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Kapitel 1

Aaron saß am Tisch in der Ecke einer Kneipe, die dafür bekannt war, hauptsächlich homosexuelles Publikum zu beherbergen, und amüsierte sich wie immer ein wenig darüber, dass er in genau so einer Kneipe saß. Es war einer dieser Läden, in die man nicht ging, wenn man die große Liebe finden wollte. Hier hatte man größere Chancen auf einen mittelmäßig guten One-Night-Stand oder eine Lebensmittelvergiftung, wenn man dumm genug war, sich etwas zu Essen neben dem billigen Fusel zu bestellen. Aaron wusste das. Jeder wusste das, der einen Fuß hier rein setzte und wenn nicht, dann lernte er es schnell. Er kam auch nicht regelmäßig her, aber ab und an war ihm danach. Besonders wenn er gestresst war.

Heute war einer dieser Abende. Er wusste nicht einmal genau, was ihn momentan so stresste. Mit Wills wundersamer Rückkehr aus dem Exil und seiner neu entdeckten Vaterpflicht, war in Emilys Leben gerade wieder viel los, aber um ehrlich zu sein, war bei ihr immer was los. Aaron erinnerte sich daran, wie seine Schwester Will kennengelernt hatte, er erinnerte sich an die Glücksphase, die danach folgte und auch an den tiefen Fall, verbunden mit einer miesen Abfuhr und einer unerwarteten Schwangerschaft. Aaron hatte damit gerechnet, dass die Beziehung der beiden zu Bruch ging – Emily hatte ein fieses Talent dafür, sich die falschen Kerle auszusuchen. Womit er nicht gerechnet hatte, war plötzlich Onkel zu werden. Selbst jetzt, wo Marthas erster Geburtstag nur einen Katzensprung entfernt war, konnte er das kaum begreifen.

Natürlich war er immer davon ausgegangen, dass er eines Tages Onkel werden würde. Emily, die den perfekten Mann fand, heiratete, Kinder bekam und sich ein kleines Häuschen am Stadtrand suchte. Das typische Szenario eben, das man sich so vorstellte. Emily war immer schon eine kleine Romantikerin gewesen und er wusste, dass sie genau das wollte. Also warum hätte sie es nicht bekommen sollen?

Die Antwort hieß Will.

Denn jetzt hatte sie zwar ein Kind, war aber mit dem falschen Mann zusammen, während es nur eine Frage der Zeit war, wie lange der richtige Mann dieses Spielchen noch mitmachte. Würde es nicht um seine Schwester und Nichte gehen, er würde das als Außenstehender vielleicht sogar spannend finden. Von seinem Standpunkt aus beobachtete er das Schauspiel aber eher mit Sorge. Irgendwann würde es knallen und er war nicht sicher, ob sich die Richtigen am Ende die Wunden leckten.

Da er Emily und Martha liebte wie sonst nichts auf der Welt, stresste ihn das selbstverständlich ein wenig, obwohl er direkt gar nicht beteiligt war. Es war Emilys Leben, nicht seines. Das war nur diese Sache bei Zwillingen. Alles, was seine Schwester betraf, betraf auch ihn. Das war von seinem ersten Atemzug so gewesen und das würde auch bis zu seinem letzten so sein. Aaron konnte sich keine Welt vorstellen, in der er glücklich war, während sein Zwilling litt. Und dennoch: bei Emily war seit knapp zwei Jahren ständig etwas los. Will, die Schwangerschaft, die Geburt, ihr neuer Freund Ryan und jetzt wieder Will. Aaron hatte sich schon vor einer Weile daran gewöhnt.

Genau darum war er selbst nicht so sicher, warum er sich gestresster fühlte als sonst. Momentan ging es allen wichtigen Menschen in seinem Leben recht gut, auf der Arbeit war nicht mehr los als sonst – auch wenn er lieber nicht zu genau darüber nachdachte, dass die Inventur so langsam in greifbare Nähe rutschte – und privat … nun, privat war alles wie immer. Was bedeutete, dass er ein gutes Buch auf der Couch, mit seiner Katze neben sich, so ziemlich jedem Kerl vorzog.

Die klügere Entscheidung wäre es also für heute gewesen, zuhause zu bleiben und genau das zu tun. Ein Buch lesen oder selbst an einem schreiben. Es war fast zwei Jahre her, dass er das gemacht hatte und er vermisste das Schreiben. Doch er saß nicht zuhause, sondern hier. Mit einem Glas Martini vor sich und einem Bierdeckel, auf dem er seit einer Weile hier und da eine Notiz machte, wenn er über eine potenzielle Geschichte nachdachte und ihm etwas einfiel.

Was auch immer der Grund dafür war, es half. Wie immer. Aaron kam nicht hier hin, um sich abschleppen zu lassen. Was nicht bedeutete, dass er nicht schon das ein oder andere Mal mit einem Mann mitgegangen war. Darum ging es aber nicht. Er kam hier her, weil dieser Ort vielleicht nicht niveauvoll oder besonders war, aber dafür ehrlich. Hier wurde bei der Schwanzlänge oder den Qualitäten im Bett gelogen, mehr aber auch nicht. Niemand spielte einem etwas vor, niemand machte falsche Versprechungen und das Beste von allem war: hier musste man sich nicht verstellen.

Manchmal, da hatte er das Gefühl, dass er nichts anderes tat. Wenn er ein freundliches Gespräch mit seinen Nachbarn im Flur führte, fragte er sich, ob sie noch so freundlich zu ihm wären, wenn sie wüssten, dass er schwul war. Er fragte sich das gelegentlich bei seinen Kunden, bei der Kassiererin im Supermarkt, bei seinen Partnern im Kendo. Eben bei jedem, der nichts davon wusste und ihm ein Lächeln schenkte. Jetzt war es natürlich nicht die Schuld von anderen Leuten, dass Aaron mehr oder weniger ein Geheimnis daraus machte. Er empfand es nur nicht als seine Pflicht, jeden mit dem Kopf darauf zu stoßen. Es war albern. Andere Leute kamen ja auch nicht zu ihm und erklärten, dass sie hetero waren. Es sollte keinen Unterschied machen, total egal sein, aber das war es eben nicht. Die Erfahrung hatte Aaron so oft in seinem Leben gemacht, dass er selbst mit seinen erst 31 Jahren die Einstellung eines alten, verbitterten Mannes besaß.

Diese Maskerade, dieses ständige darüber nachdenken, was man besser sagen sollte und was nicht, um weiterhin seinen Frieden zu haben … das war anstrengend. Aaron war sicher, dass er schon längst die Nerven verloren hätte, wenn es eben nicht auch diese Menschen gab, die ihn genauso nahmen wie er war. Ein kleiner Kreis sehr guter Freunde, seine Großeltern und natürlich Emily. Bei seinen Großeltern hatte er erklären müssen, dass es keine Phase war und dass er nur weil er schwul war, nicht gleich Aids bekommen würde, aber sie hatten sich daran gewöhnt. Bei Emily war das nie ein Thema gewesen. Als er ihr das irgendwann mit 15 oder 16 gesagt hatte, hatte sie mit 'ich weiß' geantwortet, gelächelt und das war es gewesen. Keine große Sache. So wie es sein sollte. Alleine dafür liebte er diese Frau.

In dieser Kneipe brauchte er sich jedenfalls keinen Kopf darum machen. Hier brauchte er sich nicht verstellen oder darüber nachdenken, was die Leute von ihm hielten, weil er hier nicht alleine damit war. Das war auf eine Art befreiend, die er gar nicht richtig beschreiben konnte. Auch wenn er nichts anderes machte, als hier zu sitzen, seinen Martini zu trinken und das Treiben um sich herum zu beobachten. Das war okay so. Er wollte keine Gesellschaft und das machte er auch jedem klar, der ihn ansprach. Er genoss es einfach nur, unter seinesgleichen zu sein.

Den halben Abend über funktionierte das auch sehr gut. Dann nahm er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr und plötzlich setzte sich ihm ein Mann gegenüber und stellte sein Bier auf dem Tisch ab. Als wenn er hier hin gehören würde und vorhatte, eine Weile zu bleiben. Aaron starrte ihn verwirrt an und das Verrückte war, er bekam einen genauso irritierten Blick. Dabei hatte er sich nicht einfach unaufgefordert zu fremden Leuten an den Tisch gesetzt!

Ein paar Sekunden starrten sie einfach nur in das konfuse Gesicht des anderen.

„Wow“, unterbrach der Fremde dann diesen wirren Moment. „Du hast mit Abstand die schönsten Augen, die ich je gesehen habe.“

Oh, echt jetzt? Das bekam eine ganz neue Wertung auf der Plumpheits-Skala! „Originell“, erwiderte Aaron und gab sich besonders viel Mühe, dass man den Sarkasmus heraushörte.

Der Typ schien ihm aber gar nicht zuzuhören. Er beugte sich über den Tisch ein Stück näher in seine Richtung. Aaron beugte sich ein genauso großes Stück nach hinten und warf dem Mann einen Blick zu, der hoffentlich in Neonfarben die Frage Was zur Hölle? signalisierte.

„Ohne Scheiß“, machte der Verrückte ungeniert weiter; musterte sein Gesicht so intensiv, dass Aaron sich eine Tüte über den Kopf ziehen wollte. „Sind das Kontaktlinsen? Ich habe noch nie jemanden mit so einem krassen Blau-Grau gesehen.“

„Nicht interessiert“, überging Aaron den Kommentar und versuchte deutlich zu machen, dass das hier pure Zeitverschwendung war.

Interessanterweise legte der Kerl den Kopf schief und sah ihn erstaunlich unschuldig für einen erwachsenen Mann an. „Was?“

„Ich habe kein Interesse. Du kannst dir das für jemand anderen sparen.“

Das Lächeln des Mannes entblößte eine Reihe weißer Zähne. Sehr zu Aarons Freude, lehnte er sich wieder zurück. Sehr zu seinem Leidwesen, nahm er eine bequeme Haltung in dem Stuhl ein, was nicht darauf schließen ließ, dass er in naher Zukunft wieder seine Ruhe bekam. „Du weißt doch gar nicht, was ich will.“

Recht unbeeindruckt zog Aaron eine Augenbraue nach oben. „Sicher keine Tipps zum Socken stricken.“

Der Kerl lachte, überraschend laut und ehrlich, was Aaron dazu brachte, die Stirn zu runzeln und den ungebetenen Gast genauer zu betrachten.

