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Herbstmuffel

„Ich hasse den Herbst.“

Robin sah über den Rand seiner Zeitung. Er gehörte zu den wenigen Leuten in den Dreißigern, die sich gegen moderne Technik wehrten und ihre morgendliche Nachrichten über Krieg im Nahen Osten und dem Schrebergartenwettbewerb der Nachbarschaft lieber auf gedruckten Papier lasen, statt am Handy oder am Tablet zu kleben. Das Rascheln beim Umblättern der Seiten gehörte für ihn genauso zu einem gelungenen Frühstück wie der Geruch nach frischem Kaffee oder das Decken des Tisches. Was sollte er sagen? Er war eben ein Gewohnheitstier.

Außerdem war es unheimlich befriedigend, die Zeitung einfach zu zerknüllen und theatralisch in den Müll zu schmeißen, wenn ihm die Nachrichten nicht gefielen.

Er hob den Blick gerade soweit, dass er Leon ansehen konnte. Sein Freund stand am Fenster, die Hände auf der Fensterbank gestützt, und blickte mit finsterer Miene nach draußen. Das und die angespannten Schultern waren ein deutliches Indiz dafür, dass er nicht gut drauf war. Robin musste trotzdem lächeln. Leon ging meistens meckernd und mit finsterem Gesicht durch die Welt, ohne dass er jemals wirklich jammerte. Es gab ihm einen Hauch einer düsteren Aura, die Robin wahnsinnig anziehend fand, wie er vor sich selbst ohne Probleme zugeben konnte. Es störte ihn nicht, dass Leon der Kassiererin im Supermarkt finstere Blicke zuwarf, wenn sie unfreundlich war, oder über Passanten die Augen verdrehte, wenn sie störend im Weg herumstanden. Er war einfach kein Sonnenscheintyp, der über jede Kleinigkeit lächelte. Das war okay. Denn wenn er lächelte, war es umso hinreißender und Robin hatte jedes Mal das Gefühl, dass nur ihm dieses Lächeln gehörte.

„Warum glaubst du den Herbst zu hassen?“, hakte er nach, während er nach seiner Kaffeetasse griff.

„Ich glaube es nicht, ich tue es!“ Leon schnaubte und machte eine ungeduldige Geste nach draußen. „Siehst du das nicht? Es ist düster. Es regnet. Es ist kalt! Bevor ich gleich zur Arbeit fahre, bin ich erst einmal fünf Minuten damit beschäftigt, mein Auto von Laub zu befreien. Und wenn ich von der Arbeit nach Hause fahre, ist es schon wieder dunkel. Das ist deprimierend!“

„Das kann man natürlich so sehen“, gab Robin ungerührt zu.

„Wie kann man es anders sehen?“

Das leise 'Pling' des Toasters kündigte an, dass es seine Arbeit getan hatte. Es spuckte die beiden Brotscheiben braungebrannt wieder aus. Leon erreichte den Tresen im selben Moment wie Boomer, Robins Kurzhaar-Mischling. Schwanzwedelnd schlich er um Leons Beine herum, in der Hoffnung, dass etwas für ihn abfiel.

Leon bekam seine Toasts.

Boomer bekam eine kurze Streicheleinheit.

Damit waren alle wichtigen Männer in Robins Leben für ein paar Minuten zufriedengestellt, ohne dass er auch nur einen Finger dafür rühren musste.

„Der Herbst ist eine freundliche Jahreszeit, wenn man ihm eine Chance gibt“, antwortete er auf die Frage.

Jetzt, wo Leon sich zu ihm an den Tisch setzte, klappte er die Zeitung zusammen und legte sie zur Seite. Boomer blieb wie jeden Morgen, an dem Leon hier war, kurz schwer nachdenkend vor dem Tisch sitzen und versuchte zu entscheiden, zu welchen Füßen er sich legen sollte. Am Ende krabbelte er wie immer einfach unter den Tisch, spielte die neutrale Schweiz und legte sich sehr diplomatisch mit einem lauten 'Rums' genau in ihre Mitte. Auch nach vier Jahren war es Robin immer noch ein Rätsel, wie ein 15 Kilo schwerer Hund sich so schwer fallen lassen konnte, dass man fürchten musste, der Fußboden gab unter ihm nach. Als Boomer ihm als ausgewachsener Hund zum ersten Mal morgens im Bett auf den Bauch gesprungen war, um ihn zu wecken, hatte Robin gedacht, dass er überfallen wurde und ihn jemand in den Magen boxte.

Leon bestrich sein Toast nicht nur mit Butter, sondern auch mit mehr Elan, als es nötig wäre. „Wem willst du das eigentlich erzählen?“

„Dir?“, schlug Robin unschuldig vor.

