hin und her.
Müde stand ich wieder auf. Ich nahm die Jogginghose und zog sie an.
Ein Geräusch von der Tür. Sie wurde aufgeschlossen und ich stand hier nur in Hose und BH. Und wer würde gleich durch diese Türe treten? Sascha? Taylor? Oder vielleicht doch Bruno? Oder gleich der Chef?
Nein, es war nur Sascha, der mit einem Teller voll Brote in mein Zimmer trat. Erleichtert atmete ich aus.
Mit einem sehr, sehr, sehr deutlichem Grinsen fragte er: „Was?“
„Nichts, ich dachte nur du wärst…“, ich brach ab.
„Jemand anderes?“, hakte er nach.
Ich nickte, mit gesengtem Kopf. Da fiel mir auf, dass ich ja obenrum kaum etwas an hatte. Ich sah auf zu Sascha. Er hatte inzwischen den Teller auf einem kleinen, runden Tisch abgestellt. Den hatte er aber mitgebracht. Davor war er noch nicht da gestanden. Okay, vielleicht doch, aber er war so unauffällig, dass er in diesem prunkvollen Zimmer leicht zu übersehen war.
Ach ja, ich hatte ja noch das Problem mit der Bekleidung. Meine Ohren wurden heiß. Peinlich berührt sah ich wieder zu Sascha. Anscheinend ohne etwas von meinem Unwohlsein zu merken musterte er mich von Kopf bis Fuß.
In erstem Ton stellte er fest: „Du hast also deinen eigenen BH anbehalten. Aber schön, dass du dir ein Shirt und eine Hose heraus genommen hast. Sieht so aus, als hätte ich die Sachen in der richtigen Größe für dich gekauft.“
„Für mich? Also hast DU die Sache für mich gekauft?“, fragte ich nach.
„Jap, und ich finde: Ein Kuss für den Anblick.“
„Ich finde: Eine Ohrfeige für den Gedanken.“
Er lachte. Der Kerl lachte mich doch tatsächlich aus!
Ungerührt sah ich ihn an. Ohne eine Miene zu verziehen drehte ich mich um und zog mir das lilane T-Shirt über. Ich ignorierte ihn weiter hin, ging zum Tischchen, nahm mir ein Käsebrot und biss hinein.
Ich hatte Sascha den Rücken zu gewandt, doch als er nicht aufhörte zu lachen, drehte ich mich kurz um und sah ihn böse an. Er verstummte, hörte aber nicht auf zu grinsen.
Ich kaute weiter und nach und nach verschwand das ganze Brot.
Ein schrecklicher Piepton erklang. Durchdringend und plötzlich.
„Oh shit!“, kam es von Sascha genervt.
Ich hatte die Augen erschrocken auf gerissen. „Was ist das?“
„Es ist alles okay. Das ist nur mein Pieper. Er sagt mir, dass ich ganz schnell wohin muss. Ich werde nicht noch mal wieder kommen. Iss fertig, lass den Teller stehen und geh schlafen. Ich wünsche dir ein gute Nacht.“
Während er das sagte, ging er zur Tür und fummelte an einem Ding rum, das mich an ein Handy erinnerte. Ich sah ihm nach, als er ging. Er schloss die Tür wieder ab. Ich zuckte mit den Schultern und griff nach einem weiteren Brot.
Ich aß fast alle auf und ging dann ins Bad, um Zähne zu putzen. Ich fand eine pinke Zahnbürste und Zahnpasta.
Danach ging ich ins Bett. Ein Kampf mit Kissen und Decken begann. Vielleicht etwas übertrieben ausgedrückt, aber es war schon so, dass ich zuerst etliche Kissen zur Seite räumen musste, damit ich gemütlich im Bett liegen konnte. Die Matratze war wie eine Wolke, man versank richtig darin. Und dann noch mit der superweichen Decke obendrüber war es wie im Märchen. Oder so wie man es sich vorstellt.
Ich lag nicht mehr lange wach. Ich war so erschöpft von den letzten Tagen und das Licht war fast gleich nach dem ich mich ins Bett gelegt hatte von alleine ausgegangen. Vielleicht war es so beabsichtig, vielleicht aber auch nur ein Stromausfall. Mir konnte es reichlich egal sein. Ich würde nur noch schlafen, schlafen und träumen.




Ich riss die Augen auf und fuhr hoch. Mein Atem ging schnell und panisch. Meine Finger waren in die Decke gekrallt. Hecktisch löste ich sie und fuhr mir übers Gesicht und durch die Haare. Das Haargummi war heruntergerutscht und nun fielen mir meine Haare wild ins Gesicht.
Ich versuchte mich zu beruhigen. Es war nichts hier, was mit hätte Angst machen können. Oder?
Mein Herz raste, ich konnte es nicht dazu bringen langsamer zu schlagen.
In meinem Traum war Sascha herein gekommen. Mit noch einem anderen Mann. Der Mann hatte sich zu mir aufs Bett gesetzt und wollte mich ausziehen. Ich hatte mich gewehrt, doch Sascha hatte gesagt, ich sollte tun, was der Mann sagt. Ich hatte welche von dieser Reizunterwäsche angehabt, die Sascha gekauft hatte. Der Mann hatte sie mir vom Leib gerissen. Mich geschlagen.
Und dann war die Szene eine andere gewesen. Ich an Händen und Füßen gefesselt in einem kleinen, stickigen Kellerraum. Ich war auf dem Boden, an der Wand gelegen. Blut war mir übers Gesicht gelaufen, aus einer Wunde an meiner Schläfe. Ich hatte mich dort liegen gesehen, als wäre ich nicht ich, sondern eine außen stehende Person. Das machte das ganze Szenario fast noch beängstigender.
Sascha und Taylor hatten vor mir gestanden und mich ausgelacht. Taylor hielt eine Pistole in der Hand, die er an seinen Bruder weiter gab. Dieser zielte auf mich. Auf meinen Kopf. Und drückte ab. Der Knall des Schusses ertönte und das Bild wechselte wieder.
Wieder sah ich alles von außen. Ich in dreckiger Arbeitskleidung unter der Erde, arbeitend. Ich schlug mit einer Spitzhacke auf den Berg ein. Versuchte Kohle abzubauen, ohne auch nur den geringsten Plan. Ein kräftiger Schlag von mir. Die Deckenstützen wackelten, brachen ein. Der Gang stürzte ein und ich stand da nur, wurde unter den gewaltigen Steinmaßen begraben.
Aus weiter Ferne meinte ich das hämische Lachen von Sascha und seinem Vater zu hören.
Meine Hände krallten sich von ganz alleine in meine Haare. Ich schüttelte den Kopf, kniff die Augen zusammen, wollte mich nicht an meinen Traum erinnern.
Ich schrie, musste irgendwie meine Angst loswerden, musste ganz aufwachen.
Erst Sekunden später merkte ich, dass ich noch immer schrie. Ich konnte nicht aufhören, konnte meinen Willen nicht kontrollieren. Was tat ich da eigentlich? Ich schrie, konnte nichts anderes machen.
Ich schlug mir die Hände vor den Mund, riss die Augen wieder auf, konnte aber immer noch nicht aufhören zu schreien.
Die Tür wurde aufgerissen und Sascha stürmte herein. Würde nach ihm auch noch der Mann in mein Zimmer stolpern? Würde er mich jetzt vergewaltigen? Nein, bitte Gott, lass das nicht zu! Ich hatte mein erstes Mal noch nicht gehabt, ich wollte nicht, dass es so ablief.
Ich holte Luft und schrie erneut. Krümmte mich. Warf den Kopf nach hinten.
Das Licht ging an. Ich hielt mir die Hände vor die Augen.
Schnelle Schritte. Jemand der mich in den Arm nahm. Ich schrie ihn an. Versuchte ihn wegzuschieben. Fast gelang es mir, doch dann zog er mich wieder näher. Hielt mich fest, ganz fest. Ich schrie immer weiter, wurde jedoch immer leiser, meine Stimmbänder beklagten sich über diese rüde Behandlung. Und plötzlich war da nur noch ein leises Schluchzen.
Meine Hände wurden mir vom Gesicht gezerrt. Ich riss wieder die Augen auf und schrie aus voller Kehle. Jemand klatschte mir eine. Ich verstummte, blieb ruhig sitzen, mit offenen Augen und starrte vor mich hin ohne etwas zu sehen.
Ich wurde geschüttelt. Mein Kopf flog nach vorne und nach hinten. Aber ich spürte es fast nicht. Mein Inneres schrie immer noch und mein Körper war in eine Starre verfallen, aus der ich nicht mehr heraus kam.
„Hey, hey Megan, wach auf! Verdammt, komm wieder zu dir! Ich bin es Sascha, Megan!“
Sascha? Nein, er war böse, ich musste weg von ihm, er hatte mich entführt! Er würde mich zur Prostitution zwingen, mich umbringen und mich in Mienenschächten arbeiten lassen.
Ich trat nach ihm, krümmte die Finger zu Krallen. Er versuchte mich festzuhalten, doch ich bäumte mich auf. Griff ihn immer wieder an. Er hatte deutlich Schwierigkeiten mich unter Kontrolle zu halten.
Und dann, plötzlich war kein weiches Bett mehr unter mir. Ich traf auf den harten Boden und die gesamte Luft wich aus meinen Lungen. Ich keuchte auf. Tränen liefen mir über die Wangen. Mein Schädel pochte ungesund.
Ich rollte mich auf den Rücken, runter von meinem rechten Arm.
„Oh Gott, Megan! Megan, hörst du mich? He, mach die Augen auf! Das ist nicht lustig! Megan!“
Ich wurde ein Stück hochgezogen, dann bettet Sascha meinen Kopf auf seinem Schoß. Panisch rieb er mir eine Hand über die Wange. Ich nahm das alles wahr, konnte aber nichts sagen. Doch meine Augenlieder flatterten und schließlich konnte ich sie öffnen. Ich sah ihn Saschas Gesicht, das sich besorgt über mich gebeugt hatte.
Seine Hand bewegte sich jetzt langsamer über meine Wange. Beruhigt dadurch, dass ich die Augen aufgemacht hatte.
Mit einer kraftvollen Bewegung zog er mich auf seinen Schoß und drückte meinen Kopf an seine Brust. Und plötzlich hatte ich die Kraft zum reden. „Mein Arm tut weh und… Und du hast mich umgebracht. Du hast mich erschossen. Ich hab es ganz genau gesehen.“
„Das war nur ein Traum.“, sagte Sascha beschwichtigend und strich mir über den Kopf. „Und was ist mit deinem Arm?“
„Er tut weh.“
„Das hab ich auch verstanden, aber warum?“
„Ich bin drauf gefallen.“
Ein Schatten fiel über uns. Das war der Mann! Das war ganz sicher der Mann, den ich auch schon im Traum gesehen habe!
Ich klammerte mich an Saschas Shirt fest und fing wieder an zu schreien, das Gesicht geborgen an Saschas Brust.
„Taylor!“, schrie Sascha seinen Bruder an.
„Was habe ich dann getan?“, fragte dieser total verdutzt.
„Ich weiß auch nicht, aber mach es nie wieder!“
Sascha drückte mich ganz fest an sich. Ich hörte auf zu schreien und wimmerte nur noch leise vor mich hin. Aus meinen geöffneten Augen liefen die Tränen.
„Hol bitte Sara, oder Paul, oder sonst jemanden, der sich mit Verletzungen auskennt und sag ihm er soll vorsichtig sein.“, wies Sascha seinen Bruder an.
Der Schatten verschwand und meine Atmung wurde gleichmäßiger. Sie war zwar immer noch stocken, aber nicht mehr ganz so unregelmäßig.
Einige Zeit saßen wir so da, Sascha mit mir im Arm. Mir fiel auf, er hatte seine normalen Klamotten an. Die, die er auch schon auf der Autofahrt angehabt hatte. Hatte er noch gar nicht geschlafen? Aber es musste doch schon ziemlich spät sein, wenn nicht sogar schon nächster Tag.
Sascha wiegte mich sanft hin und her. Es war einschläfernd und als Paul neben uns trat bekam ich es fast schon nicht mehr mit. Doch Sascha weckte mich sanft. „Megan, du musst aufwachen. Paul will dich untersuchen. Es tut dir keiner was, aber du musst aufstehen und dich zumindest aufs Bett setzen. Komm hoch.“
Sascha drückte von unten und Paul und Taylor zogen von oben. Mit dieser Hilfe gelang es mir aufzustehen und die paar winzigen Schritte bis zur Bettkante zu gehen.
Ich riss mich zusammen. Mein Arm schmerzte schrecklich und ich wollte, dass es so schnell wie möglich aufhörte.
Paul, ein älterer Spanier, mit kaum Falten im Gesicht, bat mich: „Kannst du bitte dein T-Shirt ausziehen, damit ich dich besser untersuchen kann?“ Mein Shirt ausziehen? Nein, dann würde der Mann kommen und mit mir schlafen, nein! Und Taylor und Sascha würden auch dabei sein, nein! Ich würde mich nicht ausziehen, niemals!
Ich rückte ein Stück von diesem Paul ab und sah panisch zwischen Sascha und Taylor hin und her.
Der Arzt- war er Arzt?- schien zu verstehen. Mit einer barschen Geste wand er sich an die beiden jungen Männer: „Raus mit euch! Sie ist total verstört in eurer Anwesenheit! Vor die Tür! Keiner von euch betritt dieses Zimmer, bevor ich es ihm nicht erlaubt habe und jetzt geht!“
Paul war nicht laut geworden, aber keiner der beiden widersetzte sich. Sascha warf zwar noch einmal einen unwilligen Blick über die Schulter, als er noch draußen auf den Flur trat, schloss dann aber brav die Türe hinter sich.
Mein Körper entspannte sich etwas.
In ruhigem, einfühlsamen Tonfall stellte Paul sich vor: „Hallo Megan. Mein Name ist Paul. Ich bin der Arzt in diesem Haus. Du brauchst also keine Angst vor mir zu haben. Ich will dich nur untersuchen und dir wenn nötig etwas gegen die Schmerzen geben. Bist du damit einverstanden?“ Ich nickte leicht mit dem Kopf. Langsam machte ich mich daran das Oberteil auszuziehen. Mit fast nur einem Arm war das gar nicht so leicht, aber es ging.
Paul beobachtete mich die ganze Zeit über, machte aber keine Anstalten mich zu hetzen.
Ich legte das lila T-Shirt neben mich.
Paul runzelte die Stirn. Er deutete auf meinen rechten Arm und meinte: „Was hast du denn da gemacht? Die Schrammen kommen nicht vom Sturz eben.
„Nein“, ich musste mich räuspern. „Die hab ich mir zugezogen, als ich weglaufen wollte. Hat leider nicht so geklappt, wie ich wollte.“
Der Arzt sparte sich jeden weiteren Kommentar und tastete vorsichtig meinen Arm ab. Wenige Minuten später stellte er klar: „Dein Arm ist nicht gebrochen, aber etwas geprellt, du solltest ihn so wenig, wie möglich bewegen. Ich werde dir einen leichten Verband drum machen und die Wunden mit etwas Salbe einreiben, dass sie schneller heilen können. Es wird auch nicht brennen.“ Er holte einen kleinen Tiegel hervor, von dem, sobald er geöffnet wurde ein scharfer Geruch nach Rosmarin ausging. Ich hielt so still es ging, während er die Paste über meinen ganzen Arm verteilte. Danach verband er ihn, vom Handgelenk bis zu meiner Schulter.
„So fertig. Siehst du, das war doch gar nicht so schlimm, oder? Jetzt möchte ich noch gerne deinen Kopf untersuchen. Ist das okay?“, vergewisserte sich Paul. Ich nickte.
Zuerst befühlte er ihn, genau wie er es bei meinem Arm gemacht hatte, dann leuchtet er mir mit einer kleinen Taschenlampe einmal in beide Augen. Er brummte immer wieder zufrieden und nickte fast unablässig vor sich hin.
Als er auch damit fertig war sagte er zu mir: „Also, mit deinem Kopf ist erst einmal alles okay. Solltest du jedoch öfters Schwindelattacken haben, dann sag mir Bescheid. Oder bei stärkeren Kopfschmerzen. Dann muss ich dich noch einmal genauer untersuchen. Aber ich gehe nicht davon aus. Ziemlich verstört siehst du noch aus. Möchtest du, dass ich dir etwas gebe, damit du in Ruhe schlafen kannst?“
Ich nickte nur. Von alleine würde ich wohl demnächst nicht einschlafen, aber mit Tabletten sicher.
„Und die lass ich dir auch nochmal da.“, Paul hob eine kleine Packung hoch, auf der stand: „Salbeibonbons, gegen Halsschmerzen und Heiserkeit“. Ich nickte, damit er merkte, dass ich es zur Kenntnis genommen hatte.
Der Doktor ging zu dem kleinen Tischchen, stellt da die Halspastillen ab und nahm den Becher, den Sascha zusammen mit dem Essen herauf gebracht hatte. Er ging mit ihm ins Bad und kam dann wieder. Er drückte ihn mir in die Hand und dazu noch eine halbierte Tablette. Ich schluckte sie und fast sofort wurde ich müde. Paul gab mir noch mein Schlafshirt, ich zog es über und legte mich dann wieder hin. Er strich mir kurz über den Kopf, wünschte mir eine gute Nacht und ging zur Tür. Er öffnete sie. Sascha riss sie ihm aus der Hand und wollte schon ins Zimmer stürmen, als Paul ihm eine Hand auf die Brust legte und ihn aufhielt. Störrisch sah er auf den Arzt hinunter.
Ängstlich hatte ich mir die Decke noch ein Stück höher gezogen.
Mit sanfter Gewalt schob Paul Sascha zurück und schloss leise die Tür.
Von draußen waren Stimmen zu hören. Ich verstand Fetzen davon, wie: „… leichter Schock. … schlafen. Und du auch. Kannst eh nichts ausrichten.“ Das war das letzte, was ich verstehen konnte. Die Stimmen entfernten sich, wurden leiser, dann fiel eine Tür ins Schloss.
Meine Augen fielen zu und ich schlief ein.


„Guten Morgen. Ich hoffe du hast nichts dagegen, wenn ich rein komme.“
Ich fuhr in meinem Bett hoch. Und sah mich verwirrt um. Sascha schloss gerade die Tür. Ich reagierte nicht auf das, was er gesagt hatte. Was hätte das auch schon geändert?
Da fiel mir auf, dass der Teller und der Becher vom Tischchen verschwunden waren. Es hatte ihn also jemand weggebracht, ohne dass ich es gemerkt hatte. Irgendwo in meinem Kopf tauchte die Frage auf: „Wer?“, war aber ganz schnell wieder verdrängt. Ich hatte meinen improvisierten Schlafanzug noch an, also war alles so weit in Ordnung.
Sascha hatte sich mittlerweile umgedreht und sah mich mit schief gelegtem Kopf an. Was mochte er wohl gerade denken?
Er hatte sich umgezogen. In der Nacht hatte er noch die Sachen von der Reise getragen. Jetzt trug er ein olivgrünes Kapuzen-Sweatshirt, mit irgendeiner Aufschrift darauf und Jeans.
Mein Blick verirrte sich zu dem Bürostuhl, auf dem ich meine Klamotten abgelegt hatte. Er war leer.
„Wo sind meine Sachen? Gestern lagen sie da noch. Wo sind sie? Ich will sie wieder haben!“, meine Stimme war schon nach diesen wenigen Sätzen am Versagen.
Sascha schien nicht sehr beunruhigt, aber es waren ja auch nicht seine Sachen. „Wahrscheinlich hat Sara sie zum Waschen mitgenommen. Das macht sie bei mir auch manchmal. Sie wird sie dir sicher wiedergeben.“ Er klang fast schon mehr als gleichgültig. Uninteressiert.
Langsam arbeitete ich mich aus meinem Bett. Schwang die Beine über die Kante und stand langsam, schwankend auf. Aber es war nicht wirklich schlimm. Ich konnte ohne Probleme auf Sascha und damit den kleinen Tisch zugehen. Ich nahm die Halsbonbons und steckte mir eines in den Mund. Dieses Zeug bewirkte Wunder. Kaum hatte ich angefangen zu lutschen, da fühlte sich auch mein Hals schon wieder besser an.
Sascha behielt mich die ganze Zeit über im Auge. Schien mich aufmerksam zu beobachten.
Aus dem nichts fing er an: „Wir werden heute nicht in den Garten gehen!“
„Was? Warum nicht?“, fragte ich ganz entsetzt. Ich hatte mich schon richtig gefreut.
„Einen Grund wird es für dich nicht geben. Ich sage, was gemacht wird, oder was nicht. Und du hast dich daran zu halten. Und wir werden heute nicht in den Garten gehen. Du bleibst in deinem Zimmer.“
„Das versteh ich nicht. Gestern hast du noch gesagt, dass das gar kein Problem ist und heute muss ich auf einmal in meinem Zimmer bleiben? Wo ist da die Logik?“
„Die Logik besteht darin, dass ich es sage.“
„Das ist doch nicht fair. Warum hast du dann gestern gesagt, wir können?“, ich verschränkte die Arme vor der Brust.
Sascha massierte sein Nasenbein mit Daumen und Zeigefinger. Er war deutlich schlecht gelaunt.
„Weil gestern gestern war! Und heute ist ein anderer Tag. Vielleicht hab ich heute Nachmittag bessere Nachrichten für dich. Aber ich habe letzte Nacht verdammt schlecht geschlafen, also strapazier meine Nerven nicht allzu sehr!“
Das erklärte wenigstens seine schlechte Laune. Ich widersprach auch nicht weiter und hoffte einfach, dass er vielleicht am Nachmittag mit mir raus gehen würde. Das klang ja fast wie ein Hund!
Unschlüssig stand ich da. Ich hätte mich ja umgezogen, aber mit Sascha im Zimmer? Keine Chance. Sascha machte einen Schritt auf mich zu. Ich wich zurück. Der Traum von letzter Nacht war noch allzu lebendig. Ich fühlte mich ja selber wie ein Angsthase, aber Angst muss nicht immer falsch sein. Ob sie es in diesem Fall war? Vielleicht.
Er lachte grimmig und sah dann nur noch stumm auf mich herunter. Ich sah zurück.
Irgendwie erinnerte ich mich selber gerade an ein Reh, das geblendet vom Scheinwerferlicht wie erstarrt stehen bleibt.
Es klopfte an der Tür. Mit einem leisen Knurren drehte Sascha sich um. Ich nutzte diese Gelegenheit und wich einige Schritte, wieder zum Bett, zurück.
Durch die Tür trat eine junge Frau. Vielleicht Anfang Zwanzig. Sie hatte ihr langes blondes Haar zu einem Knoten zusammen gebunden. Überall ragten kleine Strähnen heraus. Sie hatte ein rosa Top und einen fliederfarbenen Rock an. Er reichte ihr nicht ganz bis zu den Knien. Sie trug dazu Riemchensandalen in braun.
Sie schaute sich erst gar nicht im Zimmer um, sondern schloss wieder die Tür. Erst dann blickte sie sich einmal kurz um. Sie erblickte Sascha und runzelte die Stirn. Sie hatte in einer Hand eine Karaffe mit Wasser, in der anderen ein Glas, die sie jetzt auf den kleinen Tisch stellt.
Als sie die Hände frei hatte, stützte sie sie in die Seiten und trat dicht vor Sascha. Sie sagte: „Sascha, kannst du denn nicht einmal das machen, was man dir sagt?! Paul hat ausdrücklich gesagt du sollst ihr Zimmer nicht betreten, bevor er nicht sein okay gegeben hat. Also, was machst du hier?“
Die junge Frau sah kein bisschen bedrohlich aus, wie sie da, mit in die Seiten gestemmten Fäusten, stand und Sascha grimmig anstarrte.
Sascha ließ einen leisen Seufzer hören und antwortete ihr: „Ich halte mich nicht an die Regeln, das mach ich hier.“
„Und warum?“
„Ganz einfach, ich hatte ihr gestern gesagt, dass wir heute zusammen raus gehen können und jetzt geht’s doch nicht.“
„Gut, wenn du nicht gehen kannst, dann mach ich es.“
Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht.
Die Frau hatte sich dem Tisch zu gewandt und schenkte Wasser in das Glas ein. Damit kam sie zu mir rüber und drückte es mir in die Hand.
„Ich bin Sara, die Köchin hier. Wollen wir gleich, also nachdem du dich umgezogen hast, raus gehen?“, fragte sie mit einem breitem Grinsen im Gesicht. Irgendwie unschlüssig sah ich zu Sascha, aber der sagte nichts weiter dazu.
Ich nickte. „Gerne, wenn es sich einrichten lässt.“
„Klar, vormittags hab ich selten was zu tun. Ich würde mich freuen, wenn wir gehen.“
Das war also Sara, die Köchin, von der Sascha erzählt hatte. Ich hatte sie mir irgendwie anders vorgestellt. Da zeigt sich mal wieder, man sollte keine Vorurteile haben.
„Wir gehen dann gleich raus, damit du dich anziehen kannst. Ich warte vor der Tür. Und trink genügend.“ Während Sara das sagte, war sie zu Sascha gegangen und hatte ihn vor sich her aus dem Zimmer geschoben. Sie warf mir noch einen letzten lächelnden Blick zu und schloss die Tür. Einen Moment stand ich noch verdutzt da, dann trank ich das Glas in einem Zug aus.
Die Frau, die ja fast noch ein Mädchen war, schien keinerlei Angst vor Sascha gehabt zu haben. Und dabei hatte er wirklich gruselig ausgesehen. Sara war sogar noch kleiner als ich. Gut ich war auch nicht wirklich klein, aber mehr als einen Kopf kürzer als Sascha.
Ich würde wetten, dass Sara keine Chance gegen Sascha hatte, gut sowieso nicht, aber man kann ja wohl mal denken.
Also meine erste Theorie war, dass sie sich ihre Angst einfach nicht anmerken ließ, zweite sie hatte heute einfach so gute Laune, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, das Sascha schlechte hatte, oder dritte, sie kannte ihn so gut und wusste, dass er ihr nichts tat oder war mittlerweile daran gewöhnt und es beeindruckte sie nicht mehr. Was jetzt davon richtig war? Keine Ahnung. Aber irgendwas wird es schon gewesen sein.
Meine Füße tappten über den Parkettboden, als ich zur Karaffe ging und mir nach schenkte. Das Bonbon war aufgelutscht und ich hatte Durst. Das dritte Glas trank ich nur halb aus und ging dann zum Schrank, um mir etwas Frisches zum Anziehen zu holen. Ich würde Sara fragen, wann ich wohl meine Sachen wieder haben könnte. Aber so wie ich das verstanden hatte, waren sämtliche Sachen in dem Schrank sowieso für mich gedacht.
Dieses Mal sah ich in die Spiegel. Und sah schnell wieder weg. Augenringe zeichneten sich an und ich war etwas blass um die Nase. Ob das jetzt vom Traum oder von der Fahrt kam, wusste ich nicht. Und meine Haare hingen mir dazu wild ins Gesicht. Ich sah leicht verrückt aus. Ich würde sie mir gleich zumindest kämmen müssen, aber das tat niemandem weh, also warum nicht?
Aber zuerst die Klamottenfrage klären.
Sara hatte zwar einen kurzen Rock angehabt und die Sonne schien auch schon warm durch die Fenster in das Zimmer, aber ich nahm trotzdem eine lange Hose heraus. Dazu ein kurzärmeliges marineblaues T-Shirt. Ich zog die Sachen an und nahm mir dann noch Socken und zog auch meine Schuhe an. Danach ging ich ins Bad und bürstete mir, mit einer Bürste die ich in dem Schränkchen gefunden hatte, in diesem Schränkchen fand man aber auch alles was man zur Körperpflege braucht, die Haare.
Ich trat zurück ins große Zimmer, wo ich schon von weitem, wie erwartet, das Haargummi von gestern, auf meinem Bett liegen sah. Ich nahm es und band meine Haare wieder zusammen. Die ganze Zeit über summte ich vor mich hin, so gute Laune hatte ich.
Ich wollte gerade aus dem Zimmer gehen, da fiel mir ein, dass das Bett ja total unordentlich war.
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung, das konnte ich auch später machen, im Moment wartete Sara auf mich, dass wir nach unten gehen konnten.
Schnell trank ich noch das Wasser in meinem Glas aus, dann öffnete ich die Tür. Sara hatte sich an die Wand, neben der Tür gelehnt und betrachtete ihr Nägel. Als sie die Tür hörte, sah sie auf und sie lächelte. Ihre blauen Augen strahlten.
„Können wir gehen?“, fragte sie ganz aufgeregt. Ich nickte und schloss eilig die Tür. Dann nahm sie mich an der Hand und zog mich hinter sich her. Ihre Hand war kühl und ganz weich und fühlte sich zerbrechlich an.
Wir liefen zuerst eine lange Treppe hinunter. Plötzlich blieb sie auf einer Treppenstufe stehen und dreht sich zu mir um.
„Ich hab gar nicht gefragt, ob du etwas zu essen haben willst. Sollen wir noch schnell in die Küche gehen und was für dich suchen?“, fragte sie mit einem besorgten Unterton.
Ich schüttelte den Kopf und bedankte mich: „Danke, aber ich esse morgens nie etwas.“
Und wahrscheinlich, selbst wenn ich etwas essen würde, ich würde viel lieber nach draußen gehen als in die Küche. Und zwar so schnell, wie möglich, also fragte ich Sara, die immer noch da stand und mich an sah: „Können wir weiter gehen?“
Sara sah mich zu erst etwas erschreckt und dann leicht beschämt an. Kleinlaut nickte sie. Es schien ihr etwas unangenehm gewesen zu sein, dass sie sich hatte ablenken lassen.
Wir gingen weiter. Der Weg in den Garten kam mir deutlich kürzer vor, als der gestern in mein Zimmer. Wir gingen zwei Treppen hinunter, durch einige Flure, aber durch kein Zimmer. Links und rechts sah man zwar die Türen, doch Sara öffnete keine einzige von ihnen. Und dann waren wir in einem breiten Gang. Und am Ende konnte man schon die doppelseitige Glastür sehen, die hinaus auf eine Terrasse führte. Die Türen sahen aus, wie Haustüren. Nicht mit diesem Griff, den man immer drehen musste, um sie in einem bestimmten Winkel öffnen zu können, sondern mit einer Klinke, die man hinunter drückte und dann die Tür öffnen konnte. Und so eine waren die beiden Türen auch. Sara öffnete sie und wir traten hinaus in den warmen Sonnenschein. Die Sonne schien uns mitten ins Gesicht. Ich schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Ich wusste, dass hinter mir ein riesiges Haus aufragte, doch ich drehte mich nicht um, ich wollte gar nicht wissen, wie groß es war.
Einige Meter vor mir begann die Wiese. Saftig grünes Gras und fast überall sprossen Gänseblümchen. Die meisten waren rosa.
Ich dachte gar nicht erst nach sondern lief los. Einfach auf die Wiese zu.
Das Haus stand allem Anschein nach auf einem Hügel, dann das Gras führte einen Hang hinunter, den ich hinab raste, ohne zu bremsen.
Der Wind, der mir entgegen schlug, roch nach Blumen, Blättern und Morgentau. Er roch nach Freiheit. Ich lächelte melancholisch. Der Geruch machte mich glücklich und traurig zu gleich.
Von hinten ertönte ein Ruf: „Hey! Bleib stehen! Nicht so schnell!“ Ich achtete gar nicht auf Sara. Wenn sie nicht mitkam, dann war das ihr Problem.
Etwas zuckte durch meinen Körper. Etwas elektrisierendes. Eine wage Ahnung. Ich hatte das Gefühle, als würde mich jemand vom Haus aus beobachten. Als würde mich jemand anstarren.
Ich drehte mich um, meine Haare flogen mir vors Gesicht. Ich sah zwar noch eine schemenhafte Person, die einen Schritt zur Seite, vom Fenster weg machte, aber genaueres erkannte ich nicht.
Dies alles geschah im Bruchteil einer Sekunde. In der nächsten stolperte ich über meine eigenen Füße. Ich schlug der Länge nach hin und der Aufprall war so heftig, dass er mich allen Sauerstoff aus der Lunge presste. Ich blieb liegen. Mein Rücken und mein Kopf schmerzten.
Wer war das eben gewesen? Sascha? Dieser unbekannte Chef oder jemand ganz anderes? Wer auch immer es gewesen war, er