Der Mann war älter als er. Glaubte Aaron zumindest. Er war einer dieser Typen, die alles zwischen Anfang dreißig und Mitte vierzig sein konnten, ohne dabei an Attraktivität einzubüßen. Der Bart war irgendwann vielleicht mal ordentlich gestutzt gewesen, wuchs jetzt aber recht wild und hatte dasselbe dunkle Braun wie die Haare, die lang genug waren, um fast bis zum Kinn zu reichen. Sie waren mit einer gewollten Lässigkeit nach hinten frisiert, die Aaron nicht einmal hinbekommen würde, wenn er drei Stunden mit zwei Tuben Haargel vor dem Spiegel verbrachte. Seine Augen zeigten ein klares Blau und formten einen aufgeweckten Blick. Die Nase hatte einen kleinen Huckel und sah aus, als wenn sie schon einmal gebrochen gewesen wäre, doch abgesehen davon und der kleinen Narbe an der rechten Schläfe, war sein Gesicht makellos. Der graue Kapuzen-Sweater hatte sicher schon mal bessere Tage gesehen, saß locker, aber konnte trotzdem nicht die Muskeln darunter verbergen. Ganz allgemein schien der Kerl sich nicht die geringsten Gedanken über sein Erscheinungsbild zu machen. Womit er nicht nur in diesem Laden eine enorme Ausnahme bildete, sondern in der gesamten Welt der Schwulen eine Rebellion darstellte. Aaron gab es ja nur ungern zu, aber manche Klischees hatten ihre Daseinsberechtigung. Wovon er sich gerne freisprechen würde, aber selbst er war hier heute in einem seiner besseren Hemden aufgeschlagen und er hatte definitiv nicht vor, die Nacht mit jemand anderen zu verbringen.

Alles in Allem sah der Mann aus wie einer dieser Typen, der mit einem netten Lächeln und einem flotten Spruch auf den Lippen so einige Männer- und sicher auch Frauenherzen brechen konnte. Er versprühte eine Selbstsicherheit und einen Hauch von Abenteuer, der nicht zu übersehen war. Emily wäre begeistert.

Aaron hingegen war kein Fan dieser ganzen Motte-und-Licht-Sache. Ihm war es lieber, wenn er sich nicht die Finger verbrannte. Den Göttern war gedankt für seinen gesunden Selbsterhaltungstrieb.

„Du hast Recht“, gab der Kerl zu, als er fertig war mit Lachen. „Ich interessiere mich kein bisschen fürs Stricken. Aber wenn du denkst, dass ich den ganzen Weg von der Bar hier hin gekommen bin, um dich mit einem schlechten Spruch anzugraben, muss ich dich enttäuschen.“

„Ich bin nicht enttäuscht“, machte Aaron gerne noch einmal klar, dass das nicht sein Ziel für heute Abend war.

Der Mann schmunzelte und stützte sich mit den Unterarmen auf dem Tisch ab. „Willst du gar nicht wissen, was mich zu dieser kleinen Reise bewegt hat?“

„Ich ahne, dass du es mir sowieso erzählen wirst.“

„Neugierde“, bekam er auch sofort eine Antwort, zusammen mit demselben musternden Blick wie vorhin schon, der Aaron unruhig werden ließ. „Ich habe dich schon ein paar Mal hier gesehen. Immer sitzt du genau in dieser Ecke. Immer lässt du die armen Kerle abblitzen, die der billigen Vorspiel-Etikette folgen und dir einen Drink ausgeben wollen, um dich ins Bett zu locken. Was die Vermutung nahe legt, dass du nicht wegen dem einfachen Zugang eines guten Ficks hier bist. Verrate es mir. Was kann ein hübscher Kerl wie du in einem Loch wie diesen hier wollen, wenn es kein bedeutungsloser, anonymer Sex ist?“

„Ruhe“, antwortete Aaron wahrheitsgemäß und versuchte nicht darüber nachzudenken, dass er anderen Leuten mit seinem Verhalten so sehr auffiel, dass sie ihn darauf ansprachen und es klingen ließen, als wäre er ein Freak. „Ich will meine Ruhe, mehr nicht.“

„Bullshit.“ Der Mann nahm einen Schluck von seinem Bier, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und sah ihn wieder an. „Würdest du deine Ruhe wollen, würdest du im trauten Heim sitzen. Tust du aber nicht. Du bist hier. Also, was ist es? Bist du einer dieser Kerle, der sich für etwas Besseres hält und dem einer darauf abgeht, wenn er die armen Tropfe der Reihe nach abserviert?“

Aaron stutzte und fragte sich, warum er sich mit einem Mal wie ein Angeklagter im Gerichtssaal fühlte. Er hatte doch gar nichts gemacht! „Ich halte mich nicht für etwas Besseres“, stellte er sofort klar. Vermittelte er wirklich so ein Bild?

„Solltest du aber.“

„Das macht keinen Sinn.“

„Natürlich macht es das. Man sollte immer eine hohe Meinung von einem selbst haben. Besonders wenn es sonst niemand tut.“

„Das klingt wie der Spruch aus einem Glückskeks.“

Die Mundwinkel des Mannes hoben sich ein Stück. Aaron war genervt davon und fand im selben Moment, dass es ihm ziemlich gut stand.

„Nope, kein Glückskeks. Die Weisheit stammt von hier.“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. Aaron zuckte nicht einmal mit der Wimper.

„Jetzt, wo deine Neugierde befriedigt ist, kannst du deine Weisheit ja wieder mit anderen teilen“, versuchte er nicht gerade subtil, wieder alleine zu sein.

„Würde ich vielleicht. Aber du hast mir keine vernünftige Antwort gegeben, also ist meine Neugierde kein bisschen befriedigt. Eher im Gegenteil. Jetzt frage ich mich, was es für ein Grund sein könnte, dass du daraus so ein Geheimnis machst.“

„Weil ich Fremden nicht sofort mein Inneres ausschütte?“

„So ungefähr.“ Der Kerl lehnte sich im Stuhl zurück, rutschte ein Stück nach unten, befand sich aber trotzdem noch fast mit ihm auf Augenhöhe. Das sah immer noch nicht nach einem baldigen Abschied aus.

Aaron nahm einen Schluck von seinem Martini – den er gerade weniger wegen dem Genuss trank, sondern weil er den Alkohol brauchte –, stellte das Glas wieder ab und überlegte, ob er es einfach mit Ignoranz versuchen sollte. Nur war es schwer jemanden zu ignorieren, der einen so intensiv anstarrte.

„Was hast du an der Bar gemacht?“, stellte er deswegen eine Frage und hoffte, ein Argument zu finden, das den Mann dazu brachte, wieder dorthin zurückzugehen.

„So läuft das also, hm? Du wirfst mir Brocken hin und ich soll dir vernünftige Antworten geben? Unfair! Aber okay. Ich habe überlegt, welchen der Kerle hier ich heute Abend abschleppe.“

„Dann solltest du zurück zu deinem Aussichtsposten und diese äußerst wichtige Entscheidung treffen.“

„Oh, dafür ist später noch Zeit.“ Er winkte ab, als wäre das nicht der Rede wert. „Ich kann mich eine Weile mit dir unterhalten und am Ende des abends trotzdem mit Leichtigkeit jemanden finden. Das bedarf fünf Minuten und einem Fingerschnippen.“

Aarons Augenbraue wanderte zum zweiten Mal heute Abend ein gutes Stück nach oben. Das war ein ganz neues Level an Arroganz. Schon aus Prinzip würde er gerne ein paar gute Gegenargumente vorbringen, um den Typen von seinem hohen Ross zu stoßen, aber genau genommen fiel ihm nichts ein. Aaron hatte keine großen Schwierigkeiten sich vorzustellen, dass es für den Mann wirklich so einfach war. Das hatte er sich vorhin schon gedacht, jetzt war er sich da fast sicher – und wie frustrierend war das bitte? Aaron war jetzt keiner dieser Typen, der sich Kerben in den Bettpfosten schlug, aber würde er mit dem Ziel losgehen, einen Mann für eine Nacht zu finden, würde ihn das Nerven, einen Schweißausbruch, Peinlichkeiten und etwas Courage kosten.

„Und warum genau willst du dich mit jemanden unterhalten, der sich offensichtlich nicht mit dir unterhalten will?“

„Warum unterhältst du dich mit jemanden, mit dem du dich angeblich nicht unterhalten willst?“

Aaron biss sich kurz wütend auf die Zunge. „Touché.“

Der Typ grinste so selbstgefällig, dass es Aaron fuchsteufelswild machte! „Gut, da wir das geklärt haben, lass uns ein Erwachsenen-Gespräch führen. Du fängst an!“

Gerade fing Aaron nur an, jede Lebensentscheidung in Frage zu stellen, die ihn an diesen Punkt gebracht hatte. Ein paar Sekunden reagiert er gar nicht. Dann kapitulierte er vor dieser Wand aus Sturheit. „Keine Ahnung … was machst du beruflich?“

„Oh, komm schon!“ Das Stöhnen klang genervt und ein wenig enttäuscht zugleich. „Das kannst du besser! Was soll diese dämliche Smalltalk-Frage überhaupt? Das habe ich nie verstanden. Macht es einen Unterschied, ob ich Bänker oder Taxifahrer bin? Friseur, Klempner, Manager?“ Kurz huschte ein Grinsen über sein Gesicht. „Oder stehst du auf Männer in Uniform?“

Aaron zuckte mit den Schultern. „Es ist ein bekannter Gesprächsaufhänger und führt zu weiteren Themen.“

„Es ist totlangweilig! Was meinst du, wie viele Menschen das Privileg haben, genau den Job zu machen, den sie machen wollen und der sie definiert? Warum zur Hölle sollte es dann also interessant sein? Wenn überhaupt wird es das erst, wenn man versucht, es selbst herauszufinden.“

„Wie soll man denn, ohne irgendwas über den anderen zu wissen, herausfinden, welchen Beruf man ausübt?“

Die Frage bereute Aaron in der Sekunde, in der sie ihm über die Lippen kam. Der Blick des Mannes löste in ihm das ungute Gefühl aus, gerade mit Anlauf in eine Falle gerannt zu sein. Er beugte sich wieder nach vorne und griff nach Aarons Händen. Sein erster Impuls war es, sich aus dem Griff zu befreien – er war echt kein Fan davon, ungefragt angefasst zu werden –, aber irgendwie war er dann doch neugierig. Auch wenn er nicht verhindern konnte, sehr skeptisch dabei zuzusehen, wie der Mann mit den Daumen über seine Handflächen hoch bis zu seinen Fingern strich. Das war seltsam intim.

„Du arbeitest nicht draußen“, begann der Typ dann. „Deine Haut ist zu hell, um regelmäßig über Stunden am Tag Sonne abzubekommen. Es ist auch kein handwerklicher Job.“

„Woher willst du das wissen?“

„Deine Hände sind zu weich.“ Er strich sachte über einen kleinen Papierschnitt an Aarons Zeigefinger und legte nachdenklich den Kopf schief. Aaron hatte nie darüber nachgedacht, wie sich seine Hände für andere anfühlen mussten. Die Finger des Mannes hingegen waren ein wenig rau. „Vielleicht etwas im Verkauf“, riet er weiter. „Oder im Büro. Du siehst wie ein schlaues Kerlchen aus. Buchhalter?“

Aaron schüttelte den Kopf, obwohl das gar nicht komplett falsch war. Immerhin machte er für seinen Laden auch einen Teil der Buchhaltung. Eben alles, was er nicht an seinen Steuerberater abtreten konnte.