„Da stößt du auf taube Ohren. Der Herbst ist furchtbar! Winter geht noch. Da ist es wenigstens permanent kalt und man verbringt morgens keine halbe Stunde damit zu überlegen, ob der Pullover zu viel oder zu wenig ist.“

„Zieh einfach mehrere Schichten an, dann ist das Problem gelöst.“

„Klugscheißer.“

Robin grinste, legte die Unterarme auf dem Tisch ab und musterte seinen Freund einen Moment aufmerksam, während ihm eine Idee kam. „Was hältst du von einem Deal?“

Misstrauisch hob Leon den Kopf, schluckte seinen Bissen runter und wischte sich die Krümmel aus dem Bart. „Dieser Blick gefällt mir nicht. Kein Bisschen. Was heckst du aus?“

„Ich?“ Übertrieben unschuldig klimperte Robin mit den Wimpern. „Wie kommst du darauf, dass ich irgendwas im Schilde führe? Meine Gedanken sind rein und unschuldig! Völlig unberührt von jeder schändlichen Vorstellung!“

„Mhm. Ich erinnere dich an diese Worte, wenn wir das nächste Mal im Bett sind.“

Robin lachte leise auf. „Im Ernst. Lass uns einen Deal machen. Mir fallen spontan vier Gründe ein, wieso der Herbst die mit Abstand beste Zeit des Jahres ist.“

„Für dich vielleicht. Du bist auch verrückt!“

„Du bist mit mir zusammen. Wie erklärst du dir das?“

„Stockholmsyndrom“, murmelte Leon todernst, aber Robin sah seine Mundwinkel amüsiert zucken.

„Komm schon“, ließ Robin nicht locker. „Vier Gründe! Ich zeige dir jeden einzelnen und wenn du dann immer noch der Meinung bist, der Herbst ist furchtbar, werde ich die Seiten wechseln und mit dir meckern!“

„Du?“ Leon hob skeptisch beide Augenbrauen. „Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft du dich über irgendwas beschwert hast.“

„Oh, ich werde der perfekte Herbst-Grinch sein! Also, was sagst du? Deal?“

Nachdenklich neigte Leon den Kopf zur Seite. Ein paar Sekunden schwieg er eisern, bevor er schwer seufzte. „Na gut. Aber mach dir keine großen Hoffnungen. Ich hasse den Herbst seit 32 Jahren. Du wirst mich nicht vom Gegenteil überzeugen.“

Zufrieden schmunzelnd lehnte Robin sich im Stuhl zurück. „Wir werden sehen.“

Drachenjagd im Wald

 

 

„Wir tun was?!“

Leon sah ihn so entsetzt an, dass Robin sich auf die Zunge beißen musste, um nicht laut loszulachen. Oder sich einfach nach vorne zu beugen und seinen Freund besinnungslos zu küssen.

Er tat nichts dergleichen, räusperte sich und kniete sich vor Boomer, um ihm die Leine anzulegen. „Wir gehen spazieren“, erklärte er Leon, wie er das eben schon getan hatte.

„Jaja, der Teil danach!“

„Das mit dem Drachen steigen lassen?“, hakte Robin unschuldig nach.

„Genau das!“ Leon warf dem rot-schwarzen Winddrachen, den Robin mühevoll aus den Tiefen seines Kellers herausgekramt hatte, einen Blick durch zusammengekniffenen Augen zu. „Das ist was für Kinder!“
„Sagt wer?“

„Ich! Wir sind erwachsen!“

„Urgh, behaupte doch nicht so was!“ Robin schauderte bei dieser haltlosen Anschuldigung, stand auf und wickelte die Leine locker um seine Hand, während Boomer schon aufgeregt vor der Haustür auf und ablief und sich vermutlich fragte, wieso die dummen Menschen so lange brauchten.

„Du hast gesagt, ich darf dir zeigen, wieso der Herbst eine großartige Jahreszeit ist“, erinnerte er Leon, stellte sich vor ihn und richtete seinen Schal, der schief und völlig nutzlos um seinen Hals hing. „Das ist einer von vielen Gründen.“

„Du machst mich fertig“, beschwerte Leon sich.

„Unsinn. Du liebst mich und bist mir insgeheim dankbar, dass ich dich aus dem Haus zerre.“

„Ich gehe gerne aus dem Haus. Im Sommer! Wenn die Sonne scheint und ich mich nicht in zehn Schichten verstecken muss, um nicht zu erfrieren.“

„Dramaqueen.“ Robin kam jedem Protest zuvor, in dem er Leon am Schal zu sich zog und ihre Lippen sanft, aber bestimmt aufeinander presste. Er konnte spüren wie Leons Widerspruch auf der Zunge zerbrach. Am Ende blieb nur ein zufriedenes Brummen zurück, was Robin lächeln und den Kuss unterbrechen ließ.

