Wir saßen an unserem Tisch in einer stillen Ecke der kleinen Pizzeria, wie auf einer sonnigen Insel in einem Meer von Behagen. Die meisten der Gäste waren gegangen. Viktoria rauchte. Der Geruch italienischer Gewürze mischte sich mit dem Duft ihrer Zigarette. Die rundliche Frau des Besitzers brachte uns den Cappuccino und räumte die Teller ab. Ich schaute gedankenlos ihrem davon schaukelnden Hintern nach, bis sie ihn herumschwenkte, um damit die Küchentür aufzustoßen und verschwand.
Wir kamen oft hierher. Wir mochten diesen stillen Ort. Wir saßen hier, aßen, redeten und spielten mit dem Gedanken uns ineinander zu verlieben.
Ich nahm eine Zigarette aus der Schachtel, brach den Filter ab und zündete sie an. Dabei blickte ich in Viktorias schönes blasses Gesicht mit den vollen Lippen und der hohen Stirn. Ich suchte ihre Augen. Eine Weile hielt sie meinem Blick stand. Dann senkte sie die Lider. Ihre Hand umklammerte meinen Arm.
»Ich bin eine blöde Kuh«, erklärte sie plötzlich. »Ich habe mich in Kurt verliebt.«
Ich war wie vom Donner gerührt. Ich fröstelte. Das konnte nicht wahr sein. Das gab es nicht. Eine finstere Wolke verdunkelte die Sonne über unserer Insel. Ein gefährlicher Sturm aus Befürchtungen verwandelte das Meer aus Behagen in eine tosende See.
»Wer ist Kurt?«, wollte ich wissen.
Sie zögerte. Dann klärte sie mich auf.
»Du kennst ihn. Kurt der Ringer«
»Wer?« Ich dachte ich hätte mich verhört.
Viktoria starrte mir unter gesenkter Stirn hervor in die Augen, als wollte sie mich hypnotisieren.
Da begriff ich. Ich lachte hellauf. Die Wolke über uns gab die Sonne wieder frei. Die Wogen der aufgekommenen Eifersucht glätteten sich. Ich verstand sie. Sie unternahm einen Fluchtversuch.
Wir hatten vieles gemeinsam. Wir kamen beide aus gescheiterten Beziehungen. Wir scheuten tiefer gehende Gefühle. Wir hatten Angst verletzbar zu werden. Ich war fast froh, dass sie es war, die diesen Fluchtversuch unternahm.
Es konnte nur ein Fluchtversuch sein, denn dieser Kurt war ein breitschultriger, gewichtiger Kerl, von äußerst schlichter Denkart, den ich im Stillen immer Obelix genannt hatte. Außerdem wusste ich, dass dieser Hinkelsteintyp mit einer wasserstoffblonden vollbusigen Schönheit zusammenlebte und schon deshalb für Viktoria nur zum Träumen geeignet war.
Dann, während ich mir die Situation klarmachte, geschah etwas Seltsames. Ich sah mich plötzlich an einem anderen Ort, in einer anderen, längst vergangenen Zeit. Eine Art Film lief in mir ab, der mir weit, sehr weit zurückliegende Ereignisse so deutlich vergegenwärtigte, als würde ich sie gerade jetzt, in diesem Augenblick, erleben.
Ich konnte mir den ganzen Vorgang, dem ich in der Folgezeit ausgesetzt war, später nur so erklären, dass in meiner DNA nicht nur der Bauplan für meinen Körper gespeichert war, sondern auch die Erinnerungen meiner Vorfahren. Diese Erinnerungen hatten sich bisher versteckt, wie eine passwortgeschützte Computerdatei, ein Programm, das ungeöffnet in meinem Gedächtnisspeicher ruhte. Durch irgendeinen Zufall, einen Schock, oder auch nur ein bestimmtes Wort, hatte sich eine der Dateien geöffnet, ein Programm lief ab, ein Vorfahr dominierte mich, nahm mich wie einen Schatten mit in seine Welt, ließ ein Stück seines Lebens zu meinem werden, ohne dabei ganz von mir Besitz zu ergreifen. Für Momente räumte er mir so die Möglichkeit ein, mich neben ihn zu stellen und unsere Situation bewusst zu erleben. Es war als wären unsere Seelen zwei Bildobjekte, die auf einem Monitor nebeneinander standen und fast deckungsgleich übereinander geschoben und wieder getrennt wurden.
Das ging so weit, dass sich dieser Vorfahr zeitweise völlig mit mir identifizierte. Er scheute sich nicht, Viktoria, die er, wenn er sie direkt ansprach, Yrsig nannte, in unser gemeinsames Sein einzubeziehen.Er fing an seine Geschichte, die auch die meine war, zu erzählen.