Der Kerl kniff ein Auge zu. Seine Mundwinkel zuckten leicht und er sah kein bisschen enttäuscht darüber aus, dass er falsch lag. „Ich komm schon noch drauf.“

„Du kannst auch einfach fragen. Es ist kein Geheimnis.“

„Ja, aber wie wir eben schon festgestellt haben: wo liegt da der Spaß?“ Er machte Anstalten, ihn loszulassen, doch stattdessen fiel sein Blick auf Aarons Handgelenk. Er schob den Ärmel des Hemdes weit genug nach oben, sodass man problemlos das Tattoo dort sehen konnte. Ein Barcode, unter dem als ISBN-Nummer das Geburtsdatum von Emily und ihm stand. Es war das erste Tattoo, das Aaron sich hatte stechen lassen und auch sein liebstes. Der Barcode stand für Bücher im Allgemeinen, die schon seit er lesen konnte seine größten Leidenschaft waren. Das Datum für Emily, dem wichtigsten Menschen in seinem Leben. Er hatte es sich absichtlich direkt über die Pulsader stechen lassen. Es waren die beiden Sachen, die seinem Leben den größten Sinn gaben.

Auch hier strich der Mann mit den Fingerspitzen über die Linien des Codes, was Aaron nun wirklich unruhig werden ließ. Er zog seine Hand zurück und legte sie auf seinen Beinen unter dem Tisch ab, rieb sich über das Handgelenk, wo die Haut kribbelte. „Das Geburtsdatum deines Lovers?“, fing der Typ auch hier an zu raten.

„Meiner Schwester“, schob Aaron dem gleich einen Riegel vor. Er bekam Kopfschmerzen von diesen Ratespielchen. „Und meins.“

„Zwillinge also, hm? Interessant.“ Er griff nach seiner Bierflasche und fing an, das Etikett abzuknibbeln. „Ist es wahr, was man sagt? Dass Zwillinge dieses besondere Band haben und immer spüren, was der andere fühlt?“

„Manchmal“, gab Aaron zu, weil es so war. Dahinter steckte keine Magie oder irgendwelche verdrehte DNA. Es war nur unmöglich mit jemanden so eng aufzuwachsen und sich nicht so gut kennenzulernen wie den eigenen Handrücken. Vor allem war es Entscheidungssache. Emily war ein offenes Buch, die mit ihren Gefühlen nicht hinter dem Berg hielt. Es war einfach in ihr zu lesen. Aaron hingegen entschied sich selbst bei Emily oft dazu, tiefere Gefühle unter Verschluss zu halten.

„Du hast schöne Hände“, wechselte der Mann abrupt das Thema. „Sie würden sich bestimmt großartig auf meinem Körper machen.“

Aaron schnaubte. „Ich dachte, du bist nicht den weiten Weg von der Bar hergekommen, um mich mit einem schlechten Spruch anzugraben.“

„Vielleicht habe ich meine Meinung ja geändert. Vielleicht habe ich mich entschieden, mit wem ich heute im Bett landen will.“

Jetzt sichtlich ein wenig gestresst rieb Aaron sich die Schläfe und seufzte schwer. „Welchen Teil von 'kein Interesse' hast du nicht verstanden?“

„Ich habe dich sehr gut verstanden. Aber wenn ich meine Meinung ändern kann, warum du nicht?“

Ihm fielen einige Gründe ein. Sehr gute Gründe, wie Aaron fand. Nur war das keine Diskussion, auf die er sich einlassen würde.

„Erwachsenen-Gespräche!“, nahm dieser Verrückte den roten Faden auch von ganz alleine wieder auf. „Ich gebe dir eine zweite Chance.“

„Großzügig“, bemerkte Aaron trocken und überlegte für einen Moment, einfach sein Glas zu leeren, aufzustehen und zu gehen. Er hatte keine Ahnung, wieso er sitzen blieb. „Ist es auch zu mainstream, wenn ich dich nach deinem Namen frage? Oder muss ich dafür zwölf Heldentaten bestehen?“

Dafür bekam er ein Lächeln, das verblüffend ehrlich aussah. „Keine Sorge, du musst dafür nicht den erymanthischen Eber gefangennehmen.“

Aaron hob überrascht den Kopf. Nicht nur, weil er die Anspielung über die Heldensaga von Herkules verstanden hatte, sondern sich auch noch mit dem Inhalt auszukennen schien. Das gehörte nicht unbedingt zum Allgemeinwissen.

„Ich heiße Darren.“

„Aaron“, stelle er sich der Höflichkeit wegen selbst vor.

„Also, Aaron.“ Er ließ den Namen über die Zunge rollen, als wäre es ein exotisches Wort. „Anstatt mir ständig zu sagen, woran du kein Interesse hast, verrate mir, woran du welches hast.“

„Geht ein Gespräch über Hobbys nicht verdächtig in Richtung Smalltalk?“

„Das trägst du mir nach, hm?“

Zum ersten Mal an diesem Abend musste Aaron ein wenig lächeln. „Darauf kannst du wetten.“

„Gut, dass ich nicht von Hobbys rede.“ Darren war fertig damit, das Etikett von der Flasche zu knibbeln und begann jetzt, es geistesabwesend zu falten. „Das ist dasselbe wie mit Berufen: überhaupt nicht relevant für so einen Abend. Erzähl mir von den spannenden Dingen.“

Ergeben hob Aaron in einer fragenden Geste die Hand. „Und was genau fällt für dich unter die Kategorie 'spannend'?“

„Jetzt wo wir Freunde sind, könntest du mir verraten, warum du hier bist.“

„Wir sind keine Freunde.“

„Hey, du kennst meinen Namen! Das ist mehr, als die meisten meiner Bekanntschaften behaupten können, die ich hier kennenlerne.“

Genervt stieß Aaron die Luft aus. „Ich sagte es bereits: ich will einfach nur meine Ruhe.“

„Jaja, blabla, ich glaube dir kein Wort.“ Darren ließ das Etikett fallen und griff so schnell nach Aarons Bierdeckel, dass er viel zu spät reagierte.

„Gib das wieder her!“ Der Stuhl rutschte ein Stück nach hinten, so hektisch schoss Aaron hoch. Er lehnte sich mit seiner ganzen Länge über den Tisch und es hätte auch gereicht, wenn Darren sich nicht grinsend aus seiner Reichweite geschoben hätte. Aaron gab ein frustriertes Geräusch von sich. „Wie alt bist du? 14?“ Zumindest kam er sich gerade wieder vor wie in der Highschool, wo die älteren Jungs dachten, es wäre witzig, seinen Rucksack zu verstecken oder seine Bücher in den Müll zu schmeißen.

Darren ignorierte ihn komplett und beschäftigte sich damit, die Notizen auf dem Bierdeckel zu lesen. „Wer sind Noah und Fiona? Und wer oder was ist ein 'Elysionien'?"

"Das geht dich überhaupt nichts an", presste Aaron heraus, bevor er sich noch ein Stück länger machte, um Darren den Deckel wieder wegzunehmen. Seine Fingerspitzen streiften die Pappe schon, dann zog der Arsch seine Hand blitzschnell wieder nach hinten.

„Was bekomme ich dafür?“ Darren grinste so frech, dass Aarons pazifistische Einstellung Gewalt gegenüber schwer ins Wanken geriet.

„Überhaupt nichts. Das gehört dir nicht. Gib es wieder her.“

„Liebend gerne. Für eine kleine Gegenleistung.“

Wütend biss Aaron die Zähne zusammen, zog sich ruckartig zurück und nahm die dünne Sommerjacke von seiner Stuhllehne. Abrupt machte er auf dem Absatz kehrt und ging.

Er kam nicht weit. Darren hielt ihm am Arm fest und zog ihn mit einem Ruck zu sich, sodass Aaron fast über seine eigenen Füße stolperte und nur nicht das Gleichgewicht verlor, weil er sich am Tisch abstützte. „Bleib“, bat Darren in einem sanften Tonfall, den er dem Mann nicht zugetraut hätte. Er schob ihm den Bierdeckel in die freie Hand und lockerte seinen Griff. Immer noch wütend hob Aaron den Blick und merkte, wie nah er Darren jetzt war. Der Geruch eines herben Aftershaves stieg ihm in die Nase und noch irgendwas anderes, das er nicht direkt zuordnen konnte. Als Darren noch näher kam, konnte er sogar das Bier riechen. „Bleib“, wiederholte er mit gesenkter Stimme und aus irgendeinem verrückten Grund bekam Aaron eine Gänsehaut.

„Warum sollte ich?“, hakte er gepresst nach, obwohl er sich losreißen und gehen sollte. Aaron wusste das. Er konnte nur nicht.

Darren drehte sich auf seinem Stuhl, bis er ihm direkt gegenüber saß. Ihre Beine berührten sich fast, waren nur noch Millimeter voneinander getrennt. Obwohl Darren zu ihm nach oben blickte, fühlte Aaron sich nicht erhaben. Jetzt gerade war er Universen davon entfernt in Kontrolle zu sein und das war ihm schrecklich bewusst. Er rührte sich nicht, war wie erstarrt und konnte nur vorsichtig dabei zusehen, wie Darren eine Hand hob. „Um mir eine zweite Chance zu geben“, gab er schließlich eine Antwort. Mit den Fingerknöcheln strich er über die Knopfleiste von Aarons Hemd. Ganz sachte. Der Stoff bewegte sich kaum. Aaron würde die Bewegung nicht einmal realisieren, wenn er sie nicht sehen würde. Es brachte sein Herz zum Hämmern. „Die habe ich verdient.“

Sein Mund war auf einmal viel zu trocken. „Womit?“

„Ich habe dir auch eine zweite Chance gegeben.“ Aaron wollte die Augen verdrehen – wirklich – aber gerade traute er sich nicht einmal mit der Wimper zu zucken. Darren rutschte noch ein Stück nach vorne, streckt sich nach oben, bis Aaron seinen Atem am Hals spüren konnte. „Lass mich dir beweisen, dass ich eine gute Gesellschaft bin.“ Seine Finger waren inzwischen beim Saum seines Hemdes angekommen. Darren rieb den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger, legte den Kopf ein wenig schief und lächelte auf eine Art, die Aarons Herz in seine Hose rutschten ließ.