konnte mir durch einen bloßen Blick ein Prickeln, unangenehmer als tausende Nadelstiche, auf meiner Haut verursachen. Aber etwas in meinem Inneren sagte mir, dass es stahlblaue Augen waren.
Saras Gesicht tauchte über meinem auf, Sie wirkte kein Stück besorgt um mich. Stattdessen keifte sie mich an: „Vergeht eigentlich auch mal ein Tag, an dem du dich nicht verletzt?“
Ich setzte mich auf und zog mich an Saras Hand, die sich mir hilfsbereit entgegenstreckte, nach oben.
„Danke“, sagte ich ohne auf ihre Sticheleien von eben einzugehen. Was sollte ich auch sagen?
Zur Zeit schien es ja wirklich so, als würde ich mich permanent auf die Nase legen.
„Kannst du gehen?“, erkundigte Sara sich. Ich versuchte es. Aber mein rechtes Fußgelenk tat so weh, dass ich eigentlich nur humpeln konnte.
„Ähm…“, machte ich, doch Sara nickte, als wüsste sie ganz genau, was war. Okay, so schwer zu erraten war das auch nicht, bei meinem hilflosen Herumgehampel.
„Gut, dann würde ich vorschlagen, dass wir wieder reingehen.“, meinte Sara sachlich.
„Aber Sara. Wir sind doch gerade erst raus gegangen.“ Ich kam mir vor, wie ein kleines Kind, das unbedingt eine neue Puppe wollte.
„Benimm dich nicht wie ein Kleinkind und sei vernünftig!“, schalt mich Sara. Sie packte mich am Handgelenk und zog mich in Richtung Haus. Es ragte vor uns auf. Mindestens 5 oder 6 Stockwerke hatte diese Villa. Eigentlich war es mehr ein Schloss, als eine Villa. Es sah aus, wie eine Villa aus den Jane Austen Filmen. Groß und eindrucksvoll und bei diesem Wetter sehr hübsch.
Efeu rankte sich an der Wand empor. Die Fenster waren sauber, aber vor den ganz oben hingen schwere, dunkelrote Vorhänge.
Wir gingen rein. Sara lotste mich in einen Raum, der wohl die Küche war. Sie drückte mich auf einen Stuhl und holte ein Kühlpack, das sie mir auf meinen rechten Knöchel legte . Ich hatte ihn auf einem andere Stuhl abgelegt. Sara zog sich einen dritten heran.
Wir saßen da und redeten nicht. Plötzlich fragte sie: „Hattest du denn eine gute Reise?“ Ob meine Reise hierher gut war? Aber sicher. Ich war ja auch nur entführt worden. Es war der erste Tag gewesen, an dem ich ohne Bodyguards unterwegs war. Ich hatte mich gefreut, sogar sehr. Aber schon wenige Meter von unserer Haustüre entfernt hatte ich es bereits wieder bereut meinen Vater dazu überredet zu haben.
In der Kurve, die unser Haus von den Blicken der Anderen abschirmte, stand ein roter VW-Bus.
Die Schiebetür des Wagens öffnete sich, als ich gerade daran vorbei gehen wollte. Und ich naive Nudel bin einfach weiter gegangen. Der wohl dümmste Fehler in meinem ganzen Leben. Und ich hatte viele dumme Fehler begangen.
Sobald ich an der Autotür vorbei kam, hatten sich Arme nach mir ausgestreckt, mir ein in Chloroform getränktes Tuch vors Gesicht gehalten, mich ins Innere des Wagens gezogen und mir Handschellen angelegt. Das Letzte was ich noch mitbekommen hatte war der startende Motor. So nah am Haus und doch kam jede Hilfe zu spät. Bei diesem Gedanken fröstelte es mich.
Erst in diesem Lagerhaus, mit dem flackernden und kalten Licht, war ich wieder aufgewacht. Da saßen schon einige neben mir, aber die Meisten waren erst später gekommen. Das Mädchen auch. Sie war die letzte, die dorthin gebracht worden war. Und sie war die Erste, die auch wieder gegangen war.
Ach und meine Fahrt war in einer Limousine weiter gegangen und mit Schlägen und mit der missglückten Flucht...
„Nein, eigentlich nicht. Und was ist mit dir? Bist du freiwillig hier?“, stellte ich die gegen Frage.
Mit einem strahlenden Lächeln antwortete sie: „Ja, ich bin eine ganz normale Angestellte. Meine Mama hat schon hier gearbeitet und davor ihre Mutter, also meine Großmutter, und so weiter. Es ist Tradition bei uns und deswegen weiß ich auch über die Entführungen Bescheid. Du bist nicht die Erste, die er mit hierher gebracht hat, weißt du? Aber in dich scheint er große Hoffnungen zu haben. Nicht so wie bei den anderen. Die haben ihn alle nicht interessiert. Ach Gottchen, jetzt plapper ich schon wieder zu viel.“ Verlegen hielt Sara sich eine Hand vor den Mund.
Da fiel mir wieder ein, dass ich ja ganz wo anders hingebracht worden war, als die restlichen Gefangenen. Warum eigentlich? Unterschied ich mich in irgendwas von den Anderen? Außer, dass ich niemanden gekannt hatte, fiel mir nichts ein. Aber dieses Mädchen hatte auch niemanden gekannt.
Aber um Lösegeld, so beschloss ich, konnte es nicht gehen, denn sonst hätte es gar keinen Sinn gemacht, mich von dem Rest zu trennen. Aber was war es dann?
Das Einzige, was mir noch einfiel, in dem ich nicht genauso war, wie die Anderen war das Alter. Ich war deutlich jünger als die Meisten. Dieser Stolze war vielleicht nicht ganz so viel älter, aber trotzdem mindestens vier Jahre.
Ich griff mir an den Kopf. Das ergab doch alles keinen Sinn.
Ich starrte vor mich hin. Irgendwo musste es doch was geben, was mir helfen konnte.
„Was ist los Megan?“, fragte Sara besorgt.
Ausdruckslos sagte ich: „Warum bin ich hier?“ Flehend sah ich zu der Köchin auf, die aufgestanden war und aufmerksam den Kopf drehte, so als erwarte sie, dass jemand um die Ecke biegen könnte, der unser Gespräch belauschte hatte. Als würde sie etwas Verbotenes tun. In mir glomm schon die Hoffnung auf, sie würde es mir sagen. Mir die Antwort auf meine Frage geben, doch sie schüttelte den Kopf und sagte: „Tut mir leid. Ich darf es dir nicht sagen. Und ich rate dir: Frag nicht weiter.“
Sie sah zu Boden. Etwas Trauriges war in ihrer Miene zu erkennen. Und etwas in mir sagte, dass sie es nur gut meinte und dass ich ihren Rat mit allen Mitteln beherzigen sollte.
Ich nickte, senkte den Kopf und sah auf meine Finger, die mit dem Saum des T-Shirts spielten.
Da fiel mir wieder das Gespräch ein, das ich mit Sascha im Auto geführt hatte. Ich hatte ihn gefragt, ob er eine Freundin hat. Er hatte nein gesagt. Doch jetzt hatte ich ihn mit Sara gesehen und in meiner Fantasie klang es nicht mehr glaubwürdig, was er gesagt hatte.
„Bist du mit Sascha zusammen?“ Sara hatte mir bis jetzt immer die Wahrheit gesagt und obwohl ich sie erst seit vorhin kannte vertraute ich ihr schon deutlich mehr als zum Beispiel Jonas. Auch wenn ich mit ihm zusammen gewesen war, er war nie wirklich jemand Wichtiges in meinem Leben gewesen. Unsere Beziehung war vielmehr auf Drängen unserer Väter entstanden und Jonas hatte mich oft belogen. Schließlich hatte ich mich dann doch dazu durchgerungen, mit ihm Schluss zu machen. Noch an dem Abend hatte er mir eine Predigt darüber gehalten, was ich alles falsch machte und wie gedankenlos und undankbar ich war. Aber das war mir ziemlich egal gewesen. Klar, es hatte wehgetan, aber er meinte es ja nicht wirklich böse. Er war alleinerziehender Vater, da konnte man nicht die verständnisvolle Mutter, die es eh nie gegeben hatte, ersetzen. Und zudem verstand ich ihn ja. Meine Beziehung mit Jonas hatte gewisse wirtschaftliche Vorteile für ihn bedeutet. Aber ich wollte nicht unter seinen Freuden leiden.
Oh man das klingt jetzt voll so, als wäre mein Vater ein schlechter Vater, aber das war er nicht. Ich war mir sicher er würde sobald er merkte, dass ich weg war, was so in einigen Tagen sein dürfte, er war mal wieder auf Geschäftsreise, die Polizei verständigen und bestimmt auch einen Privatdetektiv beauftragen, mich zu suchen. War nur die Frage, wann er wieder kam. Das konnte man bei ihm nie so genau wissen. Egal, ich kam auch ohne ihn zurecht und ich hatte ja auch noch meinen Bruder Marc. Er war der eigentliche Lichtblick in meinem Leben.
Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich erst jetzt merkte, dass Sara lachte. Sie schien die Vorstellung sehr erheiternd zu finden. Irgendwie verdutzte mich das.
Schon mit Lachtränen in den Augen fragte sie: „Wie kommst du denn darauf?“
Ich zuckte mit den Schultern. Ich konnte ja wohl auch schlecht sagen: „Weil du keine Angst vor ihm hast.“ Wie kommt denn das rüber? Wahrscheinlich so, als wäre ich nicht ganz klar im Kopf.
Sara nahm es mit Humor: „Nein, ich war nie mit ihm zusammen. Obwohl es schon ein verlockender Gedanke ist.“
Sie kicherte immer noch vor sich hin.
„Was ist ein verlockender Gedanke?“ fragte plötzlich jemand Unbekanntes, den ich bis dahin noch nicht bemerkt hatte.
Ich schrie fast vor Schreck. Meine Beine und Arme flogen unkontrolliert durch die Luft und ich fiel fast vom Stuhl. Das Kühlpack segelte in Richtung Tür davon. Ich sah ihm hinterher. In der Tür stand Jemand. (Wer hätt's gedacht? Seid ehrlich. Jeder von euch.) Ein junger Mann. Er hatte blonde Haare mit Strähnchen und eine Surfer-Frisur. Dieser Typ achtete sehr genau auf seine Haare. Bestimmt machte er sich jeden Tag eine Kur rein.
Ich schätzte ihn auf ein bisschen älter als Sascha, aber er war etwa einen halben Kopf kleiner als er. Dies alles fiel mir in Bruchteilen einer Sekunde auf.
Mit einer Hand fing er lässig das Kühlpack auf.
Lächelnd kam er auf uns zu. Er streckte mir das Kühlpack hin. Ich nahm es und brachte mit immer noch vor Schreck rasendem Herz ein: „Danke.“, heraus.
Mit vor der Brust verschränkten Armen blieb er vor mit stehen. Er schien es gar nicht zu merken, aber mir fiel es auf. Dadurch wie er da stand drängte er Sara weiter weg von mir. Ein schlechtes Zeichen. Nicht dass er mir sowieso schon auf seine Weise unsympathisch war, er setzte falsche Zeichen. Zeichen der Überlegenheit oder Überheblichkeit oder beides. So ganz sicher war ich mir da noch nicht.
Unbehaglich knete ich das Kühlpack, das ich immer noch in den Händen hielt.
Einige Zeit sah mich dieser Typ an und ich das Kühlpack. Dann brach er das Schweigen: „Du bist also Megan. Interessant, ich hatte dich für älter gehalten. Aber so kann ich auch meinen Spaß an dir haben.“ Spaß an mir haben? Was sollte denn das bedeuten? Der Typ war doch wohl nicht scharf auf mich? Doch sein Blick sagte mir, er war es.
„Phil, das reicht! Pass auf, dass du nicht zu weit gehst“, Sara klang sehr verunsichert und ihre Worte machten keinerlei Eindruck auf diesen Phil.
Er stützte sich zu beiden Seiten meines Kopfes an der Stuhllehne ab und beugte sich hinunter zu mir.
Er roch nach... Waschmittel. Es roch süß, war aber zu penetrant, als dass es angenehm hätte sein können. Ich mochte es nicht. Und ich mochte ihn nicht.
Mir verschwörerisch zuzwinkernd sagte Phil: „Soll ich dir mal mein Zimmer zeigen?“
Konnte dieser Typ denn gar keine Körpersprache lesen oder war er einfach nur dermaßen ignorant, dass er die klaren Zeichen, die ich versuchte zu setzen, nicht verstand?
„Nein, ich bleibe lieber sitzen.“, ich musste schlucken. Er machte mich extrem panisch, wie er mich so ansah... Da konnte es einem nur noch grauen.
„Komm zier dich nicht so. Ich trage dich auch nach oben.“
„Ich will aber nicht!“ Das wurde mir eindeutig zu heikel. Ich stand auf, wollte etwas Abstand zwischen mich und ihn bringen und vor allem zurück zu Sara. Doch Phil stellte sich vor mich und versperrte mit seinen doch etwas breiten Schultern den Weg zu Sara.
„Das wird lustig und jetzt zick nicht weiter herum.“, er klang ungeduldig. Das war ja fast wie in meinem Traum und genauso schrecklich. Ich wollte nicht mit ihm auf sein Zimmer gehen. Was dort geschehen würde, wusste ich jetzt schon, ohne dass er es näher erklären musste. Er wollte mit mir schlafen, aber ich wollte das nicht und das verstand er einfach nicht. Oder viel mehr war es ihm einfach egal. Er wollte seinen Willen durchsetzen und dachte wahrscheinlich, dass ein kleines Persönchen wie ich ihn da bestimmt nicht dran hindern würde. Das würden wir ja sehen. Aber ganz ehrlich, ich rechnete mir keine hohen Chancen aus, zumindest nicht dann, wenn er versuchen würde mich gewaltsam mit auf sein Zimmer zu nehmen. Das klang jetzt übertrieben theatralisch, aber dafür konnte ich ja nichts.
„Hast du nicht gehört? Sie möchte nicht, also lass sie in Ruhe und such dir ein anderes Opfer!“, verteidigte mich Sara. Sie versucht ihn von mir weg zu schieben, aber er bewegte sich kein Stück. Aber es musste doch jemanden geben, der mir helfen konnte. Und wenn ich nach Sascha rief? Würde er kommen, mir helfen? Würde er mich überhaupt hören? Aber wenn ich es nicht versuchte würde ich es nie wissen.
„Geh mir aus dem Weg! Sascha!“, beim ersten Mal rief ich noch nicht so laut, aber beim zweiten Ruf schrie ich so laut ich nur konnte. „Saschaaa!“
Phil schlug mir die Hand vor den Mund und unterdrückte jeden weiteren Schrei. Dann packte er mich am Arm, drehte sich mit mir um. Er war tierisch grob. Zu Sara zischte er: „Kein Wort zu niemandem, sonst knallts!“
Aber sie dachte nicht daran still zu sein. Im Gegenteil. Sie half mir und schrie nun auch. „Sascha, schnell! Sascha!“
Ihre Stimme war vor Panik ganz hoch. Sie zerrte an Phils Arm. Auch ich stemmte mich gegen seinen Griff, aber er war beinahe einen Kopf größer als ich und sehr kräftig. Doch zu zweit machten wir ihm wenigstens das Leben schwer.
Einige Sekunden rangen wir mit einander, dann segelte Sascha durch die Küchentür, erfasste mit einem Blick die Lage, machte einige schnelle Schritte auf Phil zu. Dieser ließ mich los. Schnell nahm mich Sara in die Arme. Das sah bestimmt komisch aus, immerhin war ich ein Stückchen größer, als sie, aber das war egal.
Sascha ging weiter auf diesen Perversling zu, scheuchte ihn immer weiter nach hinten, bis er schließlich mit dem Rücken an der Wand stand. Sascha baute sich vor ihm auf, Phil wurde immer kleiner und kleiner. Duckte sich unter der Aggression, die Sascha ausstrahlte.
Einen Moment sahen die beiden sich nur an. Dann holte Sascha aus und... legte Mittel- und Zeigefinger an den Oberarm von Phil. Man hörte es leicht knacken. Phil schrie auf und hielt sich den Arm.
Was war da eben geschehen? Es war alles so schnell gegangen. Sascha hatte Phil nur ganz leicht am Arm berührt und er schrie, als wäre er gebrochen. Und was war das Knacken gewesen? Was sein Arm vielleicht doch gebrochen? Aber wie war das möglich? Egal, das war erst einmal unwichtig. Dazu konnte ich Sascha später auch noch befragen.
Sascha trat einen Schritt zur Seite und Phil rannte an ihm vorbei aus der Küche. Ob er jetzt wohl zu Paul gehen würde? Ich meine, wenn ihm der Arm weh tut, dann war das vielleicht ganz gut, oder nicht?
Ich hatte das ganze Geschehen mit offenem Mund verfolgt, jetzt drehte ich mich um und klammerte mich an Sara. Sie stand da und hielt mich fest. Ich schluchzte. Nachdem alles vorbei war, brach die ganze Anspannung aus mir heraus. Ich weinte und fühlte mich so schwach und erbärmlich, wie noch nie zuvor.
Aber es war doch alles gut gegangen. Warum heulte ich denn dann hier rum? Mir war nichts passiert und trotzdem fühlte ich mich schrecklich. Das waren wohl die Hormone.
Sanft schob Sara mich ein Stück von sich weg. Ich wischte mich die Tränen weg.
„Bist du okay?“, fragte Sascha von hinten. Ich nickte und drehte mich langsam zu ihm um. Er strich sich gerade durch die Haare. Er sah ehrlich besorgt aus, aber als er mir ins Gesicht sah, entspannte er sich ein wenig.
Von der Tür her war plötzlich ein Geräusch zu hören und eine Bewegung zu sehen.
Wir drehten alle unsere Köpfe und da stand mein Bruder Marc. Leicht keuchend, als wäre er gerade unzählige Treppenstufen hinauf oder hinunter gerannt.
Ungläubig sah ich ihn an. Musste mir eine Hand vor den Mund halten, um nicht meine Überraschung hinauszuschreien.
Aber er stand da wirklich und er sah mich an. Sah mir in die Augen und fragte: „Was war denn hier los? Megan, warum hast du so geschrien? Und was hatte Phil hier zu suchen? Ich bin ihm eben auf dem Gang begegnet.“
Ich konnte ihn nur anstarren. Mir wurde schlecht. Was machte er hier? Gehörte er mit dazu? Was wollten die von mir?
Aber andererseits war ich so unendlich froh ihn zu sehen. Ich wollte ihn in den Arm nehmen, mir einreden, dass alles Gut werden würde, jetzt da er da war. Aber Marc schien kein bisschen überrascht zu sein mich hier zu sehen und das hielt mich davon ab zu ihm zu rennen. Doch nach der ersten Schockstarre konnte ich nicht anders, ich musste ihn einfach in den Arm nehmen. Beinahe schien es so, als wollte Sara mich nicht gehen lassen. Sachte hielt sie mich fest, aber ich ging weiter und sie ließ mich.
Liebevoll nahm mich mein Bruder in den Arm, legte seine Wange auf meinen Kopf und es schien, als wollte er mich nie wieder loslassen und ich genoss dieses Gefühl der bedingungslosen Liebe. Auch wenn ich im Hinterkopf immer noch nicht wusste, was das zu bedeuten hatte. Ich würde es herausfinden.
„Sascha, bitte, sag, was ist hier vorgefallen?“, fragte Marc. Etwas in seiner Stimme ließ mir einen Schauer über den Rücken jagen. Prompt machte ich mich von ihm los und ging etwas auf Abstand. Verwirrt und wütend sah ich ihn an. Er kannte Sascha. Er sprach ihn mit Namen an. Er musste mit drin hängen.
„Marc. Was machst du hier? Was hat das alles zu bedeuten?“, meine Stimme zitterte. Sara wollte mir einen Arm um die Schultern legen. Ich schüttelte ihn ab. Ich konnte sie wirklich gut leiden, aber ich brauchte jetzt etwas Platz für mich selbst.
Ich funkelte meinen Stiefbruder an. Unbehaglich rang er mit den Händen.
Er fing an: „Was soll ich sagen? Ich wohne hier. Seit dem ich ausgezogen bin. Ich pendle zwischen hier und Zuhause. Hier ist meine Arbeit. Ich weiß auch nicht. Ich bin da irgendwie rein geraten. Und jetzt... Es ist das Leben, das ich führe und das ich auch weiterhin führen will. Ich werde gut bezahlt und habe flexible Arbeitszeiten.“
„Es werden Menschen entführt und du willst mir sagen, dass du damit zu tun hast? Das ist nicht dein Ernst. Warum hast du nicht früher was gesagt?“
„Wann denn? Während dem Abendessen mal so neben bei? Wie stellst du dir das vor?“
„Nein, aber als ich hier angekommen bin zum Beispiel! Du hast keine Ahnung, was für eine Angst ich manchmal hatte. Wie konnte ich mich nur so in dir täuschen. Ab heute bist du nicht mehr mein Bruder, sondern nur ein Fremder, mit dem ich Jahrelang zusammen gewohnt habe und nie wirklich kannte!“
„Megan, bitte lass es mich dir erklären. Ich hatte das doch auch alles nicht so gewollt. Ich bin hier auch nur durch Zufall hinein geraten und deine Entführung hatte ich auch nicht gewollt. Ich habe mich nur einmal kurz verplappert und schon... Schon ist mein Chef auf diese Idee gekommen. Es war unmöglich ihn umzustimmen und ich stelle mich nicht gegen ihn.“
Ich konnte nur fassungslos den Kopf schütteln. Er erzählte mir allen Ernstes, dass er von dieser Entführung gewusst hatte.
„Ich verabscheue dich!“, schrie ich ihn an, doch er reagierte fast gar nicht. „Und dein Chef soll bleiben wo der Pfeffer wächst! Ich werde gehen, auf der Stelle!“
„Megan. Megan, jetzt bleib stehen. Du kannst hier nicht einfach so raus- und reinspazieren, wie es dir gefällt.“, versuchte mich Marc aufzuhalten, als ich in die Richtung, in der ich mein Zimmer wusste, davon gehen wollte.
Ungehalten sagte ich: „Reinspazieren wollte ich eh nie! Und dieser Chef, von dem ihr da sprichst, der kann mich mal!“
„Rede nicht so über ihn! Das steht dir nicht zu!“
„Aber ihm steht es zu, mich hier gefangen zu halten? Ich glaube, du hast sie nicht mehr alle.“
Marc hob seine Hand. Kurz wollte ich zurückzucken, doch dann dachte ich mir, sollte er mich doch schlagen, wenn er wollte. Er war nicht mehr mein Bruder. Er war ein Verräter.
Und es sah wirklich so aus, als hätte er vorgehabt mich zu schlagen, doch bevor er es zu Ende bringen konnte, stand Sascha zwischen mir und ihm.
Marc machte große Augen, aber Sascha sagte nur ruhig: „Ich denke, sie muss das erst einmal auf sich wirken lassen. Ich schlage vor, ich bringe sie in ihr Zimmer.“
Es wäre mir lieber gewesen, ich hätte den Schlag bekommen und es wäre alles auf einmal geklärt gewesen, aber so... Und vor allem, wenn Sascha mich brachte, dann würde er mich wahrscheinlich auch nicht gehen lassen. Ich würde es trotzdem versuchen. Aber ich wusste doch noch nicht einmal, wo ich war. Verdammt!
Ich würde wohl noch etwas hier bleiben müssen, aber vielleicht konnte ich ja Sara dazu bringen mir etwas zu sagen oder sich zu verplappern. Fies, ich weiß und es tat mir auch Leid, aber ich wollte nach Hause zu... Eigentlich hatte ich keinen wirklichen Grund mehr nach Haus zu wollen. Sei es drum, hier zu bleiben war auf jeden Fall keine Lösung.
Sascha legte mir beide Hände auf die Schultern und dirigierte mich in mein Zimmer. Erst als er die Türe ins Schloss schob, bekam ich wieder richtig was mit.
Noch bevor ich irgendetwas machen konnte, nahm mich Sascha in den Arm. Umschlang mich und hielt mich fest. Gab mir den Halt, den ich selber nicht mehr hatte. Ich ließ es geschehen, bekam es eigentlich gar nicht richtig mit.
Gegen seine starke Schulter murmelte ich: „Er hat mich verraten. Warum hat er das gemacht?“
Sascha streichelte mir über den Kopf. „Es war nicht seine Schuld.“
„Was wollt ihr von mir? Warum bin ich hier? Hat es was mit meinem Vater zu tun?“, versuchte ich in Erfahrung zu bringen. Doch Sascha blockte natürlich wieder ab. „Megan, so sehr ich dir auch helfen will, ich kann es nicht. Ich bitte dich noch einmal darum, nicht mehr zu fragen.“
Ich sackte noch mehr in mir zusammen und wollte sofort auf Abstand zu Sascha gehen. Er blieb an der Tür stehen, während ich mich wieder vor eines der riesigen Fenster setzte und in den Garten dort unten sah. Mein Blick verschwamm. Warum hatte Sascha mich eigentlich eben in den Arm genommen und mich anscheinend versucht zu trösten? Es war doch nur seine Aufgabe gewesen mich zu entführen. Oder steckte mehr dahinter? Ein persönliches Anliegen? Befehl von oben? Und wenn warum? Ich meine ich war eine Gefangene wer kümmerte sich da schon um den psychischen Zustand? Normalerweise doch keiner, oder? Aber es war sowieso einiges an dieser Entführung komisch. Schon allein, wie vertraut Sascha mit mir umging, machte einen stutzig. Ich sollte lieber dankbar sein, dass er mich nicht erschoss oder mir sonst etwas antat sondern wenigstens versuchte, sich um mich zu kümmern.
Als ich noch einmal zu ihm sah, hatte er sich halb weggedreht und fuhr sich, wiedereinmal, durch die Haare. Diese Geste hatte er nun schon so oft gemacht, dass sie ein Teil von ihm war.
Auf einmal verlangte es mich nach Musik. Sie half mir beim Abschalten und nachdenken. Ob ich ihn wohl mal fragen sollte, ober er irgendwo ein Radio bzw. einen CD-Spieler auftreiben konnte? Warum eigentlich nicht? Ich meine es ging ja nicht um meine Entführung.
Ich versuchte es einfach. „Sascha, kannst du es vielleicht einrichten, dass ich etwas Musik hören kann?“
Im ersten Augenblick sah er mich nur ausdruckslos an und ich dachte schon er würde nein sagen, doch dann nickte er langsam. Er drehte sich um und ging. Während er weg war, versuchte ich möglichst wenig nach zu denken. Mir war immer noch schlecht. Ich hatte plötzlich gar nicht mehr die Kraft, irgendwelche Fluchtpläne zu schmieden. Und auf einmal war mir das Sitzen auch zu anstrengen und ich ließ mich langsam nach hinten fallen. Ich schloss die Augen und hoffte, dass, wenn ich sie wieder öffnete, ich feststellte, dass das alles nur ein Traum gewesen war, genauso wie in den schlechten Büchern, die mir meine Tante immer schenkte. Da passierte dann immer etwas Unglaubliches, dann ist die weibliche Hauptperson kurz davor zu sterben und erwacht prompt in ihrem Bett und hinterher stellt sich heraus, dass sie das alles doch nicht geträumt hat und unsterblich in einen Feenprinzen verliebt ist, der sie heiraten will. Ungefähr so gehen die meisten Geschichten, die ich habe.
Vielleicht hatte ich ja Glück und bei mir war es auch einfach ein schrecklicher Traum. Ohne das Happyend am Schluss, denn ich war nicht verliebt und hier gab es weit und breit keinen Feenprinzen. Das hoffte ich zumindest inständig, aber das war vollkommen absurd. So etwas gab es nur in Büchern und so sollte es auch gefälligst bleiben.
Als Sascha wieder eintrat, hatte ich mich zu einem kleinen Ball auf dem Boden zusammengerollt. Ich sah auch nicht auf. Ich hörte nur wie er etwas schweres, vermutlich die Musikanlage abstellte und dann leicht scheppernd die CDs daneben ablegte.
Mit einem Mal kam mir ein Gedanke. „Trägst du eigentlich eine Waffe, wenn du hier im Haus bist? Oder draußen? Oder nur wenn du Leute entführst?“, nuschelte ich in meine Hände.
Einen Moment blieb es still, dann sagte er: „Ich beantworte dir deine Frage, wenn du mir auch ein beantwortest.“
„Kann ich machen. Aber es kommt ganz auf die Frage drauf an.“ Ich hatte mich immer noch keinen Zentimeter bewegt.
„Dieses Mädchen, das war gar nicht sie, die wusste, woher wir kamen, hab ich Recht?“
Ich nickte.
„Und warum hast du es ihr gesagt und nicht selber?“
Diese Frage verwirrte mich dann schon ein wenig. Ich dachte etwas darüber nach und kam schließlich zu einer Antwort. „Ich denke, da ich ohne Mutter aufgewachsen bin, hab ich vielleicht ein etwas stärkeres Muttergefühl als andere. Sogar jetzt schon.“
Mit einem Mal bekam ich schreckliche Kopfschmerzen. Sie pochten hart gegen meine Schläfen. Ich stöhnte, das konnte ich jetzt echt nicht gebrauchen.
Schritte waren zu hören und dann ließ sich Sascha neben mir in die Hocke sinken. Er fasste mich an der Schulter und richtete mich ein aufrechte Position.
„Du bist ganz blass. Bist du okay Megan?“, in seiner Stimme lag ernste Besorgnis.
Etwas unwillig sagte ich: „Ja, ich hab nur etwas Kopfschmerzen. Das geht bald wieder vorbei. Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“
Sascha runzelte immer noch die Stirn, sagte aber: „Ich trage immer eine Pistole bei mir. In einem Holster, selbstverständlich. Und warum lagst du eben am Boden? Das ist doch viel zu kalt.“
Ich sagte ihm die Wahrheit. „Ich dachte, wenn ich die Augen zu mache, dann wache ich Zuhause in meinem Bett wieder auf und alles ist vergessen.“
Verwundert sah Sascha auf mich herunter, wie ich da mit hängenden Schultern und hängendem Kopf da saß und am liebsten einfach nur noch geheult hätte.
Tröstend meinte Sascha: „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin dafür da, dass dir nichts geschieht. Keiner will dir wirklich böses.“
„Warum sagst du mir dann nicht, warum ich hier bin?“ Gleich, gleich würde ich wieder das weinen anfangen.
Theatralisch seufzte Sascha. Und dann wollte er doch tatsächlich einen Kompromiss mit mir eingehen. „ Hör mal. Ich werde meinen Chef fragen, wie viel ich dir erzählen darf, wenn du mir erzählst wie das mit deiner Mutter ist. Du meintest, du bist ohne sie aufgewachsen, warum?“
Ich schluckte. Das konnte ich ihm unmöglich sagen. Vor allem konnte ich mir ja auch nicht sicher sein, dass er mir etwas verraten durfte. Er hatte ja nur gesagt, dass er mal fragen würde. Noch einmal schluckte ich hart gegen den Kloß an, der sich in meinem Hals gebildet hatte, dann sagte ich, mit gesenktem Blick: „Ich habe bis jetzt mit niemandem darüber gesprochen. Ich weiß es soll helfen, aber ich bring es einfach nicht über mich. Und außerdem habe ich mich damit abgefunden es für mich zu behalten.“
Verständnisvoll nickte Sascha. „Ist sie tot?“, fragte er dann. Ich schüttelte den Kopf. Er hatte mich so direkt gefragt, dass ich am liebsten mit allem heraus geplatzt wäre. Ich entschied mich dafür ihm die nüchternen Fakten mitzuteilen. „Sie hat mich geschlagen und mein Vater hat sie dann rausgeworfen.“
„Einmal, oder mehrmals?“
„Was?“
„Dass sie dich geschlagen hat.“
„Jahrelang.“
„Oh!“
Ich nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. Da fiel mir ganz unerwartet wieder das ein, was Sara vorhin gesagt hatte. Ich sei nicht das erste Mädchen und Sascha hätte große Hoffnungen in mich. Oder wie sie das ausgedrückt hatte. Und ich interessierte ihn? Hatte ich mir das richtig gemerkt? Ich glaube ja.
„Was ist mit den Mädchen passiert, die vor mir hier waren? Und sollte dieses Mädchen auch hierher gebracht werden? Aus der Lagerhalle, das Mädchen.“, fragte ich gleich einmal nach.
Sascha sah mir fest in die Augen und meinte trocken: „Sara hat geplappert. Aber du hast recht, sie sollte eigentlich auch mit herkommen, aber jetzt ist sie ja Zuhause. Und das hat sie dir zu verdanken.“
„Und was ist mit den Vorherigen?“, hakte ich mit etwas mehr Nachdruck nach. Sascha sah mich weiter ausdruckslos an.
„Einige haben den psychischen Druck nicht ausgehalten. Einige sind zusammengebrochen, sodass ich sie wieder nach Hause geschickt habe. Andere haben sich in mich verliebt und wollten gar nicht mehr gehen. Aber schlussendlich sind alle wieder nach Hause gegangen.“
„Kann ich dann nicht auch nach Hause?“
„Nein, noch nicht.“
„Kann ich denn überhaupt irgendwann wieder zurück?“
„Ich weiß es nicht.“
Er hatte so ausdruckslos über die anderen Mädchen geredet und dass sich auch einige in ihn verliebt hatten. Interessierte es ihn denn gar nicht, was andere fühlten?
Ohne dass ich ihn gebeten hatte fuhr Sascha fort: „Das Mädchen, aus der Lagerhalle... Ich habe sie deswegen gehen lassen, weil sie neben dir falsch wirkte. Ich hoffe, dass du die bist, die ich suche.“
Das klang ja fast wie eine Liebeserklärung. In meinem Nacken stellten sich alle Härchen auf, bei diesem Gedanken. Sascha war ja wirklich süß. Aber schöne Menschen sind zum Anschauen, nicht zum Verlieben und ich hatte mich bis jetzt sehr genau daran gehalten. Gut, Jonas war nicht hässlich aber ich war auch nie wirklich in ihn verliebt gewesen. Und sowieso hatten sich die coolen Leute von meiner Schule noch nie für mich interessiert.
Es klopfte kurz und energisch an der Tür. Paul trat einige Schritte ins Zimmer und sah uns einen Augenblick lang an. Jetzt bei Tageslicht sah ich ihn mir das erste Mal richtig an. Er war recht alt, hatte aber eine sehr gute Haltung. Wie die Tänzer sie haben. Ob ich ihn wohl fragen sollte, ob er tanzte? Wenn, dann später, im Moment sah er nicht wirklich fröhlich aus. Eine steile Falte hatte sich zwischen seinen braunen, spanischen Augen gebildet. Mein Blick wanderte zu seinen Haaren. Sie waren weiß vom Alter, aber voll. Ob ich auch so volles Haar haben würde, wenn ich in seinem Alter bin?
Was mir in der Nacht gar nicht aufgefallen war, dass er einen kleinen, sehr gepflegten Schnauzer hatte. Jetzt, inzwischen war er nicht mehr überwältigend schön, aber ich wette, dass er in jüngeren Jahren der Hingucker gewesen war. Aber auch jetzt fand ich ihn hübsch, zwar nicht in meinem Alter, aber hübsch.
Nach einem kurzen weiteren Zögern sagte Paul: „Sascha, kannst du mal bitte mit raus kommen?“
Sascha nickte und die beiden Männer gingen wieder hinaus.
Der nächste komische Gedanke, der mir kam war: Wie hatte Sascha die Zeit gefunden sich zu mir zu setzen, nicht aber mit in den Garten zu kommen? Weil irgendwas mir sagte, dass er schon ganz gern raus gegangen wäre, aber einfach nicht die Zeit aufbringen konnte. Aber eigentlich war das auch egal.
Vor der Tür hörte ich den Arzt und Sascha reden. Worum es ging, konnte ich nicht verstehen. Darum stand ich auf und ging zu dem CD-Stapel. Es waren alles gebrannte CDs, nur eine nicht. Ich sah zuerst die gebrannten durch. Vorne drauf hatte jemand fein säuberlich geschrieben, welche Lieder alle drauf waren. Es waren so die typischen, die auch ständig im Radio liefen. Katy Perry, DJ Antonio, Robby Williams, Adele und so weiter. Fun war dabei und noch andere, die ich alle gar nicht kannte.
Schließlich nahm ich die richtige original CD in die Hand. Es war eine Tokio Hotel CD. Ich legte sie ein. Steckte dann noch den Stecker vom Radio in die Steckdose und drückte auf Play. Klar, es war jetzt nicht so das, was die Jugendlichen momentan hörten, aber mir gefiel es. Als der Tokio Hotel Wahnsinn gewesen war, hatte mich das alles kalt gelassen und auch als hinterher alle gesagt hatten: „Tokio Hotel ist so schlecht!“ hatte mich das kaum interessiert. Aber mein Vater hatte mir mal Freudestrahlend eine Tokio Hotel CD mitgebracht, als der Rausch schon längst wieder vorüber war. Er war so stolz auf sich gewesen, dass er mir etwas so „bedeutsames“ mitgebracht hatte, dass ich gar nicht anders konnte, als mich auch zu freuen. Ich hatte ihm liebevoll einen Kuss auf die Wange gedrückt und gleich die CD eingelegt. Wir hatten sie uns gemeinsam angehört und irgendwann war auch Marc gekommen und hatte sich zu uns gesetzt. Die Musik war vielleicht nicht die Beste, aber dafür verband ich damit schöne Erinnerungen.
Ich legte mich aufs Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte grüblerisch an die Decke.


„Stellt sie viele Fragen?“, erkundigte sich Paul.
„Ja, ziemlich viele.“, antwortete ich ihm.

„Hast du ihr was verraten? Schöpft sie verdacht?“

„Ich denke ich hab es bis hierhin ganz gut hinbekommen. Ich denke nicht, dass irgendeine Ahnung hat, was wirklich hier vorgeht. Aber du hast mich doch nicht gesucht, nur um mich das zu fragen. Worum geht es wirklich?“

Ich sah dem Arzt fest in die Augen. Ich wusste, wann er dringend mit mir reden wollte und wann es nur um solche Lappalien ging. Aber ich hoffte inständig, dass es keine so große Katastrophe gab, wie ich dachte. Aber selbstverständlich wurde meine Bitte nicht erhört.

„Phil war bei mir. Er sagte, er würde gleich nachdem er bei mir war, zum Chef gehen und ihr Bescheid sagen. Wenn sie seine Schilderungen richtig deutet, dann wird sie wissen, dass du ein BB bist. Sie wird nicht zögern und weiter nachforschen und wahrscheinlich dann auch versuchen Megan von dir wegzubekommen. Ich rate dir, halt dich bereit, damit du, falls es so kommen sollte, wie ich befürchte, abhauen kannst. Mit der Kleinen.“

„Meinst du ich sollte Megan warnen?“

„Nein, auf keinen Fall, sollte sie an die falschen Personen etwas weiter erzählen, wirst du hier nicht heile raus kommen.“, Paul redete schnell. Es war klar, dass die Sache wirklich ernst war. Na toll, ich hatte gehofft noch etwas Zeit zu haben, um auch wirklich sicher sein zu können, im Bezug auf Megan. Jetzt musste ich mich halt etwas mehr anstrengen. Aber eigentlich war ich mir auch so sicher. Zumindest sicher genug, dass ich sie mitnehmen würde. Dann war nur noch die Frage, ob mein Bruder das genauso sah wie ich. Aber meine große Sorge lag jetzt erst einmal bei dem Chef. Warum sagen eigentlich alle Chef und nicht Chefin? Das wäre viel richtiger. Aber wahrscheinlich war es besser so, dann schöpfte keiner jemals Verdacht.

Und dann hörte ich plötzlich die Musik. Megan hatte wohl die Tokio Hotel CD eingelegt. Ich musste schmunzeln. Ich hatte nicht gedacht, dass ihr Musikgeschmack in die Richtung gehen würde. Ich dachte eher, dass sie auf englische Balladen stehen würden. So konnte man sich täuschen. Diese CD hatte ich auch nur, weil sie mich an meinen Bruder erinnerte. Als er das erste Mal mit mir in diese Welt gekommen war, waren wir in einen Musikladen gegangen und er hatte
sich genau diese CD angehört und fand sie schrecklich. Das war der Grund gewesen, warum ich sie mir wenige Tage später dann gekauft hatte. Jedes Mal, wenn ich sie hörte erinnerte ich mich an den Gesichtsausdruck, den Diego gemacht hatte als das erste Lied gestartet hatte. ZU lustig. Selbst jetzt brachte mich der Gedanke noch mehr zum lächeln.
Ich mochte meinen Bruder wahnsinnig gerne, sonst hätte ich mich wahrscheinlich auch gar nicht an seiner Stelle auf die Suche gemacht.

„Sascha, verstehst du den Ernst der Lage?“, riss mich Paul hart aus meiner Träumerei.

Schnell lenkte ich ein: „Entschuldige, klar weiß ich, wie erst es ist. Ich werde mich sofort darum kümmern. Ich versichere dir, es wird alles gut gehen.“ Das hoffte ich zumindest.

(Mit einer Miene, die einem sterbendem Spanier viel ähnlicher sehen würde nicht Paul. )
„Und was soll ich Megan sagen, wenn sie fragt, worum es bei unserem, Gespräch ging?“

„Sag ihr, ich habe dich nach ihrer Schramme auf der Wange gefragt. Wo hat sie die eigentlich her?“

Etwas unbehaglich sah ich kurz auf den Boden, sagte dann aber mit fester Stimme: „Von Bruno. Sie hat ihn ein Arschloch genannt.“

Paul schüttelte tadelnd den Kopf. Etwas hilflos konnte ich nur mit den Schultern zucken.

„Aber ganz ehrlich alter Freund, ich glaube nicht, dass sie mir das abnehmen wird.“, gab ich zu bedenken.

„Dann habe ich dich eben dafür gescholten, dass du bei ihr warst, noch bevor ich es dir erlaubt habe. Und es ging um Phil. Irgendwas in die Richtung, okay?“

„Okay, aber Paul, keiner sagt heutzutage gescholten. Du hast mit mir geschimpft oder rumgemotzt.“ Genervt konnte ich einfach nur noch die Augen verdrehen.

„Du hast ja so recht, wie konnte ich nur?“

„Entschuldige Paul, das geht einem so ins Blut über, wenn man hier zu lange ist. Es wird eigentlich mal wieder Zeit, dass ich zurückgehe. Bald ist es ja so weit, bis dahin musst du mich noch aushalten.“

„Du hast Recht, ich habe den Lebensstil der Anderen auch schon völlig aus den Augen verloren. Hast du was dagegen, wenn ich noch schnell mit reinkomme und Megans Arm noch mal untersuche?“

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte ganz und gar nichts dagegen. Mein Bruder wäre sehr sauer auf mich, würde ich nicht gut auf sie Acht geben, deswegen war es mir nur recht, wenn Paul sich um sie kümmerte. Und der leichte Schock, von dem Paul in der Nacht geredet hatte, würde auch bald weg sein, hatte er zumindest gemeint. Ich würde es sehen.



Wieder klopfte es und die beiden Männer, die sich eben vor der Tür unterhalten hatte traten ein. Ich sah, wie Saschas Augen belustigt zum CD-Player zuckten. Meine Ohren wurden heiß und ich fühlte, wie auch in meine Wangen das Blut schoss. Aber Sascha sagte nichts dazu und Paul ergriff das Wort. Er sah schon deutlich entspannter aus, als vorhin. „Megan, ich würde mir gerne noch einmal deinen Arm anschauen. Würdest du bitte wieder das T-Shirt ausziehen?“
Mein Blick ruhte auf Sascha, während ich mit fester Stimme sagte: „Nicht so lange er hier drinnen ist.“
Sascha seufzte, hob in einer hilflosen Bewegung die Hände und ging wieder vor die Tür. Ich hatte mich aufgesetzt und einen Moment nachdem sich die Türe hinter meinem Entführer wieder ins Schloss gefallen war, fing ich an das T-Shirt auszuziehen. Natürlich hatte ich den ganzen Tag nicht aufgepasst und meinen Arm nach Lust und Laune bewegt. Aber er hatte mir nicht wehgetan, weswegen ich auch nicht weiter daran gedacht hatte. Und der Verband war auch so flexibel, dass ich keine Probleme in meiner Bewegung hatte.
Behutsam wickelte der Arzt die Bandage ab und stellte mit nur einem Blick fest: „Du hast ihn nicht geschont.“
„Ich weiß, ich hab nicht dran gedacht. Ist das schlimm?“
„Also sterben wirst du davon nicht, aber es dauert halt länger, bis auch die Schwellung ganz abgeklungen ist.“
Als er sah, wie ein unwilliger Gesichtsausdruck über mein Gesicht zog sagte er liebevoll: „Aber er sieht schon deutlich besser aus als gestern.“
Erleichtert atmete ich aus. Auch wenn er das nur sagte, damit ich mich besser fühlte, es half wirklich.
Ohne dass er wirklich noch irgendwas machte wickelte er mir meinen Arm wieder ein und sagte mir ich könne mich wieder anziehen. Ich zog mir das Shirt wieder über den Kopf.
Paul wollte gerade gehen, da sagte ich: „Paul?“
„Ja?“
„Was hast du eben mit Sascha geredet?“
„Es ging nur noch einmal um Phil.“, versicherte mir der alte Spanier.
„Was ist da eigentlich vorgefallen. Phil hat sich so angehört, als sei sein Arm gebrochen. Aber wie kann das sein?“
„Viel interessanter finde ich den Grund, warum er überhaupt bei dir war. Sascha ist der einzige, der wirklich was mit dir zu tun haben soll. Und Sara und ich natürlich. Aber Phil hätte ehrlich gesagt noch nicht einmal etwas von dir wissen sollen. Wobei, wahrscheinlich weiß das ganze Haus von dir. So oft wie Sara sich verplappert. Aber zurück zu Phil. Wollte er mit dir schlafen?“
Etwas verwirrt sah ich ihn an. Dann nickte ich und sah auf meine Hände, die ich gefaltet in meinen Schoß gelegt hatte. Der Nagellack war fast überall ganz abgeplatzt. Ich sollte ihn wohl mal neu machen. Ich versuchte mich zu erinnern, ob in dem kleinen Schränkchen im Bad Nagellack war. Ich glaubte, war mir aber nicht sicher.
„Das ist typisch Phil. Am liebsten würde er den ganzen Tag nur in seinem Bett liegen, mit hübschen Frauen um sich, die ihn verwöhnen.“, redete Paul weiter und nach einer kurzen Pause deutete er kurz in Richtung des CD-Spielers und fragte: „Magst du solche Musik? Du scheinst mir nicht so der Typ für billige Elektromusik.“
Schmunzelnd sah ich ihn an und zuckte leicht mit den Schultern. „Stimmt, aber Tokio Hotel erinnert mich an meinen Vater, deswegen hör ich es mir an.“
„Verstehe. Kannst du tanzen?“
Normalerweise war mir so endlose Fragerei total unangenehm, aber Paul war so vorsichtig und nett und sympathisch, dass ich damit keine Probleme hatte. „Ich hab mal einen Kurs besucht. Es hat echt viel Spaß gemacht, aber so richtig gut bin ich nicht darin geworden. Walzer bekomme ich, glaube ich, noch am besten hin. Aber du tanzt doch sicher, oder? Ach darf ich überhaupt du sagen?“
„Klar, warum nicht? Und es stimmt ich tanze. Sieht man mir das so sehr an?“
„Es fällt jedenfalls nicht negativ auf.“ Ich lächelte. Ich mochte ihn echt gerne. Er war so jemand den man einfach zu gerne als Opa hätte. Meine Großeltern, also die Eltern von meinem Vater, die meiner Mutter hatte ich nie kennen gelernt, ich glaube sie sind schon längst tot, behandelten mich immer noch so, als wäre ich zehn und dumm wie Stroh. Aber ich war inzwischen eine junge Frau, mit Verstand und einem eigenem Gehirn. Und ich interessierte mich schon längst nicht mehr für Pferde. Mein Genre war die Liebe, über die es ja auch mehr als genug zu lesen gab. Aber vielleicht sollte ich auch ganz froh sein, dass sie mir kein Bücher schenkten, die etwas mit Liebe zu tun hatten, das machte meine Tante schon und mit reichlich geringem Erfolg. Ich hasste so ziemlich jedes der Bücher, die sie mir geschickt hatte.
„Hättest du denn Lust ein wenig mit einem alten Mann zu tanzen?“, rief mich Paul in die Wirklichkeit zurück. Ich strahlte ihn an und nickte begeistert. „Sascha hatte doch mal so eine CD mit Liedern, auf die man ganz gut tanzen konnte.“