Seine Stimme klang gleichzeitig weich und rau. Sie zog mich in ihren Bann. Sie war mir vertraut. Mir war, als hörte ich mich selbst sprechen.
Er begann folgendermaßen:
Es war kurz, nachdem ich Yrsig, wie es die gute Sitte gebot, an den Haaren in meine Höhle auf mein Felllager gezerrt hatte, als dieser Kerl auftauchte. Es war so ein widerlicher langhaariger Hinkelsteintyp, der immer beim Fest des großen Bärentanzes alle anderen zu Boden warf, weil er beim Auslosen den langen Halm gezogen hatte und den unbesiegbaren Gott des Feuers und der Bären spielen durfte. Alle mussten sich das gefallen lassen, um den mächtigen Gott der Bären und des Feuers, zu dessen Ehre der Tanz aufgeführt wurde, nicht zu verärgern. Wenn dann alle am Boden lagen, stand dieser Hinkelsteintyp mit ausgebreiteten Armen in der Mitte des Kreises und sah aus, wie ein aufgerichteter Frosch mit langen Haaren. Wie ein Frosch sprang er dann auch dreimal um das große Feuer, während die Männer der Horde zur Ehre des Gottes mit ihren Keulen auf den Waldboden trommelten und mit dumpfem Geheul um reiche Jagdbeute flehten.
Der Vorfahr unterbrach seine Erzählung, um Luft zu schöpfen. Für einen Augenblick war ich wieder ich selbst.
Er hatte also auch etwas gegen Muskelprotze, dieser Vorfahr, und die Heiratszeremonie wurde »An den Haaren aufs Felllager zerren« genannt. Das war bestimmt ein Relikt aus noch viel früherer Zeit und wurde nur noch symbolisch vollzogen. Ich konnte das gut verstehen, denn heute war eine Hochzeit ja auch keine H o c h-Zeit mehr, sondern diente nur als Name für eine Zeremonie, die ziemlich sachlich auf einem Standesamt durchgeführt wurde.
Schaukämpfe gab es damals also auch schon, allerdings nicht im Fernsehen, dafür aber mit religiösem Hintergrund. Die Regeln schienen allerdings die gleichen geblieben.
Der Vorfahr trat wieder an meine Stelle. Ich ließ ihn weiterreden.
Die Weiber durften nur aus der Ferne zuschauen, und da sie denn Sinn des Zeremoniells nicht erfahren sollten, verstanden sie auch nicht, dass der Triumph des Hinkelsteintyps nur vereinbart, war zum Lob des Gottes. Deshalb bewunderten sie ihn wie einen wahren Helden.
Yrsig hat ihn ganz besonders bewundert, weil sie geglaubt hat, so ein Unbesiegbarer könnte ihr gegen Hackalim helfen, der sich Blumen in die Ohren steckte und die meiste Zeit mit schaukelndem Oberkörper am Boden hockte, seit er heimlich zu viel von den Wunderpilzen des Schamanen gegessen hatte und der immer versuchte sie an den Haaren zu ziehen und mit Steinen nach ihr warf und ihr mit der Faust drohte, wenn sie in seine Nähe kam. Sie hatte Angst vor ihm. Also dachte sie, da käme ihr so ein Unbesiegbarer gerade recht. Der würde es dem Hackalim schon zeigen. Darum holte sie die bunte Schlangenhaut, die ich ihr geschenkt hatte aus dem Loch unter dem Stein in unserer Höhle, wo sie ihren Krimskrams versteckt hatte und lief damit in den Wald, wo sie bunte Blumen hineinknotete, um ihr Haar damit zu schmücken. Dann rannte sie zum Trinkfelsen, an dem der Hinkelsteintyp lehnte und gegorenen Wurzelsaft in sich hinein schüttete, mit der Faust auf die Steine schlug und herum brüllte, wie gewaltig stark er sei. Dabei blickte er mit zusammengekniffenen Augen zu der dicken Drullsaua hinüber, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Yrsig aber beachtete er nicht. Auch als sie sich, wie eine rollige Katze an ihn drängte, schaute er nur irritiert auf sie herab, um dann wieder von dem Wurzelsaft zu trinken und der Drullsaua schöne Augen zu machen. So blieb ihr nichts übrig als sich zu trollen, mit ihrem schönen Schlangenhaut-Haarschmuck und den Hinkelsteintyp von unserem Höhleneingang aus anzuhimmeln.
Der Vorfahr seufzte tief. Dann fuhr er fort:
Alles das hatte ich gesehen von meinem Platz am großen Feuer und ein großer Schmerz über Yrsigs Dummheit drohte meine Brust zu zerreißen. Also schulterte ich meine schöne Eichenholzkeule, blickte hinauf in den klaren Nachthimmel, folgte dem Ruf des großen Sternes und verließ den Lichtkreis des Feuers.