Ein paar Sekunden passierte gar nichts, während Aaron versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. Als es klappte, nahm er langsam, aber bestimmt eine aufrechte Position ein, trat einen Schritt zurück und stieß heimlich die Luft aus. Er sah Darren direkt in die Augen. „Lass uns gehen.“

Es erfüllte Aaron mit einer gewissen Genugtuung zu sehen, wie die Überraschung sich auf dem viel zu attraktiven Gesicht breitmachte. „Wohin?“

Aaron warf ihm einen sehr vielsagenden Blick zu. Die Überraschung wurde einen Moment größer, bevor Darren leise auflachte. „Ich dachte, du bist nicht interessiert?“

Mürrisch verzog Aaron das Gesicht. „Komm, bevor ich es mir anders überlege.“

Gott sei Dank verkniff Darren sich jeden weiteren Spruch, auch wenn er eine Spur zu selbstgefällig aussah. Ja, zurecht. Aaron kam sich gerade vor, wie der letzte Idiot und obwohl er genau wusste, dass es nicht gut war, Typen wie Darren darin zu bestätigen, dass sie mit 'einem Fingerschnippen' jeden haben konnten, den sie wollten, hatte er gerade nicht die Geduld, diese Lektion zu erteilen. Denn er wollte Darren. Das war ihm auf eine Art klar, die dafür sorgte, dass sein Magen sich vor Wut zusammenzog. Es nervte ihn! Er wollte nicht oberflächlich sein. Er wollte ein guter Mensch sein. Mit Prinzipien und Würde und genug Selbstachtung, um jetzt nach Hause zu gehen. Alleine.

Er war kein guter Mensch. Die Erkenntnis traf ihn nicht einmal überraschend, aber hart. In ihm steckte wohl mehr Motto als bisher gedacht und Darren war das Gott verdammte Licht.

Sobald er aus der stickigen Kneipe nach draußen trat und von der klaren Sommerluft empfangen wurde, atmete er einmal tief durch. Darren trat nur Sekunden später neben ihm, zog den Reißverschluss seiner Jacke etwas höher und schob sich die Hände in die Jackentasche. Aaron warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Jetzt erkannte er, dass Darren gar nicht so viel größer war wie er vorher gedacht hatte. Er fing an zu laufen und nur mit einem kurzen Zögern folgte Aaron ihm.

„Ich wohne in der Innenstadt“, klärte er Darren auf. Die plötzliche Stille zwischen ihnen behagte ihm kein bisschen, obwohl er bis vor wenigen Minuten eine Menge für diese Ruhe getan hätte. „Nur ein paar Blocks von hier. Wohnst du näher?“ Was eine andere Variante von zu dir oder zu mir war. Aaron war nur nicht bereit, jedes Klischee heute Abend zu bedienen. Seine Liste war schon genug gewachsen.

„Tut nichts zur Sache.“ Darren legte eine gemütliche Gangart ein und wirkte beneidenswert entspannt. „Wir gehen weder zu dir noch zu mir.“

Verwirrt blieb Aaron stehen. „Nicht?“

„Nope.“ Und da war es wieder. Dieses lauernde Lächeln, das seinen Puls aus ganz anderen Gründen beschleunigte. „Wir gehen in ein Motel. Keine Sorge, ich bezahle.“

„Bitte, was?“

„Wir gehen in ein Motel“, wiederholte sein persönlicher Untergang völlig gelassen. Als wäre das total selbstverständlich.

„Warum sollten wir? Mir fallen spontan sechs Geschichten ein, die so ähnlich beginnen und für mindestens einen der Protagonisten nicht sehr gut enden. Von allem, was ich weiß, könntest du auch ein Serienkiller sein.“

„Bin ich nicht.“

Aaron verdrehte die Augen. „ Ich könnte ein Serienkiller sein.“

Darrens Lächeln wurde breiter, als er einen Schritt näher kam und sich in seinen persönlichen Freiraum lehnte. „Ist das nicht aufregend?“

Das war Auslegungssache. Aaron gab gerne zu, ein paar Hirnzellen eben in der Kneipe gelassen zu haben, aber ganz irre war er dann doch nicht. „Warum?“, hakte er noch einmal nach, penetranter diesmal.

Darren seufzte leise. „Es ist dasselbe wie mit den Berufen. Uninteressant für zwei Menschen, die morgen wieder unterschiedliche Wege gehen und sich vermutlich nie wieder sprechen. Was machst du als Erstes, wenn du eine fremde Wohnung betrittst?“

„Nun … mich umsehen?“

„Ganz genau! Es lenkt ab. Dein Hirn fängt automatisch an, jedes noch so kleine Detail zu analysieren und zu überinterpretieren. Es fragt sich, wer die Leute auf den Fotos an der Wand sind oder warum keine Fotos an der Wand hängen, obwohl das die gesellschaftliche Deko-Elite so vorsieht.“ Darren fing wieder an zu laufen und Aaron folgte ihm, ohne sich dessen richtig bewusst zu sein. „Du analysierst die Sauberkeit, die Einrichtung, die Anzahl der Schuhe im Flur. Du läufst am DVD-Regal vorbei und eine kleine Stimme in dir hofft inständig, dort deinen Lieblingsfilm zu entdecken, damit du dir einreden kannst, dass ihr auf irgendeiner Ebene verbunden seid. Es lenkt ab“, wiederholte er den Kern seiner Aussage. „Ich bin nicht bereit, mich ablenken zu lassen. Wenn ich mit dir in geschlossenen vier Wänden bin, dann will ich, dass du dich zu hundert Prozent auf mich konzentrierst. Genauso wie ich es tun werde.“ Es klang nicht wie eine Eventualität, sondern wie eine Sicherheit, die ein nervöses Kribbeln verursachten.

„Okay, aber trotzdem“, hielt Aaron dagegen. „Meinst du nicht, dass du ein wenig übertreibst?“

„Vielleicht.“ Darren zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Aber wenn ich wirklich ein Serienkiller bin, willst du dann, dass ich weiß, wo du wohnst?“

„Gutes Argument“, musste er leider zugeben, dass da was dran war.

Es dauerte auch gar nicht so lange, bis sie beim besagten Motel angekommen waren und Darren nach innen verschwand, um ein Zimmer zu besorgen. Aaron blieb draußen stehen und konnte nur denken, wie falsch das war. Er fühlte sich irgendwie dreckig, was nicht einmal an dem Ort selbst lag. Automatisch hatte er mit einer billigen Absteige gerechnet, wo das Neonschild vor dem Parkplatz flackerte und nur noch einzelne Buchstaben beleuchtet. Ein Zeichen dafür, dass er in seinem Leben zu viele schlechte Krimiromane und Thriller gelesen hatte. Das Motel hier sah auf den ersten Blick sogar nett aus. Frische Farbe an den Wänden, Autos der Mittelklasse auf dem Parkplatz und der Snack-Automat auf der Veranda sah auch nicht so aus, als müsste man ihn mit einem Tritt bestechen, um an seine Ware zu kommen.

Trotzdem war es seltsam. Das hier war weiß Gott nicht das erste Mal, dass er sich zu einem One-Night-Stand hinreißen ließ. Er war auch nur ein Mensch, der ab und an etwas Zuneigung in Form von Sex brauchte. Dafür hatte er sich nie geschämt und er würde jetzt auch nicht damit anfangen. Normalerweise lief das aber anders ab. Denn normalerweise lernte er nette, liebe Kerle kennen. Männer, bei denen er entspannt war und lächeln konnte und nicht permanent ein Wutgefühl im Bauch hatte. So wie jetzt. Vielleicht hatte er ja einen Schlaganfall und es einfach noch nicht gemerkt.

Kurioserweise dachte er aber nicht daran, seine Meinung zu ändern und zu gehen. Aaron war sogar ziemlich ungeduldig. Obwohl Darren nur ein paar Minuten brauchte, bis er mit dem Zimmerschlüssel wedelnd wieder aus dem Büro trat, kam es ihm zu lange vor. Für einen Moment fragte Aaron sich, mit wie vielen Männern Darren schon hier hin gekommen war, aber eigentlich war ihm das egal.

Sie gingen zu einem Zimmer ganz am Ende des Flures. Darren hielt ihm die Tür auf und einfach aus Prinzip verkniff Aaron es sich, einen genaueren Blick in den Raum zu werfen. Das Bett war groß genug, mehr brauchte er gar nicht zu wissen. Er trat sich die Schuhe von den Füßen und fing an, sein Hemd zu öffnen.

„Warte!“, hielt Darren ihn genau davon ab. Er schloss die Tür hinter sich und jetzt, wo er mit ihm alleine im geschlossenen Raum eines Motels war, kam Aaron sich auf lächerliche Weise doch ein wenig verwegen vor. Darren hatte Recht. Es war aufregend.

Umso genervter war er davon, hier kostbare Zeit zu verlieren! Aaron hielt inne, nahm seine Hände aber nicht weg, sondern sah Darren ungeduldig an, der viel zu langsam zu ihm kam. „Nimm mir nicht die Freude am Ausziehen“, bat er, schob seine Hände ruhig zur Seite und machte sich selbst daran, die Knöpfe zu öffnen. „Das ist wie Geschenke auspacken, findest du nicht? In der Verpackung sieht es gut aus, aber spannend wird es erst, wenn man sieht, was darunter ist.“

„Hast du eigentlich für alles einen Glückskeks-Spruch?“ Aaron war genervt, klang nur leider nicht halb so sehr danach wie er wollte. Es war ablenkend, fremde Hände so nah an seinem Körper zu haben, ohne dass sie einen richtigen berührten.

„Für fast alles“, gab Darren ungerührt zurück.

„Merkt man. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du zu viel redest?“

Darren lachte auf und nickte. „Ständig. Es ist mir nur egal.“ Er hob den Kopf und sah ihm direkt ins Gesicht. „Du musst mir ja nicht zuhören.“

Aaron hätte ihm gerne gesagt, dass man einen Zug nicht ignorieren konnte, der dabei war einen zu überrollen, aber er hielt den Mund. Er war nicht hier, um weitere sinnlose Diskussionen zu führen. Der Bedarf daran war für eine ganze Weile gedeckt. Außerdem war Darren fertig damit, sein Hemd zu öffnen. Er sah sich selbst dabei zu, wie er eine Seite des Hemdes über Aarons Schulter schob und dann mit den Fingern über seine Seite strich. Ja, doch, Darren hatte wirklich raue Hände. Es kostete Aaron einiges an Willenskraft, nicht wohlig zu schaudern. Er glitt runter bis zur Hüfte, wo er genau wie vorhin in der Bar die Linien des Tattoos dort nachzog. Nur dass die Schreibfeder mit dem Schriftzug größer war als der Barcode und Aaron langsam wirklich nervös wurde.