Paul hatte sich über die CDs gebeugt und zog schließlich eine hervor. Ich hatte ihm etwas geholfen und schon einmal Tokio Hotel zum Schweigen gebracht. Paul legt die neue CD ein und ich räumte die alte weg. Ein Lied von Westlife erklang. Es war wunderschön. Ich hatte mir ein einziges Mal eine CD von ihnen gekauft, danach hatte sich mein Vater aufgeregt ich würde die Musik, die er mir immer mitbrachte nicht mögen. Ich hatte ihm selbstverständlich beteuert, dass das nicht stimmt. Aber ich hatte mir nie wieder eine CD gekauft.
Paul streckte mir die Hand hin. An seinem Ringfinger steckte ein goldener, schlichter Ring. Ein Ehering. Ich fragte mich, ob seine Frau wohl auch hier wohnte. Er schien ja rund um die Uhr hier im Haus zu sein. Ich nahm mir vor ihn später danach zu fragen, zuerst würde ich ein bisschen tanzen üben.
Zum Scherz meinte ich: „Ich entschuldige mich schon im Vorhinein, dass ich dir ständig auf die Füße trete.“
Er lachte kurz und unbeschwert.
Paul konnte wunderbar führen. Ich wusste immer schon vorher, wann er was machen wollte. Er hatte auch extra ein Lied ausgesucht, auf das man Walzer tanzen konnte und ich trat ihm höchstens zweimal auf den Fuß. Okay vielleicht waren es auch dreimal, aber auf keinen Fall mehr als viermal.
Der Arzt wirbelte mich mit einer Geschwindigkeit durch die Gegend, dass ich fast mit meinen Füßen nicht mehr hinterher kam, aber ich konnte die gesamte Zeit über nicht aufhören zu lachen.
Ich war so glücklich. Noch glücklicher als Zuhause. Da hatte nie jemand mit mir Spaß, alberte mit mir herum oder tanzte mit mir.
Die Tür ging auf. Erschrocken blieb ich stehen und auch Paul stoppe mitten in einer Bewegung und sah sich zur Tür um. Sascha kam herein, schob die Tür ohne weiter Beachtung mit dem Fuß zu und kam zielstrebig auf mich zu. Ohne Paul anzusehen fragte er ihn: „Hast du was dagegen, wenn ich dich ablöse? Du hast doch bestimmt noch einiges zu tun. Kranke versorgen, deine alten Knochen schonen und so was.“
Ich konnte das leichte Zögern in Pauls Stimme hören, aber er überließ seinen Platz anscheinend doch recht gerne Sascha. „Klar, ich geh dann mal. Ich schau später noch einmal nach dir Megan.“
„Werde ich denn überhaupt nicht gefragt?“, beschwerte ich mich.
Mit einem Grinsen im Gesicht schüttelte Sascha den Kopf. War ja irgendwie klar gewesen. Und dann musste er natürlich auch noch sagen: „Du bist meine Gefangene. Ich kann mir nehmen, was ich will.“
„Sascha, dass musste jetzt unbedingt sein, oder? Versuch doch wenigstens so zu tun, als wärst du nett.“, wies ihn Paul zurecht, der schon an der Tür war. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, um Sascha zu zeigen, dass ich fand, dass Paul Recht hatte. Inzwischen hatte er den Arm runter genommen und seufzte nun, als müsste er sich dies jeden Tag anhören. Dann hielt er mir wieder die Hand hin und sagte ganz höflich und bei einer leichten Verbeugung: „Darf ich um diesen Tanz bitten?“
Als hätte er die ganze Sache zeitlich abgepasst, war genau in dem Moment, in dem er mich fragte, eine kleine Pause, bevor das nächste Lied anfing.
Ich nahm Saschas Hand und er führte mich weiter ins Zimmer und bezog Aufstellung. Das Lied fing an. Ich hätte mich wohl mehr auf die Tanzschritte konzentrieren sollen, aber ich konnte nicht aufhören Sascha in die Augen zu schauen. Seine wunderschönen dunklen Augen, die in diesem Moment einfach nur schwarz und tief wirkten. Sie waren so unwiderstehlich schön, auf ihre ganz eigene Art. Vielleicht waren sie auch nicht schön, aber es war mir unmöglich woanders hin zu schauen.
„Au! Megan! Du bist mir auf den Fuß getreten!“, sagte Sascha in vorwurfsvollem Ton.
„Entschuldige bitte. Ich habe nicht aufgepasst. Ich gebe mir mehr Mühe, versprochen.“
Sascha war stehen geblieben und fing an zu lachen. Ein kehliges, tiefes, aber ehrliches Lachen. Entgeistert sah ich ihn an. Wie konnte er jetzt anfangen zu lachen? Jungs, sie waren einfach nicht zu verstehen. Aber mir sollte es recht sein, solange er mich auch nicht verstand.
„Können wir bitte weiter tanzen?“, fragte ich Sascha. „Ich mag das Lied und es ist gleich zu ende.“
Sascha nahm wieder Haltung ein und wir versuchten uns weiter an den Grundschritten. Doch dann brach er plötzlich aus unserem Trott aus und fing an mich Drehungen machen zu lassen. Ich gab mir die größte Mühe nicht auf seine Füße zu stampfen. Und dann nach einer weiteren Drehung war das Lied vorbei und das Nächste fing an. Ein langsamer Kuscheltanz, na ganz toll.
Ich war etwas auf Abstand zu Sascha gegangen und sah nun betreten zu Boden. Ich war ziemlich sicher, dass er mit mir nicht zu diesem Lied tanzen wollen würde. Und irgendwie fand ich das schade.
Doch Sascha hielt mir wieder seine Hand hin. Ich traute mich ihm nur ganz vorsichtig meine Hand zu geben. Er packte meine fest und zog mich entschlossen zu sich heran. Er hielt mich umschlungen und nach einigen steifen Tanzschritten versuchte auch ich mich zu entspannen.
„Du magst Paul gerne, oder?“, erkundigte er sich.
„Ja, sehr.“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Er ist ein wunderbarer Mensch.“
„Mm“, machte Sascha zustimmend. „ Er ist hier im Haus wirklich sehr geschätzt.“
Seine Hände lagen auf meiner Hüfte und erstaunt stellte ich fest, dass ich es angenehm fand. Ich meinerseits hatte ihm die Arme um den Nacken gelegt. Es fühlte sich so vertraut an. Ich musste mich selber ermahnen, nicht auch noch den Kopf gegen seine Brust zu lehnen. Seit dem ich ihn ohne T-Shirt gesehen hatte, überkam mich sowieso ständig der Wunsch ein einziges Mal über seine Nackten Muskeln zu streicheln. Das klingt sexistisch, ist es wahrscheinlich auch, aber so ein Waschbrettbauch war immer etwas gewesen, was für mich in weiter Ferne gewesen war. Und jetzt tanzte ich mit jemanden, den ich kaum kannte und der mich entführt hatte und dereinen Waschbrettbauch hatte.
„Weißt du, Paul muss dich auch mögen, wenn er mit dir getanzt hat. Sonst hat er das nur mit seiner Frau gemacht.“, unterbrach Sascha meinen Gedankenfluss und ich war froh darüber, denn ich merkte schon, wie mir die Röte ins Gesicht gestiegen war.
„Tanzt er jetzt nicht mehr mit seiner Frau?“, erkundigte ich mich.
„Nein. Ich glaube er vermisst es sehr.“
Ich nickte, das konnte ich mir bei Paul gut vorstellen. Umso mehr freute es mich, dass er mich gefragt hatte, ob ich nicht Lust hatte.
Die Türe wurde aufgerissen und Marc stürmte herein. Sascha hatte einige Schritte zurück gemacht und fuhr sich in der altbekannten Bewegung durchs Haar. Ich konnte meinen Stiefbruder nur mit recht weit aufgerissenen Augen anstarren.
„Meggie, bitte, es tut mir so Leid.“, sagte Marc und sein Blick ging kurz zu Sascha. Kurz zogen sich seine Augenbrauen zusammen. Er war wohl nicht so begeistert davon, dass er soviel Zeit bei mir verbrachte. Aber das ging ihn nichts an.
Kühl sagte ich zu ihm: „Nenn mich nicht Meggie. Ich heiße Megan. Was willst du überhaupt von mir? Ich hab dir unten schon klar gesagt, dass ich nichts mit dir zu tun haben will. Also geh bitte.“
„Meggie... Megan, können wir das vielleicht unter vier Augen besprechen. Ich würde dir so gerne einfach alles erzählen.“ Flehend sah mich mein Stiefbruder an. Ich schüttelte nur den Kopf. Marc wurde etwas nervöser und er blickte immer wiedermal zu Sascha, der sich hinter mich gestellt hatte. Ich hätte heulen können, wenn ich daran dachte, dass ich mir heute Morgen nur noch gewünscht hatte, nach Hause zu Marc gehen zu können.
„Megan...“
„Hast du nicht gehört? Sie möchte gerade nicht mit dir reden. Sei ihr wenigstens jetzt ein guter Bruder und lass ihr die Zeit, die sie braucht. Irgendwann wird sie bereit sein, dir zuzuhören. Gedulde dich bis dahin und du wirst sehen, es lohnt sich.“, unterbrach ihn Sascha.
Sascha hatte einen Schritt hinter mit hervor gemacht und sich schützend vor mich gestellt. Meine Augen brannten inzwischen schon von den Tränen, die ich krampfhaft zurückhielt. Ich konnte meinen Kopf nur noch abwenden. Dem Blick, den mir mein Stiefbruder zuwarf, konnte ich beim besten Willen nicht standhalten.
Einige Sekunden stand Marc noch da, denn drehte er sich mit einem wütenden Grollen um und verließ fluchtartig das Zimmer. Die Tür knallte hinter ihm ins Schloss.
Auch wenn die Musik noch so schön war, die gerade lief, mir war jede Lust nach tanzen vergangen. Müde setzte ich mich auf das Bett und stützte den Kopf in die Hände. Die Tränen liefen mir stumm über die Wangen.
„Hätte ich ihn lieber nicht raus schicken sollen?“, fragte Sascha vorsichtig.
Ich schüttelte ganz langsam den Kopf. „Nein, war schon okay. Danke.“
Leise klopfte es an der Tür. Ich sah auf und auch Sascha hatte sich umgewandt. Keiner von uns sagte Herein, aber die Tür öffnete sich auch so. Sara kam herein. Irgendwie dankbar sah ich sie an. Sie schloss die Tür und kam auf mich zu. Sie setzte sich neben mich auf das Bett und nahm mich in den Arm. Eine Hand hatte sie mir schützend an den Kopf gelegt.
„Es ist gut Megan.“, versuchte sie mich zu trösten. Etwas erstaunt stellte ich fest, dass ich sie mittlerweile schon als Freundin ansah.
„Ihr habt nicht zufällig einen Fechtsaal, oder etwas in der Richtung, oder?“, fragte ich mit kläglicher Stimme. „Das wäre wohl zu schön.“
Da mischte sich Sascha ein: „Wir haben sogar etwas, das einem Fechtsaal ähnlich sehen könnte. Und wenn du einen Gegner braucht, ich melde mich freiwillig.“
„Du fichtst auch?“ Das hätte ich ehrlich nicht gedacht, aber mich sollte es nicht stören. Ich brauchte jetzt etwas, um mich abzureagieren. Und was für ein wunderbarer Zufall, dass sie sogar einen Raum hatten, den man als Fechtsaal benutzen konnte und noch mehr freute es mich, dass es jemanden gab, der ebenfalls focht.

Mein „Training“ ging drei zu zwei für Sascha aus. Mein Kopf war leer und mein Körper erschöpft. Saschas und meine Kämpfe waren lang und Kräfte zerrend. Am Anfang hatte Sara mich noch besorgt beobachtet, mich dann aber doch irgendwann in der Obhut von Sascha gelassen.
Sara war ein angenehmer Mensch. Sie hatte kaum Ansprüche an Menschen und hatte scheinbar immer gute Laune. Und sie wusste, wann es besser war den Mund zu halten.
Verschwitzt wie ich war, ließ ich mich in meinem Zimmer auf das Bett fallen. Sascha nahm sich den Stuhl, zog ihn zu mir heran, setzte sich verkehrt herum darauf und legte die Arme auf die Stuhllehne.
Ich setzte mich auf und fing erneut an Fragen zu stellen. Paul hatte sich ganz gut durchgemogelt mir nicht zu sagen, was Sascha eigentlich mit Phil gemacht hatte. „Sascha, vorhin in der Küche... Phil hat geschrien, als hättest du ihm den Arm gebrochen. Wie hast du das gemacht?“
Er reagierte gar nicht auf meine Frage. Stattdessen lenkte er ab: „Du hast doch bestimmt Hunger. Es ist schon halb drei. Lass uns mal in der Küche schauen, ob Sara was zu essen für uns hat. Kommst du mit?“
Sascha hatte sich noch nicht einmal das kleinste Stück bewegt.
Ich seufzte. „Es bringt nichts, wenn ich dich weiter frage, oder?“
Er schüttelte den Kopf. Dann stand er auf und sagte: „Also, ich geh jetzt erst einmal was essen und dann duschen. Willst du dich mir anschließen?“
„Zum essen komm ich gerne mit, aber danach trennen sich unsere Wege. Ich habe nämlich nicht vor mit dir zusammen zu duschen.“
Ich ging hinter ihm her, aus dem Zimmer hinunter zur Küche. Als wir ankamen, stand Sara hinter einem riesigem Topf am Herd und rührte darin herum. Es roch nach Zwiebeln und Lauch. Und nach Fleisch. Große Brocken Fleisch wurden hier verarbeitet. Sie brutzelten in einer Pfanne neben dem Topf. Sara briet sie gerade von der ersten Seite an. Die obere sah noch weich und lebendig und nach Tier aus. Ich musste meinen Blick abwenden. So etwas schlug mir immer sofort auf den Magen. Ich aß Salami ohne schlechtes Gewissen, aber so Stücke vom Tier, die noch erkennbar machen, um was für ein Tier es sich handelte, waren nicht so mein Gebiet.
„Hey Sara!“ Sascha ging zu ihr und pikste sie in die Seite. Sie quiekte erschrocken auf. „Riecht gut, was du da kochst. Ich wette, das ist mein Stück, hab ich Recht?“ Er zeigte auf das größte und dickste Stück, das in der Pfanne zu finden war.
Sara drehte sich zu mir um und fragte grinsend: „Es sei denn, Megan möchte es haben. Möchtest du?“
„Ne, danke.“ Ich verzog etwas angewidert das Gesicht. „Er kann es gerne haben. Hast du für mich irgendwas anderes, was ich essen kann? Brot oder so? Oder hast du Zitronensaft? Mit Mischbrot schmeckt das einfach köstlich.“
Jetzt waren Sascha und Sara an der Reihe angewidert das Gesicht zu verziehen, doch Sara lenkte schnell ab: „Ich hätte einige Brötchen, die kann ich dir aufschneiden, wenn du magst. Aber ich glaube ich habe nur noch Käse im Kühlschrank. Sascha kannst du bitte mal nachschauen.“ Wie selbstverständlich hatte sie Sascha um etwas so banales gebeten. Es wirkte so vertraut. Und obwohl Sascha die Augen verdrehte, ging er zum Kühlschrank und nahm heraus, was er an Aufstrich noch finden konnte. Es war ein halber junger Gouda und eine Scheibe Scheibenkäse. Sprich Emmentaler. Kurz erstatte er Sara Bericht, was er alles gefunden hatte. Sie wirkte nicht unbedingt begeistert, aber da konnte sie jetzt auch nichts dran ändern. Was da war, war da, was nicht, das nicht. Ich war zufrieden.
Sascha legte den Käse auf den Esstisch, der in einem Teil der Küche stand.
„Kann ich was helfen?“, fragte ich. Ich kam mir so unglaublich nutzlos vor. Zuhause war immer ich die Diejenige gewesen, die für das Essen gesorgt hatte.
„Du könntest so lieb sein und die Teller da aus der Schublade holen. Darüber ist das Besteck. Du brauchst ein Messer, denke ich und der Rest des Rudels braucht Messer, Gabeln und Löffel. Und wehe ihnen, wenn sie heute ihre Suppe nicht bis zum letzten Tropfen auslöffeln.“ Sara warf Sascha einen viel sagenden Blick zu. Ich fühlte mich fehl am Platz. Es zog mir die Brust zusammen. Damit es nicht allzu sehr auffiel ging ich hinüber zu den Schubladen. Zog die heraus, auf die Sara gedeutet hatte.
„wie viele Teller brauchst du denn?“, erkundigte ich mich. Ich sah in die Schublade. Es waren ein Stapel mit tiefen Tellern und einer mit normalen Tellern darin. Ich nahm schon mal einen normalen für mich heraus.
Sara drehte den Kopf zu mir herum und sagte: „Ich brauche 23 und kannst du sie mir bitte dann da auf den Wagen stellen? Das wäre super, danke.“
Ich zählte 23 tiefe Teller ab. Das Haus war zwar groß, aber ich hatte nicht gedacht, dass so viele Leute hier wohnten.
„Die restliche Meute isst einige Räume weiter. Ich dachte es wäre angenehmer für dich, wenn du nicht mit den ganzen reißenden Tieren gemeinsam essen musst. Vielleicht magst du ja hier sitzen.“ Ich nickte, das klang vernünftig. Ich hatte wirklich keine Lust noch mehr Menschen kennen zu lernen. Nicht dass ich menschenscheu bin, aber die paar Begegnungen die ich heute schon gehabt hatte reichten mir erst einmal. Und vor allem hatte ich keine Sehnsucht danach, meinen Stiefbruder oder Phil heute noch mal zu sehen.
Mit einem lauten scheppern stellte ich die Teller auf den Wagen und dann meinen eigenen auf den Tisch. Dann holte ich das Besteck. Die Schubladen waren riesig. Es musste ja auch eine ganze Menge hinein passen.
Ich spürte den nachdenklichen Blick von Sascha in meinem Rücken und drehte mich um. „Was ist?“
„Fühlst du dich nicht alleine, wenn du hier ganz alleine isst?“, hakte er nach. Ich zuckte mit den Schultern. Ich war lieber alleine, als von zu vielen Menschen umgeben. Und 23 waren mir deutlich zu viele Menschen.
„Ich bleibe bei ihr.“, meldete sich Sara vom Herd wieder.
„Dann bleibe ich auch. Zu dritt ist es lustiger als zu zweit.“, sagte Sascha. Für mich war das sowieso alles nicht lustig, aber von mir aus sollten sie bleiben, wenn sie wollten. Ich zuckte wieder mit den Schultern, um zu zeigen, dass ich damit einverstanden war. Sascha nahm wieder zwei der Teller vom Schiebewagen und stellte sie zu meinem auf den Tisch. Dann noch das Besteck und das Essen konnte kommen.
Sascha schnitt mir schnell noch die Brötchen auf , tat sie in einen Brotkorb und stellte sie mir hin. Leise setzte ich mich an den Tisch. Sara brachte schnell das fertige Essen zu den hungrigen Mäulern, die man einige Zimmer weiter laut mit einander reden hörte. Als man Sara drüben mit den Tellern klappern hörte sagte Sascha etwas sehr unerwartetes zu mir. „Schade, dass wir nicht weiter getanzt haben. Ich hatte Spaß dabei.“
Ich konnte ihn nur ansehen. Alles was ich hätte sagen können kam mir falsch vor. Stumm wartete ich, bis Sara wieder kam.
Sara und Sascha aßen ebenfalls Fleisch und etwas von der Gemüsesuppe, die Sara gemacht hatte.
Nach dem Essen fühlte ich mich müde und immer noch klebrig vom Schweiß. Sara räumte meinen Teller mit ab. Ich bedankte mich bei ihr und schleppte mich schon halb schlafen die Treppe hinauf. Welch ein Glück, dass Sascha hinter mir her ging. Denn sobald ich die zweite Treppe rauf war, wollte ich schon in die völlig falsche Richtung laufen. Er hielt mich an der Schulter fest und meinte: „Die Richtung Megan. Da ist dein Zimmer. Den Weg hier üben wir noch ein wenig, meinst du nicht auch?“
Ich nickte, obwohl ich noch nicht einmal die wirkliche Bedeutung seiner Worte verstand.
Sascha schloss die Tür hinter mir, als ich ins Zimmer trat. Er ging wohl in sein Eigenes. Einen Moment stand ich nur da. Dann erinnerte ich mich, dass ich mich ja bewegen konnte und duschen wollte. Schnell zog ich mich aus, nahm mir noch neue Sachen aus dem Schrank und ging ins Bad.
Nach dem Duschen ging ich ins Bett. Eigentlich hatte ich nicht schlafen wollen, aber ich war so müde, dass, sobald ich die Matratze berührte, sich auch schon mein Augen schlossen und ich einschlief.

Ich erwachte vom Klopfen an meiner Zimmertüre. Ich richtete mich verschlafen auf. Sara kam leise in mein Zimmer.
„Entschuldige, habe ich dich geweckt?“, erkundigte sie sich. „Ich dachte nur, dass du vielleicht auch etwas zum Abendessen haben willst. Ich war sogar einkaufen und hab dir dein heiß geliebtes Mischbrot mitgebracht. Und natürlich deinen Zitronensaft. Ich dachte das würde dich interessieren.“
Während sie mir das erzählt hatte, hatte ich mir den Schlaf aus den Augen gerieben und war aufgestanden. Ich war noch total benebelt vom Tiefschlaf, in dem ich mich befunden hatte.
Ich stellte fest, dass in normalen Klamotten schlafen nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte. Es war hinterher schrecklich unbequem. Und ausgeruhter wurde man dadurch auch nicht.
„Danke Sara, das war echt super lieb von dir mir das mitzubringen.“, murmelte ich schlaftrunken. Saras Gesicht fing an zu leuchten, als ich das sagte. „Kommst du jetzt mit runter?“
Ich nickte und strich mir einige Male durch mein Haar, das natürlich total zerzaust war. Mein Vater würde jetzt wahrscheinlich wieder Vogelnest dazu sagen.
Ich seufzte. Sara nahm mich bei der Hand und führte mich in die Küche. Auf dem Tisch stand schon eine Schale Brot, ein Teller, der Zitronensaft und ein Messer und ein kleiner Löffel bereit. Der Löffel war zum Dosieren des Zitronensaftes.

In dieser Nacht träumte ich. Ich träumte ich sei wieder klein und ich lag in meinem Kinderbettchen. Wieder träumte ich von außerhalb, als sei ich nicht ich, sondern ein Beobachter. Ich sah dem ganzen Geschehen von irgendwo schräg in meinem Bettchen zu. Meine Mama beugte sich über mich, mit einem liebevollen Lächeln. Sie sah so unendlich glücklich aus. Und dann wurden ihre Züge traurig. Es zerriss einem fast das Herz.
Ich streckte ihr meine Patsche-Hände hin. Sanft berührte sie sie und versuchte erneut zu lächeln, ohne wirklich großen Erfolg.
„Mein kleiner Liebling... Mama muss eine Zeit lang weg. Aber ich komme wieder. Jemand wird hier sein und meinen Platz einnehmen. Ich hoffe du bist mir nicht böse, aber ich kann nicht bleiben. Eine Person meines Vertrauens wird sich um dich kümmern. Sei unbesorgt, es wird alles wieder gut.“ Die Stimme meiner Mutter war so voller Liebe und Zuneigung. Eine Haarsträhne rutschte hinter ihrem Ohr hervor. Sie hatte sich gleichen rotbraunen Haare, wie ich. Auch ihre Gesichtsform war meiner sehr ähnlich. Sowieso alles in ihrem Gesicht gleich meinem wie ein Spiegelbild. Nur ihre Augen waren durch und durch grün. Meine hatten immer noch goldbraune Sprenkel darin.
„Ich freue mich schon dich wieder zu sehen, wenn du größer bist, treffen wir uns wieder. Versprochen. Und jetzt schlaf ein wenig, meine Kleine.“
Sie gab ihrer Hand einen leichten Kuss und strich mir dann damit über die Wange.
Dann, schlagartig, war das Bild ein anderes. Meine Mutter mit ausgestreckten Armen vor einem Hintergrund aus purem weiß. Sie stand da oder schwebte, so genau konnte man es nicht sehen. Ihr weißes Gewand flatterte um sie herum, aber es wehte kein Wind. Sie kam näher auf mich zu. Sie war noch immer genauso schön wie früher. Doch ihr Haar war mit einzelnen hauchzarten Silber-Strähnen durchzogen. Freudig lächelte sie mich an. Ich wollte ihre Hand nehmen, aber ich war gar nicht richtig da. Ich war etwas zwischen nichts und etwas. Konnte mich nicht bewegen und nichts berühren, aber meine Gefühle hatten freien Lauf. Ich konnte sprechen, sie würde mich hören, aber ich konnte nicht den Mund bewegen.
„Mama...“
„Meine Süße, da bist du. Du siehst wunderschön aus. Kommst ganz nach deiner Mutter.“ Wir beide kicherten und sie klang wie ein Silberglöckchen, das man ganz leicht geschüttelte hatte. „Ich habe dich ja so vermisst. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr es mich geschmerzt hat, dich zurück zu lassen. Aber wir werden uns bald sehen und dann nicht nur in einem Traum von dir. Ach mein Schatz, du bist so hübsch, ich kann es gar nicht glauben. Wie geht es dir? Ich möchte alles wissen, aber wir haben nur begrenzt Zeit also sag mir das Wichtigste. Wenn ich dich ganz wieder gefunden habe, dann können wir in aller Ruhe reden. Warst du auch schön artig, bei deiner Gouvernante?“
„Ich habe es versucht, aber irgendwie war ihr nichts gut genug, was ich gemacht habe.“
„Wie hat sich das geäußert?“
„Sie hat mich geschlagen und mich ein dummes Kind genannt.“
„Du scherzt.“
„Nein, Papa hat sie dann rausgeworfen.“
„Über deinen Vater will ich gar nicht erst anfangen zu sprechen. Aber um deine Gouvernante werde ich mich kümmern. Sie hat ihre Strafe verdient.“
„Warum bist du so sauer auf Papa?“
„Ach meine Kleine, das ist eine lange Geschichte und wir haben jetzt nicht die Zeit dafür, außerdem ist das alles schon so lange her. Lass uns lieber an die Zukunft denken. Und erzähl mir noch lieber etwas über dich.“
„Ich war einige Zeit mit Jonas, dem Sohn von Papas Chef zusammen. Aber jetzt haben wir uns vor kurzem getrennt.“ Dass ich entführt worden war, verschwieg ich. Ich konnte je noch nicht einmal wirklich glauben, dass da meine Mutter vor mir stand. Ich dachte, es sei bloß wieder irgend so ein Traum. Da brachte es nichts über solche Sachen zu berichten. Und ich wollte auch selber nicht daran denken. Beziehungen waren etwas, mit dem jeder etwas zu tun hat, das war schön allgemein.
„Das erklärt einiges. Ich habe ja immer gewusst, dass er kein guter Einfluss ist. Und wo bist du momentan? Nicht Zuhause, weil sonst...“ Ich wurde von ihr weggezogen. Ich verstand nicht, was sie mir noch versuchte zu sagen. Sie merkte ebenfalls, wie die Verbindung abbrach. Sie versuchte mich festzuhalten, doch das was an mir zog, war stärker. Es fühlte sich an, als würde ich entzwei gerissen werden. Meine Mutter entfernte sich immer mehr von mir, wurde immer kleiner und war am Schluss gar nicht mehr zu sehen. Ich hörte auf, gegen den Zug anzukämpfen, es war eh zu spät. Meine Mutter war weg, aber sie hatte mir versichert, dass wir uns bald wieder sehen würden. Ich wachte auf.

 

Teil 2


Mein Kopf tat weh. Stöhnend hob ich eine Hand an die Stirn. Hatte ich das eben alles wirklich nur geträumt? Es gab nichts, was dagegen sprach. Und denn noch war die Präsenz meiner Mutter auch jetzt, wo ich wieder wach war, immer noch zu spüren. Ich wusste einfach, dass es nicht nur ein Traum gewesen war. Sie war wirklich da gewesen, auf eine fast unmögliche Art und Weise. Wir hatten uns nicht wirklich gesehen, aber sie war dagewesen. Auf einer höheren Ebene oder ähnlichem. Aber ich hatte wirklich mit ihr geredet. Und dann hatte mich etwas von ihr weggeholt.
Mit einem Keuchen setzte ich mich auf.
Etwas, aber was?
Ohne darüber nachzudenken stand ich auf. Ich musste es finden, es aus dem Weg räumen. Nein, ich wollte niemanden umbringen, aber dieses etwas musste weg, ich wollte meine Mutter noch einmal sehen. Ich war kurz davor schon wieder loszuheulen. Seit Jahren hatte ich nichts von meiner Mutter gehört und jetzt plötzlich war sie da. Ich würde sie mir nicht wieder wegnehmen lassen. Und die Frau, die sich als meine Mutter ausgegeben hatte, sollte nur meine Gouvernante sein. Aber sie hatte genauso ausgesehen, wie meine Mama. Papa hatte bestimmt nie gemerkt, dass sie die Falsche war. Bei diesem Gedanken schrie etwas in mir. Nein, er hatte es gewusst. Ohne einen Anhaltspunkt zu haben, wusste ich es.
Ich war aus dem Zimmer gegangen. Eine Sekunde wunderte ich mich, dass man es anscheinend nicht für nötig hielt, die Türe abzuschließen, aber mir sollte es recht sein. Ich ging den Gang entlang, an der Treppe vorbei. Unzählige Türen lagen auf diesem Flur, ich beachtete sie nicht weiter. Bis ich zu einer kam, die ganz am Ende des Flures lag. Ich öffnete sie, ohne anzuklopfen. Den ganzen Weg hatte ich wie in Trance zurück gelegt, nicht die Kälte an den Füßen gespürt, noch wirklich wahrgenommen, wo ich lang ging, oder warum.
Ich kam in ein Zimmer, das so ähnlich war, wie meines. Die Vorhänge waren vor die Fenster gezogen. Das Zimmer lag in völliger Dunkelheit. Ich konnte die Schemen eines Bettes ausmachen und einen Schreibtisch gab es anscheinend auch. Von der Tür an war der ganze Boden mit dickem, flauschigem Teppich ausgelegt. Meine Zehen versanken darin, als ich einen Schritt weiter ins Zimmer hinein tat.
Etwas weiter vor mir saß jemand. Er saß im Schneidersitz da und hatte die Hände entspannt auf seine Knie gelegt. Sein Rücken war gestreckt, der Kopf stolz erhoben.
Von ihm ging dieses etwas aus, was mich von meiner Mama getrennt hatte.
„Sascha, hör auf damit, bitte!" Meine Stimme war tränen erstickt. Etwas erschreckt drehte er sich zu mir um. Er war nackt.
Nach einer kurzen Pause des Erstaunens sagte er: „Megan, was tust du denn hier? Wie hast du mich gefunden und woher weißt du..." Er brach ab und stand auf. Er drehte sich zu mir hin, er schien völlig vergessen zu haben, dass er nichts an hatte.
„Megan, du machst mir Angst. Was ist los? Setzt dich auf mein Bett. Komm her."
Ich kam auf ihn zu. Ich merkte, dass meine Hände schrecklich zitterten. Meine Wangen waren tränen überströmt.
Sascha nahm mich bei den Schultern und drückte mich auf seine Bettkante. Ich schniefte. Mein Blick lag auf meinen Händen, aus Angst ich könnte an Sascha etwas sehen, was ich lieber nicht sehen sollte. Er setzte sich neben mich und schien immer noch nicht begriffen zu haben, wie das wirkte, er nackt, ich in Schlafanzug. Ich meine, keiner würde uns sehen, aber wenn er sich etwas anziehen würde, wäre ich ihm deutlich dankbarer als so.
„Megan, erzähl mir, was dich hier her getrieben hat.", sagte er ganz sanft. Ich konnte nicht anders, als mit der Wahrheit herauszurücken.
„Ich habe von meiner Mutter geträumt. Und dann hast du mich von ihr weg gezerrt. Ich will sie doch nur wiedersehen. Meine Mama damals war nicht meine Mama."
„Das versteh ich jetzt nicht. Deine Mutter war nicht deine Mutter?"
„Ja, sie ist gegangen, als ich klein war. Aber sie hat mir gesagt, dass wir uns bald sehen. Ich will doch nur zu ihr. Verstehst du das Sascha?"
Ich sah ihm flehend in die Augen. Mitfühlend zog er die Brauen zusammen. Dann wurde sein Blick hart und sein Gesicht zu einer kalten Maske aus Stein. „Megan, so sehr ich das bedaure, dass sie nicht sie war, ich kann das nicht zu lassen. Du hast keine Ahnung, was hier wirklich vor sich geht."
„Dann erkläre es mir."
Sascha schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht."
„Warum nicht? Jeder hier scheint zu wissen, was los ist, nur ich nicht, das ist nicht fair."
„Sag so etwas nicht. Es steht dir nicht zu, dir eine Meinung darüber zu bilden." Seine Stimme war kälter als die Antarktis. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken und ich rutschte ein Stück von ihm weg. Wieder musste ich schluchzen.
Ich spürte, wie Sascha neben mir sich verspannte. Mit harter Stimme sagte er dann: „Du solltest ins Bett gehen. Es war nur ein Traum."
„Es war kein Traum!", schrie ich ihn an und stand auf, stürmte aus dem Zimmer und rannte in meines. Weinend schlug ich die Tür hinter mir zu. Ich ließ mich daran zu Boden rutschen, zog die Beine an, legte die Arme auf sie und verbarg mein Gesicht in ihnen.

 

Verdammt! Das hatte ich jetzt ehrlich nicht gebraucht. Egal, jetzt konnte ich auch nichts mehr daran ändern. Noch war es einfach zu früh ihr alles zu erklären. Sie würde nur noch mehr und mehr Fragen stellen. Ich wusste, dass es nicht fair war, aber sie hatte doch keine Ahnung. Sie war jetzt schon 16 und hatte immer noch keine Ahnung. Ihre Eltern hatten kläglich versagt. Inzwischen machte ich mir eh schon Sorgen darum, ob sie die Richtige war. Klar, ich hatte immer noch dieses Gefühl, aber es sagte mir nicht, dass sie die Richtige für meinen Bruder war, es sagte mir nur sie war die Richtige. Was wenn ich einen riesigen Fehler machte? Diego hatte mich zwar auf die Reise nach seiner Frau geschickt, aber ich war mir nicht mehr sicher, dass es klappen würde. Am Anfang hatte ich genau wie er gedacht, dass es nicht schief gehen konnte. Er war mein Bruder, wir waren uns sehr ähnlich. Aber inzwischen konnte ich nicht wirklich zwischen ihm und mir unterscheiden. Er war ich und ich war er und auf unerklärliche Weise machte es die Suche unmöglich. Ich suchte nicht mehr für ihn, sondern für mich. Und gleichzeitig wollte ich nichts mehr, als für ihn fündig werden. Das Ganze war einfach zu sehr vermischt, als dass ich noch unterscheiden könnte. Und dann, sobald sie da war, konnte ich nicht anders, ich wollte sie berühren, mit ihr reden, sie verstehen, ihr helfen und sie nur für mich haben. Was, wenn ich einen riesigen Fehler machte? Und tief in mir wusste ich, es war ein Fehler. Sie war nicht Diegos, sondern meine. Aber da war noch diese Mutter. Ich hatte gespürt, wie sie Kontakt zu ihrer Tochter aufgebaut hatte. Ich hatte natürlich sofort versucht, die Verbindung zu unterbrechen. Es hatte dann ja auch geklappt, aber ich hatte mich mehr anstrengen müssen, als es normal der Fall war. Wer war diese Mutter? Sie gab mir einfach nur Rätsel auf. Und aus Megan würde ich wohl auch nichts mehr zu diesem Thema heraus bekommen. Das konnte ich vergessen. Sie war so sauer auf mich. Ich konnte von Glück sagen, dass sie mich nicht gleich umgebracht hatte. Und dann war ich auch noch nackt gewesen. Was sollte sie nur von mir denken? Aber ohne Kleidung ließ es sich einfach besser konzentrieren. Da konnte ich auch nichts machen. Wollte ich einen Kontakt unterbrechen musste ich mich nun mal total konzentrieren. Nicht so wie bei meiner Gabe. Ich war einer der wenigen BBs. Es gab nicht mehr viele von uns. Leider.

 

Die Sonne schien mir ins Gesicht. Ich blinzelte. Mein Rücken tat weh. Ich hatte die restliche Nacht an die Tür gelehnt zugebracht.
Steif stand ich auf. Meine Augen waren ganz zugeklebt von den Tränen, die ich noch geweint hatte. Auch auf meinen Wangen waren die Spuren des Salzwassers noch zu spüren. Ich würde mir erst einmal das Gesicht waschen.
Ich ging ins Bad. Ließ Wasser ins Waschbecken ein und wusch mein Gesicht mit der Gesichtsseife, die da stand.
Als ich mir das Gesicht abtrocknete über kam mich der Wunsch nach einer Dusche. Warum auch nicht. Haare waschen tat nicht weh und war durchaus nötig.
Nachdem ich duschen gegangen war holte ich mir ganz frische Wäsche aus dem Schrank. Mein BH war schon mehr als durchgeschwitzt.
Ich entschied mich für einen rosafarbenen. Dazu zog ich ein hellblaues Shirt an, das 3/4 Ärmel hatte. Es saß eng am Körper und war so weich wie man sich Schäfchenwolken vorstellte. Ich zog passend zum BH eine rosafarbene Unterhose an. Ich fand eine Röhrenjeans, die ich anzog und pflückte dann noch ein Paar Kuschelsocken aus dem einen Fach.
An diesem Morgen war mir irgendwie kalt, obwohl draußen die Sonne schien. Ein schöner, heißer Kakao wäre jetzt genau das richtige, dachte ich mir. Aber ich würde nicht aus dem Zimmer gehen und mir einen holen. Ich hatte keine Lust irgendjemanden zu sehen. Also setzte ich mich an den Schreibtisch. Ich legte die Blätter, die darauf lagen, vor mich und fing an zu zeichnen. Ich versuchte meine Mutter möglichst genau zu treffen. Der Erfolg war mäßig, aber man erkannte es, wenn man wusste, was es sein sollte. Jetzt nur noch einige Schattierungen und ich war fertig.
Die Tür hinter mir ging auf. Ich drehte mich nicht um. Ich wollte niemanden sehen und ich wollte eigentlich auch niemanden in meinem Zimmer haben.
„So einen herzlichen Willkommensgruß habe ich nun wirklich nicht erwarte. Danke mir geht es auch gut", zog mich Sara auf. Da drehte ich mich doch um. „Wie siehst du denn aus? Du bist ja ganz blass. Geht es dir nicht gut?"
Ich zuckte mit den Schultern. Wie sollte es mir schon gehen?
„Sara, kannst du mir eine Tasse heißen Kakao bringen? Aber bitte kochend-heiß."
„Klar mach ich meine Süße. Hast du denn Hunger? Ich habe Pfannkuchen gemacht. Ich wollte dich eigentlich gerade zum Essen holen."
Ich schüttelte den Kopf. Nach essen war mir nun wirklich nicht.
„Aber ein bisschen was musst du doch essen. Ich kann die Salzstangen bringen. Die helfen mir immer, wenn ich keinen Hunger habe."
„Das ist echt lieb von dir, aber ich möchte wirklich nichts essen.", entgegnete ich. Sara kam ein bisschen näher und schaute über meine Schulter, was ich da gemacht hatte.
Bewundernd sagte sie: „Das sieht super aus. Ich wünschte, ich könnte so gut zeichnen wie du. Und die sieht ja fast so aus, wie du, nur ein bisschen älter."
Ich nickte. „Das ist meine Mutter. Wenn du magst, kannst du es haben." Ich hielt ihr das Bild hin und fast ehrfürchtig nahm sie es.
Sara bedankte sich und meinte, dass in etwa fünf Minuten mein Kakao fertig war und sie ihn mir dann bringen würde. Dann verließ sie das Zimmer.
Zuerst wunderte ich mich, dass der Kakao so lange brauchen würde, aber dann erinnerte ich mich, dass sie ja auch noch andere sättigen musste und sie ihn wahrscheinlich irgendwo zwischen schieben würde. Sie gab sich wirklich Mühe es allen recht zu machen.
Ich fing das nächste Porträt an. Dieses Mal malte ich nur von Kopf bis Schultern. In Kunst war ich nie wirklich eine Leuchte gewesen, aber hier, in diesem Raum, unter diesen Umständen gelang es fast mühelos.
Ich hatte schon die Kopfform, den Hals, die ungefähren Schultern und die Augen fertig, als Sara herein kam. Sie hatte einen großen Becher in der Hand, der noch dampfte. Sie hatte sich wirklich daran gehalten und den Kakao so heiß wie möglich gemacht.
Sie stellte den Becher neben mir ab und bemerkte: „Das ist ja wieder die gleiche Frau, deine Mutter. Malst du sie jetzt den ganzen Tag?"
„Wahrscheinlich.", antwortete ich knapp. Ich hatte mir vorgenommen sie noch mit zur Seite gedrehtem Kopf zu malen. Von beiden Seiten und vielleicht von hinten.
„Sascha hat nach dir gefragt. Ich habe ihm gesagt, du seist krank. Es wollte später nach dir sehen."
Ich nickte. Ich hatte keine Lust mit Sara jetzt darüber zu diskutieren, dass ich ihn nicht sehen wollte. Von mir aus sollte er in der Hölle schmoren.
Leise ging Sara wieder. Sie verabschiedete sich auch nicht. Sie schien zu merken, dass ich lieber alleine sein wollte. Und sie hatte sicher auch besseres zu tun, als neben jemanden zu stehen, der doch nicht mit einem sprach.
Die Zeit verstrich. Ich schlürfte meinen Kakao und malte immer neue Bilder meiner Mutter. Einige von ihnen fielen auf den Boden. Ich machte mir nicht die Mühe sie alle wieder aufzuheben.
Schließlich, als ich gerade das letzte Blatt Papier vollmalte, kam Sascha herein. Auch er klopfte nicht an. Aber ich erkannte ihn an seinen Schritten, die deutlich dumpfer klangen als die von Sara. Er hatte ja auch deutlich größere Füße. Ich drehte mich auch bei ihm nicht um.
Er blieb stehen. Kurz raschelte Papier. Er hatte wohl eines der Bilder aufgehoben. Mit schnellen Schritten kam er die letzten Meter auf mich zu. Fest packte er mich an der Schulter und drehte mich zu sich um. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt. Er machte mir richtig Angst. Ich wollte zurückweichen, mich von ihm losmachen, aber sein Griff war eisern, ich konnte mich keinen Zentimeter bewegen.
Er hielt mir die Zeichnung, die meine Mutter zeigte, wie sie mir die Hand hinstreckte, so dicht vor die Augen, dass ich sie kaum erkannte.
„Wer ist das?", brüllte er mich an. Ich verkrampfte mich. Seine Hand tat mir weh. Er sollte mich los lassen.
„Sag es mir!", verlangte er.
„Lass mich los!"
„Sag mir sofort woher du diese Frau kennst!" Sein Griff hatte sich nur noch mehr verstärkt.
„Das ist meine Mutter!", weinte ich. Sascha schüttelte mich hart. Meine Zähne schlugen aufeinander und die Kopfschmerzen, mit denen ich heute Morgen wach geworden war und die inzwischen schon fast wieder abgeklungen waren, wurden so schlimm, dass mir schlecht wurde.
„Sag mir die Wahrheit Megan!"
„Das ist die Wahrheit, wirklich."
Abrupt ließ er mich los. Wütend zerknüllte er die Zeichnung mit beiden Händen. Entsetzt schrie ich: „Nein! Lass das!" Ich griff nach Sascha Händen. Wollte ihn daran hindern noch mehr Schaden anzurichten. Wollte ihm das Blatt wegnehmen. Er stieß mich weg. Ich fiel auf den Boden. Blieb liegen und krümmte mich zusammen und weinte lauthals. Vor meinem Gesicht fiel der Papierball auf den Boden.
„Warum?", wimmerte ich.
„Steh auf!"
Ich bewegte mich langsam. Mein Schädel pochte und es wurde immer schlimmer. Sascha zerrte mich in die Höhe. Ich schrie auf vor Schmerz. Er beachtete mich nicht. Mit finsterer Miene sah er mir in die Augen.
„Bis ich wieder da bin sind die Alle", Sascha machte eine Handbewegung zum Tisch hin, „weg. Ich möchte kein einziges mehr sehen. Habe ich mich klar ausgedrückt?"
Ich nickte, aber wie konnte ich die Bilder meiner Mutter wegschmeißen?
„Wenn nicht, dann lernst du mich erst richtig kennen, haben wir uns verstanden?"
Ich reagierte erst nicht. Da packte er mich wieder an der Schulter. „Haben wir uns da verstanden?"
Mit schmerzverzerrtem Gesicht nickte ich. Er ließ mich wieder los und ging aus dem Zimmer. Ich brach weinend zusammen und blieb erst einmal auf dem Boden sitzen.