„Na, komm“, rief er dann zum Aufbruch, öffnete die Tür, bevor Boomer noch einen Herzinfarkt vor Aufregung bekam, klemmte sich den Drachen unter den Arm und zerrte seinen nicht mehr ganz so mürrisch dreinblickenden Freund mit nach draußen, der sich gerade noch eine Wollmütze auf den Bock zog, die seine stets zerzausten, schwarzen Haare nicht davon abhielt, an den Seiten hervorzugucken.

Es war nur ein kurzes Stück bis zum Wald. Sobald sie die Straßen und die Zivilisation gegen einen Trampelpfad und Bäume eingetauscht hatten, ließ er Boomer von der Leine, der sofort davon flitzte und neugierig jedes Büschel Gras und jeden Stein beschnüffelte. Seine jetzt freie Hand schob er in Leons, verschränkte ihre Finger miteinander und lächelte insgeheim darüber, dass Leon das inzwischen zuließ.

Sie waren dieses Jahr mit einem goldenen Oktober gesegnet. Der morgendliche Nebel hatte sich längst verzogen, die Sonne brach durch die Wolkendecke und ließ den Wald in warmen Gelb-, Orange- und Rottönen erstrahlen. Der Geruch von Regen hing immer noch in der Luft und die schon fast kahlen Bäume ließen eine wunderbar weite Sicht auf den Waldboden zu, der mit einer Laubdecke überzogen war.

Robin nahm einen tiefen Atemzug der frischen Luft und lächelte selig. „Willst du mir wirklich sagen, dass das kein schöner Anblick ist?“, erkundigte er sich bei Leon, der schweigend neben ihm lief.

„Ich habe nie gesagt, dass es nicht schön ist“, hielt der sofort dagegen. „Es ist im Alltag nur unpraktisch, wenn überall Laub herum liegt.“

„Es ist im Alltag auch unpraktisch, wenn du bei 40 Grad Einkaufstüten ins Auto schleppen musst.“ Er zuckte leicht mit den Schultern und stupste Leon mit dem Ellenbogen gegen den Oberarm. „Fällt es dir wirklich so schwer, die ruhigen Momente zu genießen?“

Leon warf ihm einen Blick aus braunen Augen zu, die von vielen als 'kalt' betitelt wurde. Robin hatte das nie verstanden. Ihn hatten sie von der ersten Sekunde an Kastanien erinnert, warm und wunderschön.

Er wandte den Blick wieder ab und drückte kurze seine Hand. „Mit dir nicht“, gab er leise zu und brachte Robins Herz damit ziemlich erfolgreich aus dem Takt.

Er lächelte, verkniff sich jedoch jede Erwiderung, weil er genau wusste, wie unwohl Leon sich fühlte, wenn es 'kitschig' wurde. Seine Worte, nicht Robins!

Also wechselte er das Thema. Sie unterhielten sich über dieses und jenes, über ihre Arbeit, Familien und Freunde. Über eine Serie, die sie zusammen guckten, und ob sie Thanksgiving alleine oder im großen Kreis verbringen wollten . Wenigstens hier gab Leon zu, dass das große Fressen an diesem Feiertag und das anschließende Footballspiel mit Robins Brüdern im Garten nach etwas klang, das ihm Spaß machen könnte. Das war schon Mal ein Punkt auf der Pro-Herbst-Liste.

Boomer trottete die meiste Zeit ruhig an ihrer Seite, bis er plötzlich ein Eichhörnchen von einem Baum zum nächsten flitzen sah und bellend die Verfolgung aufnahm. Wie eine Kanonenkugel schoss er dem Tier hinterher, wirbelte dabei eine ordentliche Portion Laub auf. Das Eichhörnchen sprintete den Baum nach oben und ließ einen ziemlich bedröppelten Boomer zurück.

Leon sah dem Szenario zu und lachte sehr zu Robins Freude auf. Leon ließ ihn kurz los, um am Wegrand einen abgebrochenen Ast zu suchen, der nicht zu klein und nicht zu groß war, bevor er Boomer mit einen Pfiff wieder auf sich aufmerksam machte. Der braune Hund spitzte sofort die Ohren, sah Leon an und ging in Habachtstellung. Sobald der Stock im hohem Bogen durch die Luft flog, schlitterte Boomer wie eine Rakete über den Waldboden.

Keine Minute später kam er schwanzwedelnd und sichtlich stolz zurück, um Leon den Ast vor die Füße zu legen und ihn voller Erwartung aus großen Hundeaugen anzusehen.

„Das ist Erpressung“, beschwerte Leon sich halbherzig, während er schon dabei war, den Ast wieder aufzuheben und das Szenario zu wiederholen.