Zunächst trabte ich eilig im Schatten der Bäume den alten Pfad entlang, dann taumelnd, geblendet vom kalten Licht des Mondes über die unwirklich scheinende Ebene, durch raschelndes, knisterndes Gras, auf den Geruch und das immer lauter werdende Raunen des Flusses zu. Trauer war in mir und ein trockenes Schluchzen schüttelte mich. Ich bog die Zweige der Weidenbüsche auseinander, schob mich hindurch und stand am Ufer. Das Wasser war schwarz unter dem gleißenden Licht des Mondes. Seine runde Scheibe, die sich dahin spiegelte, wurde in der Mitte des Flusses auseinandergezerrt von der wilden Kraft, mit der er Strudel bildend über die Felsen strömte. Der weite unendliche Himmel wölbte sich über mir. Ich blickte hinauf zum großen Stern und noch mehr Trauer erfüllte mich. Ich hockte mich nieder und umfasste meine Knie. Meine Augen fanden den Mond und ich sang das Lied der Wölfe. Meine Stimme klang weit durch das Tal. Fern, vom anderen Ufer stimmten die Wölfe in meinen Gesang ein. Lange sangen wir so.
Dann schwieg ich, senkte den Kopf und sprach die Worte des Großen alten Mammuts:
»Ayaoooomm«, sagte ich, »ayaoooomm.« Immer wieder sprach ich die Worte des Großen alten Mammuts. In meinem Inneren wurde es Nacht. Ich fühlte nichts mehr von der Kälte, die vom gurgelnden Wasser heraufkam und nach meinem Körper griff. Frieden und Stille erfüllten mich.
Plötzlich stand ein großer Wolf vor mir. Seine Augen glühten und seine aufgerichteten Nackenhaare leuchteten weiß im Licht des Mondes.
»Was willst du?« fragte ich. Meine Hand tastete nach der Keule. »Hast du Hunger?«
»Nein«, sagte der große Wolf. »Ich habe keinen Hunger. Das große alte Mammut schickt mich. Es hat deinen Ruf gehört. Es will dich sehen. Ich zeige dir den Weg.«
Er schüttelte sich und eine Wolke glitzernder Tropfen sprang aus seinem Fell. Er drehte sich um. Er lief zum Fluss. Ich packte meine Keule. Ich ging ihm nach. Er sprang hinein, schwamm ein kurzes Stück. Dann tauchte er unter. Ich watete hinter ihm her ins Dunkel. Ich verlor den Grund unter den Füßen. Das Wasser schlug über meinem Kopf zusammen. Der Fluss nahm mich in seine starken Arme. Er zog mich hinab in die Tiefe. Ich erschrak. Ich fürchtete, keine Luft mehr zu bekommen. Aber ich schwamm in der Flut wie ein Fisch, ohne Atem zu holen und ohne zu ersticken. Die Strömung nahm zu. Sie riss mich mit sich fort. Ich stürzte über eine Felskante. In rasender Geschwindigkeit wurde ich hinabgesogen. Tief, ganz tief hinein ins Innere der Erde. Dann stand alles still. Der Fluss spuckte mich aus. Ich hob den Kopf und schleuderte mein Haar aus dem Gesicht. Ich stand in einem kleinen grün schimmernden See, mitten in einer riesigen unterirdischen Höhle. Vor mir kroch der Wolf auf einen Felsen am Ufer. Er sah hager aus. Unter seinem nassen Fell zeichneten sich Muskeln und Knochen ab. Ich arbeitete mich aus dem Wasser und wankte zu ihm.
»Ist es hier?«, fragte ich.
»Nein«, sagte der Wolf, »der Weg ist weit.«
Er schüttelte sich und lief vor mir auf den Eingang einer anderen Höhle zu. Ich eilte ihm nach. Wir hasteten nebeneinander zwischen den grünlich schimmernden Wänden des Felsenganges voran. Ich atmete gleichmäßig. Mein Herz wurde mir wieder schwer.
»Wolf«, sagte ich. »Du bist ein weiser Wolf. Sage mir, warum hat Yrsig sich diesem Hinkelsteintyp zugewandt?«
»Sie gehört zum Klan der gelben, schwarz gefleckten Katze.« Verachtung lag in seinen Worten.