 

Verbissen schlug ich immer wieder mit alles Kraft auf den Sandsack ein. Wieder und wieder. Und ich stellte mir vor, dass es ihr Gesicht war. Das Gesicht von Megans Mutter.
Voller Wut schrie ich einmal auf und schlug noch einmal zu. Und noch einmal.
Warum musste auch ausgerechnet Megan die Tochter dieser Frau sein? Es war nicht recht.
Würde Diego sie trotzdem nehmen? Ich wusste es nicht. Aber sie war schön. Genauso schön wie ihre Mutter dachte ich bitter und legte noch einmal alle Kraft in den nächsten Schlag.
Mittlerweile war ich schon aus der Puste, aber jetzt aufzuhören kam gar nicht in Frage.
Warum ausgerechnet Megan und warum regte mich das so auf? Immerhin war sie doch die Frau von Diego, oder nicht? Etwas in mir wünschte sich seitdem ich sie das erste Mal gesehen hatte, dass sie es nicht war. Aber würde Diego sie wollen, würde ich sie ihm überlassen. So sehr es mich auch schmerzte. Das war die Abmachung gewesen und ich würde mein Wort halten.
Wieder schrie ich den Sandsack an. Warum konnte nicht einmal in meinem Leben etwas leicht sein? Und dann ging mir auch das Gesicht, das Megan gezogen hatte, als ich das Bild ihrer Mutter zerknüllt hatte, nicht mehr aus dem Kopf. Sie wusste wirklich über gar nichts Bescheid. Ich knurrte. Meine Arme taten weh und ich schlug weiter wie verrückt auf den Sandsack ein. Boxen war einer der wenigen Sports, die mich wirklich erschöpften und mich kräftemäßig genug forderten. Als BB hatte ich eine sportliche Ausbildung absolviert und konnte mit leichten Sports, wie Federball, nichts mehr anfangen. Man brauchte immer den Kick der Überanstrengung. Manchmal ging ich laufen. Dann rannte ich in einem Affenzahn einige Stunden durch die Gegend. Aber das machte keinen Spaß. Boxen gefiel mir viel besser. Das kam auch dem BB-Training am nächsten.
Und diese ganze Megan-Sache machte mich geistig so fertig, dass ich den körperlichen Ausgleich brauchte.
Vielleicht hätte ich nicht so hart zu Megan sein sollen, immerhin verstand sie die ganze Situation nicht einmal annähernd. Aber ich konnte das Geschehene jetzt auch nicht mehr ungeschehen machen.
Aber wie konnte es überhaupt sein, dass Megan, die Tochter meiner Erzfeindin, sich hier, auf der Erde befand? Das war höchst ungewöhnlich. Ich hatte damit gerechnet, dass sie in Lumina aufwachsen würde, aber nicht hier. Das grenzte schon fast an Unvernunft. Jeder andere in ihrer Position hätte sich für die sicherere Variante entschieden. Für Lumina und gegen die Erde. Aber nicht sie, nein sie musste es ja wieder besonders machen. Konnte sich nicht mit dem Normalen zufrieden geben.
Verdammte Hexe!
Ich hielt kurz inne. Mir war ein Gedanke gekommen. Wie konnte es überhaupt sein, dass Megan die Frau eines Luminer ist? Sie war doch selber halb Luminerin. Das war absolut... unglaublich. Seit Jahrhunderten war das nicht mehr vorgekommen. Es war schon ein Wunder, dass es einmal vorgekommen war, aber jetzt noch ein weiteres Mal? Nein, das war so unglaublich, dass es gar nicht wahr sein konnte. Und wenn doch? Immer hin sagte mir mein inneres Ich, dass sie die Richtige war.
Wieder fing ich an, auf den Sandsack einzudreschen. Das war alles zu widersprüchlich. Ich musste mit Diego darüber reden. Aber das ging erst später und dann war da noch die Sache mit Phil. Das aber auch ausgerechnet jetzt alles schief laufen musste. Verdammt!

 

Wie lang ich so auf dem Boden saß? Ich kann es nicht sagen. Irgendwann waren meine Tränen versiegt und ich hatte mich aufgerappelt. Hatte versucht die Bilder mit zitternden Fingern alles auf einen Haufen zu legen. Gerade wollte ich das Letzte auf den Stapel legen, da hielt ich inne. Auf dem Bild hatte ich meine Mutter etwas von der Seite gemalt. Sie lächelte und ihre Augen strahlten, wenn es auch nur eine Bleistiftzeichnung war. Ihre Augen schienen so grün zu leuchten, wie sie es in Wirklichkeit taten, aber es war doch nur ein Bild. Es sah echt aus und war doch zu künstlich. Ich konnte nicht anders. Ich faltete es zusammen und steckte es mir in den BH. Klar, nicht besonders chic, aber ich wollte es nicht wegwerfen.
Ich öffnete die Schranktüren und sah in den Spiegel, ob man das Papier auch nicht sah. Es war so gut wie unsichtbar. Wenn man nicht wusste, dass es da war, sah man es auch nicht.
Ich schloss die Türen wieder und ging zum Schreibtisch zurück. Was sollte ich nur mit den ganzen Zeichnungen machen? Sollte ich Sara fragen, wo der Papiermüll war? Das war bestimmt keine schlechte Idee. Dann waren sie weg.
Ich nahm die Papiere in die Hände und ging hinunter in die Küche. Das war wohl der einzige Weg, den ich kannte und ohne Fehler fand.
Sara saß am Küchentisch und... stickte. Es war so ein ruhiges Bild, das so natürlich wirkte, dass ich mich zuerst gar nicht traute sie anzusprechen. „Ähm, Sara?" Sie blickte auf und ihre Augen weiteten sich ein Stück vor Erstaunen.
„Sara, ich muss das hier in den Müll tun. Wo ist der?" Einen Moment dachte ich schon sie würde mir nicht antworten, doch dann sagte sie: „Dahinten, aber sind das nicht die Zeichnungen von deiner Mutter?"
Ich zuckte mit den Schultern und ging auf den Mülleimer zu, auf den Sara gezeigt hatte. Kurz zögerte ich noch, dann versenkte ich den ganzen Papierstapel auf einmal darin.
Als ich schon wieder bei der Tür stand, sagte ich zu Sara, ohne mich umzudrehen: „Vielleicht solltest du das Bild, das ich dir geschenkt habe, auch wegschmeißen. Sascha hat irgendwas dagegen."
Ich blieb mit hängendem Kopf noch einen Moment stehen, dann ging ich zurück in mein Zimmer. Der Weg kam mir länger vor und die Stufen wurden immer höher und steiler. Als ich dann doch oben angekommen war, war ich total außer Atem.
Jetzt hatte ich nur noch das eine Bild. Und hoffentlich würde Sascha es nicht sehen.
Stumm saß ich auf dem Bett und starrte leer die Wand an, als Sascha wieder kam. Seine Haare waren feucht. Er hatte wohl geduscht, aber er trug die gleichen Klamotten wie vorhin auch.
Er sah mich kurz an und ich erwiderte seinen Blick ausdruckslos. Dann ging er zum Schreibtisch hinüber und sah darauf.
„Du hast alle weggeschmissen?", fragte er mich, als er sich zu mir umdrehte. Ich nickte.
„Sagst du mir auch die Wahrheit?"
Nein. „Ja."
„Okay, ich will dir glauben. Hast du heute eigentlich schon etwas ordentliches gegessen?"
„Nein."
„Möchtest du etwas haben?"
„Nein." Wieder herrschte eine Weile Schweigen zwischen uns. Ich sah auf meine Hände, die ich in meinem Schoß ineinander gekrallt hatte, aber ich spürte, wie er mich beobachtete.
Und dann brach er das Schweigen wieder. „Kann ich sonst etwas für dich tun?" Ich antwortete nicht, sondern schüttelte nur wieder den Kopf. Auf einmal war er vor mir und hockte sich vor mich hin. Er nahm meine Hände in seine und sagte bittend: „Megan, entschuldige, dass ich vorhin so ausgerastet bin. Ich weiß auch nicht, was da mit mir los war. Du musst das verstehen, ich würde dir so gerne alles erklären, aber ich kann nicht. Gib mir noch etwas Zeit, dann werde ich dir alles sagen. Aber bitte sei nicht sauer auf mich. Und hab keine Angst vor mir, das kann ich nicht ertragen."
Ich sah ihm in die Augen und dachte nur, warum kann er es mir nicht jetzt sagen? Warum später? Was ist später anders als jetzt? Aber ich sagte nichts. Sah ihn nur weiter stumm an. Ich hätte gerne meine Hände weggezogen, aber ich wollte ihn nicht kränken. Warum nicht? Es war einfach so. Ich konnte es ja schon fast nicht ertragen, wie er da so flehend vor mir saß.
„Bitte steh auf.", bat ich ihn. Langsam machte er sich daran aufzustehen.
Was er dann sagte überraschte mich. „Megan, ich geh jetzt gleich zum Chef, dann kann ich dir vielleicht wenigstens den Grund sagen, warum du hier bist. Alles andere wirst du auch bald erfahren."
Ich hatte doch gewusst, dass es nicht nur einen Grund gab. Es steckte mehr dahinter. Es ging nicht nur um eine Entführung. Dafür war das alles eh schon viel zu untypisch gewesen.
Sascha war gegangen. Ich hatte weiter dagesessen und hatte die Wand angesehen. Ich versuchte, meinen Kopf so leer zu halten wie es ging. Versuchte, nicht zu spekulieren. Es gelang mir echt gut.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Überrascht sah ich hinüber. Sascha kam herein gestürzt.
„Pack ein paar Sachen ein. Beeile dich!" Sascha warf mir einen Rucksack zu. Eine Sekunde saß ich noch völlig perplex da. Aber Sascha sah sich so verstört um, dass ich mich beeilte seinen Anweisungen nach zu kommen.
Sascha blieb bei der Türe stehen, während ich die Schranktüren aufriss und verschiedene Sachen in den Rucksack stopfte. Es waren schon einige andere Dinge darin. Das Meiste waren Klamotten von Sascha. Aber auch einige Brote anscheinend, die in Frischhaltefolie gepackt waren.
Ich schmiss mehrere der T-Shirts hinein. Lange wie auch kurze. Dann noch Hosen, Socken, Unterwäsche und aus dem Bad, in das ich noch schnell rannte, mein Shampoo, das so gut roch.
Der Rucksack war voll und ich ging zu Sascha, der mir mit seinem Blick durchs ganze Zimmer gefolgt war.
„Zieh dir Schuhe an. Du wirst einige Zeit laufen müssen."
„Sascha, was ist denn los?", fragte ich endlich. Ich nahm meine Schuhe und setzte mich auf mein Bett. Ich sah immer wieder zu Sascha, während ich mir die Schuhe zuband. Erst nach einiger Zeit rang er sich eine Antwort ab. „Es geht um Verrat. Es hätte mir eigentlich klar sein müssen, dass es schon so bald dazu kommt."
Ich fragte nicht weiter, auch wenn sich viele neue Fragen ergeben hatten. Und so wirklich glauben tat ich Sascha auch nicht. Aber was sollte ich schon machen? Einfach sitzen bleiben und nichts tun? Nein. Das konnte nicht richtig sein. Und was konnte es schon schaden, wenn ich das tat, was Sascha sagte. Bis jetzt hatte sich immer herausgestellt, dass er wusste, was er tat. Hoffentlich dieses eine Mal nicht. Es fühlte sich so falsch und gleichzeitig so richtig an von diesem Ort zu fliehen.
Und wenn es um Verrat ging, hing Sascha dann nicht auch mit drin? Oder war er nur zum Schein hier? In welchem Zusammenhang stand das alles mit mir? Und eine der wichtigsten Fragen: Wo wollte Sascha jetzt mit mir hin?
„Sascha, wohin gehen wir?"
Er sagte nichts, sondern nahm mich beim Handgelenk und zog mich hoch und hinter sich her. Als wir aus dem Zimmer gingen sagte er über die Schulter zu mir: „Überall hin, nur weg von hier. Aber ich habe einen Plan. Lass uns hoffen, dass er funktioniert."
Das klang ja echt super vielversprechend.
Da fiel mir etwas ein: „Was ist mit Sara?"
„Spare dir deine Puste fürs Laufen.", sagte er nur knapp. Ich hielt mich daran und fragte nicht weiter.
Bei jeder Ecke, an der wir vorbei kamen, sah Sascha aufmerksam umher, bevor sich sicher war, dass wir weiter konnten. Wir sahen niemanden.
Zuerst erkannte ich den Weg, den wir liefen nicht, doch dann merkte ich, dass er mich wieder zum Eingang lotste, durch den ich vor wenigen Tagen dieses Haus betreten hatte. Ich konnte das große Eingangsportal schon sehen. Ich wollte gerade darauf zu laufen, da zog mich Sascha plötzlich scharf nach rechts, in einen kleinen, schmalen, unscheinbaren Flur, der gerade ausführte. Der Boden war mit rotem Teppich ausgelegt. Er war nicht so flauschig und dick wie in Saschas Zimmer und schon deutlich abgewetzter. Er musste viel benutzt worden sein. Die Vasen, die auf kleinen Säulen standen, sprachen dagegen. Zumindest geputzt wurde hier nicht viel. Sämtliche Dekoration war mit einer dicken Staubschicht bedeckt.
Sascha beschleunigte seinen Schritt und ich musste mich noch mehr als ohnehin anstrengen, um mit ihm mitzuhalten.
Der Gang war nur spärlich beleuchtet. Alle paar Meter hingen rechts und links an der Wand kleine Funzeln, die kaum genug Licht bis zur nächsten Lampe gaben. Die Luft, die ich gierig in meine Lungen sog, roch immer abgestandener. Ich versuchte, ruhig zu atmen. Durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. So wie man das im Sportunterricht lernte, aber wirklich viel half es bei mir nicht. Solche Sachen machte ich eh immer falsch.
Der Gang schien kein Ende zu nehmen. Wir liefen immer weiter. Es kam mir so lange vor, aber wahrscheinlich war es das gar nicht. In der Schule mussten wir immer 12 Minuten laufen. Mittlerweile machten wir das fast jede Sportstunde. Der sogenannte Kuper-Test. Es war zum verrecken. Ich schaffte es einfach nicht, diese paar Minuten über die Bühne zu bringen ohne einige Pause zu machen und zu gehen. Aber im Gegensatz zum Laufen war ich ganz okay im Tanzen. Wenn mein Vater mal die Zeit fand und Zuhause war, dann gingen wir auch mal ganz gerne zu Tanzabenden. Wir waren schon bei einigen als das Vater-Tochter-Gespann verschrien. Da gab es auch eine lustige Geschichte zu erzählen. Und während wir immer weiter liefen, Sascha mit dem Rucksack auf dem Rücken und ich mit einigen Problemen, was das Tempo anging, erinnerte ich mich an das Geschehnis von damals.
Ich weiß noch es war Anfang Juni. Die Sommerferien waren in aller Munde, aber es dauerte fast noch drei Wochen bis sie anfingen. Das war jetzt zwei Jahre her, ziemlich genau sogar.
Ich hatte meine letzte Mathearbeit zurückbekommen. Es war meine schlechteste Note im ganzen Jahr gewesen. Eine 4-. An dem Abend hatte ich mich mit Jonas getroffen. Seit wir klein waren, waren wir befreundet. Im Sandkasten hatten wir schon zusammen Sandkuchen gebacken und je älter wir wurden desto genießbarer wurden die Kuchen, die wir gebacken haben. Für den Abend war eigentlich geplant gewesen, dass wir eine Schwarzwälder-Kirschtorte machen. Aber ich hatte nicht die Nerven dazu. Ich hatte mehr Lust gehabt tanzen zu gehen. Ich hatte also Jonas gefragt und er hat ja gesagt und dann sind wir tanzen gegangen. Aber so wirklich Spaß gemacht hat es nicht. Jonas konnte zwar gut tanzen, aber es war irgendwie nicht das Richtige. Jetzt im Nachhinein denke ich mir: Warum bist du nicht einfach schlafen gegangen?
Auf jeden Fall hatte ich mich dann einen der Tische gesetzt, während Jonas etwas zu trinken für uns geholt hatte. Und dann stoppte auf einmal die Musik. Verwirrt sah ich mich um und da entdeckte ich Jonas, der ein Mikrofon in der Hand hatte. Er kam auf mich zu und fragte mich ganz lieb, ob ich mit ihm zusammen sein wollte. Im ganzen Raum hörte man die Leute sagen: Wie niedlich! Das ist ja so romantisch! Warum hast du das bei mir nicht so gemacht? Und so weiter und so fort.
Diese Situation kennt man auch nur aus Filmen und Büchern, aber mir passierte es wirklich und wahrscheinlich sagte ich einfach nur deswegen ja, weil ich es so unglaublich süß von ihm fand.
Als ich mit ihm zusammen war, hatte ich sehr viel Spaß. Zumindest am Anfang. Später wollte er dann mehr und mir ging es zu schnell, immerhin bin ich ein ziemliches Stück jünger als er, aber er konnte das einfach nicht verstehen und wir hatten in letzter Zeit eh schon immer so viel mit einander gestritten, dass ich dann irgendwann Schluss gemacht habe.
Ich wollte weiter mit ihm befreundet sein, er war immerhin seit Jahren mein bester Freund gewesen, aber er hatte gesagt, dass er das nicht kann, ich konnte ihn da auch verstehen. Immerhin musste er schon eine ganze Zeit lang in mich verliebt gewesen sein und ich habe es nicht bemerkt und seine Gefühle nie wirklich erwidert. Und obwohl ich nie wie er empfunden habe, war ich fast zwei Jahre mit ihm zusammen gewesen. Ich glaube, teilweise auch wegen meines Vaters. Er hatte sich so gefreut. Dennoch, ich war mir so falsch vorgekommen, weil ich doch genau wusste, dass ich ihn nicht liebte und es ihn trotzdem glauben ließ. Aber jetzt war schon seit etwa drei Wochen alles vorbei und ich hoffte für ihn, dass er schnell jemand Besseren fand. Jemanden der ihn wirklich liebte.
„Ich kann nicht mehr.", keuchte ich hervor. Ich hatte mir wirklich Mühe gegeben, mit Sascha mitzuhalten, aber ich konnte einfach nicht mehr. Sascha gab mir keine Antwort, aber er verringerte das Tempo. So wirklich langsamer waren wir nicht, aber es reichte, dass ich noch etwas länger durch hielt.
Wann würde nur endlich dieser Flur enden?
Und dann, gerade als ich diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, taucht ein Schrank ein ganzes Stück noch entfernt auf. Bis jetzt war es mir noch gar nicht so aufgefallen, aber der Weg ging minimal bergab. Anfangs war es kaum erkennbar, aber jetzt konnte man richtig sehen, dass der Flur immer steiler nach unten abfiel.
Sascha klang kein bisschen aus der Puste, als er seinen Kopf kurz zu mir umdrehte und mir Mut machte: „Wir haben es gleich geschafft. Nur noch bis zum Schrank da vorne. Dann können wir auch gehen."
Ich mobilisierte meine Kräfte für das scheinbar letzte Stück. Ich hatte auch nicht mehr die Luft Sascha danach zu fragen warum wir ausgerechnet zu einem Schrank liefen. Aber ich war sicher, er hatte seine Gründe.
Der Schrank kam immer näher und obwohl ich wusste, dass wir bergab liefen kam es mir so vor, als liefen wir bergauf. Und dann waren wir da. Ich stützte mich auf meine Knie und beugte mich vorn über. Sascha atmete noch ganz normal. Vielleicht etwas hektischer als sonst, aber ich schnaufte also wirklich wie ein Walross.
Sascha öffnete die Schranktüren. Es hing keine Kleidung in dem Schrank. Er stieg hinein und machte sich an der rechten Innenseite des Mobiliars zu schaffen. Ich hörte es einmal leise klicken und dann öffnete Sascha die Seitenwand wie eine Türe.
Erstaunt hatte ich mich aufgerichtet. Er streckte mir die Hand hin und ich kam auf ihn zu, ergriff seine Hand und stieg zu ihm in den Schrank. Ich sah dorthin, wo eigentlich der Flur wieder zu sehen sein sollte, aber da war nichts. Kein roter Teppich, keine dunkelgrün tapezierte Wand, nein da war eine Treppe, die irgendwohin hinab führte.
„Da soll ich runter gehen?", fragte ich Sascha und deutete ungläubig auf die ausgetretenen Stufen, die so nass wirkten wie Steine am Nordseestrand bei Sturm. An den Wänden daneben konnte ich Moos erkennen, aber wie weit die Stufen hinunter führten, war nicht erkennbar, denn es gab kein Licht, das den Weg erleuchtet hätte.
Aufmunternd drückte er meine Hand und meinte: „Ich vorneweg und zünde die Fackeln an, damit du etwas sehen kannst."
Ich dachte ehrlich er würde mich verarschen wollen, aber er ging an mir vorbei die ersten Stufen hinunter und zündete eine Fackel, die an der linken Felswand befestigt war, an. Er hatte meine Hand losgelassen, als er an mir vorbeigegangen war und sah mich jetzt auffordernd an.
Ich hatte nie Angst im Dunklen gehabt, oder eine Phobie vor Spinnen und Insekten gehabt, aber das ging eindeutig zu weit. Wer wusste schon, ob da unten nicht irgendwelche mutierten Viecher auf mich warteten. Oder sogar Krokodile. Das wäre vermutlich das Schlimmste für mich. Wenn unten, am Ende der Treppe Tiere auf mich lauern würden, die mich fressen wollten.
Ängstlich sah ich Sascha an und schüttelte den Kopf. „Ich geh da nicht runter. Das kannst du vergessen. Das ist ja fast so schlimm wie in Horrorfilmen."
„Tja, nur dass das kein Film ist sondern Wirklichkeit, aber du brauchst keine Angst zu haben, da unten ist nichts unheimliches." Ich hörte ihn noch irgendetwas Unverständliches murmeln, fragte aber nicht weiter nach, sondern faste mir ein Herz und stieg die erste Stufe hinunter. Und dann die nächste und die dritte.
Sascha ging vorneweg und zündete die Fackeln an, die jedes Mal zischten. Dann wartete er bei ihnen auf mich. Ich brauchte ziemlich lange, da ich den Treppenstufen nicht vertraute und vermutete, dass wenn ich auch nur eine winzige falsche Bewegung mache liege ich mit gebrochenem Genick unten und bin tot. Aber ich rutschte kein einziges Mal weg.
Am Anfang hatte ich die Stufen auch noch gezählt, aber bei der 133. hatte ich dann aufgehört. Und obwohl es anstrengend war so viele Stufen zu gehen hatte ich mich bald wieder von der Rennpartie davor erholt. Oder zumindest konnte ich wieder ganz ruhig atmen, das war immerhin schon mal etwas.
Da machte der Gang einen plötzlichen Knick. Ich hatte immer nur auf die nächste Stufe geschaut und war ziemlich erstaunt, als es dann da auf einmal in eine andere Richtung weiter ging.
Ich zuckte mit den Schultern und drehte mich halt in die richtige Richtung um. Und da sah ich, dass es nur noch ganz wenige Stufen waren, bis ich wieder auf normalem Boden stehen würde. Eilig ging ich nach unten. Sascha wartete da schon auf mich.
Der Raum in dem wir standen hatte hohe Decken und war quadratisch. Gegenüber der Treppe war eine Holztür in den Stein eingelassen worden. Der gesamte Raum bestand aus Stein. Decke, Wände und Boden, alles nur diese Türe nicht. Sie war ein ziemlicher Blickfang. Ich ging auf sie zu und konnte erkennen, dass sie vollgeschrieben war mir irgendwelchen merkwürdigen Zeichen, die ich nicht kannte. Die Tür hatte kein Schlüsselloch und keine Klinke, nur einen Holzgriff, an dem man sie aufziehen konnte.
Die Zeichen faszinierten mich. Ob das ägyptische Schriftzeichen waren oder etwas Ähnliches? Ich wollte mit dem Finger eines der Zeichen nach fahren, dass aussah, wie ein Frosch, obwohl es nichts gemein hatte.
Ich streckte den Zeigefinger aus, aber da hielt mich Saschas Hand zurück. „Mach das lieber nicht."
Verwirrt sah ich ihn an. Aber etwas in seinem Blick sagte mir, dass er Recht hatte und ich lieber die Finger davon lassen sollte. Also zog ich die Hand zurück und besah mir die Zeichen einfach weiter.
Die meisten sahen aus wie japanische oder chinesische Schrift Zeichen, aber immer wieder entdeckte ich Zeichen, die für mich aussahen wie ein Tier und ihm doch nicht im mindestens ähnlich sahen.
Als ich mir die letzte und gleich danach die erste Zeile ansah bemerkte ich, dass sie völlig identisch waren.
„Komm, wir wollen weiter.", sagte Sascha und zog die Türe auf. Ein frischer, nach Blumen duftender Windzug schlug mir entgegen. Es roch nach Flieder und nach verschiedenen Kräutern. Rosmarin konnte ich erkennen und Pfefferminz.
Ich hatte die Augen geschlossen, um mich besser auf den Duft konzentrieren zu können. Jetzt öffnete ich sie und es verschlug mir den Atem.
Vor mir, keinen Meter entfernt erstreckte sich eine Wiese. Sie war nicht sehr groß und auch eher eine Lichtung, denn rundherum sah ich Bäume. Aber auf dieser Wiese wuchsen so viele Pflanzen. So viele Blumen. Löwenzahn war dabei, Silberdisteln, Schachtelhalm, Stiefmütterchen, Tulpen, Vergissmeinnicht, Hahnenfuß, kleine lila rote Blümchen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, Rose gab es, die kurz über dem Waldboden ihre Blüten hatten. Und diese Rosen gab es in so vielen unterschiedlichen Farben. Marine-blau, türkis, Magenta, orange, natürlich rot und rosa und gelb, aber eine Farbe ließ mich ganz besonders staunen. Schwarz. Hier gab es wirklich schwarze Rosen.
Und dann gab es Blumen, die glitzerten, so als hätte man sie mit Glitzerpulver überschüttet. Und jede von ihnen hatte eine andere Farbe. Ich fand keine dieser Glitzerblumen, die die gleiche Farbe hatten. Interessant war auch, dass es eine Pflanze gab, die gar keine offenen Blüten hatte, sondern nur Knospen, die alle in eine Richtung hingen. Es war erstaunlich, was für eine Vielfalt es hier auf diesem eigentlich winzigen Stück Rasen gab. Und da viel mir das offensichtlichste auf. Der Rasen, er war nicht grün, wie bei uns sondern Lachsfarben. Und normalerweise würde bei uns auf so einer Blumenwiese Unmengen an Insekten herum fliegen. Ich entdeckte kein einziges Tier.
Sascha war schon hinaus getreten. Ich traute mich noch nicht so ganz. Hatte etwas Angst diese wunderschöne Flora zu zerstören.
Ohne den Blick von den Blumen wenden zu können fragte ich Sascha: „Wo sind wir hier? Solche Blumen habe ich noch nie gesehen. Und was ist mit dem Gras?"
„Willkommen in Lumina!", und da sah ich doch zu ihm auf. Er grinste mich breit an und ich hatte schon Angst ihm würden die Zähne ausfallen.
Lumina? Was ist das?", ich kam mir ziemlich bescheuert vor, aber ich hatte nun mal keine Ahnung.
„Alles was du hier siehst ist Lumina. Es ist... ein paralleles Sonnensystem zu eurem. Ganz ähnlich und ganz anders." Genauer ging wohl nicht. „Ich weiß du denkst jetzt, das ist alles nur Show und ich würde mir das nur ausdenke, aber es ist echt."
Ich wusste, dass es echt war. Ich hatte es schon immer gewusst. Also nicht wirklich gewusst, aber es war alles so klar für mich. Es fühlte sich nicht fremd an. Es war für mich genauso wirklich, wie die Erde. Nur auf einer ganz anderen Ebene. Wenn ich wählen müsste, was für mich mehr Illusion wäre, ich würde die Erde sagen, auch wenn ich keine Ahnung von Lumina hatte und es bis jetzt auch nie einen Beweis dafür gegeben hatte, dass sie wirklich existierte.
Ich nickte ernst. Ich roch es an der Luft, dass es echt war.
Ich machte einen Schritt nach vorne. Hinter mir fiel die schwere Holztür zu und als ich mich umdrehte war sie weg und ich konnte nur Wald und Wiese sehen. Ich drehte mich wieder nach vorne und ging in die Hocke. Ich streckte den Zeigefinger aus und deutete auf eine der schwarzen Rosen.
„Sind das wirklich Rosen?", fragte ich ungläubig. Sascha trat näher neben mich und sah sich die Blume, auf sie ich zeigte kurz an, dann schüttelte er den Kopf und sagte: „Nein, das sind Mondblumen."
„Warum heißen sie Mondblumen?", fragte ich mit einem kurzen Blick hinaus in den Himmel. Die Sonne schien und es war weit und breit keine Wolke oder gar ein Mond zu sehen. „Ich kann keinen Mond sehen?"
„Das liegt daran, dass Tag ist."
„Und warum heißen sie dann Mondblumen?"
„Weil sie nur dann blühen, wenn kein Mond scheint. Die kleinen lila blauen, die aussehen wie Vergissmeinnicht, das sind Sonnenblumen. Jetzt am Tag, wenn die Sonne noch scheint sind ihre Blüten winzig, aber in der Nacht, im Schein des Mondes werden sie riesig. Größer, als meine Handfläche. Aber die schwarzen Mondblumen, die du meinst, können noch größer werden als die Sonnenblumen."
Sascha wollte schon weiter machen mit seinen Erzählungen, da viel mir etwas auf. „Auf der Erde gibt es auch Sonnenblumen. Warum heißen die denn beide gleich? Ich meine die sehen doch total unterschiedlich aus."
„Ganz einfach, weil beide Namensgeber genau gleich fantasielos waren." Das war mal eine ehrliche Antwort.
„Und wann werden die Mondblumen so groß"
„Es gibt hier einen Tag, der dauert einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag und die Sonne scheint die ganze Zeit über. Da werden sie ungefähr so groß." Er zeigte mit seinen Händen einen Umfang der dem eines Fußballes entsprach. „Und das besondere ist auch, dass alle Mondblumen an diesem besonderem Tag schwarz werden und im Inneren rot. So rot wie Mohn ungefähr."
„Schön!", hauchte ich. Saschas Reaktion war reichlich negativ. Es sah mich abschätzend an und verzog fast abfällig den Mund und meinte: „Das dachte ich mir, dass sie dir gefallen."
„Warum?" Es schmerzte mich, wie er das gesagt hatte, als wäre es schlecht diese Blume schön zu finden. „Das liegt wohl bei euch in der Familie."
„Was ist denn jetzt mit meiner Familie? Ich dachte es geht um Blumen." Man konnte der einen auf die Palme bringen.
„Du hast echt keine Ahnung. Die Mondblume ist das Wappen deiner Familie. Bzw. deiner Mutter."
„Und was ist dann dein Wappen?"
„Weidenkätzchen." Sascha verzog kein bisschen den Mund, aber ich musste etwas Lächeln. Sascha und Weidenkätzchen passen nicht so wirklich zusammen.
„Aber hier sind Weidenkätzchen etwas anders. Sehen zwar fast genau so aus, sind aber Fleischfresser."
„Diese kleinen flauschigen Dinger fressen Tiere?"
„Ja, aber nur kleinere, als Frösche und Insekten hauptsächlich."
„Wie kommen die denn an Frösche?"
„Ich habe keine Ahnung, aber es ist nachgewiesen, dass die Weidenkätzchen bei uns Frösche essen." Gut, vielleicht passten Sascha und Weidenkätzchen doch ganz gut zusammen.
Ich hockte immer noch am Boden und sah mir noch etwas die Blümchen an. Und dann stellte ich die Frage, die ich schon die ganze Zeit über beantwortet haben wollte. Klar, warum sollte er es mir jetzt sagen, aber es hatte sich etwas verändert. Immerhin waren wir jetzt in Lumina, das konnte er mir doch sicher sagen, warum ich entführt worden war. Und wir waren ja auch aus diesem Haus abgehauen, das musste ja auch einen Grund haben. „Warum?"
„Warum was?"
„Warum wurde ich entführt und warum sind wir jetzt hier?"
„Megan..."
„Nein, nichts Megan! Ich will jetzt endlich Antworten haben! Und du wirst mir jetzt alles sagen!"
Sascha seufzte, dann willigte er doch ein: „Okay, aber während ich dir das erzählen gehen wir ein bisschen. Wir sind immer noch nicht in Sicherheit und es liegt noch ein ganzes Stück Weg vor uns."
„Darf ich eine der Mondblumen pflücken?"
„Klar, wenn du das schaffst."
„Warum sollte ich es nicht schaffen?"
„Ach, die Pflanzen hier haben ihren eigenen Kopf. Nicht jede Blume lässt sich von jedem pflücken. Du die Mondblume ist in der Beziehung ganz besonders speziell."
Ich verstand zwar nicht wirklich, was er damit meinte, aber ich streckte die Hand aus und pflückte die Mondblume, die mir am nächsten war. Sie ließ sich ohne große Mühe abreißen. Einen winzigen Moment blieb ich noch sitzen und starrte auf die Blume in meiner Hand, dann stand ich auf.
Ich sah fragend zu Sascha auf. Ich wartete, dass er anfing zu erzählen, oder wenigstens in eine Richtung wies, in die wir gehen mussten. Aber er stand einfach da und sah mir in die Augen. Ein mir absolut unbekannter Blick lag in seinen Augen. Es war wunderschön, wie er mich einfach nur so ansah. Ich wollte etwas sagen, was den Moment perfekt machen würde, aber mir fiel zuerst nicht ein und dann zu viel auf einmal. Also blieb ich stumm und sah einfach nur auf zu ihm. Und dann wollte ich unbedingt, dass er die Mondblume hat, die ich eben gepflückt hatte.
Ich hatte beide Hände um den Stängel gelegt und stupste ihn vorsichtig mit den Händen gegen die Brust. Einen Moment bewegte er sich nicht, dann sah er langsam hinunter zu meinen Händen. Sein Blick zuckte wieder zu meinen Augen. Ich streckte ihm die Blume etwas nachdrücklicher hin. Schließlich nahm er sie und sobald sich meine Hände von ihr gelöst hatten verwelkte sie. Schlagartig wurde die grau und schrumpelig und ließ den Kopf hängen. Nachdenklich sah Sascha sie an und ließ sie dann abrupt los und richtet sich wieder ganz auf.
„Sorry, ich hab ja gesagt sie haben ihren eignen Willen. Aber hier auf der Wiese wachsen ja noch ganz viele davon. Wenn du magst kannst du dir ja noch eine abpflücken." Sascha räusperte sich.
Ich zuckte wieder einmal mit den Schultern und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie erstaunt ich selber über mich und die ganze Situation war. Was war bloß in mich gefahren? Und was hatte die Blume auf einmal für ein Problem gehabt?
Aber Sascha hatte Recht, es gab hier um mich herum wirklich genügend Mondblumen. Um auch etwas Platzt wieder für mich und meine Gedanken zu haben machte ich einige Schritte von Sascha weg und bückte mich dann, um eine zweite Mondblume zu pflücken.

 

Sie war ihrer Mutter tatsächlich sehr ähnlich. Zumindest was den Geschmack von Blumen anging. Und auch in ihrer Bewegungen hatten Megan etwas von ihrer Mutter.
Aber die Sache mit der Blume hatte mich nur weiter darin bestätigt, dass eine Beziehung zwischen ihr und mir ein Akt der Unmöglichkeit ist. Wie oft hatte ich mir in den letzten Tagen gewünscht, dass es anders wäre. Ganz besonders heute wünschte ich mir nichts mehr. Aber ich würde meine Disziplin nicht vergessen. Ich musste hart bleiben. Jede Art von Schwäche konnte den Tod bedeuten.
Sie hatte sich von mir weggedreht und war etwas auf Abstand gegangen. Ob sie wohl genauso verwirrt war wie ich? Vermutlich nicht. Sie war nicht wie ich. Sie war anders. Sie würde nie so für mich fühlen, wie ich für sie. Aber woher kamen diese starken Gefühle alle auf einmal.
Ich bückte mich nach der Blume. Ich hob sie auf. Ich hatte gedacht sie würde zu Staub zerfallen, aber sie tat es nicht. Sie blieb in ihrer Form. Mit einer geschickten Bewegung holte ich meinen Geldbeutel hervor, den ich von der Erde mitgebracht hatte. Beinahe liebevoll legte ich die Mondblume hinein und steckte das Portemonnaie ein meine rechte Gesäßtasche. Noch bevor Megan sich wieder umdrehte stand ich wie zuvor da. Sie bemerkte nichts.

 

Diese Mondblume kam mir nicht halb so schön vor, wie die Erste, aber sie war immer noch wunderhübsch. Ich drehte mich zu Sascha um, der immer noch genauso dastand, wie zuvor. Dann zeigte er nach links. Also von ihm ausgesehen nach links.
„Wir müssen nach Nord-Osten.", sagte er und ging los. Ich stiefelte hinter ihm her und drehte die Mondblume in den Fingern.
Als wir schon einige Minuten durch den Wald gegangen waren erinnerte ich ihn: „Du wolltest es mir noch erklären."
„Ach so, ja.", erklang so, als hätte ich ihn gerade beim Nachdenken gestört und es dauerte noch einen Moment, bis er anfing. „Auf der Erde ist der offizielle Grund dein Vater. Er hatte sich beim Chef Geld geliehen. Bis dahin stimmt auch alles noch.
Na ja und dein Bruder ist da ehrlich unbeabsichtigt hinein geraten. Ich habe es zwar nicht selber mitbekommen, aber ihm muss irgendwie raus gerutscht sein, dass... Also dass dein Vater eine Tochter hat. Oder dass du seine Tochter bist. Wahrscheinlich eher, dass du seine Tochter bist. Weil ich bin schon etwas länger auf dich angesetzt. Sprich, ich habe dich mehrere Wochen schon beobachtet. Hab mich dann ja auch bei der Nachbarschule angemeldet, damit ich dich besser im Auge hatte. Aber du warst entweder mit deinem Freund unterwegs, oder mit deinen Bodyguards und dann, als ich einmal gerade nicht Dienst hatte warst du alleine draußen. Die haben natürlich gleich ihre Chance genutzt und dich gleich mitgenommen."
„Und was ist mit deinem Vater und deinem Bruder? Was war deren Part in diesem ganzen Spiel?" Irgendwie konnte ich Sascha nicht böse sein. Es war alles so unwirklich. Diese ganze Geschichte. Und dann sollte mein Vater noch etwas damit zu tun haben? Ich brauchte einen Gesamtüberblick, bevor ich ihn anschreien konnte.
„Mein Vater ist... Ach so du meinst Bruno. Er und Taylor waren auch einfach nur Angestellte vom Chef. Ich bin nicht wirklich mit ihnen Verwand und kennen tun wir uns auch nur flüchtig. Das war alles zum Schein."
Ich nickte. Es hörte sich fast so an, als würde Sascha das alles bedauern. „Und warum warst du auf mich "angesetzt"?" Ich konnte spüren, wie Sascha sich einen kurzen Moment versteifte.
Abwehrend sagte er: „Warum mich mein Chef auf dich angesetzt hat weiß ich nicht. Es gibt verschiedene Gründer. Aber warum du dann entführt wurdest oder besser, was dein Vater damit zu tun hat... Nein, lass es mich anders sagen. Im Haus war der offizielle Grund der Entführung die Schulden deines Vaters. Er hatte sich ja Geld geliehen und angeblich nicht zurück gezahlt. Ich habe ein bisschen recherchiert und herausgefunden, dass er den gesamten Betrag plus die Zinsen schon lange abbezahlt hat. Es gibt also in Wirklichkeit keinen offiziellen Grund für deine Entführung."
„Und was hast du mit der ganzen Sache zu tun? Hat es auch etwas mit Schulden zu tun?"
„Nein, ich habe ganz andere Gründe. Die kann ich dir aber noch nicht sagen. Tut mir leid." Ich schwieg einen Augenblick. „Als wir abgehauen sind, da meintest du etwas von Verrat. Was genau hat das mit mir zu tun oder mit dir?"
Anfangs waren wir durchs Unterholz gegangen. Mittlerweile hatten wir einen schmalen Pfad, auf dem wir aber beide neben einander gehen konnten, erreicht. Ich besah mir die ganze Zeit die Mondblume. Der Weg führte nur in eine Richtung, von daher musste ich nicht die ganze Zeit aufpassen.
Die Bäume standen sehr dicht beieinander. Durch das Blätterdach drang kaum Sonnenschein, aber es war trotzdem noch angenehm warm. Man konnte ohne Bedenken im T-Shirt herum laufen. Sicher wäre es in einem Rock oder einer kurzen Hose sogar noch angenehmer gewesen, als in meiner Jeans. Aber da konnte ich nichts machen.
Ab und an verirrte sich ein Sonnenstrahl durch die Blätter hindurch und fiel mir ins Gesicht oder auf meine Kleidung. Ich hatte immer mal wieder zu Sascha hin gesehen, aber er hatte nie runde Lichtflecken auf seinem Körper. Er sah einfach dunkel und perfekt aus.
Als er anfing zu sprechen frischte der Wind auf und ich fröstelte ganz kurz. „Ich hatte eigentlich fragen wollen wie viel ich dir von dem was ich dir eben alles erzählt habe sagen darf. Und als ich vor der Tür stand habe ich halt mit angehört wie die Chefin mit jemand anderem über diesen Verrat gesprochen hat. Ich hab schon lange etwas davon gewusst, nur der Zeitpunkt war immer unklar gewesen, deswegen stand auch immer ein fast ganz gepackter Rucksack in meinem Zimmern. Eben genau für diese Situation."
„Du hast eben Chefin gesagt. Ist es jetzt ein Mann oder eine Frau?"
Sascha zögerte, warf mir einen kurzen Seitenblick zu, bevor er sagt: „Eine Frau, aber sie will möglichst unerkannt bleiben. Deswegen wurden wir alle angehalten Chef zu sagen. War es das erst mal mit der Fragerei für heute?" Ich nickte. Von mir aus. Still gingen wir weiter neben einander her. Und aus irgendeinem Grund war ich nicht sauer auf Sascha. Ich verspürte einfach kein negatives Gefühl ihm gegenüber. Warum bloß nicht? Alle anderen fand ich doch auch blöd und wollte nichts mit ihnen zu tun haben, aber Sascha war anders. Er war er und hatte nichts gegen mich. Das hoffte ich zumindest. Und sowieso war ja hauptsächlich diese Chefin schuld. Sascha und alle anderen hatten zwar mitgemacht, aber was sollten sie auch anderes tun?
Aber wen wollte diese Chefin verraten? Ihr Haus? Irgendwas oder irgendwen in der Politik? War es ein persönlicher Rachefeldzug?
Sascha musste auf jeden Falls da mitdrin stecken. Aber er wollte mir wohl keine Fragen mehr diesbezüglich beantworten. Dann würde ich eben morgen weiter fragen.