„Du lässt dich zu leicht von braunhaarigen Männern um den Finger wickeln“, merkte Robin schmunzelnd an und zupfte wie zufällig an seinen eigenen braunen Locken. Leon schnaubte amüsiert.

Nach einer Weile erreichten sie eine kleine Lichtung, wo der nächste Baum weit genug weg stand, um ihr Vorhaben nicht zu boykottieren. Robin nahm den Drachen, stellte sich genau auf die Mitte der Lichtung und startete zwei klägliche Versuche, ihn in die Luft zu befördern. „Du machst keine Karriere als Drachenbezwinger“, kommentierte Leon das Ganze. Er hatte die Hände in seine Jackentasche vergraben und grinste ihn von der Seite her an. Boomer hatte das Interesse am Stöckchen holen verloren und erkundete jetzt die neue Umgebung neugierig mit der Schnauze am Boden.

„Haha.“ Robin rümpfte beleidigt die Nase. „Ich bin nur eingerostet. Das letzte Mal ist schon eine Weile her, okay?“

Leon sah nicht überzeugt aus, was nur ein Grund mehr war, wieso er gleich den nächsten Versuch startete.

Erst beim vierten Mal ließ der Drache sich vom Wind mitreißen, ohne gleich wieder abzustürzen. Triumphierend jubelte Robin und grinste seinen werten Freund vielleicht ein wenig selbstgefällig an. „Komm her“, winkte er Leon dann zu sich und drückte ihm die Leine in die Hand.

Leon blickte das Teil an, als wäre es von einem anderen Planeten. „Was zur Hölle soll ich jetzt damit machen?“

„Festhalten“, schlug Robin vor, stellte sich hinter Leon und schob seine Arme um dessen Taille. Er legte den Kinn auf Leons Schulter und schmiegte seine Wange gegen die seines Freundes, während er nach Leons Händen griff und ihm zeigte, wie er den Drachen lenken konnte.

Anfangs fluchte Leon vor sich her, wenn der Drache nicht machte, was er wollte. Doch er bekam den Dreh ziemlich schnell raus, entspannte sich und lehnte sich gegen ihn. Robin konnte sehen, dass er mit aller Anstrengung versuchte, das Lächeln zurückzuhalten, scheiterte allerdings kläglich daran. Es dauerte nicht lange, bis seine Augen funkelten und er den Spaß nicht mehr verstecken konnte.

„Nur was für Kinder, hm?“, erinnerte er Leon an seine Worte von vorhin.

Leon grummelte, drehte den Kopf, küsste ihn kurz und diesmal versteckte er das Lächeln nicht.

Kürbis und Apfelkuchen

 

 

Robin strich sich das Hemd glatt, als es an der Tür klingelte, und warf im Flur einen kurzen Blick in den Spiegel, obwohl sämtliche optische Rettungsmaßnahmen jetzt sowieso zu spät wären. Es war ein wenig lächerlich. Obwohl er schon zehn Monate mit Leon zusammen war, fühlte er sich bei seinen Besuchen manchmal immer noch so nervös wie beim ersten Date.

Das Tapsen von Krallen auf Fliesen kündigte an, dass Boomer die Türklingel auch gehört hatte. Er schlenderte an seine Seite, ließ sich plumpsend mit dem Hintern auf den Teppich fallen und betrachtete die Tür mit so schiefgelegten Kopf, dass eines seiner Schlappohren fast sein Auge bedeckte.

Als Robin die Tür öffnete, hatte er also einen Hund hinter sich und einen begossenen Pudel vor sich.

Leon schüttelte sich sogar wie ein Vierbeiner, bevor er vor den Regen ins Innere flüchtete. „Ich hasse dieses Wetter“, meckerte er gleich los und übersprang die Begrüßung. „Das ist nicht mal richtiger Regen. Es ist Nieselregen! Spürt man kaum und trotzdem ist man plötzlich klatschnass.“

Boomer unterbrach das Gemecker, in dem er sofort zu Leon rannte, ihm aufgeregt um die Beine wuselte – Robin war mal so naiv gewesen zu glauben, dass nur Katzen so etwas machten. Oh boy, was lag er falsch – und erst Ruhe gab, als Leon in die Hocke ging, Boomer seine Vorderpfoten auf dessen Oberschenkel legen konnte und Leon ihn ausführlich mit beiden Händen durch das Fell rubbelte. „Hallo, mein Hübscher!“, begrüßte Leon ihn lächelnd. „Ich habe dich auch vermisst.“

„Ich sollte beleidigt sein, dass ich nicht so eine Begrüßung bekomme“, merkte Robin an.

„Du wedelst auch nicht mit dem Schwanz, wenn du mich siehst!“

Robin lachte und zuckte mit den Schultern. Was sollte er dazu sagen?