Darum lehnte er sich ein Stück nach vorne, um Darren wenigstens zu küssen. Kurz bevor sie sich berührten, lehnte Darren sich zurück und wich ihm aus. War das sein Ernst? Aaron gab ein frustriertes Geräusch von sich. „Nicht so eilig“, wies Darren ihn an. Er lehnte die Stirn gegen seine Schläfe, glitten hauchzart mit den Lippen über seine und das reichte aus, damit Aarons Herzschlag sich drastisch beschleunigte und Hitze in ihm hochstieg.

Darren blieb genau so, während er ihm das Hemd jetzt auch über die andere Schulter streifte und die gesamte Prozedur wiederholte. Diesmal bei den japanischen Schriftzeichen an seiner linken Seite, die Aaron sich hatte stechen lassen, als er Kendo für sich entdeckt hatte. Er rechnete so felsenfest damit, sich gleich wieder anstrengende Ratespiele anhören zu müssen, dass er ehrlich überrascht davon war, als das ausblieb. Darren lächelte nur leicht, diesmal kein bisschen arrogant und Aaron glaubte in diesem Moment, dass er diesen Mann nie verstehen würde.

Musste er aber auch gar nicht. Gerade beschäftigte er sich auch lieber damit, Darrens Jacke zu öffnen. Das schwarze Muskelshirt, das darunter zum Vorschein kam und so eng anlag, dass man das Sixpack fast schon durch den Stoff sehen konnte, war nicht förderlich für seine Geduld. Kein bisschen. Trotzdem nahm Aaron sich die Zeit, Darren auch davon zu befreien und den Anblick einen Moment zu genießen. Der Mann war so gut gebaut, dass er jedes Calvin Klein Model neidisch machen konnte. In welcher Welt war das fair?

Wobei er sich mal nicht beschweren wollte. Aaron nahm sich noch einen Moment Zeit, um mit beiden Händen über diesen tollen Oberkörper zu streichen. Nicht so sanft wie Darren das bei ihm tat, sondern fest genug, um die Bewegung der Muskeln unter seinen Fingern zu spüren. Wieder lehnte er sich nach vorne, um Darren zu küssen, wieder wich dieser ihn aus. Aaron knurrte leise, hakte seine Finger in den Bund von Darrens Jeans, um ihn mit einem Ruck zu sich zu ziehen und endlich diesen Kuss zu bekommen – und oh Gott, es lohnte sich! Darren schmeckte großartig, seine Lippen waren weich und warm und Aaron bekam hier ein wenig weiche Knie. Das änderte sich auch nicht, als er spüren konnte, wie Darren in den Kuss hineinlächelte. Mit ziemlicher Sicherheit wieder auf diese selbstgefällige Art, die Aaron so aufregte.

Ohne den Kuss zu unterbrechen, strich er mit seinen Händen wieder nach oben, legte sie Darren auf die Brust und schob ihn bestimmt nach hinten in Richtung Bett. Es tat seinem Ego ziemlich gut, diesmal auf keinen Widerstand zu treffen.

Kapitel 2

 Schwer atmend ließ Aaron sich ins Kissen fallen, schluckte trocken und konzentrierte sich darauf, wieder Luft in seine Lunge zu pumpen. Ihm war heiß, er fühlte sich angenehm befriedigt und hasste sich im Moment nicht ganz so sehr dafür, dass er noch weniger Rückgrat besaß als bisher gedacht.

Als Darren heute Mittag angerufen hatte, war Aaron ein bisschen von seinem Glauben abgefallen. Er hatte sein Handy bestimmt eine halbe Minute lang einfach nur verwirrt angestarrt, sobald er die Stimme am anderen Ende als Darrens erkannte. Natürlich hatte sich ihm eine Frage ganz besonders aufgedrängt: wie konnte ihn jemand anrufen, ohne seine Nummer zu haben?

Die Antwort war simple und so dreist, dass er schon wieder Wut im Bauch spürte, nur darüber nachzudenken.

Bei ihrem letzten und bis dato einzigen Besuch hier in diesem Motel letzte Woche, war Aaron für fünf Minuten im Bad verschwunden. Fünf Minuten! Keine Sekunde länger! In der Zeit hatte dieser dreiste Dreckskerl seine Jacke nach seinem Handy durchsucht und sich selbst angerufen, um die Nummer zu bekommen. Aaron hatte es nicht gemerkt, nicht einmal geahnt, bis eben heute Mittag der Anruf bei ihm eingegangen war und Darren ihm fröhlich, ohne jede Reue, aufgeklärt hatte.

Im ersten Moment war Aaron so überwältigt von dieser Dreistigkeit gewesen, dass er kein Wort rausgebracht hatte. Dann war ihm Gott sei Dank wieder eingefallen, wie man Buchstaben sinnvoll aneinander reihte und er hatte Darren sehr wütend sehr deutlich gemacht, wie wenig er davon hielt. Irgendjemand sollte diesem Mann mal ein Lexikon schenken, damit er die Bedeutung von 'Anstand' und 'Privatsphäre' verstand!

Aaron hätte mit der Wand reden können, es hätte einen größeren Effekt gehabt. Darren hatte ihm sogar geduldig zugehört und aussprechen lassen, aber am Ende bestand sein einziger Kommentar zu dem Ganzen in einem unbekümmerten 'wenn du nicht willst, dass jemand an deinem Handy rumspielt, dann stell dir eine Tastensperre mit Pin ein'. Was hatte er darauf bitte noch sagen sollen?

Schon alleine aus Prinzip hätte er auf die Frage, ob sie sich noch mal trafen, mit einem klaren Nein antworten sollen. Aus Prinzip und Würde und Moral und auch etwas Selbstachtung. Also natürlich hatte Aaron nein gesagt. Weswegen es ihm selbst ein kleines Rätsel war, wie Darren ihn doch hatte überreden können und Aaron sich vor einer guten Stunde wieder auf dem Parkplatz des Motels wiedergefunden hatte. Irgendwas ging hier echt nicht mit rechten Dingen zu.

Jetzt im Moment, wo sein Körper sich angenehm schwer anfühlte und er das Kribbeln des Orgasmus immer noch überall auf seiner Haut spüren konnte, fiel es ihm nur ein wenig schwer, Reue zu empfinden oder den Verursacher für eben dieses Gefühl zu hassen.

Die Matratze bewegte sich und das Bettlaken raschelte leise, als Darren sich rührte. Aaron öffnete die Augen nicht, spürte die Körperwärme des anderen Mannes aber immer noch dicht neben sich, also konnte er nicht weit gekommen sein.

„Daran könnte ich mich gewöhnen.“ Darrens Stimme war einen Tick rauer als sonst und sein Atem klang auch noch nicht so ruhig, wie es sein sollte. Aaron würde nicht behaupten, dass er darüber nicht einen Funken Genugtuung verspürte.

„Mhm“, war aber nur alles, was er gerade erwidern konnte. Er hätte gerne darauf hingewiesen, dass er sich daran nicht gewöhnen sollte, weil das hier eine Ausnahme war, aber an diesem Punkt machte Aaron sich nichts mehr vor. Er würde wieder hier landen, wenn sein Telefon noch mal klingelte.

Dabei war das schon seltsam. Darüber hatte Aaron schon in der Nacht nachgedacht, als er Darren kennengelernt hatte. Der Mann war nicht einmal richtig sein Typ! Also klar, er sah gut aus und war attraktiv. Am Ende des Tages war auch Aaron nur ein Mann, der auf gewisse äußere Züge ansprang und sich von seinen Hormonen leiten ließ. Männer wie Darren, die groß und gut gebaut waren und so eine Selbstsicherheit versprühten, wirkten automatisch anziehend. Das war tief in der menschlichen DNA verankert, egal ob man Frau oder Mann war. Bisher war er einfach nur selten auf so was angesprungen. Aaron bevorzugte die ruhigeren Typen. Sportlich, aber drahtig. Intelligent, freundlich, zuvorkommend … mehr der nette Typ von nebenan mit einem guten Humor als nervenaufreibender Mistkerl mit Kindskopf.

Es lag nicht einmal am Sex. Der war gut. Ziemlich gut sogar, wie Aaron ohne Probleme zugeben konnte. Aber es war vielleicht nicht einmal der beste Sex seines Lebens, obwohl das schwer zu sagen war. Mit Darren zu schlafen war genauso wie mit ihm zu reden: anstrengend und verwirrend und am Ende wusste man gar nicht so recht, wieso man machte, was man eben tat. Zum Beispiel hätte er vorher gedacht, dass Darren egoistischer im Bett war, sich einfach nahm, was er wollte, ohne sich großartig Gedanken darüber zu machen. Tatsächlich war er aber sehr … aufmerksam. Er gab mehr, als er nahm, achtete genau auf jede Bewegung und Reaktion. Es war ehrlich gesagt ziemlich faszinierend.

Trotzdem konnte Aaron immerhin noch behaupten, dass es nicht am Sex selbst lag. Er mochte Sex, er mochte es mit Darren zu schlafen, aber das war eine Sache, die noch nie sein Leben bestimmt hatte und wenigstens das hatte sich nicht geändert. Er überlebte ohne Sex genauso gut wie mit. Das war ihm noch nie schwergefallen.

Was die Frage aber nur noch schwerer zu beantworten machte: was fand er an Darren so anziehend, dass er jedes bisschen Vernunft so einfach über Bord warf?

„Arbeitest du in einer Bibliothek?“, riss Darren ihn aus seinen Gedanken.

Irritiert blinzelte Aaron, bis er die Kraft hatte, seine Augen doch wieder richtig zu öffnen und den Kopf zur Seite zu drehen. Darren lag neben ihm, auf einem Arm gestützt. Eine Strähne seines dunklen Haares hing ihm wirr im Gesicht, seine Haut glänzte vor Schweiß und er hatte diesen gewissen, neugierigen Blick aufgelegt, den man oft bei ihm sah.

„Was?“, musste Aaron nicht sehr intelligent nachhaken, weil ihm der Zusammenhang gerade wirklich entging.

„Ich habe noch nicht erraten, was dein Beruf ist“, bekam er eine Erklärung. „Inzwischen bin ich sicher, dass es etwas mit Büchern oder Literatur zu tun hat.“ Er streckte den Arm aus und strich über das Tattoo an Aarons Hüfte. Fester als sonst und obwohl Aaron noch dabei war, den Nachklang des Orgasmus zu genießen, machte ihn das schon fast wieder nervös. Das war doch verrückt!

„Wenn du danach gehst, könnte ich auch in einem China-Restaurant arbeiten“, beschäftigte er sich lieber damit, Darren darauf hinzuweisen, dass man nur so viel in Tattoos und deren Bedeutung interpretieren konnte. Nicht, dass er nicht auf der richtigen Spur war, aber man musste es ihm ja nicht zu einfach machen.

„Ich kann mir dich aber besser in einer Bibliothek als in einem China-Restaurant vorstellen“, bemerkte Darren leichthin und legte die Hand ruhig auf Aarons Hüfte ab, wo sie einen interessanten Kontrast zu Aarons blasser Haut bildete.