Es war späte geworden. Wir waren die ganze Zeit gegangen. Spät am Nachmittag hatte Sascha kurz angehalten und sich etwas zu essen aus dem Rucksack geholt. Er bot mir auch etwas an, aber ich war viel zu aufgeregt, um etwas essen zu können. Überall entdeckte man etwas Neues. Tiere und Pflanzen waren weitestgehend unterschiedlich von denen zu Hause.
Aber jetzt hielten wir für den heutigen Tag endgültig an. Die Sonne war untergegangen, schon vor etwa einer halben Stunde. Wenn nicht sogar noch länger. Aber sobald die Sonne hinterm Horizont versunken war, war auch schon der Mond aufgegangen. Er schien fast so hell wie die Sonne und sah dem Mond auf der Erde sehr ähnlich, nur dass der hier noch einen hellroten Ring drum herum hatte, der ebenfalls leuchtete und ein blassrosa Licht auf Lumina schickte. Ich war einmal stehen geblieben und hatte mir dieses Lichtspiel kurz angesehen, bis Sascha gesagt hatte, dass wir weiter müssten und dass es nicht gut war stehen zu bleiben.
Ich hatte wieder, deutlicher bemerkt, dass das Licht sich von ihm fernhielt. Während ich das Licht schon fast anzog. Ständig hatte das Blätterdach über mir Lücken bekommen und ich hatte zum Mond bzw. zum Himmel hinauf schauen können.
Mittlerweile saßen wir etwas abseits des Weges auf einem runden Stück Grasfläche. Auf unerklärliche Weise hatte Sascha aus dem Rucksack zwei Schlafsäcke herausgeholt und eine Schaufel, mit der er ein Loch gegraben hatte. Auf meine Nachfrage meint er, dass es für ein Feuer war, dass er anzünden wollte. Er hatte mich losgeschickt, um auf dem Weg etwa faustgroße Steine zu suchen. Ich hatte ihm zwei Hand voll gebracht, er hatte sie um die Feuerstelle herum verteil und da es nicht genügend waren musste ich noch einmal losgehen und welche holen. Danach half ich ihm dann beim Reisig zusammen suchen. Und dann kleine Stöckchen und größere etc. Am Schluss hatten wir einen kleinen Haufen mir Feuerholz. Sascha machte sich dann auch gleich ans anfeuern. Ich saß daneben und sah ihm zu.
Inzwischen brannte das Feuer und wärmte uns. Denn die Nacht wurde noch kälter als der Tag warm gewesen war.
Ich hatte die Arme auf die angezogenen Beine gelegt und meinen Kopf darauf gestützt, während ich die Flammen beobachtete.
„Wie lebt ihr hier? Erzähl mir bitte etwas darüber.", bat ich Sascha, der geistesabwesend in der Glut herum stocherte. Es dauerte ein Wenig, bis er anfing zu erzählen. „Lumina ist in zwei Königreiche aufgeteilt. Der in dem wir uns jetzt noch befinden gehört der Königin. Sie gilt als unerbittlich und hartherzig. Ihr Volk hält sie für gerecht, aber ich denke, dass sie sehr viel einfach so neben bei entscheidet. Zum Beispiel entscheidet sie über eine Hinrichtung während dem Abendessen. Sie handelt sehr oberflächlich und unüberlegt. Ich würde nicht gerne..."
„Moment, du meintest eben Hinrichtungen. Werden hier immer noch so barbarische Sachen durchgeführt, wie im Mittelalter? Gleich erzählst du mir noch, dass sie hier immer noch Hexenverbrennung herrscht."
„In einer Hinsicht hast du Recht. Wir leben hier wie die Menschen im Mittelalter. Aber Hexenverbrennung hat es hier nie gegeben. Und Hinrichtungen soll es auch so wenige wie möglich geben."
Ich verzog das Gesicht. Aber immerhin war Sascha ehrlich zu mir und verschwieg es mir nicht.
„Aber es gibt noch diese typischen Kerker. Mit Strohbett und Ratten. Gut, vielleicht nicht mehr mir Ratten, aber besonders schön sind sie nicht. Was mich auch noch an Königin Amber stört ist dass sie noch keine Demokratie eingeführt hat. Bei ihr herrscht eine strenge Monarchie."
„Was ist das für eine Frau? Das muss ja schrecklich sein.", sagte ich angewidert.
„Megan, sie ist deine Mutter. Die Frau die du gemalt hast, genauso sieht sie aus." Sascha klang ganz ruhig. Bemüht sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er diese Frau wohl hasste. Aber meine Mutter war nicht so. Das konnte ich nicht glauben. Nein, niemals würde ich ihm das glauben. Meine Mutter war warmherzig, liebevoll und ganz bestimmt gerecht. Wie konnte er nur behaupten sie wäre hartherzig? Er kannte sie doch nicht einmal.
„Sascha, du lügst! Ich glaube dir nicht! Wie kannst du es wagen so über sie zu reden? Du kennst sie nicht! Und mit deinen Vorurteilen wirst du nicht weiter kommen. Du lügst!" Ich war aufgestanden. Wütend starrte ich ihn über das Feuer hin weg an. Er saß da, mit krummen Rücken und Blick auf den Boden gesenkt. Wie konnte er nur?
Ich musste eine Weile alleine sein. Ich drehte mich um und da ich wusste, dass ich mich im Wald ohne große Probleme verlaufen würde ging ich zur Straße zurück. Meine Füße taten zwar schon höllisch weh, aber hier sitzen bleiben konnte ich auf keinen Fall.
„Wo gehst du hin Megan?", fragte Sascha. Er klang ängstlich. Konnte das sein?
Über die Schulter sagte ich: „Wenn du Natur ruft soll man sie nicht ohne Antwort lassen." Und dann ging ich. Und ich musste wirklich mal hinter die Büsche.
Ich ging ein Stück weiter weg von Sascha und hockte mich dann hinter eine große Gruppe Bäume und Büsche.
Wenige Minuten später fühlte ich mich doch sehr viel befreiter, aber meine Wut auf Sascha war noch nicht im Mindesten abgekühlt.
Die Mondblume hatte ich auf dem Schlafsack, auf dem ich gesessen hatte, liegen gelassen, aber ich entdeckte eine am Wegesrand. Sie war geschlossen. Ich bückte mich zu ihr hinunter und berührte sie leicht. Unter meiner Berührung öffnete sie sich. Sie war ebenfalls schwarz. Ich pflückte sie. Diese Mondblumenblüten sahen wirklich so aus, wie Rosen.
Mit ihr in der Hand ging ich weiter. Unter meinen Füßen knirschten die Steine und mir fing an kalt zu werden, aber noch wollte ich nicht zurückgehen. Ich dachte darüber nach, ob Sascha nicht vielleicht doch die Wahrheit gesagt hatte, aber ich konnte es einfach nicht glauben.
Vielleicht war diese Frau ja ein schlechter Mensch, aber wer versicherte mir denn, dass sie wirklich meine Mutter war? Es konnte auch einfach ein riesiges Missverständnis sein. Wahrscheinlich war es das. Sascha steigerte sich da in etwas rein und meine Mama sah dieser Königin einfach nur zum Verwechseln ähnlich.
Amber... Hieß meine Mutter Amber? Die Frau, die sich für meine Mutter ausgegeben hatte hieß Amber, dass wusste ich. Musste dann nicht meine wirkliche Mama auch so heißen? Ich meine diese Frau hatte genau den gleichen Platz eingenommen, wie meine Mutter gehabt hatte. Es war fast als wäre sie erst gegangen, als mein Vater die Frau rausgeschmissen hatte. Aber meine Mutter hätte mich nie geschlagen. Ganz bestimmt nicht. Sie liebte mich über alles. Sie wollte mich sehen, alles über mich wissen. Das konnte ich spüren. Da konnte sie unmöglich eine skrupellose Herrscherin sein. Und wenn doch?
Ich hatte keine Ahnung. Scheiße! Ich verstand gar nichts mehr. Und war Sascha jetzt eigentlich auf meiner Seite oder nicht? Wer wusste das schon noch?
Plötzlich tauchte vor mir ein Pferdegespann auf. Es waren große braune Pferde. Sie zogen einen, ja wie soll man das beschreiben, einen Holzkasten hinter sich her. Er war etwa mannshoch und etwas breiter. Vorne gab es noch einen Kutschbock, auf dem zwei kleine Männer saßen. Sie waren mindestens genauso überrascht mich zu sehen, wie ich sie. Und ich wusste, dass sie nicht gut waren, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich umklammerte die Mondblume mit beiden Händen. Ich konnte sehen, wie die Augen des Mannes, der die Zügel in der Hand hielt, immer zwischen meinem Gesicht und der Mondblume hin und her zuckten.
Warum musste ausgerechnet jetzt mein Gehirn aussetzen? Es hatte doch eben ohne Unterlass gearbeitet, sogar gegen meinen Willen, aber jetzt war es vollkommen leer. Ich hatte keine Idee, was das zu bedeuten hatte, oder was ich machen sollte. Mir war klar, dass ich wohl weglaufen sollte, aber meine Beine bewegten sein kein Stück. Keinen Millimeter.
Auf dem Gesicht des anders Mannes erschien ein breites, hinterhältiges Grinsen. Dabei zeigte er seine gelben Zähne, die so widerlich waren, dass es mir den Magen umdrehte. An einigen Stellen fingen sie sogar schon das faulen an. Und obwohl die Männer noch nicht wirklich nahe waren meinte ich den Geruch von Schnaps zu riechen.
Aber ich stand immer noch da und konnte nichts machen. Wenige Meter vor mir hielt der Wagen und die Männer, die so klein gewirkt hatten stiegen ab. In Wirklichkeit waren sie groß. Verdammt groß. Bestimmt größer, als Sascha.
Sie kamen auf mich zu. Ich wollte zurückweichen, konnte aber nicht.
Mit ihren riesigen Pranken packten sie mich und da setzte mein Denken wieder ein. Aus voller Kehle schrie ich: „SASCHAA!" Dann wurde mir der Mund zu gehalten. Ich bekam kaum Luft und die Hände rochen nach Öl und Fett. Und ich lag richtig mit meiner Vermutung. Die beiden mussten schon ordentlich Alkohol intus haben.
Der mit den fauligen Zähnen hielt mich fest, während der andere hinter den Wagen ging. Ich versuchte mich los zu machen, konnte mich aber kaum bewegen. Die Mondblume lag vor mir auf dem Boden und ich konnte ihr dabei zuschauen, wie sie vor sich hin welkte. Nach wenigen Sekunden war nichts mehr von ihr übrig. Sie war völlig zu Staub der fallen, den ein plötzlicher Windstoß wegtrug.
Der andere Mann kam wieder. Ich reichte ihm nicht einmal bis zu seinem Schlüsselbein. Ich hätte nie gedacht, dass es so große Menschen überhaupt gab. Er sah etwas gepflegter aus, als sein Kumpel, aber auch er roch nach Schnaps und Fett. Er hatte einen dreckigen Streifen Stoff in der Hand.
Der Mann hinter mir zwang mich den Mund aufzumachen und der anderen knebelte mich ungeschickt, aber stramm. Dann verschwand er hinter den Bäumen etwas weiter den Pfad hinauf.
Ich wurde herum, in die Richtung, aus der ich gekommen war, gedreht. Ich schrie gegen meinen Knebel an und versuchte ihn zu treten, ihn irgendwo zu treffen, dass er mich los ließ, aber er war wie ein Baum. Standhaft und unbeweglich.
Sicher würden diese Männer jetzt warten, dass Sascha kam, um mir zu helfen. Hatte er mich überhaupt gehört? Ich war immer hin eine ganze Streckte gegangen. Aber nach wenigen Minuten kam er. Leider. Ich stemmte mich gegen den Griff und schrie noch lauter. Panisch hatte ich die Augen aufgerissen. Verzweifelt versuchte ich ihm klar zu machen, dass hinter den Bäumen noch einer lauerte. Er verstand mich nicht und beschleunigte seinen Schritt sogar noch, als er mich sah. Im Laufen nahm er den Rucksack von der Schulter, öffnete ihn und nahm etwas heraus. Ich erkannte zuerst nicht was es war und dann war es zu spät. Der Mann, der nur auf ihn gelauert hatte zog ihm eine schwere Holzkeule über den Kopf. das Ding, das Sascha in der Hand gehabt hatte fiel zu Boden und ich erkannte, dass es ein Schwert war. Ich schrie und schrie. Ich wollte zu ihm. Wollte sehen, ob er okay war. Klar, er war höchstwahrscheinlich ohnmächtig, aber ich wollte mich vergewissern, dass er nicht tot war. Aber ich wurde von Sascha weg gezerrt und in den kleinen Holzwagen geschlossen. Aber bevor ich hinein gestoßen wurde fesselte mir der Typ die Hände. Verzweifelt versuchte ich wieder und wieder die Fesseln zu lösen. Es gelang mir einfach nicht.
Aber was war mit Sascha? Ließen sie ihn jetzt draußen liegen? Nein, sie stießen ihn genauso wie mich in den Wagen. Nur war er nicht geknebelt und gefesselt. Die Männer mussten sich ziemlich sicher sein, denn Sascha war niemand, den man mal einfach so abstempelte und sich dachte, dass von ihm keine Gefahr aus ging. Nein, bei ihm war man eher vorsichtig, da man nie wirklich wusste, wie gefährlich er einem werden konnte. So hatte ich ihn eingeschätzt.
Ich hatte mich auf die Knie gearbeitet und beugte mich nun vor zu Sascha. Er atmete noch. Welch ein Glück. Auf einmal war alles vergessen, meine Mutter, diese böse Königin, mein Bruder, einfach alles. Ich konnte nur daran denken, dass Sascha noch lebte, aber wo würden wir hingebracht werden? Und da war der erleichterte Moment auch schon wieder vorbei. Was machten diese Männer mit uns? Würden sie uns umbringen? Uns als Sklaven verkaufen? Uns in irgendeine Miene stecken, in der wir Tag und Nacht arbeiten mussten? Ich sah wieder den Traum vor mir, in dem Sascha mir das alles antat. Aber so war er nicht. Niemals hätte er so etwas getan. Da war ich mir mittlerweile sicher.
Ich würde warten müssen, bis Sascha wieder aufwachte. So lange konnte ich mich auch gemütlicher hinsetzen. Ich rückte Stück für Stück weiter zurück, bis ich mit dem Rücken zur Wand saß. Ich schlug die Beine über einander und wartete. Es dauerte vielleicht zehn Minuten, da begann Sascha sich stöhnend zu bewegen. Er rieb sich mit einer Hand über den Kopf und richtete sich langsam auf.
„Was ist passiert?", fragte er.
Ich antwortete ihm: „Mhn, nhm mhmmh hnhm."
Er sah zu mir hin und legte den Kopf schief, als versuche er zu verstehen, was ich gesagt hatte. Anschließend kam er zu mir herüber und machte mich vorsichtig vom Knebel los.
„Meine Hände auch noch.", bat ich ihn. Ich drehte mich etwas, damit er besser an kam und er befreite mich auch von meinen Handfesseln. „Danke."
„Megan, es tut mir leid, ich hätte besser aufpassen müssen."
„Rede nicht so einen Stuss! Du kannst da gar nichts dafür, immer hin bin ich abgehauen und musste dann selbstverständlich wie eine Statue stehen bleiben. Ich dumme Gans!"
„Sag nicht so etwas. Ich hätte wissen müssen, dass er nicht alleine ist. Aber das hilft jetzt leider auch nichts mehr. Wir müssen hier irgendwie raus kommen. Hast du schon mal versucht, ob der Eingang offen ist?"
„Wie denn?" Ich hielt ihm den Strick, mit dem meine Hände bis eben gefesselt waren, unter die Nase. Es sollte kein Vorwurf sein, aber ich sah, wie tief es ihn traf. „Entschuldige, so war das nicht gemeint.", versuchte ich ihm klar zu machen, aber er winkte ab.
„Du hast schon Recht." Sascha klang bitter. Er hatte vor mir gesessen, jetzt stand er auf und ging zu dem türartigen Ding und drückte dagegen. Es half nichts, es bewegte sich nicht.
„Verdammt!", zischte er und trat noch einmal mit dem Fuß dagegen.
Ich saß in meine Ecke gekauert und sah ihn aus großen Augen an. Sascha fuhr sich durch die Haare. Ich liebte diese Geste. Sie unterstrich so viele verschiedene Gefühle von ihm. Es machte es, wenn er sauer war, wenn er verlegen war und so weiter.
Sascha ließ sich neben mich plumsen und stützte die Arme auf die angezogenen Knie. Seinen Kopf hatte er an das harte Holz gelegt.
„Was machen wir jetzt?", fragte ich ihn vorsichtig. Er seufzte und sagte: „Warten."
Einen Moment schwiegen wir wieder, dann fragte ich weiter: „Wo bringen die uns hin? Wer sind die und was wollen die von uns?"
„Ich vermute mal, dass das Lakaien von Königin Amber sind. Wahrscheinlich werden wir zu ihr gebracht, aber was sie dann mit uns vor hat weiß ich nicht. Du bist ihre Tochter. Sie wird sich aller Voraussicht nach freuen dich zu sehen. Aber mich wird sie..." Er schluckte. „Wird sie vermutlich töten."
Ich traute mich nicht zu fragen warum er das dachte, fürchtete, dass er etwas sagen könnte, was ich gar nicht hören wollte. Und was mich anging, ich konnte immer noch nicht glauben, dass diese Königin Amber meine Mutter sein sollte. Und vor allem hatte sie sich die letzten 16 Jahre auch nicht um mich geschert, warum sollte sie dann ausgerechnet jetzt was mit mir zu tun haben wollen?
„Sascha, ich habe Angst." Der Satz war über meine Lippen, bevor ich nachdenken konnte. Sascha drehte sich zu mir und versuchte mir zu beruhigen. „Du brauchst keine Angst zu haben. Es wird alles gut."
„Ich will nicht alleine..."... sterben.
„Du bist nicht alleine. Ich bin bei dir. Und selbst wenn ich nicht wirklich neben dir stehe, dann bin ich doch da. Glaub nur dran."
Es fühlte sich so wahnsinnig gut an, wie er das sagte. Und dass er es sagte. Er rückte etwas näher zu mir. Ich konnte seine Wärme an meiner Schulter spüren und es hatte etwas Tröstendes.
Aber still durfte es auf keinen Fall werden, ich spürte, wie ich unruhig wurde und meine Gedanken immer skuriellere Gestalt annahmen.
Schließlich bat ich Sascha: „Kannst du mir noch ein bisschen was erzählen? Auch vielleicht über dich?"
„Ich kann es versuchen.", erklärte er sich bereit. „Ich heiße Sascha und bin fast 18."
„Schon fast 18? Das hätte ich nicht gedacht. Aber erzähl mir etwas über deine Familie, bitte."
„Okay, Ich habe einen älteren Bruder. Er ist etwa zwei Jahre älter, als ich. Meine Mutter ist auch ein Mensch. Sie hat es hier nicht lange ausgehalten und ist, als ich fünf war. wieder auf die Erde zurück gekehrt. Das muss ich vielleicht etwas genauer erklären, weil wir, die wir hier auf Lumina leben nennen uns Luminer. Und für jeden Luminer, also für Mann und Frau, gibt es den oder die Richtigen, Richtige. Das ist sozusagen die eine große Liebe, die nie vergehen wird. Kein Luminer, der seine Richtige kennengelernt hat, kann ohne sie. Das Selbe ist bei den Frauen. Das Leben ergibt keinen Sinn ohne diese Person. Aber das ist halt auch nur so, wenn man diese Person kennen gelernt hat. Viele entscheiden sich deswegen oder mit deswegen dagegen sich auf die Suche nach der Richtigen zu machen. Sie heiraten einen anderen Luminer. So wie die meisten Menschen, die nie mitbekommen, dass es Lumina überhaupt gibt. Mein Vater hat sich auf die Suche gemacht und sie gefunden. Und dann starb er und meine Mutter ließ uns bei einer Freundin, die sie hier kennen gelernt hatte."
Ohne es zu merken hatte ich die Hand ausgestreckt und sie ihm auf seine gelegt. Als ich es merkte zog ich sie schnell wieder weg. Sascha drehte mir den Kopf zu und flehte mich an: „Bitte zieh sie nicht weg. Gib mir deine Hand. Bitte."
Zögerlich streckte ich sie wieder aus und er nahm sie sanft. Neutral lagen unsere Hände zwischen uns. Er schwieg und ich räusperte mich und fragte nach: „Haben du und dein Bruder schon die Richtige gefunden?"
„Nein, noch nicht. Wobei ich bin mir nicht sicher." Er warf mir einen Seitenblick zu, der nicht zu deuten war.
Sprach er von mir? Vermutlich nicht, denn er sah sofort wieder nach vorne und erzählte weiter.
„Es gibt aber auch Ausnahmen. Die kommen aber so gut wie nie vor. Dass ist, wenn zwei Luminer für einander die Richtigen sind. Das gab es bis jetzt in der ganzen Lumina-Geschichte nur ein einziges Mal. Sie waren Bürger aus beiden zerstrittenen Städten. Dass sie sich überhaupt kennen gelernt haben ist erstaunlich. Die beiden hießen Romeo und Julia. Sie gingen zu ihren Eltern und erklärten sie wollen für immer zusammen bleiben, trotz der unterschiedlichen Abstammung. Julias Vater hat das gar nicht gefallen und als Romeo kam und ihn bat seine Tochter heiraten zu dürfen erstach dieser ihn. Er glaubte ihm nicht, dass er es wirklich ernst gemeint hatte, mit Julia. Als diese ihren Liebsten dort tot vor ihrem Vater liegend fand brachte sie sich um, damit sie bei ihm sein konnte. Seit der Nacht strahlte ein heller Stern nachts am Himmel. Du wirst bemerkt haben, dass es sonst keine Sterne auf Lumina gibt. Die Bewohner der Städte haben dann gemeinsam eine Gedenkstätte gebaut. Es stellt die beiden da, wie sie voneinander getrennt werden. Ich war selber noch nicht da, aber ich würde sehr gerne einmal mit meiner Richtigen dahin gehen." Wieder warf er mir einen Seitenblick zu.
Diese ganze Geschichte war eigentlich wie Romeo und Julia von Shakespeare. „Sascha, das klingt ganz wie Shakespeares Romeo und Julia."
„Du hast Recht. Er war ein Mensch, der mit den beiden bekannt war. Er hat ihre Geschichte aufgeschrieben und für die Menschheit etwas geändert. Soll ich dir jetzt noch ein paar uninteressante Sachen erzählen? Über mich?"
Ich nickte. Es interessierte mich brennend was er noch so alles erlebt hatte.
„Also, ich habe mir selber Englisch beigebracht und bin für ein halbes Jahr etwa nach Spanien gegangen, um spanisch zu lernen. Ist auch gar nicht so lange her, vielleicht würde ich es sogar noch können. Dann habe ich mich mal an Klavierspielen versucht. Ich bin kläglich gescheitert. Das ist einfach nicht mein Instrument, aber wahrscheinlich ist das keines. Ich tanze gerne. Das solltest du schon gemerkt haben und ab und zu spiele ich auch ganz gerne Schach mit meinem Bruder. Er ist toll. Also mein Bruder. Ich habe ihn wirklich gerne. Er hat viel für mich getan. Während er schnell erwachsen geworden ist hat er mir Zeit gegeben, damit ich noch ein bisschen länger Kind sein konnte. Und im Moment versuche ich mich dafür zu revanchieren. Er hat nämlich einen Wunsch geäußert, den ich dir aber leider nicht verraten darf, den ich jetzt versuche zu erfüllen, wobei das gar nicht so einfach ist. Aber ich werde mir alle Mühe geben. Ich bewundere ihn sehr. Er ist so mutig und tapfer. Ich wäre gerne so wie er. Mit einer Ausnahme. Er reist nicht gerne. Ich habe so viel gesehen, dass ich um bedingt noch mehr sehen will. Auf der Erde gibt es unzählige interessante Orte. Ich glaube das habe ich von meinem Vater. Er war auch immer unterwegs und hat Dinge geregelt. Meine Mutter war viel alleine, aber sie hat es ihm nie übelgenommen. Sie war immer, genau wie mein Bruder, sehr verantwortungsbewusst."
Er machte eine Pause und drückte meine Hand etwas fester.
„Sagst du mir noch etwas mehr über deinen Vater?", fragte ich, obwohl ich wusste, dass das ein wunder Punkt bei ihm war. Er konnte ja auch einfach nein sagen, dann war ich ihm auch nicht böse. Aber er nickte.
„Wenn du das willst. Ich habe ihn nie kenne gelernt. Meine Mutter war mit mir schwanger, aber er hat sie alleine gelassen und ist irgendwohin geritten. Er wurde auf seiner Reise getötet. Er gilt als sehr tapferer Ritter und war immer gerecht. Er half, wenn jemand in Nöten war. Und er hat meine Mutter abgrundtief geliebt. Nur seiner verdammten Reisen haben ihn immer wieder von ihr weggeholt. Und ich glaube meine Mutter hat sich immer noch ein Mädchen gewünscht und als ich dann auch ein Junge war hat sie das tief getroffen. Sie hat oft geweint. Um das Mädchen, dass sie nie haben würde und um meinen Vater. Ich habe nie um ihn getrauert. Nie so offensichtlich. Manchmal, nachdem meine Mutter schon weg war, bin ich heimlich zum Grab meiner Vaters gegangen. Aber geweint habe ich nie wegen ihm."
„Und hast du sonst mal geweint?"
„Klar. Als kleiner Junge bin ich einmal mit dem Gesicht voran in einen Misthaufen gefallen. Da habe ich vielleicht gebrüllt. Oder ein andere Mal, als mein Bruder hingefallen ist und geblutet hat. Er selber ist vollkommen ruhig geblieben, aber ich habe die gesamte Nachbarschaft zusammen geschrien."
„Klingt ja spannend eurer Kinderleben hier." Ich musste ein wenig schmunzeln.
„Danke Megan."
„Wofür?"
„Dafür, dass ich dir das alles erzählen darf."
Ich strahlte ihn an. „Immer gerne."
„Darf ich auch etwas über dich erfahren?"
„Mal sehen, was willst du wissen?"
„Einfach irgendwas. Über dich und deinen Vater zum Beispiel.“
„Wenn mein Vater Auto fährt muss ich immer still sein."
„Jetzt echt?" Er lachte ein wenig. Und ich musste mit lachen. Als ich mich wieder einigermaßen eingekriegt hatte fuhr ich fort: „Ja, er meinte einmal er kann mein Geplapper nicht ab, wenn er fährt. Aber so oft fahr ich ja auch nicht mit ihm. Er ist so oft weg und dann passt eigentlich immer Marc auf mich auf. Aber das ist nicht das gleiche. Ich vermisse meinen Vater sehr. Der einzige Ort, an dem wir uns wirklich amüsieren ist der Tanzclub, in den wir meistens gehen, wenn er nach einer Dienstreise wieder da ist. Ich bin einmal mit jemand anderem dahin gegangen. Ich sag dir, das mach ich nie wieder."
„Warum?"
„An dem einzigen Mal, wo ich das gemacht habe, hat mich Jonas gefragt ob ich mit ihm gehen will. Und ich hab auch noch ja gesagt. Ich habe ihn wirklich gerne. Ich kenne ich auch schon eine Ewigkeit, aber ich habe ihn einfach nicht geliebt. Es war eher so, dass er sich so viel Mühe gegeben hatte und ich es so süß fand, da konnte ich einfach nicht nein sagen. Wo ich noch nie nein sagen kann ist wenn mein Vater mich fragt, ob wir nicht einen Spaziergang machen. Er hat nämlich früher immer mit Mama einen gemacht. So haben sie sich auch kenne gelernt. Das ist dann auch ein Moment in dem ich nicht rede. Nicht weil ich es nicht darf, sondern weil mein Papa mit eh nicht zu hört. Er denkt dann immer an Mama und da will ich ihn nicht stören."
Ich wollte wieder meine Hand wegziehen und mir über die Arme streichen, aber Sascha hielt mich fest. Ich sah ihn an und er sah mir in die Augen. Dann beugte er sich vor, legte mir ganz leicht seine freie Hand an die Wange und küsste mich zärtlich. Der Kuss war lang und innig und als er sich wieder von mir löste war ich ziemlich außer Atem. Alleine vom küssen kam ich aus der Puste, das gab´s ja gar nicht.
Vorsichtig befühlte ich meine Lippen. Der Kuss war so unglaublich schön gewesen. Mir wurde ganz schwindelig.
„Was war denn das?", brachte ich ungläubig hervor.
„Das war schön! Verdammt!"
„Was ist verdammt?"
„Nichts, der Kuss war nur verdammt schön."
„Dürfen wir das überhaupt?" Und wollte ich das? Und wie ich es wollte! Wieder und wieder, aber war das okay?
„Ich weiß es nicht Megan. Aber hier drinnen merkt es keiner. Ist ja keiner da."
„Mm.", machte ich nur und konnte immer noch nicht glauben, dass es so schön sein konnte geküsst zu werden. Jonas hatte mich immer küssen wollen, aber davon taten nur meine Lippen weh und schön war es auch nicht gewesen. Aber Sascha und ich passten einfach so gut zusammen. Wir bewegten uns passend zu einander und es viel mir leicht mich an ihn anzupassen. Es war einfach perfekt.
„Könnte es denn verboten sein, Sascha?"
„Möglich ist alles, aber eigentlich will ich da nicht weiter drüber nachdenken und am liebsten auch nicht reden." Er beugte sich wieder vor und dieses Mal ließ er meine Hand los, legte mir die eine wieder an die Wange und strich mit der anderen durch meine Haare. Und er schmeckte so gut. Süß und nach Liebe. Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll.
Schmeckte ich auch so? Oder war ich voll eklig? Sascha schien es nicht abzuschrecken und er wollte wohl gar nicht mehr aufhören, aber als mir die Luft aus ging schob ich ihn etwas von mir weg und sagte schnell atmend: „Sascha, ich weiß nicht, ob das so gut ist, wenn wir..."
„Oh, ich glaube es ist sehr gut. Aber wenn du nicht willst...", er schien völlig abgetaucht gewesen zu sein. Aber er rückte bei seinen Worten ein Stück von mir weg.
Ich sagte nichts, sondern strich mir nur die Haare, dir mir ins Gesicht gefallen waren, hinters Ohr. Und dabei fand ich es selber doch so schön. Unglaublich schön. Es zerriss mich fast schon innerlich, dass er mich nicht weiter küsste. Aber wie konnte ich das mir gegenüber rechtfertigen, dass ich diesen Jungen so unbedingt küssen wollte? Gar nicht, war meine Antwort auf die Frage. Und da fuhr Sascha sich wieder einmal durch die Haare, diese Geste gab den Ausschlag.
Ich drehte mich nach rechts, zu Sascha und setzte mich auf seinen Schoß, beugte mich vor und küsste ihn. Seine Hände lagen auf meinen Beinen und meine an seinen Wangen. Als ich mich schließlich zum dritten Mal von ihm löste merkte ich, dass er genauso nach Luft rang, wie ich. Und trotzdem fing ich an zu reden. „Gerade weil ich es will macht es mir so viel Angst."
„Hör auf zu reden und komm wieder her!", wies er mich liebevoll an.
Oh man, wie konnte ich das nur machen? Ich knutschte hier wie verrückt mit Sascha rum, während wir gefangen in irgendeinem Verschlag saßen.
Sascha zog mich zu sich hinunter und dieser Kuss war mit mehr Bewegung verbunden, als die vorherigen.
Ich stieß ein: „Mm!", hervor. Sascha lachte und ließ mich, mich wieder aufrichten.
„Was ist eigentlich mit deinem Kopf? Ist der okay? Weil sonst, keine Ahnung, aber ich will nicht, dass du Kopfschmerzen hast."
„Du machst dir jetzt hoffentlich nicht wirklich Gedanken um meinen Schädel." Er lachte immer noch. Und, oh nein, er sah so süß und schön aus. Ich konnte es kaum glauben.
„Warum lass ich es eigentlich zu, dass du die ganze Zeit redest?", fragte er zum Scherz.
„Ich weiß nicht, aber mir ist schwindelig. Liegt wahrscheinlich am Sauerstoffmangel, den ich vom Küssen bekomme." Und es drehte sich wahrhaftig alles um mich herum. Ich stand auf. Ich braucht minimale Bewegung jetzt. Gut unter minimal verstehen die meisten etwas anderes, denn ich ging eilig von einer Seite der Kammer zur anderen. Immer und immer wieder. Ich konnte es einfach nicht glauben, dass ich hier ebenso vollkommen ungeniert herum geknutscht hatte. Und dann war ich mir auch immer noch nicht sicher, ob das wirklich so gut war, was ich hier machte.
Sascha beobachtete mich die ganze Zeit über und als ich nach einigen Minuten immer noch nicht stehen geblieben war stand auch er auf und kam auf mich zu. Er kam immer dichter und ich wich aus Reflex weiter zurück und stand mit dem Rücken zur Wand.
Sascha stellte sich ganz nah vor mich. Ich spürte seinen warmen Atem auf meinem Gesicht und meinem Hals. Er stützte sich zu beiden Seiten meines Kopfes an der Holzwand ab. Seine Beine berührten meine. Ich musste meinen Kopf ziemlich in den Nacken legen, um ihn anzusehen.
Mit einer wunderschönen dunklen, samtigen Stimme sagte er: „Hast du was dagegen, wenn ich mein Hemd ausziehe?"
Das war wohl die affigste Situation, in der ich je gewesen bin und ich konnte einfach nicht anders, ich musste loslachen.
„Das ist gar nicht lustig. Es wird verdammt heiß hier drinnen.", sagte er gespielt beleidigt. „Bleib da stehen. Nicht weg gehen."
Sascha machte ein, zwei Schritte nach hinten und zog sich das Shirt über den Kopf. Ich konnte nicht hin sehen. Sein perfekter Körper lockte mir die Schamröte in die Wangen. Er stellte sich wieder vor mich und legte mir die Hand unters Kinn, damit ich ihn ansah.
„Willst du mich denn nicht anschauen?", fragte er mich liebevoll. Ich wollte so gerne, aber neben ihm fühlte ich mich einfach so... unperfekt. Aber das konnte ich nicht sagen, das war mir zu peinlich.
Also zuckte ich nur mit den Schultern, aber ich konnte ihm dabei nicht in die Augen sehen und deswegen wanderte mein Blick die ganze Zeit durch die Gegend. Zuckte mal nach links, mal nach rechts. Aber nie nach unten, wo ich wohl möglich seine nackte Brust sehen könnte.
„Megan", er strich mir mit dem Daumen über die Wange. „Bitte sag mir, was los ist."
„Kann ich nicht.", brachte ich mit belegter Stimme hervor. Und als Sascha nichts weiter sagte versuchte ich es doch ihm zu erklären. „Ich... Du bist so... hübsch... und perfekt und ich daneben wirke weniger als durchschnittlich. Ich fühle mich... Ich weiß auch nicht."
„Typisch Mädchen. Sind immer so unsicher und dabei sind sie so wunderschön, wie sie nur sein könnten. Megan, ich finde dich wunderschön!"
Ich sah ihm direkt in die Augen und merkte, wie ernst er es meinte.
„Ich liebe deine Haare. Sie sind super glatt und glänzen so schön. Und ich will, dass du mich genauso schön findest, wie ich dich."
„Aber das tue ich doch.", stieß ich hervor. Woher kaum auf einmal dieser Mut solche Sachen zu sagen? Normal traute ich mich so etwas doch nie. Aber wen interessierte das schon jetzt noch? Das einzige, was ich jetzt noch sah war dieses herrliche Gesicht mit dem süßen Lächeln. Ganz von alleine strich meine Hand über seinen Oberkörper. Ich konnte spüren, wie er unter meiner Berührung erschauerte. Und es fühlte sich so natürlich an, wie er ganz dicht vor mir stand und wir uns berührten.
Ich sah hinunter auf meine Hand. Erstaunt holte ich tief Luft und stieß sie wieder aus. Die gesamt rechte Seite von ihm war mit Schriftzeichen bedeckt. Es waren die gleichen, die ich auch schon an der Tür gesehen hatte. Aber seine linke Seite war frei von jedem Tattoo. Musste das nicht fürchterlich wehtun, wenn man sich das auf tätowieren ließ?
Liebevoll strich ich mit den Fingern einzelne Zeichen nach. Und er hielt mich nicht wie bei der Pforte nach Lumina auf, sondern genoss die sanften Berührungen.
Mein Blick glitt an Sascha nach oben und ich entdeckte eine weitere Tätowierung an seinem rechten Oberarm. Es waren zwei große Bs. Fasziniert strich darüber. Die zwei Buchstaben waren in einander verschlungen und ergänzten sich gegenseitig.
„BB, was heißt das?", hauchte ich.
Seine Stimme klag entspannt. „Bone Breaker."
„Was soll das sein?"
„Ich bin ein Bone Breaker."
„Inwiefern?"
„Ich kann Leuten durch bloße Berührungen die Knochen brechen. Ich wurde extra dafür ausgebildet. Es ist meine Gabe. Jemandem mal schnell das Genick zu brechen ist eine meiner leichtesten Übungen."
Normal würde man denken, dass ich jetzt Angst vor Sascha hätte, aber das hatte ich nicht. Wirklich nicht. Ich fand es eher beeindruckend, dass das ging.
Und es war so sexy, dass er ohne großen Kraftaufwand mich vor jemandem beschützen konnte. Aber würde er das überhaupt machen?
„Darf ich dich küssen?", fragte er mich. Ich sah zu ihm nach oben und merkte, dass er meine Lippen anstarrte. Ich antwortete ihm nicht. Er beugte sich vor und küsste mich wieder. Er schmiegte sich mit seinem ganzen Körper an mich und es fühlte sich einfach wunderbar an.
Und trotzdem wusste ich, dass wir erst einmal besser aufhören sollten.
„Ist das so eine besondere Begabung von euch Luminern? Dass ihr anderer Leute Knochen brechen könnt?", fragte ich noch mit seinem Mund an meinem. Er ging mit seinem Kopf ein Stück nach hinten und sah auf mich herunter.
„Ja, so ungefähr.", sagte er.
„Habe ich auch besondere Fähigkeiten?" Irgendwie interessierte mich das brennend.
„Wenn du wirklich Ambers Tochter bist, dann ja. Dein Körper ist dein lebendiges Schutzschild."
„Was heißt das?"
„Wenn dich jemand zum Beispiel eine Klippe runter schubst, was er nie wagen wird, weil ich ihm sonst das Genick breche, dann verwandelt sich sein Körper so weit, dass du überlebst. Ob du jetzt Kiemen zum unter Wasser atmen bekommst oder Flügel weiß ich nicht. Aber dein Körper wird in solchen Situationen deine Rettung. Er wird immer jeden Teil von dir beschützen. Genau wie ich. Megan, te amo!"
Er hatte ja erzählt, dass er spanisch gelernt hatte, aber ich hatte ihm nicht gesagt, dass ich spanisch in der Schule gewählt hatte. Und eigentlich wollte ich auch, dass das noch ein kleines Geheimnis von mir bleib. Wer wusste, wozu das noch nützlich sein konnte?
„Bin ich dann unzerstörbar?", fragte ich nach.
„So ungefähr.", sagte Sascha an meinem Hals. Liebevoll küsste er mich dort. Sein Mund wanderte wieder nach oben und fand meinen Mund, den er leidenschaftlich küsste. Meine Hände lagen auf seiner Brust. Sacht drückte ich dagegen.
Sascha hörte auf mich zu küssen. Er leckte sich über seine Lippen und fuhr sich mit seinen Finger durchs Haar.
„Sascha, ich bin wirklich nicht sicher, ob das eine so gut Idee ist. Es ist wunderschön, aber..." Ich sah auf meine Füße.
„Sollen wir es lieber lassen?" Ich nickte und es tat mir weh. Am liebsten hätte ich laut aufgeschrien, aber ich blieb stumm und sah nur vor mich.
Sascha seufzte. „Vielleicht hast du ja Recht. Aber einen will ich noch, bitte."
Kurz sah ich zu ihm auf und musste gleich wieder weg sehen. Ich schüttelte den Kopf. Wenn er mich wieder küssen würde, dann könnte ich mich wahrscheinlich auch nicht beherrschen. Und es war doch so schön. Doch Sascha gab sich damit nicht zu Frieden und kam wieder näher.
Ich musste standhaft bleiben und schob ihn wieder weg. Er wollte meine Arme fort drücken. Ohne Mühe schaffte er es, aber ich flehte ihn an: „Bitte Sascha, lass das. Ich möchte wirklich nicht. Lass mich bitte los."
Er zögerte einen Moment, dann ließ er mich los. „Entschuldige, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist."
Schnell ging er einige Schritte von mir weg. Ich hätte ihn am liebsten fest gehalten und ihm gesagt, dass das alles nicht so gemeint war und er mich doch bitte küssen sollte, aber ich rutschte nur an der Wand hinunter. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Oh man tat das weh ihn von mir zu weisen.
Sascha setzte sich mir gegen über hin.
Der Wagen holperte vor sich hin und ich wurde schrecklich müde. Immer wieder fiel mein Kopf zur Seite. Irgendwann gab ich auf und kuschelte mich auf dem Boden zusammen. Es war dermaßen ungemütlich, dass ich nicht still liegen bleiben konnte sondern mich wieder hin setzte.
Sascha kam zu mir rüber, setzte sich neben mich und zog vorsichtig meinen Kopf auf seinen Schoß. Das war viel gemütlicher und ich schlief ein, während Sascha mit meinen Haaren spielte.