Leon gab Boomer einen leichten Klaps gegen den Rumpf, damit er von ihm runter ging, und stand wieder auf. Mit beiden Händen umfasste er Robins Gesicht und küsste ihn auf diese ganz bestimmte Art, die Robins Knie weich werden ließen.

„Hallo“, murmelte Leon gegen seine Lippen, sendete nur damit einen angenehmen Schauder über sein Rückgrat.

„Hi“, erwiderte Robin dämlich lächelnd und aus total aberwitzigen Gründen ein wenig verlegen.

Ein paar Sekunden standen sie wie verknallte Teenager einfach nur im Flur und sahen sich an, bevor Robin sich zusammenriss. „Du hast eiskalte Hände“, stellte er fest und prompt wurde Leons Gesicht wieder mürrisch.

„Es ist ja auch kalt!“

„Ja, ist das nicht toll?“

Leon sah ihn an, als wäre er ein Alien, schüttelte den Kopf und fing an, sich aus seiner Jacke zu schälen. „Was genau ist daran toll?“

„Das Aufwärmen natürlich.“

Sofort grinste Leon dreckig, was Robin auflachen ließ. „Nicht dieses Aufwärmen! Aber darauf können wir nachher gerne zurückkommen.“ Er nahm Leon an die Hand und zog ihn mit in die Küche. Boomer folgte ihnen auf den Fuß.

„Was ist das?“, wollte Leon wissen. Er blieb im Türrahmen stehen und starrte ungläubig den Küchentisch an, auf dem ein großer Kürbis neben einer Reihe von verschiedenen Schnittwerkzeugen stand.

„Ein Kürbis“, klärte Robin ihn auch gerne über das Offensichtliche auf.

„Ja, das sehe ich. Aber warum? Willst du kochen?“

„Nein. Wir höhlen ihn aus, schnitzen irgendwas Cooles in die Schale, stellen eine Kerze rein und positionieren ihn draußen auf die Veranda. Das ist nicht kindisch!“, erstickte er Leons Protest im Keim, der den Mund gleich wieder schloss und sich mit dem Finger in einer Geste über den Mund zog, als würde er einen Reißverschluss schließen.

„Setz dich“, wies er Leon zufrieden an. Als der seiner Anweisung brav nachkam, stellte Robin ihm einen Tasse mit dampfenden Tee und einen Teller mit frischen Apfelkuchen hin, den er erst vor wenigen Minuten aus dem Ofen geholt hatte.

Leon sah aus, als wenn ihm das Wasser im Mund zusammen laufen würde. „Gott, riecht das gut.“

„Mit Zimt“, erklärte Robin, in dem Wissen, dass Leon sich in Zimt reinlegen könnte und dann immer noch nicht genug davon hätte.

Er stürzte sich auch sofort auf den Kuchen und gab nach jedem Bissen ein genüssliches Stöhnen von sich, das Robin ein warmes Lächeln ins Gesicht zauberte. Zwischendurch nippte Leon vorsichtig an dem heißen Tee und sah alles in Allem ziemlich zufrieden aus.

„Schmeckt gleich viel besser, wenn es draußen kalt ist“, behauptete Robin und griff nach seinem eigenen Teller.

Erwachsen wie Leon nun einmal war, streckte er ihm die Zunge raus.

Sie aßen im angenehmen Schweigen, während draußen der Wind die Zweige zum Zittern brachte und die Heizung vor sich hin gluckerte. Boomer bettelte ein paar Minuten an Leons Seite, aber sobald er merkte, dass er nichts bekam, rollte er sich beleidigt schnaubend unter dem Tisch zusammen, wo Robin in weiser Voraussicht eine Decke ausgebreitet hatte.

Als Leon auch den letzten Krümel vom Teller gefegt hatte, schob er diesen beiseite und betrachtete den Kürbis skeptisch.

„Du hast das noch nie gemacht, oder?“

Leon schüttelte den Kopf und bestätigte damit seine Vermutung. Robin verkniff sich ein Seufzen. Er mochte seine Schwiegereltern in Spe. Sie waren Künstler, beide ziemlich weltfremd und hielten nichts von üblichen Familientraditionen oder -aktivitäten. 'Anpassung bedeutet den Tod der Kreativität', pflegte Mr. Miller immer zu sagen und stellte Robins Selbstbeherrschung, bei dummen Kommentaren nicht mit den Augen zu rollen, auf eine harte Probe. Doch sie waren gute Leute, die ihren Sohn liebten. Robin fand nur, es hätte niemanden umgebracht, wenn sie sich mit Leon als Kind mal das Feuerwerk zum Vierten Juli angesehen oder mit ihm einen Weihnachtsbaum geschmückt hätten. Was für Robin – und so ziemlich jeden anderen normal war –, war für Leon immer noch ein kleines Abenteuer.