Aaron verkniff sich ein Seufzen. „Du würdest mit beiden falsch liegen.“

„Uni?“, riet Darren unbeirrt weiter. „Als Professor kann ich mir dich auch gut vorstellen. Oder vielleicht Lehrer? Geschichte und Literatur!“

Aarons Lippen verzogen sich zu einem Schmunzeln. Auf der einen Seite mochte das passen, auf der anderen merkte er gerade deutlich, dass Darren ihn nicht sehr gut kannte. Niemand, der Aaron einigermaßen gut kannte, würde auf die Idee kommen, dass er sich wohl dabei fühlte, sich vor zig jungen Menschen hinzustellen und zu unterrichten. Er wäre maßlos überfordert.

Er schüttelte den Kopf, was Darren einen leisen Fluch ausstoßen ließ. „Ich war mir so sicher!“

„Warum fragst du noch mal nicht einfach, was mein Job ist?“

„Weil es -“

„- langweilig wäre“, beendete Aaron den Satz, immer noch am Schmunzeln. „Für jemanden, der so eine Allergie gegen Langeweile hast, bist du ganz schön berechenbar.“

„Das macht nichts.“ Darren zuckte mit den Schultern. „Berechenbar werden, heißt sich jemanden vertraut machen und das kann niemals langweilig sein.“

Milde überrascht sah Aaron den anderen Mann an. Zwischen all dem Unsinn, der normalerweise aus Darrens Mund kam, war es immer wieder faszinierend, wenn er etwas so ehrlich Vernünftiges von sich gab. Aaron konnte nicht widersprechen.

Selbst wenn er wollen würde, würde er sich nicht richtig konzentrieren können. Darrens Hand strich von seiner Hüfte hoch über die Brust und Hals, bis Aaron die Finger in einer viel zu sanften Geste an seiner Wange spürte. Darren beugte sich über ihn und tat ein paar Sekunden lang nichts anderes, als ihn anzusehen und geistesabwesend mit dem Daumen durch Aarons sorgfältig gestutzten Bart und über den Kiefer zu streichen. Jetzt gerade fühlte Aaron sich ziemlich nackt – was nicht daran lag, dass er tatsächlich nackt war. Er wollte dem viel zu intensiven Blick ausweichen, aber Darren hielt seinen Kopf mit sanfter Gewalt in Position und Aaron kam sich albern vor, deswegen einen Aufstand zu machen. Also rührte er sich nicht und versuchte das nervöse Ziehen in seinem Magen zu ignorieren.

„Gott, deine Augen sind wirklich umwerfend“, brach Darren nach einem Moment die Stille. Aaron wollte liebend gerne einen flapsigen Kommentar abgeben, nur brachte er es nicht über sich. Bei Darren klang es nicht nach einem miesen Kompliment aus der billigsten Trickkiste der Welt. Es klang fast schon ehrfürchtig und wie sollte man sich dagegen wehren?

„Es ist nur eine Augenfarbe“, versuchte er es schließlich doch. Er schob Darrens Hand von seinem Körper und richtete sich auf, bis er saß. „Ich kann nichts für meine Gene. Emily hat dieselbe Farbe.“

„Deine Schwester?“

Aaron nickte und Darren grinste auf eine Art, die ein wenig dreckig war. „Dann wette ich, dass ihr Lover das auch zu schätzen weiß. Wenn ihre Augen nur ein bisschen wie deine sind, dann müsste jeder Mann weiche Knie bekommen, wenn er ihr in die Augen sieht beim Kommen.“

„Das will ich mir nicht vorstellen.“ Aaron verzog ein wenig angewidert das Gesicht.

„Warum nicht? Bist du wirklich so naiv und denkst, deine Schwester hat kein Sexleben, nur weil sie deine Schwester ist?“

„Oh, ich weiß, dass sie eins hat“, bemerkte Aaron vielleicht eine Spur zu trocken.

Für einen Moment sah Darren so aus, als wenn er Nachhaken würde. Doch er sagte nichts, als er sich zur Bettkante rollte, aufstand und anfing sich wieder anzuziehen. „Hast du Hunger?“

Misstrauisch zog Aaron die Schultern hoch, während er versuchte seinen Körper zu überreden, ebenfalls aus dem Bett zu kommen. Es gelang ihm nur langsam. „Warum?“

„Du hinterfragst echt alles, was?“ Darren zog sich sein schwarzes Shirt an und strich sich nur einmal kurz durch die Haare. „Als ich meinte, du sollst mir eine zweite Chance geben, damit ich dir beweisen kann, dass ich gute Gesellschaft bin, meinte ich tatsächlich Gesellschaft und keinen Sex.“

„Ich weiß“, musste Aaron zugeben, dass ihm das letzte Woche schon klar gewesen war. Es war in dem Moment nur nicht das gewesen, was er gewollt hatte.

„Gut. Also noch mal: hast du Hunger? Der Abend ist noch jung.“

„Nicht für Menschen, die morgen früh raus müssen. Außer man hat einen Job, in dem man nachts arbeitet?“

Darren lachte auf. „Netter Versuch! Aber da musst du dich mehr anstrengend. Jetzt lass mich nicht zappeln. Sag: 'Ja, toller und gutaussehender Darren! Ich würde liebend gerne noch etwas mit dir essen gehen!'“

Aaron schnaubte, extra laut, während er wieder in seine Jeans stieg und sich das weiße Hemd zuknöpfte. „Bescheidenheit wurde dir auch nicht in die Wiege gelegt, oder?“

„Nicht zappeln lassen!“

„Okay, okay!“ Gegen seinen Willen musste Aaron ein wenig lächeln. „Dann gehen wir halt noch etwas essen.“

„Perfekt!“ Enthusiastisch klatschte Darren sich in die Hände. „Ich fahre.“

Aaron fiel fast über seine Schuhe. Es war schwer, sich danach zu bücken und Darren gleichzeitig schockiert anzusehen. „Du fährst Motorrad.“ Aaron hatte ihn vorhin auf so einer Teufelsmaschine hier ankommen sehen und auch wenn er nicht leugnen konnte, dass das ein wenig sexy war – okay, ziemlich sexy – würde ihn keine zehn Pferde auf so ein Teil bekommen.

„Wieso klingt das bei dir so, als wäre das was Schlechtes?“

„Weil es das ist!“ Er setzte sich aufs Bett und zog sich betont langsam die Schuhe über. „Ich habe ein Auto. Groß genug für uns beide. Wieso können wir das nicht nehmen? Und wenn du jetzt sagst, dass es langweilig ist, vergesse ich mich.“

Erneut lachte Darren auf, diesmal noch etwas fröhlicher als vorher. „Gut, dann sage ich, wir fahren Motorrad, weil jeder in seinem Leben einmal diese Erfahrung gemacht haben sollte. Wenn es dir nicht gefällt, nehmen wir beim nächsten Mal dein Auto.“

Aaron grummelte irgendwas vor sich her, das er selbst nicht verstand. Sein Hirn war damit beschäftigt, logische Gegenargumente zu finden, aber wie immer, wenn dieser Idiot in der Nähe war, schien sein Hirn nicht richtig zu funktionieren. Er sollte das dringend untersuchen lassen.

„Na schön“, gab er schließlich nach und versuchte nicht ein wenig zufrieden mit sich zu sein, weil Darren aussah wie ein Kind, dem man eben ein riesiges Weihnachtsgeschenk gemacht hatte.

Sobald Aaron draußen auf dem Parkplatz vor der Maschine stand, bereute er seine Entscheidung  sofort wieder. Es war nicht so, dass er richtige Angst davor hatte, aber wohl war ihm damit auch nicht. Autos waren so viel sicherer! Die kippten nicht einfach um, wenn man zu scharf in die Kurve ging.

Darren hingegen schwang sich so lässig auf sein Bike, wie er alles lässig zu machen schien. Er drückte Aaron einen zweiten Helm in die Hand und klopfte auffordernd hinter sich auf den Sitz. Für zwei Herzschläge überlegte Aaron noch, ob er sich irgendwie hier rauswinden konnte, dann beugte er sich seinem Schicksal.

„Du musst nur zwei Dinge beachten“, belehrte Darren ihn derweil. „Erstens: du musst dich gut an mir festhalten. Am besten legst du deine Arme um meinen Bauch. Gut festhalten heißt aber nicht klammern. Ich brauch die Bewegungsfreiheit. Was uns auch gleich zu Zweitens führt: Es ist wichtig, dass du dich mit in die Kurven legst. Wenn das Bike sich zur Seite neigt, darfst du keine Panik kriegen. Bleib locker und folge der Bewegung. Ich verspreche dir, dass dir nichts passieren wird.“

„Wenn wir im Graben landen, dann gib aber nicht mir die Schuld“, murmelte Aaron, setzte sich hinter den anderen Mann und tat genau wie ihm Befohlen. Es war ein befremdliches Gefühl. Er kam sich ein bisschen vor wie ein Kind, das sich schützend an einen Erwachsenen lehnte und im selben Moment fühlte es sich ein wenig verwegen an. Wie alles, was Darren mit ihm machte. Aaron seufzte leise, entspannte seine Muskeln und konzentrierte sich schon fast zwanghaft auf den Geruch der Lederjacke vor seine Nase, als Darren den Motor startete.

Zu seiner grenzenlosen Überraschung war es gar nicht so schlimm wie gedacht. Der Fahrtwind war kalt und Aaron war mit seiner recht dünnen Jacke für so etwas nicht richtig angezogen, aber das war gar nicht so schlimm. Es dauerte gute drei Ampeln, bis seine Finger sich nicht mehr krampfhaft in Darrens Jacke krallten und erst als er vor einem Imbiss hielt und sie abstiegen, realisierte Aaron, dass das alles nur halb so wild war. Was nicht hieß, dass er sofort eine Wiederholung brauchte. Doch sobald sie ihr Essen hatten – Chinesisch, was Darren leicht grinsen ließ – jagte der Folterknecht ihn zurück auf die Maschine. Aaron verstand den Sinn dahinter nicht. Sie konnten doch auch wunderbar einfach hier essen. Aber Darren meinte nur, dass er woanders hin wollte und Aaron war nicht in der Stimmung, sich zu streiten. Also fand er sich kurze Zeit später wieder auf diesem Teufelsding.

Die zweite Fahrt war auch gar nicht schlimm wie die erste. Bei jeder Kurve rutschte Aaron das Herz tiefer in die Hose, aber auf den geraden Strecken musste er zugeben, dass es irgendwie Spaß machte, wenn man sich einmal daran gewöhnte. Ohne eine richtige Karosserie um sich herum, war man der Straße viel näher. Das war ein seltsam irres Gefühl.