 

Warum musst ausgerechnet du meine Richtige sein?

 

Ich wusste nicht, was mich geweckt hatte. Doch da war es wieder. Etwas rüttelte fest an meiner Schulter. Ich blinzelte. Die Sonne schien mir ins Gesicht. Verschlafen rieb ich mir über die Augen.
„Aufwachen Püppchen!", sagte eine Stimme. Dunkler als die von Sascha. Der Geruch nach Schnaps und Fett schlug mir entgegen und plötzlich war ich hell wach. Schnell richtete ich mich auf. Mein Kreislauf spielte nicht mit und mir wurde schummrig vor den Augen. Stöhnend hielt ich mir eine Hand an den Kopf.
Hände legten sich auf meine Schultern. Ich drehte mich um und sah Sascha, der mich etwas besorgt musterte. Sofort nahm ich die Hand runter.
„Komm Püppchen, Amber wartet schon auf euch!", sagte er Mann mit einem widerlichen Unterton in der Stimme.
Sascha hinter mir stand und streckte mir eine Hand hin. Mir seiner Hilfe stand ich auf. Ich musste gähnen und hielt mir die Hand vor den Mund.
Vorm Ausgang des Holzverschlags stand der gepflegtere der beiden Männer, die uns gestern entführt hatten. Seine Augen blitzten gefährlich.
Ausdruckslos ging Sascha an mir vorbei und sprang leichtfüßig nach draußen. Zwei Männer, beide mit Helm auf dem Kopf und Speeren in der Hand, kamen zum Vorschein und richteten ihre Waffen auf Sascha, der seine Hände etwa auf Schulterhöhe hob.
Der riesige Typ grinste mich an und streckte mir die Hand hin um mir raus zu helfen. Ich ignorierte sie und wollte genau wie Sascha einfach raus hüpfen.
Ungelenk kam ich auf dem Boden auf und Sascha griff schnell zu, dass ich nicht stürzte. Er ließ mich erst wieder los, als einer der Wachen schrie: „Hände nach oben, Freundchen!"
Brav hob Sascha die Hände. Ich ließ meine unten. Ich fühlte mich mit Freundchen nicht angesprochen. Und es sagte auch keiner etwas dagegen. Wahrscheinlich trauten sie mir eh nichts zu.
Ich sah mich um. Wir befanden uns in einem Innenhof, der von mindestens zehn Meter hohen Mauern umschlossen war. Auf dieser Mauer standen in gleichmäßigen Abständen Männer, die genauso angezogen waren, wie die, die Sascha unter Kontrolle hatten. Dunkel lila Waffenröcke, unter denen schwarze Hosen hervorlugten. Ein Gürtel, an dem zwei Dolche hingen und ein langes schweres Schwert, das ihnen bei jeder Bewegung gegen's Bein schlug. Und alle trugen komisch aussehende Metallhelme. Oben waren sie spitz und ragten bestimmt 50 Zentimeter über den eigentlichen Kopf hinaus. Es sah schrecklich dämlich aus. Na ja vielleicht war das ja gerade Mode hier.
Bevor ich mich weiter umschauen konnte wurde ich nach vorne gestoßen und der Typ, der auch eben Sascha angeschrien hatte befahl mir: „Vorwärts mit dir! Bewegt euch!"
Wir wurden auf eine große Holztür zu gestoßen. Sie öffnete sich und wir traten in einen prächtigen Raum. Mit hohen Decken, die kunstvoll bemalt worden waren. Vereinzelte Elemente des Bildes waren vergoldet. Unzählige Farben waren benutzt worden und noch ehe ich es mir genauer anschauen konnte wurden wir auch schon wieder weiter geschoben. Wir kamen an Säulen vorbei an denen sich eingemeißelte Blumen empor rankten. Die Blüten waren vergoldet. Zwei stolze Diener, die einen Frack im gleichen dunkel Lila an hatten, wie die Wachen, eine zwei zweiflügeliges Portal, durch das wir in einen großen Raum traten. Er war noch größer, als die Eingangshalle und der andere Raum, durch den wir danach gegangen waren. Vor unseren Füßen begann ein roter Teppich der durch den in die Länge gezogenen Raum führte, bis zu einigen Stufen an deren Ende ein Thron stand. Er war mit dicken roten Kissen gepolstert. Links und rechts befanden sich große Fenster, durch die das Sonnenlicht herein fiel. Der Raum war hell und an den Seiten standen fast verdeckt von den vielen Säulen, die auch in diesem Raum standen, wieder Wachen, die Beine gespreizt, den Speer in der Hand. Mit kaltem Blick sahen sie uns an, wie wir den Teppich entlang gingen.
Ängstlich griff ich nach Saschas Hand, die er inzwischen hatte runter nehmen dürfe. Aufmunternd drückte er sie.
Wir waren jetzt fast bei den Stufen angekommen und blieben stehen.
„Auf die Knie mit euch! Verbeugt euch vor der Königin!", wurden wir angewiesen. Der Mann rammte Sascha das hölzerne Ende des Speers in die Kniekehle und er viel nach vorne. Auch ich wurde auf den Boden gestoßen. Ich keuchte, als ich auf den Boden fiel.
Ich konnte neben mir Sascha mit den Zähnen knirschen hören. Vorsichtig sah ich zu ihm herüber. Er starrte eine kleinere Tür an, die oben auf dem Podest hinter dem Thron zu sehen war.
Ich sah die Wachen aus den Augenwinkeln, die salutierten und alle wie aus einem Mund riefen: „Lob sei der Königin!"
Die Tür öffnete sich und es kamen zwei Frauen heraus. Zuerst sah man nur die eine. Eine kleine, zierliche Frau, in einem hell blauen Kleid, das an ihrem schmalen Körper hinab fliesen zu schien. Sie stellte sich neben den Thron und faltete die Hände vor ihrem Körper. Dann trat eine hochgewachsene Frau ein. Sie hatte lange rotbraune, lockige Haare und auf ihrem Gesicht lag ein strenger Ausdruck. Ihre grünen Augen waren strickt geradeaus gerichtet.
„Mama...", keuchte ich hervor.
Die Wache, die hinter mir stand, rammte mir das stumpfe Ende seines Speers in den Rücken und ich schrie auf. „Schweig gefälligst!", brüllte er.
„Hey!" Sascha sprang auf und drehte sich zu dem Wächter um. „Lass sie gefälligst in Ruhe!"
„Setzt dich wieder!", brüllte der andere dagegen.
„Nein!", zischte Sascha. Er holte aus und wollte der Wache die Hand vor die Brust rammen. Erschrocken hielt ich mir die Hände vor den Mund.
Die Wache fing seine Hand ab und verdrehte sie ihm. Sascha knurrte und verzog vor Schmerz das Gesicht.
Ich entdeckte den Mann mit den fauligen Zähnen hinter den Wachen, der nun einige Schritte nach vorne machte und Sascha mit der Faust ins Gesicht schlug. Er schlug auf den Boden und blieb erst einmal liegen. Ich sah, dass er aus der Nase blutete und seine Unterlippe aufgeplatzt war.
Panisch kroch ich zu ihm und wollte ihm die Haare aus dem Gesicht streichen, aber ich wurde am Schlafittchen gepackt und wieder von ihm fort gezogen. Ich stemmte mich dagegen, aber der Mann war viel stärker als ich. Ich wurde wieder ganz auf den Boden gestoßen.
Der andere Typ, der uns entführt hatte meldete sich zu Wort. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er auch da war. „Edle Königin Amber, wir bringen Ihnen den kleinen Prinzen und eine Gefährtin von ihm. Wir haben die beiden nahe der Grenze entdeckt und sie zu Ihnen gebracht."
„Und wer ist sie?", fragte die Königin mit kalter Stimme. Ich erschauerte.
Sascha neben mir rührte sich und setzte sich langsam auf, wobei er seine rechte Hand gegen die Brust drückte. „Sie ist Eure Tochter.", knurrte er und wischte sich mit dem Handrücken etwas Blut aus dem Mundwinkel. Die Wache hinter ihm stieß dieses Mal ihm den Speer in den Rücken. Er keuchte und fiel auf den Boden.
Ich war hochgefahren und schrie: „Bitte nicht! Bitte lasst ihn! Hört doch um Himmelswillen auf!" Keiner beachtete mich.
Der Entführer, der eben schon gesprochen hatte sagte: „Oh königliche Hoheit, wir wissen es nicht, aber sie war bei ihm und sie hatte eine Mondblume in der Hand."
„Was ist an der Mondblume so besonders?", fragte die Königin nach. Ich sah zu ihr auf. Ihre Augen waren unverwandt auf einen Punkt hinter mir geheftet. Sah sie mich denn gar nicht? Erkannte sie mich denn nicht, wie ich sie?
„Es war Nacht und sie war geöffnet, Hoheit.", mischte sich der zweite Entführer mit den ekelhaften Zähnen ein. Ich konnte sehen, wie Königin Amber offensichtlich erstaunt zu mir hin sah.
Sie wand sich an mich und fragte: „Wie heißt du Mädchen und was hast du mit dem Prinzen zu tun?"
„Ich ähm...", fing ich an. „Ich heiße Megan. Und... und ich weiß nichts von einem Prinzen. Ich bin erst seit..."
„Was soll das heißen du weißt nichts von einem Prinzen? Schließlich sitzt du gerade neben ihm!", schnitt mir die Königin das Wort ab.
Meine Augen wurden groß und mein Unterkiefer klappte nach unten, als ich zu Sascha hin sah. War er...?
„Sie weiß nichts davon. Sie weiß kaum etwas.", mischte sich Sascha ein. Er saß nach vorne gebeugt, drückte seine Hand an die Brust und hatte die Augenbrauen zusammen gezogen.
„Dann erzähl du es mir Prinz!", forderte sie ihn auf. Ich saß nur da und starrte ihn an.
Warum hatte er es mir nicht gesagt? Mit keinem Wort hatte er erwähnt, dass er Prinz war. Und wenn meine Schlussfolgerungen richtig waren, dann war er Prinz von dem anderen Land. Von dem Land, das mit diesem hier verfeindet war.
Ach du heilige Scheiße!
Warum hatte er bloß nichts gesagt und mich glauben lassen er wäre einfach irgendjemand der hier in Lumina lebte?
„Ihr Name ist Megan. Ich habe sie mit hier her gebracht. Und sie ist...", Sascha schluckte. „Sie ist Eure Tochter."
Ich sah hinauf zu meiner Mutter und ich konnte dabei zusehen, wie ihre kalte Fassade bröckelte. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und sank in sich zusammen.
Die Wachen hinter uns hatten wohl gar nichts mitbekommen. Der eine schrie: „Schweig oder ich lasse dich zusammen schlagen elender Lügner!" Er holte aus mit seinem Speer. Sascha hatte sich wieder aufrecht hingesetzt und die Hände hinunter genommen. Der Typ zielte auf Saschas Rippen.
„Nicht! Er sagt die Wahrheit.", hielt meine Mutter ihn scharf zurück. Ich sah, wie Sascha erleichtert ausatmete.
Ich rutsche näher zu ihm hin und legte ihm vorsichtig eine Hand an die Wange. Er sah mich an und ich strich ihm die Haare aus der Stirn.
„Prinz, sag mir noch eines. Was hat meine Tochter mit dir zu tun?", richtete meine Mutter das Wort wieder an ihn.
Sascha sah zu Boden und räumte ein: „Das kann ich Euch nicht sagen." Was sollte das denn nun schon wieder heißen? Er konnte es nicht sagen? Und warum nicht? Meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Konnte oder wollte er es nicht sagen? Bitter zog ich den Mund zusammen und sah wieder zu meiner Mutter, die aufgestanden war und jetzt die Treppen hinunter kam. Vor mir blieb sie stehen und reichte mir die Hände und half mir hoch. Ich blickte auf Sascha hinunter, der immer noch mit gesenktem Kopf da saß und wie ein geprügelter Hund wirkte. Ich konnte den Anblick nicht ertragen und sah zu meiner Mutter, die mich immer noch an den Händen hielt.
„Hallo mein Kleines.", sagte sie. „Wie geht es dir?"
Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte einen Kloß im Hals. Was sollte ich sagen? „Gut, glaube ich. Was wird aus Sascha?"
„Ich weiß noch nicht. Er ist mein Gefangener. Erst einmal wird er in den Kerker gebracht. Was danach mit ihm geschieht, darüber muss ich noch nachdenken."
„Bitte, ich möchte nicht ohne ihn sein." Meine Mutter strich mir eine Strähne hinters Ohr.
„Schätzchen, er ist nicht unser Freund. Er ist unser Feind und als solcher wird er hier auch behandelt werden."
„Er ist mein Freund!", sagte ich entschieden. Ich dachte an den Weg hierher, auf dem wir uns geküsst hatten und er mir gesagt hatte, dass er mich liebte.
Von hinten kam es ruhig: „Nein Megan. Ich kann nicht dein Freund sein. Lo siento, Megan!"
Ich konnte nicht glauben, dass er das wirklich sagte. Ich starrte ihn an und meine Augen füllten sich mit Tränen. Wie konnte er nur so etwas sagen?!
Ich drehte mich weg und unterdrückte mühsam ein Schluchzen. Meine Mutter nahm mich in den Arm und wies die Wachen an: „Bringt ihn weg."
Sascha wurde hochgezogen und weg geschleift. Er wehrte sich nicht. Und es tat mir so im Herzen weh ihn so zu sehen. Am liebsten wäre ich ihnen nachgelaufen und hätte Sascha von den anderen weggezogen. Aber ich blieb und versuchte aufzuhören zu weinen. Als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte kamen zwei junge Frauen, etwas älter als ich, aber kleiner. Die beiden hatten auch ein hell blaues Gewand an. Sie führten mich durch die Türe hinter dem Thron und eine Wendeltreppe nach oben. Es führte auch eine nach unten, die meine Mutter nahm. Der Raum, in den die Treppe führte war groß und lichtdurchflutet. Die Sonne schien warm zum Fenster herein. Wie spät es wohl war?
Ich entdeckte ein großes Bett an der Stirnseite des Zimmers, gegenüber der Tür. In der Mitte des Raumes stand eine Wanne auf silbernen Adlerfüßen.
Gerade goss ein junger Mann einen vollen Eimer Wasser hinein. Ich sah, dass Dampfschwaden davon aufstiegen. Das Wasser musste wunderbar warm sein, aber ich verspürte nicht die geringste Lust ein Bad zu nehmen. Schade nur, dass ich nicht gefragt wurde.
Mit einer leichten Verbeugung zog sich der Mann zurück. Kaum war er gegangen machten sich die zwei Frauen sich daran mir beim Ausziehen zu helfen. Zuerst war es mir peinlich nackt vor ihnen zu stehen, aber als ich merkte, dass sie mir keine komischen Blicke zuwarfen sondern einfach nur ihre Arbeit machten entspannte ich mich immer mehr.
Ich saß in der Wanne, in dem heißen Wasser und die zwei Frauen schrubbten meine Arme und Beine, bis ich wieder ganz sauber war. Mein ganzer Körper war von einer Schmutz und Schweißschicht bedeckt gewesen. Ich ließ es über mich ergehen. Bekam alles nur verschwommen mit. Mein Kopf war leer. Ich konnte an nichts denken, verdrängte jeden Gedanken.
Als die zwei Frauen fertig waren mit schrubben musste ich aufstehen und die beiden trockneten mich von oben bis unten ab. Währenddessen kamen zwei weitere junge Frauen herein. Die eine hatte sich ein Kleid über den Arm gelegt. Es war ganz hell-türkis und fiel weich über ihren Arm. Die andere hatte dazu passende Schuhe in der Hand. Sie sahen aus wie Ballett-Schläppchen. Nur in türkis.
Geduldig warteten die beiden Frauen mit den Kleidern, dass die anderen fertig waren. Als dieser gingen kamen sie auf mich zu und halfen mir, ohne ein Wort mit mir zu wechseln, mich anzuziehen. Zuerst dachte ich, dass das total übertrieben war, aber schon bald merkte ich, dass es gar nicht so einfach war in dieses Kleid hinein zu kommen. Es hatte so viele Falten und Verzierungen, dass man gar nicht wusste, wo Arme und Beine hin mussten. Dafür waren dann die beiden Frauen da, die doch eher noch Mädchen waren. Ich schätzte sie auf noch jünger, als ich war. Die eben waren deutlich älter gewesen, aber immer noch unter dreißig. Es waren jedoch alle blond. Und alle vier Frauen hatten ziemlich genau schulterlange Haare und trugen die gleichen hell blauen Kleider, genau wie die Frau, die vorhin auch neben meiner Mutter gestanden hatte. Im Thronsaal. Damals, vor... Wie lange war das jetzt her? Noch nicht allzu lange, dachte ich.
Als ich es endlich geschafft hatte in dieses Kleid zu schlüpfen gingen die beiden Frauen auch schon wieder und ließen mich alleine.
Ich drehte mich einmal um mich selbst. Das Zimmer war rund. Es führte eine Treppe nach unten und es gab eine Türe, von der ich nicht wusste, wohin sie führte. Es gab insgesamt zwei große Fenster in diesem Zimmer. Von dem einen aus sah man die Schlossmauer und etwas weiter hinten die Stadt, die sich extrem weit erstreckte. Ich konnte aber noch die Stadtmauern sehen und auch einige Häuser, die dahinter lagen, aber eigentlich reichte die Stadt bis zum Horizont. Das andere zeigte den Ausblick auf Felder, auf denen die Männer und Frauen ohne Pause arbeiteten. Sie schwangen die schweren Gerätschaften und hieben sie mit einer Kraft in den Boden, die ich mir kaum vorstellen konnte. Ich selber würde da unten wahrscheinlich nicht lange überleben. Und dann auch noch in der prallen Sonne...
Ich drehte mich weiter. Neben dem Fenster stand ein Bett. Groß und kantig. Es war eigentlich nur ein Holzkasten mit oben etwas Decken und Kissen drauf. Es war nicht wirklich mein Stil. Aber immer hin hatte ich ein Bett. Sascha hatte bestimmt keines. Nach allem was er mir erzählt hatte würde er auf einem Strohbett schlafen müssen. Der Arme. Ich würde ihm so gerne helfen und ihn wieder in die Arme schließen, aber er hatte selber gesagt, dass das nicht geht. Aber warum nicht?
Meine Brust zog sich zusammen und ich war kurz davor wieder loszuheulen. Ich schlag meine Arme um mich und starte das Bett unverwandt an. Ich würde nicht darin schlafen, nicht solange Sascha auch keines hatte. Kindisch ich weiß, aber ich konnte mir einfach nicht helfen. Ich konnte nicht glauben, dass Sascha im Kerker war und er sich noch nicht einmal dagegen gewehrt hatte. Und dann hatte er mich auch noch verleumdet. Ich konnte es nicht fassen. Warum tat er das? Mit welchen Grund behauptete er, dass da nichts war? Dass er nicht mein Freund war? Hatte er nur etwas Spaß mit mir haben wollen? In diesem kleinen Holzverschlag? Ich wusste keine einzige Antwort. Und da kam mir auf einmal eine Frage in den Kopf, an die ich davor noch nicht annähernd gedacht hatte. Sascha hatte gesagt, dass meine Mutter ihn wahrscheinlich töten würde. War er schon tot?
Oh bitte lieber Gott, lass ihn nicht tot sein. Ich flehe dich an, mach dass es ihm gut geht. Die Antwort auf mein kurzes, aber klares Gebet klopfte an die Tür. Die Tür, von der ich nicht wusste wo sie hin führte.
Ich gab keine Antwort auf das Klopfen und wenige Sekunden später öffnete sie sich und meine Mutter trat hindurch. Ich verzog keine Miene. Ich war natürlich froh endlich meine Mutter wieder zu sehen und kennen zu lernen, aber sie konnte ebenso gut schlechte Nachrichten für mich haben. Etwa dass Sascha tot war.
Meine Hände wurden kalt und ich krallte sie ineinander.
Grüßend hob meine Mama die Hand und schloss dann hinter sich die Türe. Einen Moment musterte sie mich, bevor sie anfing zu reden: „Mein Liebling, ich habe ein kleines Essen organisiert. Um.. Um zu feiern, dass die Prinzessin heimgekehrt ist. Es sind einige Leute eingeladen, die du kennen lernen solltest. Und wie ich sehe bist du schon fertig. Du siehst hübsch aus. Hat alles geklappt?"
Prinzessin? Stimmt ja, sie war die Königin, aber dennoch war mir nie so wirklich bewusst gewesen, dass ich dann die Prinzessin sein musste. Das war so irrational. Ich wusste noch nicht einmal was es genau hieß Prinzessin zu sein.
„He, Süße, geht es dir nicht gut? hast du mir überhaupt zu gehört? Hat alles geklappt?", wiederholte sie die Frage.
„Ähm", ich leckte mir über die Lippen. „Ich glaube schon. Aber ich habe mich wohl etwas dämlich beim Anziehen angestellt."
Meine Mutter lächelte. Glücklich aus mir etwas heraus bekommen zu haben. „Das übt sich, keine Angst. Aber die Kleider passen gut. Sie betonen deine schmale Taille. Du wirst allen Gäste den Atem rauben. Bist du bereit mit deiner Mutter zusammen hinunter zu gehen?"
Ich konnte nicht mehr sprechen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich brachte nur ein sachtes Nicken zustande. Meine Mama hakte sich bei mir unter und zusammen gingen wir die steile Wendeltreppe nach unten. Wir traten durch die Türe, durch die ich auch schon nach oben gebracht worden war, wieder den Thronsaal. Mittlerweile stand ein weiterer, kleinerer Thron neben dem meiner Mutter. Sie zeigte auf ihn und meinte: „Der ist für dich. Ich dachte mir das macht sich gut, wenn wir zu zweit da sitzen. Dann dich jeder gleich schon einmal sehen."
Das klang ja so, als wollte sie mich zur Schau stellen. Sicher meinte sie es nicht so und wenn, dann hatte ich es verdient.
Ich wurde zu meinem Thron geführt und vorsichtig setzte ich mich. Extra vorne auf die Kannte, damit ich keinen krummen Rücken machte. Zudem saß ich gerne so da. Ich faltete die Hände in meinem Schoß und sah gerade aus.
Aus den Augenwinkeln konnte ich Säulen sehen. Von hier aus fiel auf, dass sie paarweise angeordnet waren. Es waren immer zwei näher bei einander, dann eine Lücke und wieder zwei. Rechts auf der Seite konnte man das Licht sehen, dass sechseckig auf den Boden fiel. Zusätzlich hingen von oben riesige Kronleuchter herunter, auf denen mindestens 50 Kerzen brannten. Zusammen ergaben die Lichtquellen einen schön hellen Raum. Nur die Steinwände machten das ganze Bild ein wenig kalt. Und die Wachen, die mit ernster Miene hinter den Säulen standen und sie die gesamte Zeit anstarren mussten, machten mich nervös.
Meine Mutter beugte sich über ihre linke Armlehne zu mir herüber und fragte: „Bist du sicher, dass es dir gut geht? Du sagst kein Wort. Keine einzige Frage hast du an mich gestellt. Kann ich irgendetwas für dich tun?"
„Ich denke nicht, danke." Ich hätte sie gerne gebeten, dass sie Sascha frei ließ, aber die Antwort war klar. Um mich wieder von Sascha abzulenken fing ich an die Säulen zu zählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf... Es waren 18 Stück. Und rechts gab es neun Fenster.
Da wurde die Flügeltür geöffnet und es traten eine dünne, lange Frau und ein Mann, der so dick war, wie die Frau dünn, ein. Die Art wie sie mich anlächelten war mir auf Anhieb zu wieder. Sie wirkte herablassen, als wäre ich nicht besser als eine Ratte. Und er.. Er schwitzte anscheinend pausen los und sah sich unablässig um. Und wie er dabei inne hielt und mich an sah, mit seinen kleinen glupsch Augen, jagte mir gleich mehrere Schauer über den Rücken. So eine Gier hatte ich selten in den Augen eines Menschen gesehen, aber er war ja auch ein Luminer und kein Mensch. Wie auch immer, ich versuchte zumindest ein kleines Lächeln zustande zu bringen. Ich glaube es gelang mir ganz gut.
Mit geheuchelter Unterwürfigkeit verbeugte sich die Frau vor meiner Mutter. Ihre Stimme war unerträglich hoch, als sie sagte: „Meine Ehrerbietung Majestät. Und königliche Prinzessin. Schön dass sie zu uns gefunden haben. Ich bin hocherfreut Euch kennen lernen zu dürfen. Mein Name ist Marion von Kuchenstein. Und das ist mein Mann Radarion von Kuchenstein."
Der dicke Mann verbeugte sich ebenfalls und sah mich dann wieder mit diesem lüsternen Blick an. Ich sah von ihm schnell wieder zu ihr. Wären die Umstände nicht unwahrscheinlich ungewohnt gewesen ich hätte vermutlich angesichts ihrer Namen los lachen müssen, aber so verzog sich mein Mund nur ein kleines Bisschen zu einem winzigen Lächeln und ich sagte: „Die Freude der Bekanntschaft ist ganz auf meiner Seite. Ich hoffe sie amüsieren sich heute gut."
„Aber gewiss Prinzessin. Ich wünsche Ihnen ebenfalls einen schönen Abend. Später wir auch noch mein Sohn kommen. Er ist leider im Moment noch verhindert. Es würde mich sehr freuen, wenn sie ihn kennen lernen würden. Und Prinzessin", sie warf meiner Mutter einen kurzen Blick zu, der etwas unsicher wirkte, doch dann sprach sie weiter. „Gedenkt Ihr in nächster Zeit zu heiraten?"
Ich wollte schon nein, auf keinen Fall sagen, aber da mischte sich die Königin ein: „Wir haben noch nicht darüber gesprochen. Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen."
Meine Mutter nickte den beiden zu und diese verbeugten sich und gingen wieder hinaus.
Entgeistert sah ich meine Mutter an. Was sollte das heißen: Wir haben noch nicht darüber nachgedacht? Sollte das etwa heiße sie wollte, dass ich heiratete? Aber ich war doch erst 16. Da suchte man normal noch nicht den Mann fürs Leben. Das schien hier wohl anders zu sein. Es war halt wie im Mittelalter, genau wie Sascha gesagt hatte.
Als sich die Türen hinter Herr und Frau Kuchenstein schlossen lobte mich meine Mama: „Kompliment Kleines, du schlägst dich perfekt. Du hast genau die richtigen Worte gewählt. Deine Professionalität fasziniert mich. Ich musste mich Jahre lang daran gewöhnen, dass ich nicht das sagen darf, was ich denke. Und ich bin jetzt immer noch nicht perfekt. Du wirst es mal ganz weit bringen."
„Mama, was sollte das eben? Hast du etwa vor mich zu verheiraten?", schnappte ich dagegen. Sie seufzte.
„Meine Kleine, du bist 16..."
„Genau ich bin 16! Ich habe noch nicht vor zu heiraten und wenn dann den, den ich will!"
„Würdest du mich bitte ausreden lassen?! Du bist 16, das ist ein gutes Alter zum Heiraten. Du siehst gut aus und bist noch nicht so alt, wie andere Mädchen, die heiraten wollen. Die Männer werden sich um dich reißen."
„Aber ich will das doch gar nicht! Ich will mein Leben so leben können, wie ich es für richtig halte."
„Schätzchen, ich bin auch nicht mehr die Jüngste. In hoffentlich noch nicht allzu naher Zukunft musst du meinen Platz einnehmen. Ich kann nicht riskieren, dass du dann ohne Mann da stehst. Es wäre dein Untergang. Das Volk möchte eine vorbildliche Königin. Mit einem Ehemann wird es einfacherer werden. Ich wünschte ich hätte auf meinen Vater gehört und mir hier einen Mann geholt. Aber ich war jung und wollte die wahre Liebe haben. Das Beste was dabei heraus gekommen ist bist du. Das Volk fand es nicht gut, dass ich auf die Erde gereist war. Sie waren der Meinung ich als ihre Königin müsste mir hier meinen Mann finden. Und am Schluss habe ich doch deinen Vater geheiratet. Ich liebte ihn abgöttisch. Und jetzt sind wir getrennt. Ich möchte doch nur, dass du nicht den gleichen Fehler machst, wie ich damals."
Ich schluckte, bevor ich meine nächste Frage stellte. „Und darf ich mir meinen Mann selber aussuchen?"
Meine Mutter sah mir in die Augen und schüttelte ganz, ganz langsam den Kopf. Dann hielt sie inne. „Vielleicht können wir es gemeinsam entscheiden."
„Ich will nicht heiraten!"
Meine Mama wollte schon etwas antworten, aber da gingen wieder die Türen auf. Herein kamen ein Mann und noch einer. Der erste war schon etwas älter. Er war hochgewachsen und breit wie ein Schrank. Sein Kopf war kantig und seine Frisur unterstrich das Ganze nur noch mehr. Seine Kleider spannten sich über seiner Brust. Ich hatte noch nie einen so kräftig gebauten Mann gesehen. Sein Sohn dagegen war das genaue Gegenteil. Sein Gesicht war spitz und er war fast genauso dünn, wie die Frau eben. An seinem spitzen Kinn hatte er einen Ziegenbart und es sah so schrecklich aus, dass ich ihn ihm am liebsten abrasiert hätte. Aber ich bleib still auf meinem Platz sitzen und musterte sie nur weiter mit einem möglichst freundlichen Lächeln im Gesicht.
Die Beiden fielen vor uns auf ein Knie und hoben die rechte Hand ans Herz. Daumen und Kleinenfinger abgeknickt, die anderen ausgestreckt. Als würden sie etwas schwören.
Einen Moment verharrten sie in dieser Stellung, dann hoben sie den Kopf und sahen uns an. Ich versuchte mich auf den Älteren zu konzentrieren, während ich den Blick des Spitzen auf mir spüren konnte, wie er jedes Haar einzeln zu mustern schien.
„Majestät, es ist mir eine Ehre Euch sehen zu dürfen und Eure natürlich auch Eure bezaubernde Tochter. Sie sieht genauso aus, wie Ihre Mutter. Bezaubernd und bestimmt wird das Fest heute genauso bezaubernd.", sagte der Schrank-Typ und mir wurde klar, dass sein Lieblingswort bezaubernd war. Da der Mann das Wort nicht direkt an mich gerichtet hatte sagte ich nichts, sondern überließ meiner Mutter das reden: „Ich danke Euch Graf Falkenbrauch. Es freut mich zu sehen, dass Ihr Sohn ebenfalls hier ist. Und ich hoffe, dass Ihnen der Abend wirklich so gut gefällt, wie Sie sagen."
Die Zwei standen auf, verbeugten sich noch einmal mit der Hand am Herzen und dann gingen sie. Ich musste grinsen, als sie weg waren.
„Wo waren wir eben stehen geblieben?", fragte meine Mutter. Sie klang kein bisschen amüsiert.
Ich sah sie an und schlagartig verging mir jeder Funken Amüsement. „Dabei dass ich nicht heiraten will."
„Ach ja genau. Aber es geht nicht nur darum was du willst, sondern was das Beste für dich und das Volk ist."
„Aber ich bin gerade mal seit zwei Tagen hier. Kann das nicht noch etwas warten?"
„Nein, desto früher desto besser.", sagte sie entschieden und drehte sich wieder nach vorne. Für sie schien das Thema erledigt zu sein. Auch ich sah nach vorne, aber ich würde daran festhalten, dass ich nicht heiraten würde.
Zum dritten Mal öffneten sich die Türen. Es traten vier Personen ein. Ein kleines Mädchen, etwa sieben, ein junger Mann, vielleicht um die 18 und noch ein Mann mit einer Frau an der Hand. Sie sahen alle sehr normal aus. Die Mutter erinnerte mich ein wenig an meine Englischlehrerin. Sie hatte immer ein strahlen um die Augen. Und genau wie meine Lehrerin hatte auch sie dunkelbraune Haare. Sie war schlank und trug ein schwarzes Kleid, das um ihre Füße herum auf dem Boden schleifte. Ihr Mann war einen halben Kopf größer als sie und hatte blonde Haare. Er war kräftig, sah aber nicht aus wie ein Schrank. Auch er trug hauptsächlich schwarz. Er wirkte sehr freundlich und seinen Sohn mochte ich auch auf Anhieb. Er hatte die dunklen Haare seiner Mutter und die Ausstrahlung seines Vaters. Die Kleine hatte ein rundes Gesicht, war aber nicht rundlich, sondern genauso schlank wie ihre Mutter. Sie hatte jedoch die blonden Haare ihres Vaters. Entzückende Kinder. Aber auch das kleine Mädchen trug schwarz. Ob sie wohl etwas zu betrauern hatten. Vielleicht etwa, dass die Großmutter gestorben war, oder etwas Ähnliches? Oder war schwarzer Stoff einfach am billigsten?
Nur der Junge hatte ein weißes Hemd an, dafür aber auch eine schwarz Hose.
Ich lächelte die Familie freundlich an.
Das kleine Mädchen legte den Kopf schief, steckte sich einen Finger in den Mund und tippte ihren großen Bruder an. Dieser blieb mit ihr stehen und beugte sich zu ihr hinunter. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, nahm dabei den Finger nicht heraus und zeigte einmal kurz auf mich. Ihr Bruder sah zu mir herüber. Er machte ein überraschtes Gesicht, als hätte er mich davor noch gar nicht bemerkt. Er drehte sich wieder seiner Schwester zu. Sie redeten noch kurz mit einander, dann kamen sie weiter auf uns zu. Ihre Eltern hatten sich schon Verbeugt. Bzw. Der Mann hatte sich auch auf ein Knie nieder gelassen und eine Hand aufs Herz gelegt. Seine Frau hatte sich auch hinknien wollen, aber meine Mutter hatte sie mit einer Geste davon abgehalten. Dankbar hatte sie sie angelächelt und tief geknickst. Auch der junge Mann ließ sich auf ein Knie sinken und legte die Hand an die Brust. Das kleine Mädchen flüchtete sich zu seiner Mutter und klammerte sich an ihren Rock.
Der Junge hob den Kopf ein ganz kleines Bisschen und sah mich an.
Interessiert erwiderte ich seinen Blick.
„Steht auf meine Freunde.", erlöste meine Mutter sie von der unbequemen Position. Die beiden Männer erhoben sich und der Junge sah mich weiter an.
Er war es auch, der zuerst das Wort ergriff. „Willkommen Prinzessin. Eure Majestät, Ihr habt eine wunderschöne Tochter."
Seine direkte Art ließ mich erröten.
„Wir alles freuen uns, dass wir heute eingeladen wurden. Vielen Dank Majestät. Und Euch sollte ich mich vielleicht vorstellen Prinzessin. Mein Name ist Phillip. Phillip Collin. Das ist meine kleine Schwester Iceling und das sind meine Eltern Anna Collin und Marco Collin."
„Sehr erfreut Prinzessin.", sagte Anna mit einer sehr sanften freundlichen Stimme. Ich brachte keinen Ton hervor. Ich musste die ganze Zeit über Phillip anschauen. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es so hübsche Jungen hier in Lumina gab. Doch ich riss mich für einen Moment von seinem Anblick los und sah Anna an, während ich sagte: „Ich danke Ihnen. Ich bin sehr froh hier zu sein."
„Meine lieben Freunde, ich hoffe, dass ihr das Fest heute genießen könnt trotz der Trauer um das Kind, dass ihr verloren habt.", übernahm meine Mutter.
Oh nein, die Armen. Sie taten mir so leid. Wie schrecklich ein Kind zu verlieren. Ich konnte mir das gar nicht vorstellen. Ich wollte ihnen gerne mein Beileid aussprechen, aber mir fielen nicht die richtigen Wörter ein.
Kurz huschte ein dunkler Schatten über das Gesicht von Herr und Frau Collin, dann war es vorüber und sie verbeugten sich alle drei, die Kleine versteckte sich immer noch hinter ihrer Mama.
Marco sagte mit einer dunklen, angenehmen Stimme: „Ich danke Ihnen Majestät. Ich bin mir sicher, dass es alles perfekt sein wird, wie immer."
Und dann ging auch diese Familie. An der Tür warf mir Phillip noch einen schnellen Blick zu. Auch auf die Entfernung erkannte ich, dass er mir zu zwinkerte. Die Türen fielen ins Schloss und ich starrte immer noch in die Richtung, wo eben noch Phillip gestanden hatte.
„Gefällt er dir?" Zuerst reagierte ich gar nicht auf die Frage, doch dann wand ich meiner Mutter den Kopf zu und sah sie an. Sie wertete das wohl als ja, dann sie sprach weiter: „Das dachte ich mir schon. Er ist ein sehr lieber Junge. Ich bin mit seinen Eltern befreundet. Sie haben dieses Jahr ein Kind verloren. Phillip trifft es glaube ich am wenigsten doll. Er ist ein sehr starker Junge. Ich war so frei und habe ihn an der Tafel neben dich gesetzt. Zwar über Eck, aber immer hin. Ich hoffe du hast nichts dagegen. Jetzt fehlt auch nur noch eine Familie, dann können wir essen. Ich hoffe es gibt nicht zu viel, was du nicht magst. Und wenn, dann kannst du dir auch was anderes kommen lassen. Ich bin sicher unser Koch war so frei und hat noch einige Alternativen vorbereitet. Du wirst schon sehen..."
Ihr rede Schwall wurde von der Türe unterbrochen, die sich öffnete und einer Frau mit zwei Männern den Eintritt gewährte. Die Frau war allem Anschein nach die Mutter der beiden jungen Männer. Sie hatte schlecht gefärbte Haare. Es sollte wohl rot sein, aber es sah mehr nach dem Verdauten eines Hundes aus. Sie hatte ein ovales Gesicht und war etwas rundlich. Ihre beiden Söhne überragten sie um einen Kopf. Sie waren beide dunkelblond. Der eine war genauso pummelig, wie seine Mutter, der andere war sehr muskulös. Er hatte etwas an, das mich an Muskelshirts erinnerte und dazu eine... Jeans. Ich konnte es nicht fassen. Eine Jeans. Hier liefen alle geschniegelt herum und der Typ trug Jeans. Sein Gesichtsausdruck war reichlich desinteressiert. Sein Bruder und seine Mutter strahlten um die Wette.
Alle drei ließen sich auf ein Knie sinken, standen dann wieder auf. Freudig sahen die Frau und ihr einer Sohn mich an. Der andere sah gelangweilt zur Seite.
Die Frau fing an: „Prinzessin" Der Kopf ihres zweiten Sohnes fuhr herum und er starrte mich an. Ich wand meinen Blick wieder seiner Mutter zu. Sie hatte ziemlich Ringe unter den Augen. „Es ist eine Ehre für das ganze Land, dass Sie zu uns gekommen sind. Stimmt es, dass der kleine Prinz sie hier her gebracht hat?"
„Ich weiß zwar nicht, was Sie gehört haben, aber man sollte nicht alles glauben, was man hört.", wehrte ich ab. Lächelte sie aber weiter an. Sie nickte und wand sich an meine Mutter: „Eure Majestät, danke für die Einladung. Wir wollen in einigen Tagen auch einen Ball geben, es wäre eine Ehre, wenn Sie und Ihre Tochter kommen würden."
„Gerne Frau Pinkner, wir freuen uns über diese Einladung. Seien Sie sicher, dass wir kommen. Aber darf ich Sie nun bitte zum Essen begleiten?", sagte meine Mutter. Ganz die Königin. Sie erhob sich und auch ich stand auf und ging nach ihr die Treppe hinunter. Ich musste meinen Rock anheben, um nicht über ihn zu stolpern. Da tauchte eine Hand in meinem Blickfeld auf. Ich blieb stehen und sah sie an. Sie sah kräftig aus und die Handfläche war ganz sauber. Verwirrt sah ich den Besitzer der Hand an. Es war der schlankere Sohn. Sein Gesicht war ausdruckslos und er sah mir zuerst nur stumm in die Augen. Dann streckte er seine Hand energischer hin und sagte mit einer wunderbar samtenen Stimme: „Darf ich Sie zu Ihrem Platz geleiten Prinzessin?"
Ich nickte und nahm seine Hand. Mit seiner Hilfe meisterte ich auch noch die letzten Stufen und als ich unten war hakte ich mich bei ihm ein und er legte seine rechte Hand über meine.
Er hatte seinen Kopf gerade nach vorne gerichtet.
„Ich heiße Sebastian. Darf ich dich Megan nennen?" Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und überlegte, ob ich ja sagen sollte. Doch dann nickte ich nur und sah wieder gerade aus.
Wir hatten bereits zwölf Säulen hinter uns gelassen und die Flügeltür wurde wieder geöffnet. Wir gingen hindurch und dann nach links, zu einer kleineren Türe, die aber immer noch groß war. Auch diese Türe wurde geöffnet. Lautes Gerede schlug uns entgegen, das schlagartig verstummte, als ich den Raum betrat. Sebastian schien es gar nicht zu merken und auch die anderen ignorierten es. Meine Mutter schritt zielstrebig auf ihren Platz zu, der wohl am Kopfende war. Die Tische waren U-Förmig zusammen gestellt und überall standen Kerzen, die Licht spendeten. Ich traute mich fast nicht weiter zu gehen, aber Sebastian zog mich weiter. Von überall hörte man nun leises Gemurmel. Unsicher sah ich mich um, bis Sebastian mir ganz leise zu flüsterte: „Sieh nach vorne. Sie können Unsicherheit riechen."
Der Einzige, der hier wohl Unsicherheit riechen konnte war er. Aber er hatte wahrscheinlich Recht und ich konzentrierte mich darauf nur nach vorne zu schauen.
Und auf einmal fiel mir etwas auf. Ich hatte es davor nicht bemerkt, aber Sebastian hörte sich tatsächlich an wie Sascha. Ach Sascha, wie sehr ich mir wünschte dich sehen zu können. Wieder zog sich alles in mir zusammen.
Sebastian blieb stehen, rückte meinen Stuhl etwas nach vorne und schob ihn wieder weiter ran, als ich mich hinsetzte. Dann drehte er sich um und ging zu seiner Familie. Ich sah ihm nach.
„Schätzchen, bist okay? Du siehst blass aus. Aber wahrscheinlich kommt das nur weil du Hunger hast.", räumte Mama ihre eigenen Bedenken aus dem Weg. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich neben ihr saß, aber tatsächlich saß ich zu ihrer Linken am Kopfende. Und vor mir entdeckte ich Phillip, der mich auch etwas besorgt musterte. Aber er sagte nichts. Dachte ich. „Prinzessin, seid Ihr sicher, dass Ihr Euch mit dem abgeben wollt? Ich denke nicht, dass er der richtige Einfluss für Euch ist."
Was bildete der sich eigentlich ein? Auf einmal war ich sauer. Musste sich denn jeder in mein Leben einmischen? Ich hasse das! Meine Mutter die ich heute erst kennen gelernt hatte wollte mich verheiraten, Phillip, den ich noch kürzer kannte, wollte mir vorschreiben wer gut für mich war und wer nicht. Und was hatte ich dann noch zu entscheiden? Das konnten die alle so was von vergessen.
Ich strafte alle um mich herum mit Nichtachtung und starrte die Türe an, die mir gegenüber in die Wand eingelassen war. Ich sah auch nicht auf, als das Essen herein gebracht wurde. Ich sah es mir keine Sekunde an, aber ich konnte es riechen. Es gab Suppe. Gemüsesuppe. Ich mochte keine Suppe und sah einfach weiter geradeaus und sowieso konnte ich nichts essen. Im Gegenteil mir war eher schlecht.
„Schätzchen, du isst ja gar nichts. Probier es doch wenigstens. Es schmeckt wirklich gut.", versuchte meine Mutter mich zum Essen zu bewegen. Ich schüttelte nur stumm den Kopf. Ich hatte keine Lust auf essen. Wer sagte mir denn, dass Sascha etwas zu essen hatte?
Ich konnte hören wie über ein Dutzend Löffel stetig in die Suppe getaucht wurden und sie dann vom Löffel geschlürft wurde.
Und als alle fertig waren wurden die Teller wieder eingesammelt und das erste Hauptgericht wurde serviert. Fisch, mit Gemüse. Ich konnte nicht mehr. Mein Bauch hatte keine Lust mehr auf diesen ganzen Essensgeruch und ich hätte mich am liebsten auf der Stelle übergeben. Dazu kam noch der Geräuschpegel und der Geruch von den Kaminen, die an der rechten Seite brannten.
Vorsichtig tippte ich meine Mutter an. „Entschuldige, aber mir ist nicht gut, ob ich wohl nach draußen gehen darf?"
„Aber natürlich mein Liebes. Soll jemand mit kommen?", erkundigte sie sich. Ich schüttelte den Kopf und stand einfach auf. Ich wollte nur raus. Ich hob mir eine Hand an den Kopf und hob mit der anderen meine Röcke etwas weiter an. Da hörte ich, wie noch ein Stuhl zurück geschoben wurde und schnelle Schritte, die mir nachkamen. Sekunden später war Phillip neben mir.
Er fasste mich am Arm und sagte: „Ich komm doch besser mit. Du ähm... Ihr seht wirklich schlecht aus. Und zudem, wisst Ihr überhaupt wie Ihr nach draußen kommt?"
Nein natürlich nicht, aber das hätte ich mir dann halt erfragt oder so. Ich hätte auf jeden Fall einen Weg gefunden. Sicher würde sich Phillip jetzt aber nicht mehr abschütteln lassen.
Er führte mich wieder zurück durch die selbe Tür, durch die mich eben Sebastian herein gebracht hatte, weiter an der Tür zum Thronsaal vorbei und zu einer Tür, die uns von einem Diener aufgehalten wurde. Wir gingen hindurch und kamen in einen Gang, der im Gegensatz zu den großen Räumen von eben schmal wirkte. Vor uns tauchte noch eine Türe auf, die man uns aufhielt und wir kamen wieder in die Eingangshalle mit der schönen Decke, aber ich hatte jetzt kein Auge dafür. Ich wollte nur raus. Da war auch schon das große Eingangsportal. Es stand offen und es wehte etwas Nachtwind herein. Ich konnte schon den Mond sehen, aber es waren keine Sterne am Himmel zu sehen. War das schon in der ersten Nacht so gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern.
Phillip blieb etwas unsicher stehen und ließ meinen Arm los, den er bis eben festgehalten hatte. Ich ging unbeirrt weiter hinaus auf die riesige Treppe und setzte mich auf die zweite Treppenstufe von oben. Ich ließ den Kopf hängen. Die kühle Luft tat gut und hier draußen war es so wunderbar still.
Plötzlich bemerkte ich eine Bewegung links von mir in der Dunkelheit. Ich sah auf und entdeckte eine Person. Wer war das? Mein Herzschlag beschleunigte, aber ich bleib sitzen.
Langsam kam die Person auf mich zu geschlendert. Und als dieser Jemand in das Licht trat, das von Innen nach draußen fiel erkannte ich, dass es Sebastian war. Erleichtert atmete ich auf. Da stellte sich jemand Sebastian in den Weg. Es war Phillip. Einen Moment starrten die beiden jungen Männer sich an und man konnte spüren, wie es zwischen den beiden knisterte, aber nicht im positiven Sinne.
„Du solltest rein gehen und dich um deine kleine Schwester kümmern.", zischte Sebastian. Mit einem unwilligen Geräusch gab sich Phillip geschlagen und ging wieder rein. Ich hätte nicht gedacht, dass er so schnell aufgab. War früher mal irgendwas zwischen den beiden vorgefallen? Vielleicht würde ich später meine Mutter fragen.
Sebastian ließ sich neben mich fallen und sah hinauf zum Mond.
„Ich wusste, dass du irgendwann raus kommen würdest. Du sahst vorhin schon so blass aus.", begann er.
Einfach nur um etwas sagen zu können sagte ich: „Willst du nichts essen? Drinnen gibt es Fisch." „Ich bin lieber hier als drinnen. Und was hast du mit Phillip zu tun?"
„Geht dich nichts an." Selbst in der Dunkelheit sah ich wie Sebastian die Stirn runzelte.
„Du hast ihn auch erst heute kennen gelernt, hab ich Recht?"
Ich antwortete ihm nicht. Was hätte ich auch sagen sollen? Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
Ich atmete einmal tief durch. Eine Zeit lang schwiegen wir. Doch dann durchbrach Sebastian wieder die Ruhe: „Gleich gibt es Nachtisch, wenigstens den solltest du versuchen."
„Ich habe wirklich keine Lust auf essen. Ich muss dabei immer an einen Freund denken und wie es ihm wohl geht."
„Verstehe, zumindest ein bisschen. Warum glaubst du denn, dass es ihm nicht gut geht?" Ich sah ihn an und meinte: „Weil er im Kerker ist."
Er schwieg einen Augenblick, dann lenkte er ab: „Meine Mutter kommt von der Erde. Ich reise gerne dahin. Das Leben dort ist faszinierend. Keiner wird zum Heiraten gezwungen. Es ist zumindest verboten. Deine Mutter will, dass du heiratest, stimmt´s?"
Ich sagte wieder nichts. Hüllte mich in Schweigen und wünschte mir er würde rein gehen oder wenigstens leise sein. Und er stand wirklich auf und ging rein. Er sagte auch kein Wort des Abschiedes. Er ging einfach. Erleichtert atmete ich auf. Ich war einfach nur froh, dass ich meine Ruhe hatte.
Ich musste in den Kerker, aber wo war der? Ich hatte keine Ahnung von diesem Schloss. Okay was wusste ich? Das hier war das Erdgeschoss. Mein Zimmer lag weiter oben, also wahrscheinlich im ersten Stockwerk. Von da aus geht eine Tür in Zimmer von dem ich nicht weiß, was da drin ist, oder wohin es sonst noch führt. Und der Kerker lag normalerweise im Keller, unter dem normalen Schlossleben. Aber wo war die Treppe die da hinunter führte? Ich hatte keine gesehen. Zumindest im Thronsaal, der Empfangshalle, der Eingangshalle und im Speisesaal konnte sie nicht sein. Dann führte noch eine Tür vom Speisezimmer irgendwohin und die Diener die uns das Essen gebracht hatten waren von hinten gekommen, also war da höchst wahrscheinlich die Küche. Und von dem Empfangssaal ging auch noch eine Türe ab sowie im Gang der die Eingangshalle mit dem Empfangssaal verband. Den Raum müsste ich eigentlich sehen können, vielleicht nicht von meiner jetzigen Position aus, aber wenn ich mich vor die Treppe stellte bestimmt. Ich stand auf und stieg die Treppe ganz hinunter. Es war echt schwierig in diesem Kleid ordentlich Treppen zu steigen. Als ich es endlich geschafft hatte drehte ich mich um. Neben der Treppe waren nur dunkle Fenster auszumachen. Drei an der Zahl. Ob ich wohl mal näher heran gehen sollte und schauen sollte, ob ich trotz der Dunkelheit im Zimmer etwas erkennen konnte?
Ich sah mich schnell einmal um, ob nicht jemand da war, der mich dabei erwischen konnte, wie ich durch fremde Fenster sah, dann ging auf dieses mysteriöse Zimmer zu, stellte mich auf die Zehenspitzen und sah durch das mittlere Fenster.
Nach einem kurzen Moment erkannte ich, dass das Zimmer doch nicht vollkommen dunkel war. In den hinteren Ecken brannten kleine Kerzen, die einen die Möbel schemenhaft erkennen ließen. Und ich konnte erkennen, dass rechts und links noch eine Tür war, die wohl in angrenzende Räume führten. Aber alles in allem war keine Treppe zu sehen. Ich sah ein Sofa, zwei große Sessel, einen kleinen, zierlichen Tisch, ein kleines Bücherregal und sonst eigentlich nichts.