„Warum macht man das überhaupt?“, erkundigte Leon sich mit ehrlicher Neugierde.

„Ich bin mir nicht sicher“, gab Robin zu. „So viel ich weiß macht man das, um böse Geister zu vertreiben. Je gruseliger die Schnitzerei, je mehr Geister vertreibt er.“

„Können ja nicht sonderlich gefährlich sein, wenn Casper sich so leicht vertreiben lässt.“

Robin nickte grinsend. „Meine Oma hat mir eine etwas andere Geschichte erzählt.“

„Welche?“

„Es war eine irische Legende. Über einen Dieb und Tunichtgut namens ...“ Er hielt kurz inne und durchforstete angestrengt sein Gedächtnis. „Jack Oldfield, glaube ich. Jedenfalls hatte der Teufel ein Auge auf Jacks verdorbene Seele geworfen und wollte ihn zu sich in die Hölle hohlen. Jack stimmte zu, wollte aber noch ein letztes Bier, bevor er in die ewige Verdammnis steigt. Also hat der Teufel sich in eine Goldmünze verwandelt, damit Jack das Bier bezahlen kann.“

Leon lachte. „Sozialer Teufel! Das Gesicht von dem Barkeeper, wenn er sich zurückverwandelt, war sicher zum Schießen.“

„So weit kam es nicht. Jack hat die Münze in einen Beutel mit einem Silberkreuz getan, aus dem der Teufel sich nicht alleine befreien konnte. Also haben sie einen Deal gemacht: der Teufel hat Jack zehn weitere Jahre seines Lebens geschenkt. Als diese vorbei waren, kam er wieder, um seine Seele einzufordern. Jack hat ihn wieder ausgetrickst.“

Missbilligend schnalzte Leon mit der Zunge. Er hatte das Kinn auf seiner Hand abgestützt und sah ihn aufmerksam. „Ich fange an zu glauben, dass der Teufel nicht sehr gut in seinem Job ist.“

„Vielleicht war er noch in der Ausbildung! Diesmal hat Jack verlangt, dass der Teufel seine Seele niemals haben konnte. Der Teufel stimmte zu. Doch als der Tag kam, an dem Jack schließlich starb, war der Himmel ihm wegen seiner ganzen Schandtaten verschlossen und der Teufel konnte ihn wegen dem Deal auch nicht zu sich in die Hölle holen. Also war Jack dazu verdammt, für ewig in der Zwischenwelt zu wandern. Alleine. Aus Mitleid gab der Teufel ihm glühende Kohle für Wärme und eine Rübe zum Essen. Jack hat die Rübe ausgehöhlt und die glühende Kohle reingetan, um eine Laterne und ein Licht im Dunkeln zu haben. Die Iren haben das wohl so übernommen. Meine Oma meinte, dass die irischen Einwanderer nach Amerika kamen und dort gemerkt haben, dass Kürbisse sich viel besser dafür eignen. So hat sich das wohl eingebürgert.“ Unschlüssig, wie viel Wahrheit dahinter steckte, zuckte Robin mit den Schultern.

„Ich könnte dir den ganzen Tag zuhören, wenn du Geschichten erzählst.“ Leon klang kein bisschen so, als würde er ihn aufziehen. Diese warmen Kastanienaugen sahen ihn mit so viel Zuneigung an, dass Robin ein wenig verlegen den Blick abwandte.

„Vielleicht fallen mir ja noch mehr ein“, murmelte er vor sich her und hielt sich damit beschäftigt, das dreckige Geschirr in die Spüle zu stellen.

„Okay, womit fangen wir an?“

Robin zog einen Stuhl direkt neben Leon und zeigte ihm, wie man einen Deckel zum Abnehmen schnitt und den Kürbis ausnahm. Das war der Part, den Robin am wenigsten spaßig fand, aber es musste gemacht werden. Er rettete die Innereien in einer Schüssel und nahm sich vor, demnächst vielleicht mal wieder eine Kürbissuppe zu machen.

Als der Part vorüber war, waren sie bei der zweiten Tasse Tee und diskutierten eine Weile enthusiastisch darüber, welches Motiv sie nehmen sollten. Robin war ja der Meinung, dass es etwas Nettes sein konnte. Eine freundliche Grimasse oder so. Leon hielt dagegen, dass sie bald Halloween hatten und keine Geister der Welt sich bei einem freundlichen Gesicht vom Haus fernhielten. Was eine ziemlich bestechende Logik war, wie Robin zugeben mussten. Nur wollte er sich nicht so einfach geschlagen geben!

Robin war ein harter Verhandlungspartner! Er verkaufte die Entscheidungsfreiheit des Motivs für einen ausgiebigen Kuss und nur mit der Bedingung, dass er eine 'schwarze' Katze bekam. Ein wenig Niedlichkeit ließ er sich nicht absprechen, wenn das Ding auf seiner Veranda stehen sollte.