Er war so fixiert darauf, dass er gar nicht richtig mitbekam, wohin sie überhaupt fuhren. Erst als die Lichter der Stadt weniger wurden und sie langsamer, sah Aaron sich neugierig um. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass sie im Cleveland Metropark waren und er einen überraschenden Laut von sich gab. „Hier willst du essen?“, hakte er ungläubig nach, während er mit etwas zittrigen Knien vom Bike stieg.

„Ganz genau. Es ist einer der schönsten Flecke der Stadt und um die Uhrzeit ist nicht viel los.“ Darren griff sich die Tüte mit dem Essen und ging voran. Aaron starrte ihn ein paar Sekunden einfach nur irritiert an, dann folgte er ihm.

„Ich hätte mit etwas anderem gerechnet“, gab er zu als sie über den schlecht beleuchteten Spazierweg liefen.

„Womit denn? Billiger Kneipe oder heruntergekommenem Diner?“

„So was in der Richtung, ja“, musste Aaron zugeben und hatte immerhin genug Anstand, den anderen Mann entschuldigend anzusehen.

„Guck nicht so“, wehrte Darren das jedoch sofort ab. „Jeder Mensch denkt in Schubladen. Ich weiß, dass ich mehr nach Bankräuber oder Straßenpenner aussehe und niemand mir zutraut, dass ich Tischmanieren habe. Spoiler: Ich habe welche!“ Darren grinste fröhlich. „Ich weiß sogar, welche die Salatgabel ist und was ein Weinglas.“

„Beeindruckend“, lobte Aaron lächelnd. „Viel mehr würde es mich aber interessieren, warum du die Heldensagen von Herkules kennst.“

Der Blick, den Darren ihm zuwarf, beinhaltete eine riesige Portion Schabernack. „Bist du sicher, dass du für diese Information bereit bist? Willst du dich nicht lieber vorher setzen?“

„Ich glaube, das verkrafte ich gerade eben so.“

„Auf deine Verantwortung.“ Darren antwortete ihm aber nicht sofort, sondern ging vom Weg ab zum kleinen See. Er lief bis zum Ende des Stegs und erst dann setzte er sich hin, ließ die Beine über die Kante baumeln und packte ihr Essen aus. Aaron war immer noch nicht ganz sicher, was er davon halten sollte, aber er setzte sich zu ihm.

„Also?“, hakte er nach, weil er neugierig war.

„Das wird jetzt schwer zu glauben sein.“ Darren zog ein theatralisches Gesicht und beugte sich ein Stück zu ihm. „Aber die Wahrheit ist: ich lese!“

„Nein!“ Aaron konnte nicht anders, er musste lachen. „Das ist skandalös. Wie kannst du nur?“

„Ich weiß, ich weiß! Immer wieder versuche ich mir zu sagen: 'Darren, du siehst gut genug aus. Du brauchst nicht auch noch so verrückte Dinge tun, wie ab und an ein Buch in die Hand zu nehmen!' Dummerweise habe ich die Angewohnheit, auf niemanden zu hören. Auch nicht auf mich selbst.“

„Das ist natürlich ein Dilemma.“ Aaron lächelte, zog ein Bein unter sich und öffnete seine Packung mit den Nudeln. „Griechische Geschichte ist keine leichte Kost.“

„Mag sein.“ Darren machte es sich ebenfalls gemütlich und fing an zu essen. „Ich bin jetzt kein Bücherwurm oder so. Frag mich nicht nach irgendwelchen Bestsellern oder berühmten Autoren. Ich kann dir drei oder vier nennen, das war es dann auch. Wenn ich lese, dann keine Romane, sondern Geschichts- oder Sachbücher.“

„Warum?“

„Deine Lieblingsfrage, was?“ Amüsiert hob Darren leicht eine Augenbraue. „Ich finde es einfach wichtig zu wissen, wo man herkommt. Nicht nur wer der eigene Großvater war, sondern wie das Land zustande gekommen ist, in dem man lebt, warum die Gesellschaft so ist, wie sie ist. Woher Kulturen kommen und Traditionen und Religionen. Das ist spannend.“

„Hmpf“, war irgendwie alles, was Aaron dazu einfallen wollte. Absolut nicht geistreich und gerade kam er sich glatt ein wenig dumm vor.

„Was liest du denn so?“, war Darren freundlich genug, das zu übergehen.

„Alles“, konnte Aaron mit Leichtigkeit antworten. Über Bücher zu reden fiel ihm immer leicht. „Wirklich, alles. Egal ob Thriller oder Krimi oder Liebesroman oder Biografien. Jedes Buch ist etwas Wertvolles.“

Darrens Mundwinkel zuckten, als er den Kopf neugierig schieflegte. „Warum?“

Aaron schnaubte, gab sich aber einen Ruck. „Weil Geschichten und Erzählungen eben kostbar sind. Man kann kein Buch lesen, ohne dabei etwas zu lernen. Selbst das schlechteste Buch der Welt ist lehrreich, weil es Fehler aufzeigt. Hinter jeder Geschichte steht ein Autor. Ein Mensch, der etwas zu sagen hat und wenn man sich etwas Mühe gibt, dann sieht man auch was. Bücher sind … unkompliziert. Sie sind neutral. Sie urteilen nicht, sondern bieten eine kleine Zuflucht aus der Realität, während sie gleichzeitig auf eine Art die Realität aufzeigen, wie es sonst nicht möglich ist.“ Er merkte, dass er anfing zu brabbeln, weswegen er sich auf die Unterlippe biss und aufhörte. Das interessierte niemanden. Nicht einmal Emily.

„Mann, das Zeug ist dir echt wichtig, was?“, hakte Darren nach einem Moment nach.

Aaron nickte nur. Was sollte er sonst machen?

Die nächsten Minuten war es still, während sie beide in Ruhe aßen. Aaron merkte, wie er dabei ziemlich entspannte. Es war eine Weile her, dass er in diesen Park gekommen war und noch viel, viel länger, dass er sich einfach mal ans Wasser gesetzt hatte. Schon gar nicht im Dunkeln. Dabei hatte die Atmosphäre etwas für sich. Der Mond spiegelte sich auf dem Wasser, der Wind brachte die Blätter sanft zum Rascheln und obwohl es kühl war, fror er nicht. Es war einfach … nett. Er fühlte sich wohl.

Er war versucht Darren zu fragen, wieso er sich ausgerechnet diesen Ort ausgesucht hatte, aber er ließ es. Vielleicht gefiel ihm die Antwort nicht und das würde den Moment zerstören.

Als Darren fertig war mit Essen, räumte er die leeren Packungen wieder in die Tüte und sah ihn fragend an. „Wann hast du wieder Zeit?“

„Wer sagt, dass ich dich wiedersehen will?“

„Niemand“, gab er immerhin zu. „Aber so lange du mir das nicht sagst, gehe ich davon aus, dass du mich sehen willst. So wie ich dich sehen will.“

Aaron seufzte leise und räumte ebenfalls seinen Müll weg. „Du bist ein seltsamer Mensch.“

„Erzähl mir etwas Neues. Also?“

Aaron antwortete nicht sofort. Er zog ein Bein an, stützte sich auf seinem Knie ab und sah einem Blatt zu, das auf der Wasseroberfläche an ihnen vorbei schwamm. „Kein Motel mehr. Wenn wir uns wiedersehen, dann nicht dort.“

„Ich habe dir doch erklärt, dass -“

„Jaja, ich weiß“, kam er einer zweiten Belehrung darüber vor. Aaron drehte seinen Oberkörper ein Stück und sah Darren in die Augen. „Das ist Bullshit“, benutzt er bewusst dieselbe Formulierung wie Darren letzte Woche. „Du hast gesagt, Wohnungen lenken ab und das ist unnötig für zwei Leute, die sich nie wiedersehen. Aber du wusstest in dem Moment schon, dass du mich wiedersehen willst.“ Okay, genau genommen wusste Aaron das nicht, er nahm es an. Dass Darren ihm nicht widersprach, bestätigte ihn allerdings. „Spätestens jetzt wissen wir beide das. Also scheiß drauf. Was ist der wirkliche Grund?“

Selbst in dem schlechten Licht konnte er sehen, wie Darren mit den Zähnen knirschte. Zum ersten Mal, seit er den Mann kannte, wirkte Darren nicht selbstsicher. Eher ertappt und vielleicht ein bisschen wütend. Warum auch immer.

„Das ist kompliziert“, bemerkt er schließlich, aber mehr kam nicht.

„Versuch es. Ich bin gut im Zuhören.“

Ein paar Sekunden starrte Darren ihn einfach nur an. Dann verhärteten sich seine Gesichtszüge etwas. „Ich habe nicht gerne andere Leute in meiner Wohnung.“

„Dann gehen wir zu mir.“

„Das wäre unfair. Am Ende weiß ich mehr über dich als du über mich.“

Aaron gab einen humorlosen Laut von sich. „Das ist jetzt schon so, also was soll es?“

„Wir bleiben im Motel“, beschloss Darren und klang dabei so endgültig, dass es Aaron ein wenig erschreckte. Bisher war Darren immer sehr bestimmend gewesen, aber es war nie so, dass er ihm keine Wahl ließ. Aaron entschied sich nur meistens dazu, sich selbst keine Wahl zu lassen, was ein feiner, aber wichtiger Unterschied war. Jetzt bekam er das Gefühl, dass er Darren tatsächlich nie wiedersehen würde, wenn er ablehnte.

„Okay, aber dann habe ich eine Bedingung“, knickte er deswegen ein, aber nicht kampflos.

Darren entspannte sich sichtlich. Seine Schultern sanken ein Stück und er nickte auffordernd. „Welche?“

„Jedes Mal, wenn wir uns sehen, beantwortest du mir eine Frage. Ohne Rätselraten, ohne Ausreden. Eine klare, ehrliche Antwort.“

„Woher willst du wissen, dass ich nicht lüge?“

„Weiß ich nicht“, gab Aaron zu. „Aber ich halte dich nicht für einen unehrlichen Typen.“

„Mhm …“ Nachdenklich rieb sich Darren das Kinn. „Eine Frage?“

„Ja. Jedes Mal eine.“

„Okay. Aber nur, wenn es auch umgekehrt gilt. Ich habe auch eine Frage frei. Und wir beide bekommen einen Joker.“

Aaron brummte, halb amüsiert, halb beleidigt wegen dieser Verhandlung hier. Aber da er aus seinem Leben nicht so ein Geheimnis machte wie Darren, hatte er damit kein Problem. „Was für ein Joker?“

„Jeder hat einen“, wiederholte Darren. „Wenn er gezogen wird, dann muss man die Frage nicht beantworten und sie darf nicht noch einmal in gleicher oder ähnlicher Form gestellt werden.“

Aaron kniff die Augen zusammen und musterte sein Gegenüber. Das klang ja verdächtig nach einem Schlupfloch. „Nur wenn ich heute zwei Fragen stellen darf. Rückwirkend und für heute.“

„Mann, du bist echt ein harter Verhandlungspartner.“ Jetzt grinste Darren wieder. „Aber okay, schieß los.“

„Bist du vergeben?“

Irritiert blinzelte Darren. „Das ist deine erste Frage? Verschwendung! Ich dachte, du hältst mich für einen ehrlichen Typen.“

„Es würde erklären, dass du niemanden in deiner Wohnung haben willst“, befand Aaron ungerührt.