Ich dachte, das wäre kein Grund und er wäre vielleicht doch kein so weiser Wolf, obwohl er ein Bote des Großen alten Mammuts war. Aber da fuhr er fort: »Die Kinder vom Klan der gelben, schwarz gefleckten Katze laufen zu oft in den Wald der bunten Blätter. Sie lauschen auf ihr Flüstern. Sie glauben ihm.«
»Nicht Yrsig «, sagte ich. »Nicht sie! Sie ist anders. Sie ist klug. Sie glaubt nicht an das Geflüster der bunten Blätter. Sie lässt sich nicht von ihnen bestimmen. Sie hat Verstand, der ihr die wahren Werte weist. Sie geht den Weg des Schamanen!«
»Der Weg des Schamanen ist lang «, knurrte der Wolf. »Und sie ist ein Weib. Die Wege der Weiber sind gewunden und voller Schlingen, wie der Darm des Auerochsen.«
Ich schwieg eine Weile. Die Höhle weitete sich. Von der Decke hingen Steinzapfen herab, die an das Schmelzen des Eises im Frühling erinnerten. Vom Boden wuchsen ihnen ebensolche Zapfen entgegen. Manchmal trafen sie aufeinander und wir liefen zwischen Säulen, auf denen winzige Kristalle glitzerten.
Ich überlegte, an welch stinkender Stelle im Darm des Auerochsen Yrsig sich gerade befinden musste, dass ihr die Sache mit dem Hinkelsteintypen passieren konnte, und fragte den Wolf: »Warum liebt sie ihn? Er will sie doch gar nicht.«
»Gerade das ist es«, sagte der Wolf. »Das versetzt sie in Panik. Er verweigert ihr den Schutz und die Geborgenheit, die sie bei ihm zu finden glaubte. Jetzt wird sie alles tun, um ihn zu gewinnen. Vergiss nicht - sie ist ein Weib!.«
Es stimmte, dass ich es manchmal vergaß, wenn ich ihren Worten lauschte, die klug sein konnten wie die meinen und ich dachte sie wäre genau so stark in ihrem Herzen, wie ich.
»Es sind die Ängste, die ihre Seele jagen, wie ein Rudel von uns, wenn wir das Wild einkreisen und ihre Panik lässt sie in die Grube stürzen, die sie selbst gegraben hatte, um Beute zu machen.«
»Woher kommen denn diese Ängste«, fragte ich.
»Da sind viele Ursachen«, sagte der Wolf. »Von einer kann ich dir noch erzählen:
Es war, als sie gerade in dem Alter war, in dem sich ihre Brüste heranbildeten zu kleinen festen Hügeln mit zarten Himbeeren an den Spitzen, da spielte sie vor der Höhle des Schamanen genau neben der Stelle, an der er seine Pilze trocknete. Der Schamane liebte und kannte sie. Er legte oft die Hand auf ihren Scheitel und sprach Worte des Segens. An diesem Tag bereitete er den Jagdzauber vor und beachtete sie nicht. Da steckte sie, ohne nachzudenken, einen der Pilze unter ihren Fellschurz und lief damit zu den anderen älteren Kindern der Horde. Sie zeigte ihnen den Pilz und sie teilten ihn und aßen ihn. Danach fühlten sie sich wie fliegende Vögel und Schmetterlinge. Alle lobten die, die du viele Jahre später an den Haaren auf dein Felllager gezerrt hast. Also ging sie immer wieder zur Höhle des Schamanen und stahl von den Pilzen. Jedes Mal wurde sie von den anderen sehr gelobt. Eines Tages ertappte sie der Schamane. Er warnte sie und erklärte ihr, dass die Geister alle strafen würden, die von den Pilzen aßen, nur den Schamanen nicht. Sie musste ihm versprechen, nie wieder einen Pilz zu stehlen, weil auch er sie sonst bestrafen müsse. Die Strafe der Geister hatte sie schon zu spüren bekommen, denn jedes Mal, wenn sie als Vogel aufgeflogen war, stürzte sie am Ende ihres Fluges herab auf die Erde, fiel auf den Kopf und hatte schreckliche Schmerzen danach. Also versprach sie dem Schamanen, was er verlangte. Aber ihre jungen Freunde in der Horde wurden böse und verlangten immer aufs Neue von ihr, sie solle gefälligst zum Schamanen gehen und Pilze stehlen, denn sie wollten immer wieder fliegende Vögel und Schmetterlinge sein, auch wenn ihnen hinterher der Kopf wehtat. Als sie sich weigerte, bedrohten sie sie und schlugen sie, bis sie davonlief und in die Steppe flüchtete.«
Den Rest der Geschichte kannte ich. In der Steppe war sie auf Homöopatha getroffen. Die alte weise Frau, die das Wissen vom Heilen mit Pflanzen in sich trug. Die hatte sie mitgenommen in die Berge, wo ich ihr begegnet war.
Ich befreite meine Gedanken von den Bildern, die der Wolf mit seiner Erzählung in mir geweckt hatte, und fand mich in einen riesigen Raum, dessen Wände mit funkelndem Bergkristall
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 07.09.2013
ISBN: 978-3-7309-4813-2
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