Ab hier war er keine große Hilfe mehr. Leon zeigte sich wie bei so vielen Dingen anfangs ziemlich skeptisch und alles andere als überzeugt, doch es wunderte Robin kein bisschen, dass er sich irgendwann voll und ganz in der Sache verlor. So war Leon immer, wenn er mit den Händen arbeiten konnte oder es darum ging, kreativ zu werden. Immer wenn Robin ihn auf der Arbeit besuchte und dabei zusah, wie Leon alte Möbel renovierte oder neue Schnitze in Tische oder Stuhlbeinen fertigte, verliebte er sich neu in diesen Mann. Leon war völlig ruhig in diesen Momenten und mit sich selbst und der Welt im Reinen. Da war keine Anspannung, keine nachdenkliche Falte in seinem Gesicht. Nur die Andeutung eines Lächelns und der Funke von Leidenschaft in seinen Augen. Davon, wie flink und geschickt seine Hände arbeiteten, wollte Robin erst gar nicht anfangen.

Jetzt war es nicht viel anders. Robin war völlig zufrieden mit Tee in seiner Hand und dabei zusehen zu können, wie Leon sich immer mehr in seine Arbeit vertiefte. Er hatte vorher schon gehofft, dass es Leon genau aus diesem Grund gefallen würde. Robin hatte gerne Recht.

Obwohl Leons Fertigkeiten ihm nicht fremd waren, stieß Robin trotzdem ein anerkennendes Geräusch aus, als er das kleine Meisterwerk betrachtete. Auf dem Kürbis prangte jetzt ein detailgetreues Bild eines Skeletts, das einen finster anblickte. An seinen knochigen Fingern hingen Spinnweben, an denen sich eine Spinne ihren Weg nach oben bahnte. Weg von einer süßen, kleinen Katze, die neben dem Skelett auf dem Boden saß und die Spinne interessiert beobachtete. Das Bild wirkte so lebendig!

„Wow!“, war das Erste, was ihm dazu einfallen wollte. „Das ist fantastisch!“

Leon grinste ziemlich zufrieden mit sich selbst. „Findest du?“

„Ja! Ich vergesse manchmal, dass ich mit einem zweiten Picasso zusammen bin.“ Er stand auf, um den Kürbis genauer betrachten zu können. „Das ist so toll!“

„Schleimer.“ Warme Finger umfassten sein Handgelenk und im nächsten Moment fand er sich auf Leons Schoß wieder. Leon schlang beide Arme um ihn und vergrub das Gesicht an seinem Hals. „Freut mich, wenn es dir gefällt.“

„Tut es!“ Er legte seine Hand in Leons Nacken und kraulte ihm durch die kurzen Wuschelhaare. „Du solltest so was verkaufen. Im ganz großen Stil. Dann werden wir reich und können nach Paris durchbrennen!“

Leon lachte gegen seine Haut. „Was willst du in Paris?“

„Ist das nicht die Stadt der Künstler und Liebenden?“

„Eigentlich bin ich hier und jetzt gerade ziemlich zufrieden“, behauptete Leon und zauberte ihm damit ein Lächeln aufs Gesicht.

Herbstzauber

 

Robin lehnte sich zur Seite, bis er einen Blick zur Küche werfen konnte. „Sicher, dass ich dir nicht helfen kann?“

„Ja! Ich hab's gleich.“

Amüsiert lauschte er den Geräuschen in der Küche. Boomers Ohren, der neben ihm auf der Couch lag und sich den Bauch kraulen ließ, zuckten jedes Mal, wenn eine Schranktür auf- und wieder zugemacht wurde.

Endlich kam Leon aus der Küche, beladen mit einer Kanne Tee – wie sich herausstellte war der Gute ein kleiner Teejunkie und suchtete sich jetzt durch jede mögliche und unmögliche Sorte, die er finden konnte – und einer Schüssel Popcorn. Beides stellte er neben den beiden Tassen auf dem Wohnzimmertisch ab, füllte die Tassen mit Tee und ließ sich dann auf Robins freie Seite fallen.