Das linke Fenster würde wohl zu dem linken Zimmer gehören, absolut logisch und dort würde meine Suche weiter gehen.
Ich ließ mich auf den ganzen Fuß fallen und ging eilig die paar Schritte hinüber zum linken Fenster. Dieses Zimmer lag in absoluter Dunkelheit, aber die Treppe war beleuchtet und erleuchtete das Zimmer ein wenig. Ich musste mich anstrengen, um auch nur die kleinste Kleinigkeit zu sehen. Ich sah ein Bad, mit Badewanne und allem, aber keine Treppe. Nicht eine einzige Treppenstufe.
Verflixt, hoffentlich war etwas im rechten Zimmer, aber ich glaubte nicht wirklich daran. Das sah eher aus wie ein gewöhnliches Apartment.
Auch vor dem letzten Fenster stellte ich mich auf die Zehenspitzen und sah hinein. Eine kleine Kerze brannte auf einem Nachttisch vor sich hin und neben dem Bett, das ich erkennen konnte, hingen noch mal zwei. Gegenüber des Bettes stand ein großes Schrank und davor ein paar Schuhe. Enttäuscht drehte ich mich um und schrie fast auf vor Schreck.
„Was machen Sie da? Was sucht Ihr bei meinem Zimmer?", fragte der Mann, der wie aus dem Nichts vor mir aufgetaucht war. Er klang verärgert. Ängstlich wich ich einen Schritt nach hinten.
Wahrheitsgemäß antwortete ich: „Eine Treppe." Ich achtete gar nicht darauf, wie bescheuert sich das anhörte.
„So", er klang ehrlich belustigt. „In meinem Zimmer werdet Ihr nicht fündig werden. Es gibt eine im rechten Turm. Und eine... Kommt erst einmal ins Licht, damit ich Euch sehen kann."
Er ging einige Schritte nach hinten und streckte mir dann die Hand hin. Ich ignorierte sie und trat zu ihm ins Licht. Er hatte blaue Augen, ein ebenmäßiges Gesicht und ein angenehmes Lächeln, das momentan um seinen Mund spielte. Er war groß, hatte breite Schultern und eine schmale Hüfte.
„Was eine lustige Überraschung.", sagte er und das Lächeln vertiefte sich. „Die wieder aufgetauchte Prinzessin. Es ist mir eine Ehre Euch kennen zu lernen. Ich bin Dustin Kuchenstein."
„Du... Ihr seid der Sohn?"
„Sagt doch bitte du zu mir."
„Okay, dann gilt das aber auch für dich. Ich komme mir sowieso so alt vor, wenn mich alle mit Sie ansprechen. Ich habe deine Eltern kennen gelernt."
„Meine Eltern... Ich habe nur den Nachnamen von ihnen. Sie haben mich adoptiert. Und heute ist das erste Mal, dass ich ihnen deswegen dankbar bin."
„Warum?"
„Weil ich dich sonst nicht kennen gelernt hätte. Du siehst wirklich genauso schön aus, wie deine Mutter."
Dustin kam einen Schritt auf mich zu und strich mir vorsichtig einige Haare aus dem Gesicht. Ich zuckte zurück. Er ließ sich dadurch nicht beirren. Er legte mir eine Hand unters Kinn und strich mit dem Daumen über meine Lippen. Ich sah ihm nur in die Augen und ich hätte alles dafür gegen, dass jetzt Sascha da wäre und mich rettete. Aber das war unmöglich. Dieses Mal würde ich mich zuerst selber retten müssen und danach ihn.
Ich räusperte mich und drückte vorsichtig seine Hand weg. Er ließ es zu.
„Ich sollte rein gehen. Hier draußen ist es doch recht frisch und der Nachtisch soll echt gut sein. Entschuldige mich bitte." Es war keine Lüge. Langsam fing ich an zu frieren und von dem Nachtisch würde ich zwar nichts essen, aber das machte ja nichts. Ich ging an ihm vorbei und er sagte schnell: „Ich komme mit Prinzessin. Meine Eltern warten drinnen auf mich. Würdest du dann später noch mit mir tanzen?"
Ich schenkte ihm ein leichtes Lächeln, schon halb auf der Treppe nach oben, und meinte: „Ich denke nicht. Vielleicht ein anders Mal." Und dann verschwand ich nach oben. Dustin kam mir hinter her. Ich konnte seine Schritte hinter mir hören, aber ich drehte mich nicht noch einmal um.
Als ich den Speisesaal betrat und mich zu meinem Platz auf machte sah ich schon von weitem, dass Phillip mich besorgt ansah. Ich tat so als bemerke ich seinen Blick nicht und setzte mich leise auf meinen Platz.
Sofort beugte sich meine Mutter zu mir herüber und fragte: „Geht es dir besser?"
Ich lächelte ihr zu und nickte. Sie drehte sich wieder zu ihrem rechten Sitznachbar zu und nahm das Gespräch, das sie eben unterbrochen hatte wieder auf. Ich sah zu Phillip. Vielleicht konnte er mir ja sagen, wo die Treppe in den Kerker war. Er machte einen hilfsbereiten Eindruck.
„Pst, Phillip, ich brauche deine Hilfe." Super Einleitungssatz fand ich. Er sprang auch sofort darauf an.
„Worum geht´s?"
„Ich muss... ich will in den Keller, aber ich weiß nicht, wie ich da hinkomme. Kannst du´s mir sagen?"
„Aber sicher. Die Treppe, die da runter führte ist in der Küche, aber die würden dich niemals nach unten lassen. Und was wollt Ihr da überhaupt? Da sind nur die Vorratskammer, der Weinkeller und der Kerker. Das sind keine Orte für Euch."
„Ich denke, das kann ich besser beurteilen. Entschuldigung, aber ich habe meine Gründe. Vielen Dank für die Hilfe. Ach gibt es Momente, in denen niemand in der Küche ist?"
„Soweit ich weiß nur in der Nacht, aber da wird abgeschlossen. Wegen den Gefangenen, dass die nicht ausbrechen können."
Ich nickte. Klang plausibel, nur dass mir das überhaupt nicht weiter half. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Da stach mir die Tür ins Auge, die vorhin noch geschlossen gewesen war. Sie stand offen und gab den Blick frei auf einen großen, länglichen Saal, der ebenso mit Säulen bestückt war, wie der Thronsaal, nur waren dort die Fenster größer, als in diesem Saal.
„Was ist das?", flüsterte ich vor mich hin.
Es wurde gerade der Nachtisch serviert und das Mädchen, dass mir meine Schale hinstellte antwortete mir: „Das ist der Tanzsaal. Die Türen werden immer während dem dritten Gang geöffnet. Dann fängt es an, dass sie die ersten Pärchen zusammenfinden, die miteinander tanzen wollen. Es ist aber üblich, dass man erst anfängt zu tanzen, wenn das Essen durch ist. Ich gäbe alles, um einmal mit jemandem dort tanzen zu können."
Ich sah sie an. Sie war klein, schmal und sah verträumt in den Saal. Dann schien sie ins richtige Leben zurück zu finden. „Verzeiht Prinzessin. Ich hoffe es schmeckt Ihnen."
„Du kennst dich hier aus, hab ich recht?" Ich wusste nicht warum, aber ich sagte du zu ihr, das kam mir richtiger vor.
„Ja, das stimmt. Wünschen Sie, dass ich Ihnen noch mehr erzähle?", fragte sie mit ganz leiser Stimme. Ich nickte und lächelte sie an. Ich mochte sie und ihre Ausstrahlung. Ein bisschen erinnerte sie mich an Sara.
„Die ersten, die immer auf der Tanzfläche sind, sind Herr und Frau Kuchenstein. Dabei können die beiden noch nicht einmal richtig tanzen. Es heißt sie haben ihrem Sohn eine spezielle Ausbildung im Tanzen ermöglicht. Doch man sieht ihn nie mit irgendwem tanzen. Er ist ein einsamer Wolf und dabei finden ihn so viele Mädchen anziehend." Sie seufzte. Sie war wohl ebenfalls in diesen Strudel hinein geraten. Armes Mädchen.
„Wie heißt du?", fragte ich dazwischen.
Ihre Wangen wurden rot, als sie antwortete: „Verzeiht, meine Name ist Abigail."
„Das ist ein wunderschöner Name. Und ziemlich ungewöhnlich. Woher stammt er?"
„Ich weiß es nicht. Ich würde gerne meine Eltern fragen, aber sie sind tot."
„Das tut mir Leid. Wann sind sie gestorben?"
„Mein Vater noch vor meiner Geburt und meine Mutter zwei Wochen nachdem sie mich bekommen hat. Ich habe keine Erinnerungen an sie."
„Arbeitest du in der Küche?"
„Ja. Eure Mutter war so nett und hat mich hier behalten und jetzt darf ich hier in der Küche arbeiten und Euch bedienen."
„Sag bitte Megan zu mir. Musst du viel arbeiten?"
„Eigentlich während den Mahlzeiten. Sonst muss ich nur Geschirr spülen."
„Ob du das wohl morgen abgeben kannst?"
„Ich weiß nicht..."
„Bitte, ich bräuchte jemanden, der mir das Schloss zeigt."
„Ich will es versuchen. Ich gehe gleich in die Küche und frage nach." Ihre Augen leuchteten und sie strahlte übers ganze Gesicht, so sehr freute sie sich. Es wäre wunderbar, wenn es klappen würde. Ich hätte so gerne jemandem in meinem Alter, der mir das Schloss zeigte, ich hatte also wirklich keine Ahnung hiervon. Klar, ich hätte auch einen der Jungs fragen können, aber mit einem Mädchen stellte ich es mir entspannter vor und sie wusste so viele Hintergründe.
Ich sah hinunter auf meinen Nachtisch. Es sah aus, wie Erdbeercreme. Ich sah, dass Phillips kleine Schwester, die rechts von ihrem Bruder saß, es mit einem Genuss in sich hinein schaufelte, den ich noch nie bei einem so kleinen Kind gesehen hatte.
Ich hob die Schale an und fragte die Kleine: „Iceling, willst du meines auch noch?"
Sie steckte sich noch einen Löffel in den Mund und nickte dann.
Ich reichte es ihr, an Phillip vorbei, der mich mit ziemlich großen Augen ansah. „Ihr habt den ganzen Abend nichts gegessen."
„Das ist mein Problem und wenn es ihr doch so gut schmeckt, dann kann sie auch meines haben. Ich kann das sehr gut einschätzen, wann und wie viel ich zu essen brauche.", sagte ich entscheiden und wand mich von ihm ab.
„Verzeiht Prinzessin, aber das glaube ich nicht. Ihr seid eh schon so dünn. Ein bisschen zu essen würde Euch nicht schaden. Nur diesen Nachtisch, dann lasse ich Euch zufrieden."
Ich sah ihn nachdenklich an. Vielleicht sollte ich wirklich etwas essen. Nur um bei Kräften zu bleiben.
„Einverstanden.", stimmte ich zu. „Aber ich lasse mir ein neues kommen. Eurer Schwester schmeckt es so gut, da will ich es ihr nicht wegnehmen."
Phillip nickte. Ich wartete darauf, dass Abigail wieder kam, dass ich sie um einen weiteren Nachtisch bitten konnte.
Es dauerte noch zwei, drei Minuten, bis sie wieder kam. In der zwischen Zeit hatte Iceling schon beide Schalen bis zum Grund ausgelöffelt.
„Prinzessin, ich habe Glück. Der Küchenchef hat gesagt es sei okay, wenn du es wünscht." Was für ein liebes Mädchen sie doch war. Ich kam mir mit einem mal so alt vor, als wäre ich schon erwachsen und Abigail viel jünger, als ich.
Ich musste mich gleich mit ihr freuen: „Das ist super Abigail. Ich freue mich wirklich. Ach, kannst du mir vielleicht noch einen von diesen Nachtischen bringen?"
„Klar, du kannst meinen haben."
„Aber ich möchte dir nichts wegnehmen. Habt ihr nicht noch so einen?"
„Nein, leider nicht. So viele haben einen nachbestellt, dass wir angestellten unseren Teil abgeben."
„Das ist aber doch nicht gerecht."
„Klar, aber wir können auch nicht sagen, dass er aus ist. Das ist schlecht für den Ruf unserer guten Küche. Du würdest mir nichts weg essen. Ich mag eh nicht so gerne Süßes. Ich bringe es dir wirklich gerne. Aber wir bekommen kleinere Portionen, als ihr Adeligen." Sie fing an nervös mit den Fingern zu spielen.
„Das macht nichts. Ich kann sowieso nicht so viel essen.", beruhigte ich sie. Ich spürte wie Phillip mir einen skeptischen Blick zu warf. Ich achtete nicht weiter auf ihn. Es machte mich viel glücklicher zu sehen, wie Abigail sich freute, dass sie mir eine Freude machen konnte. „Okay, dann hol ich man schnell deinen Nachtisch."
Sie rannte fast zur Küche. Lächelnd drehte ich mich um und sah ihr nach, wie sie in der mittleren der drei Türen verschwand.
Als ich mich wieder um drehte sah ich, wie Dustin auf mich zukam. Ich verfolgte ihn mit meinen Augen, aber er würdigte mich nur kurz eines Blickes. Er sah viel mehr meine Mutter an. Diese bemerkte ihn ebenfalls und strahlte ihn erfreut an. Dustin hingegen behielt seinen ernsten Gesichtsausdruck bei.
„Dustin, welch eine Freude dich zu sehen. Gut siehst du aus.", begrüßte sie ihn überschwänglich. „Kennst du schon meine Tochter Megan? Ach ist das schön dich zu sehen."
Meine Mutter wollte aufstehen, aber Dustin bewegte sie dazu sitzen zu bleiben. „Bitte bleibt doch sitzen. Ich hatte die Prinzessin schon vorhin kennen gelernt. Könnte ich vielleicht mit Ihnen an einem ruhigeren Ort reden?" Er warf mir einen Seitenblick zu. Meine Mutter wirkte etwas irritiert, aber sie versuchte es sich nicht anmerken zu lassen und sagte bereitwillig: „Klar können wir. Möchtest du vielleicht mit hinauf in mein Arbeitszimmer kommen?"
Dustin nickte und meine Mutter stand auf. Warum sollte sie gleich noch mal sitzen bleiben? Egal.
Was die beiden wohl besprechen wollten? Ich sah ihnen hinter her, bis sie um die Ecke gebogen waren.
„Falls du dich fragst, was die beiden wohl mit einander besprechen wollen, ich kann´s dir sagen. Er wird sie um eine Verlobung bitten.", sagte Phillip gefühllos.
Entgeistert sah ich ihn an. Das konnte ich nicht glauben. Warum sollte er das tun? Irgendwie war es schon verständlich. Ich war die Prinzessin und ich sollte heiraten. Aber warum jetzt? Er kannte mich doch gar nicht. War ihm das egal? Und warum redete er mit meiner Mutter darüber und nicht mit mir? War das hier so üblich? Vielleicht.
Abigail stellte eine Schale vor mir ab. Meine Kinnlade war immer noch nach unten geklappt, als ich auf meinen Nachtisch, bzw. Hauptspeise, sah. Ich schluckte und sah Abigail an.
Kurz schloss ich die Augen um meine Gefühle nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. So wenig ich auch heiraten wollte, ich durfte jetzt nicht in Panik ausbrechen.
„Abigail, kannst du mir etwas zum Verhältnis zwischen meiner Mutter und Dustin sagen?", fragte ich möglichst sachlich. Wie sehr es mir gelang konnte ich nicht sagen.
Einen Moment musterte sie mich still, dann sagte sie: „Sie hat ihm einmal das Leben gerettet und er ihr gleich zweimal. Seit dem heißt es sie seien mit einander befreundet, aber wie das gehen soll, frage ich mich immer noch. Und als Dankeschön dafür, dass er ihr zweimal das Leben gerettet hat, hat sie ihm versprochen ihm einen großen Wunsch zu erfüllen. Er hat sich bis jetzt nichts gewünscht. So heißt es zumindest, aber so ganz sicher ist sich da niemand."
Musik erklang und ich sah etwas erstaunt zum Tanzsaal. Es war nur ein einziges Paar auf der Tanzfläche. Dustins Eltern wiegten sich außerhalb der Rhythmus hin und her. Es sah schrecklich unelegant aus. Aber durch die Musik bekam auch ich Lust zu tanzen, aber nur mit Sascha und der saß im Kerker. So eine Scheiße! Ich musste ihn da unbedingt raus holen. Meine Hand schloss sich fest um den Löffel, den ich in der rechten Hand hielt.
„Megan, würdet Ihr dann Euren Nachtisch essen?", sagte Phillip in scharfen Ton. Ich zuckte zusammen und fing dann an zu essen.
Abigail musste wieder in die Küche zurück. Sie sagte mir, sie würde morgen in mein Zimmer kommen und mich zu unserer kleinen Rundführung abholen.
Löffel für Löffel aß ich die Creme. Es war keine Erdbeercreme, wie ich gedacht hatte, sondern sie schmeckte nach Kirsche und Rhabarber und viel Zimt. Nach jedem Löffel krampfte sich mein Magen mehr zusammen und das nicht, weil es nicht schmeckte, sondern weil ich immer noch nicht wusste, was mit Sascha war. Vielleicht musste er hungern, während ich mir den Bauch vollschlug. Das war nicht gerecht.
Als ich endlich alles aufgegessen hatte war mir noch schlechter, als davor. Müde stand ich auf.
„Wo gehst du hin?", fragte mich die kleine Iceling. Sie sah putzmunter aus. Ich lächelte sie an und sagte freundlich: „Ich werde ins Bett gehen. Mein Tag heute war ziemlich anstrengend. Vielleicht sehen wir uns ja morgen noch mal. Gute Nacht Iceling und Phillip." Fügte ich noch hinzu. Phillip nickte mir zu und ich zog mich zurück. Als ich den langen Thronsaal entlang ging, kam mir meine Mutter entgegen. Ich entdeckte sie, als sie gerade die Tür zuzog.
„Mama.", rief ich halb laut. Sie schien in Gedanken versunken gewesen zu sein, doch als sie mich hörte fuhr sie herum. In der linken Hand hielt sie etwas fest.
Ich war stehen geblieben, aber meine Mutter kam auf mich zu und als sie näher kam erkannte ich den Rucksack, den Sascha gepackt und hierher mitgenommen hatte. Ich dachte schon er sei bei unserer Entführung im Wald verloren gegangen. Anscheinend hatte er seinen Weg doch hierher geschafft.
Wie hypnotisiert starrte ich den Rucksack an. Meine Mutter stand inzwischen ganz nah bei mir. Sie hab den Rucksack etwas an und sagte: „Der wurde mir eben noch gebracht. Er gehörte wohl Sascha und ich habe auch einige freuen Sachen darin gefunden, die dann wohl dann dir gehören."
„Wie geht es ihm?", wollte ich wissen. „Wie geht es Sascha?"
„Ach Megan..."
„Nein nicht "ach Megan" Ich will wissen, wie es ihm geht!", schrie ich sie an.
„Wie redest du denn mit mir?" Mit einem pubertierenden Teenager hatte sie wohl nicht gerechnet, als ich hier ins Schloss gebracht worden war und sie mich als ihre Tochter anerkannte hatte.
„Und wie behandelst du ihn? Ich kann ja verstehen, wenn ihr euch nicht versteht, aber ihn in den Kerker zu werfen... Das geht zu weit! Ich möchte ihn sehen!"
„Ich denke nicht, dass du das beurteilen kannst."
„Kann ich nicht? Ich sag dir, was ich nicht kann. Ich kann nicht ohne ihn sein!" Ich riss ihr den Rucksack aus der Hand und flüchtete damit, die Wendeltreppe hinauf in mein Zimmer.
Oben angekommen warf ich mich weinen auf mein Bett und schluchzte ungehalten vor mich hin. Den Rucksack hatte ich an meine Brust gepresst. Ich würde schon noch einen Weg finden ihn zu sehen und wenn nicht heute, dann morgen oder übermorgen oder noch später, aber ich würde ihn sehen. Und wenn er doch sterben würde, so wie er es befürchtet hatte? Wenn meine Mutter ihn umbringen ließ? Oh bitte lieber Gott, lass ihn nicht sterben. Ich kann nicht mehr ohne ihn.
Und woher kam die plötzliche Sicherheit, dass ich nicht mehr ohne ihn sein wollte? Ich wusste es nicht, aber ich spürte es.
Die Tränen wollten nicht aufhören zu laufen, aber irgendwann übermannte mich die Müdigkeit und ich schlief ein. Es war ein tiefer, traumloser Schlaf und als ich am nächsten Morgen, von der Sonne geweckt, aufwacht, kam ich mir noch genauso erschöpft vor, wie am Abend zuvor.
Verschlafen öffnete ich die Augen. Der Rucksack, den ich am Abend an meine Brust gedrückt hatte war weg. Panik stieg in mir auf. Hatte ihn mir jemand weggenommen? Wo war er?
Abrupt setzte ich mich auf. Mein Blick fiel rechts neben das Bett und da lag er. Der Rucksack. Ich sah ihn einfach nur an.
Das Kleid, das ich an hatte, klebte an meinem Körper. In Klamotten zu schlafen war einfach keine gute Idee.
Langsam stand ich auf. Ich wollte frische Sachen anziehen und zwar welche, die ich mir mitgenommen hatte.
Ich zog den Reißverschluss auf. Ich erlaubte mir keinen Gedanken an Sascha. Ich hätte sonst nur wieder losgeheult. Und auch sonst versuchte ich nicht zu denken.
Ich nahm eines der T-Shirts heraus und nach kurzem Zögern auch noch einen BH und sonstige Unterwäsche.
Ich zog das Kleid und alles aus und nahm meine normalen Sachen. Da fiel mir ein, dass ich gar nicht wusste, was aus dem Bild geworden war, das ich von meiner Mutter gemalt hatte. Ich hatte gestern einfach alles ausgezogen und dann dieses Kleid angezogen. Aber eigentlich war es auch schon egal, was aus dem Bild geworden war. Ich hatte ja meine Mutter nun immer um mich. Mehr oder weniger.
Wie auch immer, ich zog Unterwäsche, eine Jeans und das T-Shirt an. Aber ich fror, der Morgen war nicht so warm, wie ich gedacht hatte. Ich bückte mich noch einmal nach dem Rucksack und kramte nach einem Pullover. Ich fand einen. Sascha hatte ihn vor wenigen Tagen getragen. Es war der olivgrüne. Ich nahm ihn heraus und betrachtete ihn einen Moment. Dann entschloss ich mich ihn über zu ziehen.
Er war mir um die Schultern viel zu groß und schlabberte im Gegensatz zu dem babyblauen T-Shirt ziemlich an mir herum. Ich hatte das Shirt nicht weiter betrachtete, aber den rosafarbene Aufdruck konnte man einfach nicht ignorieren. Er lautete: "Silikon frei". Und das stand quer über der Brust. Ich stand ja normal nicht auf solche Sprüche, aber den fand ich lustig und es war mir auch schon egal, was ich trug. Nur den Pullover würde ich nicht weggeben.
Und als ich noch weiter im Rucksack stöberte fand ich ein Paar Pumaschuhe, die mir sehr bekannt vorkamen. Ausdruckslos nahm ich sie heraus und zog sie an.
Ich blieb auf dem Bett sitzen und sah aus dem Fenster und beobachtete die Bauern, wie sie ihre Felder bestellten. Die Hände hatte ich im Schoß gefaltet. Und wie ich da so vor mich hin sah merkte ich gar nicht, dass wenige Minuten später jemand die Treppe hinauf kam und in mein Zimmer trat. Ich bemerkte auch nicht, wie dieser jemand auf mich zu kam, erst als mir eine Hand auf die Schulter gelegt wurde schreckte ich auf und bemerkte den Besucher.
„Warum so schreckhaft heute Megan? Niemand hat dir etwas getan.", begrüßte mich Dustin. Ich entgegnete nichts, sondern sah einfach wieder den Arbeitern weiter zu.
Ohne zu fragen setzte Dustin sich neben mich aufs Bett. Ich beachtete ihn auch weiterhin nicht.
„Wow, du bist heute ja wieder gesprächig. Dieses Mädchen, das du gestern gebeten hattest, dass sie dir das Schloss zeigt wird nicht kommen. Aber wenn du magst kann ich dir das Schloss zeigen. Was hältst du davon?"
Ich bewegte mich keinen Zentimeter.
Dustin schien nicht zu merken, wie wenig ich interessiert war. Er nahm mich am Handgelenk, stand auf und zog mich mit hoch.
„Komm, wir fangen unten mit der Führung an. Ich dachte ich zeig dir zuerst einmal die Pavillons. Ich denke sie werden dir gefallen. Aber was hast du da eigentlich an? Na ja ist auch egal, komm wir gehen jetzt.", sagte er absolut unbekümmert. Aber warum würde Abigail nicht kommen? Sie hatte das doch gestern extra für mich geklärt. Es würde schon seine Gründe haben, warum sie nicht kam.
Ich ließ es zu, dass Dustin mich die Treppe hinunter zog und mit mir an der Hand in den Thronsaal trat.
„Das ist der Thronsaal. Jeder, der hier gekrönt wird muss von ganz da hinten bis hier nach vorne laufen. Das ist gar nicht so einfach, weil für die eine Zeremonie besonders teure und aufwendige Kleider angefertigt werden. Um die Beine sind so viele Stofflagen, dass man gar nicht mehr weiß, wo die eigenen Füße sind. Auch die Könige tragen an so einem Tag Kleider. Ich frage mich immer, wie die darin stehen können." Ich hörte ihm mit einem Ohr zu, wie schrecklich kompliziert so eine Prozedur war.
Ich machte meine Hand von seiner los und schlag sie mir um die Taille. Unter meinen Händen spürte ich den weichen Stoff des Sweatshirts.
Als mir sein Gerede zu viel wurde ging ich einfach die Treppe hinunter.
Theatralisch seufzte er und sagte: „Versteh schon. Du bist nicht so der Fan von traditionellen Veranstaltungen. Gut, dann gehen wir weiter."
Er holte mich ein und ging neben mir her, bis zur Flügeltür. Dahinter bogen wir nach rechts ab.
„Die Empfangshalle. Hier empfängt deine Mutter die wichtigen Besucher. Also eigentlich alle. Normal kommen nur Adelige zu Besuch. Dort in die Sessel wird sich dann gesetzt und geredet."
Er deutete auf eine kleine Ansammlung Ledersessel. Der eine war etwas größer, als die anderen. In dem saß bestimmt meine Mutter.
Weiter ging es in der Eingangshalle, zu der er nichts sagte. Er sagte nur noch einmal nachträglich, wohin die Türe im Flur führte. In sein Zimmer und das dazugehörige Bad, das in alle Gästezimmer integriert war. Gerne hätte ich mehr über das Deckenbild erfahren, aber Dustin schwieg dazu. Die Eingangshalle schien ihm nicht wichtig genug. Ich würde ihn aber ganz sicher nicht danach fragen.
Dustin zeigte auf eine Türe, der gegenüber, die zur Empfangshalle führte. „Die Tür dort führt zu einem weiteren Gang. Von dem gehen zwei Türen ab. Zu jeweils einem Gästezimmer. Aber lass uns rausgehen. Komm und nach der Treppe gehen wir rechts."
Na wenn er meinte. Ohne Dustin weiter zu beachten ging ich die große, breite Treppe vor dem Eingang hinunter und bog auf dem Pfad, der davor anfing, nach rechts ab.
Zu meiner Rechten ragte ein Turm empor. Das musste der Turm sein, in dem ich schlief.
Ich blieb stehen und sah an ihm empor. Wenn ich das richtig sah, dann reichte der Turm bis zum ersten Stockwerk. Das Schloss aber hatte insgesamt zwei Stockwerke. Ich machte das an den Fenstern aus. Drei Fensterreihen, zwei Stockwerke plus Erdgeschoss.
Was da oben wohl noch alles war.
„Megan, machst du eigentlich Handarbeiten? Also häkeln oder stricken und so was?", erkundigte sich Dustin möglichst nebenbei. Ich sah ihn skeptisch an. Was interessierten ihn solche Sachen?
Nach einem kurzen Moment des Überlegens sagte ich: „Sollte ich denn?"
„Schlecht wäre es nicht."
„Ich kann andere Sachen." Dabei dachte ich ans Fechten und an das eine Mal, wo ich mit Sascha geübt hatte. Da viel mir wieder ein, dass er, als er versucht hatte mich aus den Händen der Lakaien zu retten, ein Schwert gezogen hatte. „Und kannst du mit dem Schwert umgehen?"
Ich setzte mich in Bewegung, weiter den schmalen Kiesweg entlang. Dustin blieb noch einen Moment stehen und rannte mir dann hinter her.
„Natürlich kann ich mit dem Schwert umgehen. Und mit Pfeil und Bogen und so ziemlich allen Waffen, die es hier gibt.", sagte er stolz. Ich sah ihn noch nicht einmal an.
Der Weg machte einen 90° Knick nach rechts. Ich ging ruhig weiter und dabei würde ich einfach am liebsten los rennen und Sascha suchen. Ich wollte ihn so gerne wieder im Arm halten und ihn sagen hören, dass alles gut werden würde. Und was ich auch noch gerne tun würde, ist ihn fragen, was mit seiner Familie wirklich ist. Denn er hatte mich ja angelogen. Was war alles gelogen, was er mir erzählt hatte? Ich würde ihn so gerne fragen. Ich nahm mir vor es zu tun, sobald ich ich ihn das nächste Mal sah. Hoffentlich lebte er dann noch. Der Gedanke traf mich wie ein Stich ins Herz. Fröstelnd schlang ich mir meine Arme um den Oberkörper.
Nicht dran denken, redete ich mir ein.
Ich trat aus dem Schatten des Turms in die warme Morgensonne. Doch mir wurde nur noch kälter.
Vor mir sah ich den Weg, der sich einen kleinen Hügel hoch schlängelte. Auf dem Hügel standen zwei Pavillons. In beiden konnte ich Luminer sitzen sehen.
„Vielleicht solltest du anfangen zu sticken und wenn du magst, dann bringe ich dir auch das Tanzen bei.", erklärte sich Dustin bereit, der inzwischen schon mehr vor, als hinter mir ging.
Ich blieb stehen und fragte erstaunt: „Warum gehst du davon aus, dass ich nicht tanzen kann?"
„Weil du zu mir gesagt hast, dass du nicht mit mir tanzen willst, also dachte ich, dass du gar nicht tanzen kannst. Sonst hat noch niemand nein gesagt, wenn ich gefragt habe."
„Du hast nicht allzu viele gefragt, habe ich Recht?"
Verwirrt sah Dustin mich an. Ich ging weiter. Leise Musik drang an mein Ohr. Sie musste von einem der Pavillons stammen.
Als ich näher kam, erkannte ich, dass im vorderen, dem kleineren Pavillon, ausschließlich Frauen saßen. Alle hatten Sonnenhüte auf und hielten in den behandschuhten Händen eine Tasse bzw. Untertasse. Mit elegant abgespreizten Kleinenfinger tranken sie Tee. Dabei schnatterten sie aufgeregt durch einander. Keiner ließ den Anderen richtig zu Wort kommen und dennoch verstand jeder, was die Andere sagte. Wie konnte man bei so einem Durcheinander nur den Überblick behalten? Und worum ging es überhaupt? Ich stand nur wenige Schritte von den drei Stufen, die hinauf zum Pavillon führten, entfernt und verstand den Zusammenhang nicht. Ich hörte etwas von einem Suppenhuhn heraus, aber es ergab keinen Sinn.
Mit offenen Mund stand ich da und sah den Frauen beim Reden zu. Bis eine, mit knallroten Lippen auf mich zeigte und kreischte: „Seht, die Prinzessin!"
Sehr feinfühlig von ihr.
Schnell schloss ich den Mund, bevor mich alle anstarrten. Sie fielen vor mir auf ein Knie, trotz der ziemlich teuer aussehenden Kleider, und murmelten einen Gruß Richtung Boden.
„Ähm... Ihr müsst nicht...", fing ich an. Doch die mit den roten Lippen unterbrach mich im Namen aller Anwesenden: „Es ist uns eine Ehre vor der Prinzessin zu knien. Ihr seid unsere zukünftige Königin, wir wollen Euch die Ehre erweisen, die Ihr verdient."
„Zukünftige Königin...", wiederholte ich. Ich würde Königin werden? Aber wie...? Ich war doch bis jetzt auch nur ein ganz normales Mädchen. Hatte ich denn nicht noch Geschwister, die mir das abnehmen konnten? Ich verspürte keinen großen Drang Königin zu werden. Eindeutig zu viel Verantwortung, für meinen Geschmack. Und ich hatte auch so schon genug Probleme.
Vertraut legte Dustin seine Hand auf meine Schulter und meinte: „Lass uns weitergehen, Megan. Bis zum Mittagessen wollte ich dir das gesamte Erdgeschoss gezeigt haben. Wenn wir das schaffen wollen müssen wir uns ran halten."
Er schob mich von den Frauen weg, um den Pavillon herum und weiter gerade aus. Ich drehte noch einmal den Kopf. Die Frauen hatten angefangen zu tuscheln, steckten die Köpfe zusammen und redeten. Nur eine nicht. Sie war blass und hatte schwarze Haare. Ihre blass grünen Augen schienen zu glühen, als wir uns in die Augen sahen. Mir ließ ein Schauer über den Rücken, da lächelte sie mir plötzlich zu und drehte sich zu den anderen um.
„Dustin, wer ist diese schwarzhaarige Frau?", fragte ich, ohne ihn anzusehen. Er sah in die Richtung, in die ich auch sah und eine Sekunde schien sich sein Gesicht zu verdunkeln, aber dann hellte sich sein Gesichtsausdruck wieder auf, als wäre nichts gewesen und er sagte gleichgültig: „Keine Ahnung."
Ich warf ihm einen skeptischen Seitenblick zu.
Der Pavillon, der nun vor uns lag war deutlich prachtvoller, als der Tee-Pavillon eben.
„Dies ist der Musik-Pavillon. Er ist ausschließlich für Männer vorbehalten. Keine Frau darf einen Fuß dort hinein setzen. Wer es denn noch tut kann in den Kerker geschmissen werden.", erklärte Dustin mir. Aber das wollten wir doch erst einmal sehen.
Als Dustin vor dem großen, bogenförmigen Eingang stehen bleib ging ich weiter, mitten hinein in den Musik-Pavillon. Was sollte schon schief gehen?
Zuerst reagierte keiner der Luminer, die gerade dabei waren ein flinkes Musikstück zu spielen. Ich kannte es nicht, aber es machte gute Laune. Alle waren in die Noten vertieft, die sie provisorisch vor sich gestellt hatten.
Die Instrumente, die sie spielten sahen eigentlich genauso aus, wie die auf der Erde. Nur klangen einige ganz anders. Die Geige zum Beispiel quietschte ohrenbetäubend hoch, während die Mundharmonika, zumindest sah es aus wie eine, Töne von sich gab, die ich eher von einem Bass erwartet hätte.
„Megan.", rief Dustin, ich reagierte nicht. Da sah einer der Männer auf und hörte auf zu spielen. Wenige Sekunden später schwiegen auch alle anderen Instrumente. Grüßend hob ich die Hand.
„Hi, ich will nicht stören, aber wäre es nicht möglich, dass ich Ihnen beim Spielen zu sehe?", fragte ich ganz freundlich.
Ein stämmiger Mann, mit Vollbart sprang auf und schrie mich an: „Das ist ja wohl die Höhe! Was bildest du kleine Göre dir ein, hier einfach so herein zu spaziere. Wenn das so weiter geht ist es bald aus mit der Tradition! Die Jugend hat einfach kein Benehmen mehr! Hinaus und zwar plötzlich!"
Er zeigte mit einem seiner dicken Finger auf den Ausgang. Er war ganz rot im Gesicht.
„Aber Finanzberater, wissen Sie denn nicht, wer das ist? Das ist die Prinzessin. Und ich habe nichts dagegen, wenn sie sich in eine Ecke setzt und uns zuschaut. Wir sollten ihr die Musik unseres Landes etwas näher bringen, was haltet ihr davon Freunde?", versucht Phillips Vater, den ich davor noch gar nicht bemerkt hatte, den Mann etwas zu beruhigen. Von überall hörte man zustimmendes Gemurmel. Ein Stuhl wurde mir bereitgestellt. Ich setzte mich vorne an die Kante und hörte den Musikern zu, wie sie mehrere Lieder hintereinander spielten.
Nach vielleicht 15 Minuten meinte aber Dustin, der sich hinter mich gestellt hatte: „Megan, wir sollten zum Essen gehen. Ich bin sicher es steht schon auf dem Tisch."
Er bot mir seinen Arm an. Ich hakte mich bei ihm unter und zusammen gingen wir wieder in Richtung Eingang, jedoch nicht ohne, dass ich mich bei den Männern bedanke und ihnen noch einen schönen Tag wünschte.
Die Frauen im Tee-Pavillon winkten uns kichernd zu. Dustin beachtete sie gar nicht: „Du solltest wirklich anfangen zu sticken. Es schickt sich nicht für eine Dame keine Handarbeit z können."
„Und was schickt sich nicht für Männer?", schnappte ich dagegen. Ich hatte keine Lust, dass er mir sagte, was besser oder schlechter für mich war.
Ruhig antwortete er: „Wenn er nicht kämpfen kann."
„Zählt darunter auch fechten?"
„Ja, aber das ist hier nicht so verbreitet. Ich werde heute auch nicht mit dir essen. Deine Mutter hat sich gewünscht, dass sie mit dir alleine etwas Zeit verbringen kann."
Irritiert sah ich ihn an. Er klang bitter. Ich sagte nichts weiter dazu. Mir sollte es recht sein. Dann konnte ich Mama fragen, was sie mit Sascha vorhatte.
Ein kalter Windhauch fuhr durch mein Haar und ich war froh, dass ich Saschas Sweatshirt angezogen hatte. Es schien zwar die Sonne, aber der Wind war kalt und als ich hinauf zum Himmel sah entdeckte ich eine dunkle Wolkenwand, die immer näher kam. Wahrscheinlich würde es später noch anfangen zu regnen.
Im Schloss war es genauso kühl, wie draußen. Aber es windete nicht. Dustin führte mich bis zum Esszimmer, vor der Tür blieb er stehen.
„Sehen wir uns später wieder?", fragte er. Ich zuckte mit den Schultern. Ich war eigentlich nicht wirklich scharf darauf ihn später noch einmal zu sehen. Eilig sagte er: „Wenn du mich suchst, ich bin vor dem Schloss und trainiere ein wenig. Vielleicht würde es dir ja Spaß machen dabei zu zusehen. Komm einfach vorbei, wenn du meinst."
Er ließ mir keine Zeit um noch etwas zusagen. Er drehte sich um und lief hinaus, ohne sich noch einmal um zu drehen.
Was für ein interessanter Junge. Ich zuckte wieder mit den Schultern und betrat den Speisesaal. Meine Mutter saß schon am Tisch. Anders als gestern stand nur eine lange Tafel im Raum, die aber kaum ein viertel des Raumes ausfüllte. Am Kopfende war nur Platz für einen, so dass ich mich rechts von meiner Mutter um die Ecke setzte.
Sie begrüßte mich mit einem Lächeln. „Ich möchte mit dir reden Megan. Sag mir, was würdest du mit ihm tun? Und vergiss nicht, er ist unser Feind."
„Ich würde versuchen ihn nicht mehr als Feind sondern als Freund zu sehen. Mit ihm reden, versuchen den Streit, den es schon so lange gibt, zu schlichten. Mit ihm Frieden schließen und von vorne anfangen." Ich sah meiner Mutter fest in die Augen. Sacht schüttelte sie den Kopf und entgegnete: „So einfach ist das nicht. Es kann nur einen Herrscher geben und das werden nicht sie sein und sie denken wir werden es nicht sein. Es wird so bald keinen Frieden geben, denn keiner will sich geschlagen geben, aber ich denke ich habe einen Weg gefunden, wie es vielleicht doch klappen könnte. Dank dem kleinen Prinzen."
Ihr Blick rutschte weg und sie schien vor sich hin zu träumen.
Zwei Türen zur Küchen gingen auf und meine Mutter rutschte in die Wirklichkeit zurück. „Lass uns nach dem Essen weiter darüber reden. Es gibt heute Steak."
„Oh, ich esse kein Fleisch am Stück, tut mir Leid. Höchstens Salami, aber sonst kein Fleisch.", sagte ich schnell.
„Das ist überhaupt kein Problem, mein Schatz. Du kannst dir etwas anderes kommen lassen." „Nein, das ist schon okay. Ich hab sowieso keinen Hunger." Eine Weile schwiegen wir. Mama aß ihr Steak und ich starrte einfach nur vor mich hin. Ich überlegte, wie beide Städte vielleicht doch in Frieden zusammen leben könnten. „Was muss passieren, damit es Frieden gibt?"
„Entweder König Diego ergibt sich, oder ich. Aber keiner von uns beiden hat Lust dazu."
„Und wenn man sich verbünden würde?", verstand es nicht. Warum konnten die beiden denn nicht ein Abkommen treffen, dass sie beide weiter regieren konnten, aber in Frieden.
Meine Mutter seufzte: „Megan, wie soll das denn gehen? Er stellt sich auf stur und dann habe ich auch keine Lust mit ihm zu verhandeln. Ich habe es doch schon versucht. Es gibt keine Lösung, einer muss sich ergeben. Und das geht nur durch Krieg."
„Und was ist mit einer Hochzeit?" Sascha hatte gesagt er liebt mich. Wäre das dann nicht eine friedliche Lösung? Und meine Mama wollte doch eh, dass ich heiratete.
„Megan, wer soll denn bitte heiraten? Ich kann es nicht. Ich war mit deinem Vater verheiratet und Diego wäre sowieso viel zu jung für mich. Und du wirst Dustin heiraten." Sie sagte das ohne mit der Wimper zu zucken. Ich war entsetzt. Sie entschied über meinen Kopf hinweg, dass und wen ich heiraten sollte.
„Wie kannst du einfach davon ausgehen ich würde Dustin heiraten? Hast du dir nicht einmal Gedanken gemacht, dass ich schon verliebt bin? Ich brauche niemanden, der mein Leben plant!", sauer verschränkte ich die Arme vor der Brust.
Meine Mutter ließ Gabel und Messer sinken und sah mich geduldig an. „Wir haben doch schon darüber gesprochen, Megan. Und eigentlich ging es auch nicht um dich und Dustin, sondern um Sascha. Ich habe nämlich seinem Bruder eine Nachricht zukommen lassen, dass wir ihn gefangen haben und ihn nur freilassen, wenn er sich ergibt. Schatz, das ist die wahrscheinlich einzige Lösung um beide Reiche zu vereinen. Das musst du doch verstehen, genauso wie es wichtig ist, dass das Land ein starkes Königspaar hat. Dich und Dustin."
„Nein, das verstehe ich nicht." Wütend stand ich auf. Ich hatte echt keine Lust mehr mit meiner Mutter darüber zu streiten.
„Liebling, bitte setz dich wieder hin. Wir können doch über alles reden. Ich versteh auch gar nicht, warum du jetzt so sauer bist. Es ist das Beste, für alle. Für die Leute hier und auch im anderen Reich.", versucht meine Mutter mich aufzuhalten. Mit immer noch verschränkten Armen bleib ich stehen, drehte mich zu ihr um und sagte: „Ich glaube das sehen nicht alle so wie du." Und dann ging ich. Ich konnte noch nicht einmal weinen so überfordert war ich mit der ganzen Sache.
„Und Megan, bitte zieh dir etwas anderes an!", keine Bitte, ein Befehl. „Ich schick dir jemanden rauf, der dir hilft."
Na wenn sie meinte. Ich stürmte in den Thronsaal und die Treppe hinauf in mein Zimmer.
In diesem Moment vermisste ich zum ersten Mal mein Zuhause. Das Schloss war hell und freundlich eingerichtet, aber mein Zimmer auf der Erde konnte nichts ersetzen. Wie gerne würde ich meinen Vater nun umarmen, aber wahrscheinlich hatte er eh keine Zeit, selbst wenn ich Zuhause wäre.
Endlich war ich in meinem Zimmer und ließ mich aufs Bett plumsen. Ich sah wieder hinaus auf die Felder. Sie gefielen mir. Man konnte ganz normale Menschen bzw. Luminer sehen.
Gerade wurde das Feld von einem Ochsen und einer Frau umgepflügt. Immer wieder hielt das Gespann an und die Frau bückte sich. Wahrscheinlich waren in der Erde Steine, die weg mussten.
Das halbe Feld war schon umgegraben. Es war eine mühselige und anstrengende Arbeit.
Da kam ein Kind auf das Feld gelaufen. Die Frau hielt den Ochsen an und streckte die Arme dem Kind entgegen. Es war ein kleines Mädchen, mit langen blonden Haaren, einem schokoladenbraunen Kleid und einer befleckten Schürze um.
Begeistert sprang die Kleine in die Arme ihrer Mutter, die sie hoch hob und durch die Luft wirbelte. Mir viel auf, wie jung die Mutter noch war. Sie war vielleicht wenige Jahre älter, als ich. Ich sah den beiden weiter zu, wie sie das Feld umgruben.
Wenige Minuten später kam die Frau, von der meine Mutter gesagt hatte sie würde mir beim Umziehen helfen. Erstaunt stellte ich fest, dass es die Frau aus dem Tee-Pavillon war. Die mit den roten Lippen. Sie hatte ein hell-rosa Kleid über dem Arm. Es sah genauso aus, wie das von gestern, nur in einer anderen Farbe.
„Prinzessin.", sagte sie und verbeugte sich vor mir. „Ich bin die königliche Schneiderin. Ich werde von Ihnen Maß nehmen und bis das Gewand fertig ist werden Ihnen andere Kleider bereitgestellt."
Sie legte das Kleid auf mein Bett und wollte mir schon den Pulli über den Kopf ziehen, als ich ihr zu verstehen gab, dass ich das alleine machte.
Schnell zog ich mich bis auf die Unterwäsche aus. Skeptisch musterte mich die Frau. Sie holte ein Maßband zwischen ihren Brüsten hervor und nahm mit geübten Handgriffen Maß. Sie schrieb nichts auf, behielt wohl alles im Kopf. Als sie fertig war sagte sie sachlich: „Kleines, Ihr seid zu dünn. Etwas mehr Essen würde Euch gut tun."
Ich zuckte mit den Schultern. Natürlich wusste ich, dass sie Recht hatte, aber seitdem ich hier war, war mir der Appetit auf alles vergangen.
„Jetzt macht nicht so ein Gesicht. Wollt Ihr diese Dinger anlassen?" Sie zeigte auf meine Unterwäsche und ich nickte.
Dieses Mal klappte es schon besser mit dem Anziehen, als beim ersten Versuch. Ich hatte mir einige der Löcher gemerkt, durch die ich meine Arme und Beine stecken musste. Trotzdem musste mich die Frau ständig korrigieren, aber sie war sehr geduldig mit mir. Als ich es endlich geschafft hatte und auch die Schuhe an hatte, verabschiedete sie sich und ging.
Ich stellte mich an das Fenster, von dem aus man die Stadt sehen konnte und versuchte einen Blick auf den Innenhof werfen zu können. Es gelang mir nicht.
Ich fing an in meinem Zimmer auf und abzugehen. Zuerst nur von einer Seite des Raumes zur anderen, doch dann fuhr ich damit fort immer an der Wand entlang zu gehen.
Von draußen waren Männerstimmen zu hören. Sie lachten, dann schrie jemand. Eine Frau. Klingenschläge wurden laut. Ich eilte zum Fenster, konnte aber nichts sehen. Was ging da unten vor? Ob ich wohl mal nachschauen sollte? Bestimmt konnte es nicht schaden.
Mit großen Schritten ging ich auf die Treppe zu, die mich nach unten in den Thronsaal führte. Schnell ging ich sie runter, durchquerte den Saal, die Empfangshalle, den Gang und trat durch die Eingangshalle nach draußen.
Ich hob die Röcke meines Kleides nach oben, um schnell die Stufen nach unten zu kommen.
Erschrocken blieb ich stehen, als ich sah, was der Grund für diesen Lärm war. In einem eingezäunten Kreis kämpften zwei Männer gegen einander. Der eine hatte sich jemanden wie einen Sack über die Schulter geworfen. Die Person trug eines der Bediensteten-Kleider. Hellblau und lang. Als die Männer sich im Gefecht des Kampfes drehte konnte ich das Gesicht des Mädchens sehen, dass da so umhergewirbelt wurde, als wäre es nichts weiter, als eine Verzierung. Es war Abigail.
Eine Ansammlung von Schaulustigen hatte sich um den Kreis versammelt. Anfeuernde Rufe waren zu hören. Ich konnte nicht glaube, was ich da sah.
Plötzlich machte der Jüngere, der nicht Abigail über der Schulter hatte einen Ausfallschritt und schlug seinem Gegner das Schwert aus der Hand. Er hielt dem Älteren die Schwerspitze an die Kehle. Geschlagen über gab dieser dem Anderen Abigail, der sie sich genauso über die Schulter warf, wie sein Konkurrent zuvor.
„Wer möchte gegen mich um dieses Weibsbild antreten? Ich nehme es mit jedem auf!", prahlte er. Ich stapfte auf das Geschehen zu. Es schwang sich schon der Nächste über die Umrandung, als ich rief: „Wartet!"
Alle drehten sich zu mir um. Flüchtig sah ich in die erstaunten Mienen der Zuschauer, dann konzentrierte ich mich wieder ganz auf Abigail und ihren Peiniger.
„Ich werde es versuchen! Wenn ich es schaffe wird so etwas wie jetzt nie wieder stattfinden, verstanden?!", verkündigte ich laut.
„Ich werde nicht gegen eine Frau kämpfen! Also geht wieder und kümmert Euch um Eure Stickereien.", sagte der junge Mann abweisend. Von überall waren zustimmende Rufe zu hören. Ich ignorierte sie und hielt dagegen: „Ich dachte Ihr nehmt es mit jedem auf, ich konnte ja nicht wissen, dass Ihr Angst vor einer Frau als Gegner habt."
Das zeigte Wirkung. Sein Gesicht färbte sich vor Zorn rot.
„Ich habe keine Angst!", protestierte er. „Ich möchte Euch nur nicht verletzen und mir dadurch den Zorn Eures Gatten zu zu ziehen."
„Ich habe keinen." Seine Augen wurden groß, dann lächelte er abfällig. „Wenn Ihr also gewinnt wollt ihr uns den Spaß nehmen und was ist, wenn ich gewinne, was wahrscheinlicher ist? Bekomme ich dann einen Kuss?"
„Prinzessin! Was tut Ihr da?", kam es auf einmal von rechts. Alle drehten sich um. Da standen Phillip und hielt ein Pferd an den Zügeln. Überall um mich herum fingen nun alle zu murmeln an.
Entschlossen sagte ich: „Ich verhandele."
„Worüber?", fragte Phillip erstaunt.
„Darüber, was ich ihm," ich zeigte mit dem Finger in Richtung des Mannes, gegen den ich kämpfen wollte. „geben muss, wenn ich gegen ihn verliere beim Kämpfen."
„Moment, Ihr seid Prinzessin Megan? Dann verzeiht bitte meine Anmaßungen.", zog der junge Mann meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn.
„Vergesst, dass ich Prinzessin bin. Im Moment bin ich nur Euer Gegner und unser Deal steht immer noch."
„Dann seid Ihr einverstanden, dass wenn ich gewinne Ihr mir einen Kuss gebt?"
„Ja und nun lasst uns anfangen."
„Gebt der Prinzessin ein Schwert." Ein langes Schwert wurde durch die Reihen zu mir durch gegeben. Ich stellte mich in den Ring und nahm es einem alten Greis mit einem Lächeln aus der Hand.
Der Mann, der eigentlich hatte kämpfen wollen zog sich murrend zurück.
„Könnt Ihr überhaupt mit einem Schwert umgehen?", fragte der Mann amüsiert. Er war zwar alt, hatte aber noch eine junge Stimme.
Neben dem normalen Fechtunterricht hatte ich oft mit meiner Fechtgruppe Musen besucht, in denen man gegen einander mit echten Schwertern aus dem Mittelalter kämpfen konnte. Selbstverständlich galt dieses Angebot nur für geübte Fechter und Kämpfer. Sonst wäre das viel zu gefährlich gewesen.
Während ich das Schwert in meiner Hand ansah antwortete ich ihm: „Wer weiß das schon?" Die Waffe lag gut in der Hand. War perfekt ausbalanciert.
„Megan, tut das nicht!", schrie Phillip. Ich beachtete ihn nicht. Er konnte ja nicht wissen, dass ich wusste, wie man mit so einer Waffe umging.
Mein Gegner drängte mich: „Können wir dann anfangen?"
Ich nickte und machte einige Schritte weiter in die Mitte des Ringes.