„Okay, was gucken wir?“ Begierig rieb Leon sich die Hände. „Freitag der 13? Der Exorzist? Freddy vs Jason?“

„Mir egal. Es ist alles furchtbar.“

„Ah, sei nicht so! Halloween ist das Beste am Herbst! Gruselfilme gehören dazu.“

„Ach, auf einmal?“ Belustigt lehnte er sich gegen Leon, der sofort einen Arm um ihn legte. „Konnte ich dich also doch überzeugen, dass der Herbst toll ist?“

„Waren das schon vier Gründe?“
„Waldspaziergänge“, fing Robin an und zählte an den Fingern mit. „Drachen steigen lassen. Kürbis schnitzen. Warmer Apfelkuchen mit Zimt. Tee! Halloween! Das sind sogar mehr als vier Gründe. Oh, wir müssen noch Kastanien sammeln gehen! Thanksgiving gehört übrigens auch dazu! Das ist im Herbst.“

Leon brummte. „Bin immer noch nicht überzeugt.“

„Gut, dass ich noch ein Totschlagargument habe.“ Etwas nervös sah er Leon an. „Soll ich dir sagen, was der wichtigste Grund ist, wieso ich den Herbst liebe?“

„Sag es mir.“

„Weil ich wir uns da kennengelernt haben.“

Verwirrt runzelte Leon die Stirn. „Solltest du dann nicht Silvester lieben? Da sind wir zusammengekommen.“

„Ja, aber im Herbst haben wir uns kennengelernt. Weißt du eigentlich wie verzweifelt ich war, dass Boomer abgehauen ist?“

„Sicher. Du hast ausgesehen, als wenn dir jemand das Herz rausgerissen hätte.“

Robin nickte. „Du warst der Einzige, der auf die Frage 'haben sie einen herrenlosen Hund gesehen' nicht einfach nur den Kopf geschüttelt, sondern mir seine Hilfe angeboten hat.“

„Du warst mitleiderregend, okay?“, bemerkte Leon im verteidigenden Tonfall.

„Vielleicht. Trotzdem hat es niemand getan außer du. Während du mit mir im strömenden Regen den kompletten Weg vom Supermarkt bis zu meiner Wohnung noch mal abgelaufen bist und ich dir dabei zugesehen habe, wie du sogar über Zäune kletterst und hinter Mülltonnen nach dem Hund eines Fremden suchst, habe ich mich schon in dich verliebt. In dem Moment wusste ich, dass du trotz deiner grimmigen Miene ein butterweiches Herz hast.“

Leon warf ihm einen langen Blick zu. Ausnahmsweise schien es ihm nicht einmal unangenehm zu sein, über solche Sachen zu reden.

„Ich hätte nicht jedem geholfen“, widersprach er nur schwach.

Robin lächelte. „Doch, hättest du. Weil du ein guter Kerl bist. Schon alleine weil du Boomer wirklich gefunden hast, hätte ich dich an Ort und Stelle küssen können.“

Leise brummte Leon. „Also hättest du jeden x-beliebigen Typen als Dank zu einem Kaffee eingeladen?“

„Ja“, stimmte Robin zu, weil es wahr war. Immerhin war er gut erzogen und wenn ihm jemand seinen geliebten Hund wiederbrachte, dann war das mehr als einen Kaffee wert. „Ich hätte aber nicht jedem meine Nummer gegeben“, wies er Leon auf den eigentlichen Kern hin. „Oder hätte mir dumme Ausreden gesucht, um ihn wiederzusehen.“

Die Wochen danach waren ziemlich nervenaufreibend gewesen. Nach der 'vermutlich ist er gar nicht schwul'-Phase war die 'wahrscheinlich steht er nicht auf Kerle wie mich'-Phase gekommen, die Robin erst zur Weihnachtszeit überwunden bekommen hatte.

„Also willst du mir sagen, dass wir Boomer eigentlich ein Steak schulden?“, bemerkte Leon.

Sie schielten beide zum Hund, der sich an Robins Bein gepresst hatte und beim Klang seines Namens kurz zu ihnen aufsah. Pure Unschuld im Gesicht, als könnte er kein Wässerchen trüben.

„Eigentlich schon“, stimmte Robin zu und kraulte seinen pelzigen Mitbewohner hinter den Ohren, bis dieser den Kopf zufrieden schnaubend auf den Vorderpfoten ablegte und müde die Augen schloss.

„Okay, du hast gewonnen“, meinte Leon plötzlich. „Vielleicht ist der Herbst gar nicht so übel.“

„Ist er nicht?“, hakte Robin verblüfft nach.

„Nein.“ Er zog ihn ein wenig näher zu sich, küsste ihn auf den Mundwinkel und lächelte. „Nicht, wenn ich ihn mit dir verbringen kann.“

„Wer ist jetzt ein Schleimer?“, fragte Robin und genoss das heftige Kribbeln in seinem Magen.

Leon brummte und beendete die Diskussion damit, dass er den Fernseher anmachte. Robin verlor das Lächeln für keine Sekunde, während er sich an seinen Freund kuschelte, dem Regen lauschte, wie er hart gegen die Fensterschreiben prasselte, und glücklich seufzte.

 

 

 

Impressum

Texte: Seth Ratio
Cover: https://pixabay.com/de/users/cocoparisienne-127419/
Tag der Veröffentlichung: 06.10.2019

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