Der Kampf an sich verlief eigentlich recht langweilig. Er versuchte mich zu treffen, ich parierte seine Schläge. So ging das immer weiter, bis ich ungefähr wusste, in welchen Abständen er mich immer attackierte.
Wieder parierte ich einen seiner Schläge und setzte ihm nach, als er nach hinten wich. Überrascht riss er die Augen auf, bewegte sich sonst jedoch nicht. Er war viel zu langsam.
Ich zielte mit meinem Schwert auf seine Beine und verletzte sein rechtes. Vor Schmerz schrie er auf, ließ seinSchwert fallen und hielt sich das Bein. Gemächlich setzte ich ihm die Spitze des Schwertes an den Hals.
Frustriert über seine Niederlage knurrte er etwas unverständliches, ging einige Schritte nach hinten und setzte dann Abigail unsanft auf dem Boden ab.
Wackelig stand sie zuerst da, sah mich an und lief auf mich zu. Sie rannte mich fast um, als sie mich umarmte.
Mit der freien Hand drückte ich sie an mich.
Leise flüsterte ich ihr ins Ohr: „Es ist vorbei. Es wird alles wieder gut." Ich wendete mich an die gesamte umstehende Meute. „Ihr alle garantiert mir dafür, dass so etwas nie wieder vorkommt. Frauen sind nichts, um das man kämpft, man bemüht sich um sie. Und Spaß kann man auch so haben, dass nicht jemand dabei zu Schaden kommt! Habt ihr das verstanden?"
„Ja!", riefen mir die Männer die Antwort entgegen.
„Sollte ich sehen, dass ihr euer Wort brecht, dann werde ich mir eine hübsche Strafe, für jeden von euch ausdenken!", drohte ich ihnen. Ich hoffte das hatte Wirkung.
Ich drehte mich nach Phillip um. Er sollte mir helfen. Ich fand ihn in der ersten Reihe der Schaulustigen wieder. Mit offenem Mund sah er mich an. Schüchtern lächelte ich ihm zu. Phillip kletterte über die Absperrung und kam auf mich zu.
„Tu mir einen Gefallen und bring Abigail nach oben in mein Zimmer. Dankeschön.", bat ich Phillip. Er nickte, nahm seinen Mantel ab, legte ihn ihr um die Schultern und führte sie langsam aus dem Ring heraus hin zum Schloss.
Ich meinerseits reckte das Schwert Richtung Himmel und rief: „Wessen Waffe ist das?"
„Meine und ich war mir sicher du würdest sie nicht nehmen, sonst hätte ich sie nicht durch gereicht.", kam es von hinten.
Eine Gasse öffnete sich, die den Blick auf den Sprecher frei gab. Es war Dustin. Wir gingen uns entgegen und blieben gegenüber voneinander stehen, zwischen uns noch der Balken, der die Kämpfenden von den Zuschauern trennte.
„Du hättest mein Schwert nicht nehmen dürfen.", sagte er tadelnd. Ich zuckte nur mit den Achseln und übergab ihm, mit dem Griff voran, wie es sich gehörte, sein Schwert. Er nahm es mir ab und steckte es energisch in die Scheide.
„Sieh doch nur, wie dein Kleid aussieht! Was hast du dir nur gedacht? Was bildest du dir ein, hier einfach aufzutauchen und kämpfen zu wollen?", schrie er mich an. Ich ließ mich davon nicht beeindrucken. Wenn es nach mir gegangen wäre hätte ich dieses Kleid gar nicht an.
Ich schnappte dagegen: „Du scheinst ja ein großer Fan dieses Spiels gewesen zu sein. Ich hoffe du kannst den Verlust ertragen."
„Das ist es nicht! Du hättest jemanden beauftragen können diese Angelegenheit für dich zu übernehmen. Stell dir doch nur mal vor du hättest tatsächlich verloren! Du hättest ihn küssen müssen. Als Prinzessin hast du als Vorbild zu strahlen und nicht als jemand, der sich gerne mal prügelt! Ich hätte diesen Auftrag ohne Probleme für dich ausgeführt!"
„Danke, ich kann erstens sehr gut auf mich selber aufpassen und zweitens erledige ich meine Dinge lieber selbst. Und ich verstehe nicht, warum sich nicht auch eine Prinzessin mal prügeln darf, wie du es ausdrückst!" Langsam wurde ich doch wütend. Was bildete der sich überhaupt ein? Gibt mir zuerst seineWaffe und sagt dann es wäre falsch von mir sie zu nehmen. Der hatte sie doch nicht mehr alle!
„Megan, eine Prinzessin sollte elegant, zurückhaltend und höflich sein! Sie sollte nur mit ihrem Stickerei außerhalb öffentlicher Auftritte zu sehen sein!"
„Tut mir Leid, wenn ich den Anforderungen nicht gerecht werde, aber so eine bin ich nicht!"
„Hättest du ihn denn geküsst, hätte er dich besiegt?"
„Aber das hat er nicht!"
„Das beantwortet meine Frage nicht. Hättest du es getan?"
„Das geht dich nichts an!"
„Sag es mir, auf der Stelle!" Dustin packte mich an meiner linken Schulter und zog mich näher zu sich heran.
„Hättest du denn was dagegen getan?"
„Vermutlich schon. Sag es mir!"
„Ich habe mir vor gar nicht kurzer Zeit (wenn ich ehrlich bin, Sekunden bevor der Kampf begann) etwas geschworen, aber wahrscheinlich hätte ich ihm trotzdem einen Kuss gegeben. Er hatte mein Wort und das würde ich nie brechen!", zischte ich Dustin an. „Du hättest es dir gegenüber gebrochen."
„Damit kann ich leben. Eigentlich geht dich das auch gar nichts an, also lass mich los!"
„Wie konntest du nur so leichtsinnig in einen Kampf gehen? Dir hätte sonst was passieren können!"
„Wen kümmerts? Misch dich da nicht an!"
Dustin ließ mich los und seine Hand traf mein Gesicht, bevor ich auch nur einen Millimeter zurück weichen konnte.
„Wage es nicht so etwas noch einmal zu sagen! Du törichtes Kind!" Er konnte einem richtig Angst machen, wie er da so vor mir stand, mich anschrie und ein böses Gesicht machte.
„Habe ich denn nicht Recht?", hakte ich nach. „Wäre es nicht vollkommen unbedeutend gewesen, wenn ich ihn geküsst hätte?"
„Es geht mir nicht nur um den Kuss. Er hätte dich verletzen können. Dich durch einen Unfall töten können. Hast du da schon mal dran gedacht?", Dustin wurde immer lauter.
Ich versuchte ruhig zu bleiben. „Klar hab ich daran gedacht."
„Warum hast du dich dann trotzdem der Gefahr ausgesetzt?"
„Wenn es so schlimm für dich wäre, dann hättest du ja auch früher eingreifen können, aber du hast es nicht getan, alsokann es dir auch nicht so wichtig sein." Ich drehte mich weg und ging auf den Eingang zu. Ich hatte keine Lust mich noch weiter zu streiten und meine Wange tat entsetzlich weh.
Ich bückte mich gerade unter dem Absperrbalken durch, als ich Dustin schreien hörte: „Lass mich gefälligst durch!"
Schon hinter dem Zaun drehte ich mich um, um zu sehen, was los war. Gerade versuchten die Männer, die noch um den Ring herum standen, Dustin aufzuhalten, der anscheinend zu mir wollte.
Er holte mit der Faust aus und streckte einen jungen Mann, mit blonden Haaren, nieder. Er fiel um wie ein Baum.
„Aufhören!", schrie ich. „Alle mit einander!"
Dustin wurde losgelassen, machte aber auch keine Anstalten mir hinterher zu laufen. Hoffentlich blieb es auch dabei.
Ich drehte mich wieder weg. Ich musste nach Abigail sehen.
„Megan, lauf nicht weg! Wir waren noch nicht fertig!" Genervt drehte ich mich erneut um. Der Typ konnte es auch einfach nicht lassen.
Ich entgegnete mit hoch erhobenem Haupt: „Da hast du was falsch verstanden. Ich bin nämlich sehr wohl fertig mit dir! Troll dich weg!"
„Den Teufel werde ich tun!" Dustin steuerte durch die Menge auf mich zu. Ich muss zugeben, er machte mir Angst.
Plötzlich tauchte ein Bild vor meinem inneren Auge auf.
Sascha, der mit den Händen über dem Kopf an die Wand gefesselt war. Er hatte etwas an, das man nur mit Mühe Intiembedeckung nennen konnte. Es war praktisch alles von ihm sichtbar und überall verliefen rote Striemen. Er hatte schrecklich Schmerzen. Seine Hände waren taub und seit dem ersten Tag nichts mehr zum Esen. Seit dem war er auch mit den Händen nach oben gefesselt war. Er hatte beim ersten Mal, als man Essen gebracht hatte, mit der Essensschüssel einen der Wärter zusammen geschlagen, ihm eine Hand zwischen die Augen rammen können, was dazu führte, dass dem Mann der Schädel zersplitterte. Es war nicht so, dass er gar nichts mehr bekam, sonder das Essen immer vor ihm hingestellt wurde. Jeden Tag wurde auf´s neue gesagt: „Bestien füttert man nicht, sie müssen selber an ihr Essen kommen.", und dann gingen sie wieder, holten Stunden später das nicht angerührte Essen ab und lachten sich schlapp darüber, dass er anscheinend keinen Hunger hatte.
Es war grausam. Ich presse die Augenlider auf einander, sah vom Geschehen weg. Doch ich zwang mich wieder hin zu sehen.
Sascha hatte den Mund weit geöffnet und brüllte meinen Namen. Ich spürte wie seine Angst um mich sich schürte und fast ins unermessliche stieg. Es bereitete ihm solche Qualen. Alles konnte er ertragen nur nicht, wenn mir etwas passierte.
Eben waren es nur Bilder gewesen, jetzt hörte ich auch seinen Schrei. Er hallte in meinem Kopf. Mit beiden Händen hielt ich mir die Ohren zu. Es sollte aufhören. Konnte ihn denn keiner erlösen?
Ich krümmte mich. Mein ganzer Körper schien zu schmerzen.
Sascha bäumte sich gegen die Fesseln auf. Er versuchte frei zu kommen, wie schon oft zu vor. Bis jetzt war es ihm nie gelungen und auch dieses Mal hielt das Eisen ihm stand. Er gab auf und hob den Kopf. Das war das erste Mal, dass ich sein Gesicht sah, seitdem er im Kerker war.
Seine Wangen waren eingefallen, seine Haut grau, aber was mich am meisten erschreckte waren die roten Linien, die auf seinem Gesicht verteilt worden waren. Sein rechtes Auge war zu geschwollen und ich konnte immer noch die Stelle sehen, wo seine Lippe aufgeplatzt war.
Er hatte aufgehört zu schreien und sah mir direkt in die Augen. Mit meinen Lippen formte ich: „Es ist alles okay, ich hol dich da raus."
Sascha nickte. Er hatte verstanden. Sein Bild verschwamm.
Dustin stürmte weiter auf mich zu. „Du musst versprechen dich ab jetzt wie eine Prinzessin und nicht wie ein Flegel zu verhalten! Habe ich mich klar ausgedrückt?"
Ich sagte nichts, sah ihm nur herausfordernd in die Augen.
„Ja hast du. Lass mich jetzt endlich in Ruhe! Ich möchte nie wieder etwas mit dir zu tun haben" Ich ließ ihn stehen wie einen begossenen Pudel im Regen. Zügig ging ich zum Schloss. Dustin schien mir nicht mehr hinterher zu kommen. Welch ein Glück.
Abigail, ich komme!

Teil 3


In meinem Turmzimmer angekommen sah ich Abigail auf meinem Bett sitzen. Phillip kniete vor ihr und hatte ihr beruhigend die Hände auf die Knie gelegt. Sie weinte.
Eilig schloss ich die Tür und ging zu meinem Bett, um mich neben sie zu setzen. Liebevoll legte ich einen Arm um sie. Ihre Schultern zitterten bei jedem Schluchzer. Nach einigen Sekunde wurde ihr Weinen schlimmer und sie warf sich in meine Arme. So fest wie möglich hielt ich sie und wiegte sie vorsichtig vor und zurück.
Mit geschlossenen Augen summte ich eine simple Melodie vor mich hin, ungeachtet dessen, ob ich die Töne traf, oder nicht. Es dauerte eine ganze Weile, bis Abigail etwas ruhiger wurde. Sie schniefte und hob ihren Kopf von meiner Schulter. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich ihr dichtes blondes Haar aus dem Gesicht, das nun total zerzaust war.
Entschuldigend lächelte sie mich an und ich lächelte freundlich zurück, um ihre zu verstehen zu geben, dass alles okay war. Das arme Mädchen hatte ganz rote Augen vom Weinen.
Eine weitere Strähne wurde von mir hinter ihr Ohr verbannt, während sie dabei war die letzten feuchten Spuren aus ihrem Gesicht zu wischen.
„Bist du okay soweit?“, fragte ich besorgt, aber sie nickte.
„Es ist alles nur halb so schlimm. Tut mir aufrichtig Leid, wenn ich dein Kleid beschmutzt habe“, machte sich Abigail völlig grundlos Sorgen.
Ich beruhigte sie: „Keine Angst. Das war schon nach dem Kampf am Ende.“
Ein kleines Lachen entschlüpfte ihrem Mund und auch Phillip musste ein wenig schmunzeln. Mir war nicht so sehr nach Lachen zu Mute, trotzdem rang ich mir ein kleines Lächeln ab. Meine Gedanken kreisten um Diego und ob er meiner Mutter wohl von diesem Kampf erzählen würde. Und weiter ließ mich diese Art Vision von Sascha nicht los. Was hatte das zu bedeuten?
„Danke!“, kam es ganz leise von Abigail.
Verwundert sah ich sie an und fragte: „Wofür denn?“
„Na dafür, dass du mich gerettet hast. Dafür, dass du für mich gegen diese Typen gekämpft hast. Ich hatte ziemliche Angst, weißt du? Eine andere Dienerin ist auch einmal an die geraten. Sie hat sich Wochen danach noch in den Schlaf geweint.“
Betrübt sah Abigail auf den Boden. Fassungslos saß ich da und bekam meinen Mund nicht mehr zu. Ich konnte nicht glaube, dass das einfach so von Statten ging. Tat meine Mutter denn überhaupt nichts dagegen?
„Und die Königin bereitet dem kein Ende?“, wollte ich wissen.
Abigail schüttelte ihren Kopf und antwortete mit leiser Stimme: „Ich glaube nicht, dass sie etwas davon mitbekommen hat.“
„Königin Amber ist die meiste Zeit, wenn sie nicht gerade ein Fest gibt, in ihren Zimmern oder oben in der Bibliothek.“, mischte sich auch Phillip mit ein. Ungläubig sah ich zu ihm. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand neben dem Fenster.
„Hörzu, Megan. Ich will mich irgendwie bei dir bedanken und mich revanchieren. Gibt es irgendetwas, wobei du meine Hilfe brauchen könntest? Egal was. Ich helfe dir bei Allem“, mit ihren Augen flehte mich Abigail an, dass ich ihr irgendetwas bot, das sie für mich tun konnte. Aber da war nichts. Bis auf… Aber das konnte ich nicht von ihr verlangen. Irgendwie musste ich da alleine durch.
Doch auch Phillip schien plötzlich verrückt zu werden: „Ich will dir auch helfen. Diese ganze Sache mit den Soldaten war mir schon lange ein Dorn im Auge. Ich bin froh, wenn das alles endlich vorbei ist. Und wenn ich deinen Gesichtsausdruck richtig deute gibt es da sogar etwas, wobei du Hilfe gebrauchen könntest. Sag es uns. Wir werden dir treu zur Seite stehen!“
„Ihr spinnt doch! Ich möchte nicht, dass ihr mir helft. Mit mir ist immer nur Ärger verbunden. Außerdem braucht ihr mir in gar keiner Form zu danken. Ich habe das gerne gemacht. Wirklich!“, sagte ich, konnte aber dennoch nichts gegen dieses Gefühl tun, dass ich ihre Hilfe besser annehmen sollte. Doch Phillips und Abigails Blick verriet mir, dass sie es mir nicht abkauften, dass ich ihre Hilfe nicht benötigte.
Ich seufzte. Ich war wohl nicht besonders gut darin anderen etwas vorzumachen. Dabei dachte ich immer, dass ich so undurchschaubar wäre.
„Jetzt rück endlich raus, wobei wir dir helfen können! Wir machen alles!“, drängte Phillip mich erstaunlich schroff.
Mein Kopf sagte, dass ich die Beiden da besser nicht mitreinziehen sollte und dass ich niemandem vertrauen sollte.
Mein Herz sagte: Du kannst ihnen vertrauen. Ohne sie kommst du nicht weiter. Du musst lernen Hilfe anzunehmen!
„Vielleicht gäbe es da etwas… Aber ich weiß nicht, ob ihr mir da helfen könnt“, fing ich vorsichtig an. „Ich müsste unbemerkt in den Kerker gelangen. Und ich weiß noch überhaupt nicht wie.“
„Ach deswegen hast du mir diese Fragen gestellt, bei deiner Willkommensfeier. Ich verstehe. Und was willst du da?“, fragte Phillip.

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Bildmaterialien: Jeremy Jackson
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2013

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