Darren stieß belustigt die Luft aus. „Nein, ich bin nicht vergeben. Meine letzte Beziehung ist genau genommen sogar schon ein paar Jahre her.“ Er lächelte auf eine Art, bei der nicht ganz klar war, ob er sich darüber freute oder nicht. Aaron bohrte aber nicht weiter nach.

„Was machst du beruflich?“, stellte er lieber Frage Nummer zwei.

„Oh, echt jetzt? Das ist so lahm!“ Entgegen seiner Worte lachte Darren auf und sah ihn amüsiert an. „Momentan arbeite ich auf dem Bau. Wir verlegen Rohre, um genau zu sein.“ Er wackelte mit den Augenbrauen und ließ es noch zweideutiger klingen, als es sowieso schon war.

„Momentan?“

„Ich bleibe nie lange in einem Job und wechsle oft. In der Regel sind es handwerkliche Berufe. Ich habe geschickte Hände, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.“

„Das ist mir nicht entgangen“, musste Aaron an dieser Stelle einfach mal zugeben.

„Heißt das, ich bin jetzt mit zwei Fragen dran?“

Nein, Aaron gefiel es gar nicht, wie lauernd das klang. Er nickte trotzdem.

„Was ist dein Lieblingsbuch?“

Überrascht hob Aaron den Blick. Das war irgendwie keine Frage, mit der er gerechnet hatte. „Ich habe keins. Es gibt einige Favoriten, aber kein Buch, bei dem ich sage, dass es das einzig Wahre ist. Ich mag 'Der kleine Prinz' genauso wie 'Der Fremde' von Albert Camus. Ich kann dir eine Liste machen, aber die ändert sich fast täglich und wäre wirklich lang.“

„Das macht Sinn“, schien Darren das immerhin zu verstehen. Er überlegte kurz. „Bist du vergeben?“

Fast hätte Aaron gelacht. Sehr laut und sehr humorlos, aber es blieb ihm im Hals stecken. „Nein“, antwortete er stattdessen simple und kurioserweise schien Darren damit zufrieden zu sein.

„Lass uns gehen“, beschloss Darren und stand auf. „Ich bringe dich zurück zu deinem Wagen und dann gibst du zu, dass es dir gefallen hat, Motorrad zu fahren.“

„Niemals!“ Aaron grummelte, konnte das Schmunzeln aber nicht ganz verbergen und kam auf die Füße.  

Kapitel 3

 Es war unheimlich, wie schnell man Routine entwickeln konnte. Aaron war der Erste, der behaupten würde, dass er kein spannendes Leben führte. Sein Alltag war ziemlich festgefahren. Er stand morgens auf, öffnete den Laden, arbeitete bis in den späten Nachmittag oder bis abends und kümmerte sich um den Haushalt. Seine Freizeit verbrachte er mit einer Menge Büchern und seiner Katze zuhause, beim Kendo, mit Emily und seiner Nichte Martha oder bei seinem Großvater im Heim. Seltener traf er sich mit Freunden und noch seltener ging er aus, um jemanden kennenzulernen. Er war für diese ganze Sache mit der sozialen Interaktion einfach nicht gemacht. Wenn er Emily nicht hätte, würde er vermutlich so gut wie gar nicht aus dem Haus gehen und hätte sich schon vor Jahren in ein Schneckenhaus zurückgezogen. Seine Schwester hatte das nie zugelassen und heute war er dankbar dafür.

Sein Alltag war also nicht spannend, dafür aber geordnet. Es gab nicht viele Variationen. Umso mehr verwunderte es ihn, wie schnell er Platz in sein Leben geräumt hatte, um sich regelmäßig mit Darren zu treffen.

Anfangs hatte er sich noch eingeredet, dass es eine einmalige Sache war. Er war schon verwirrt genug von sich selbst gewesen, überhaupt mit diesen Mann mitgegangen zu sein. Schon beim zweiten Mal war ihm zwar klar geworden, dass es zu einer Regelmäßigkeit ausarten könnte. Er war nur nicht bereit dafür gewesen einzusehen, wie regelmäßig es sein würde.

Inzwischen sah er Darren mindestens einmal die Woche. Es lief immer gleich ab: Darren rief im Laufe des Tages an – manchmal auch zu den unmöglichsten Uhrzeiten – und wollte wissen, ob er Zeit hatte. Bis auf eine Ausnahme – weil er schon mit Emily verabredet gewesen war – sagte Aaron zu, weil er nun mal ein langweiliger Mensch war und quasi immer Zeit hatte, sobald sein Laden geschlossen war. Kurz darauf trafen sie sich in diesem Motel, das ihm langsam gruselig vertraut wurde.

Genau genommen hätte Aaron nicht einmal ein Problem damit. Es war locker, es machte Spaß und der Sex war nach wie vor gut. Nichts, worüber man sich beschweren oder den Kopf zerbrechen müsste. Wäre Darren nicht so sehr wie … naja, Darren.

Der Mann machte ihn irre! Jedes Mal, wenn er dachte, er würde verstehen wie Darren tickte, schlug dieser eine ganz andere Richtung ein, sagte oder machte irgendwas Unberechenbares und warf Aaron damit erfolgreich aus der Bahn. Das war so anstrengend! Vor allem weil er Darren trotzdem irgendwie mochte. Ganz sauber war der Kerl in seinem Oberstübchen ganz sicher nicht, das konnte niemand abstreiten – Darren schon gar nicht. Im Großen und Ganzen war er aber einfach ein netter und interessanter Mensch. Es war einfach ihn zu mögen und Aaron war sicher, dass er da mit Leichtigkeit noch ein paar mehr Gefühle investieren könnte, wenn da nicht diese ganzen Kleinigkeiten wären.

Es gab Dinge an Darren, die passten nicht zusammen. Angefangen mit diesem Motel. Jedes Mal, wenn sie sich hier trafen, verschwand Darren im Büro, um den Schlüssel zu holen und für das Zimmer zu bezahlen. Aaron kannte sich mit den lokalen Motelpreisen ja jetzt nicht aus, aber er war auch kein Idiot. Das hier war keine billige Absteige. Es würde schon ein paar Dollar kosten. Wenn man bedachte, wie oft sie sich hier trafen, kam da sicher einiges zusammen. Aaron hatte angeboten, einen Teil der Kosten zu tragen, aber Darren hatte lächelnd abgelehnt und gemeint es wäre schwachsinnig, wenn er hierfür bezahlen würde, wenn er von dem Motel nicht begeistert wäre. Das mochte irgendwie Sinn machen. Es führte Aaron nur zu der Frage, wie Darren sich das leisten konnte. Als Bauarbeiter verdiente man keine Millionen. Aaron konnte guten Gewissens sagen, dass sein Laden ganz passabel lief und er über die Runden kam, doch für ihn wären solche Ausgaben auf jeden Fall einschneidend. Darren hingegen schien absolut keinen Gedanken daran zu verschwenden.

Die andere, wirklich sehr irritierende Sache an Darren war, dass er es nicht bei dem Sex beließ. Jedes Mal danach schlug er vor, noch etwas zu unternehmen und jedes Mal erwischte Aaron sich dabei, wie er ja sagte, obwohl er genau wusste, dass das keine gute Idee war. Vor zwei Wochen waren sie wieder etwas essen gewesen, diesmal in einem Diner, das Aaron mochte und wo er am Wochenende gerne mal frühstücken ging. Ein anderes Mal war Darren mit ihm in den botanischen Garten gegangen und sie hatten sich gute zwei Stunden über die Bedeutung von Pflanzen in der menschlichen Geschichte unterhalten – angefangen vom Edenapfel im Paradies bis hin zur Farbtheorie und welche Einflüsse bunte Blütenblätter auf das Gemüt des Menschen haben können. Es tat ihm leid in Schubladen zu denken, aber solche Gespräche passten irgendwie nicht zu einem Bauarbeiter.

Wobei das nicht der verwirrenste Punkt an der Sache war. Der bestand darin, dass Darren überhaupt diese Dinge mit ihm machte – und Aaron sich immer wieder darauf einließ. Letzte Woche waren sie Eislaufen gewesen. Eislaufen! Das hatte er das letzte Mal in seiner Kindheit gemacht. Heute würde er nicht einmal mehr auf die Idee kommen. Darren schon und für einen erwachsenen Mann hatte er erstaunlich viel Spaß daran gehabt. Aaron war kein Experte in Affären. Er war trotzdem sicher, dass das nicht so ablaufen sollte. Es war seltsam.

Dafür lernte er Darren zumindest ein bisschen besser kennen, wenn auch langsam. Er hielt sich an sein Wort und beantwortete ihm jedes Mal eine Frage, ohne groß ein Spektakel darum zu machen. Inzwischen hatte er in Erfahrung gebracht, dass Darren 36 Jahre alt war, eine ältere Schwester sowie einen jüngeren Bruder hatte und eine On-Off-Beziehung zu seiner Familie pflegte. Was wohl so viel heißen sollte, dass es Tage gab, an denen er gut mit ihnen klarkam und Tage, an denen er seiner Familie die Pest an den Hals wünschte. Das klang in Aarons Ohren schon fast beruhigend normal.

Im Gegenzug hatte Darren inzwischen erraten, was sein Beruf war. Er hatte über beide Ohren gegrinst und sich im wahrsten Sinne des Wortes selbst auf die Schulter geklopft. Aaron hatte nicht gewusst, ob er genervt oder amüsiert sein sollte. Ein Gefühl, das ihn oft in Darrens Gegenwart begleitete.

Heute fühlte er sich hauptsächlich entspannt. Es war spät am Abend. Sie hatten sich schon vor über zwei Stunden hier im Motel getroffen. Diesmal schien Darren keinen Antrieb zu haben, irgendwohin zu gehen. Er saß schon seit einer ganzen Weile faul auf dem Bett, mit dem Rücken gegen die Wand, die Beine übereinander geschlagen und die Decke gerade eben so bis zur Hüfte gezogen. Seine ganze Körperhaltung strahlte aus, dass er nicht vorhatte, sich in naher Zukunft irgendwohin zu bewegen, doch sein Mundwerk war so lose wie immer und hielt Aaron auf Trab.

„Okay, okay“, bemerkte Darren gerade. Er setzte ein Gesicht auf, als würde er über eine schwere mathematische Formel nachdenken. „Damit ich das richtig verstehe: Emily ist deine Schwester. Martha ist deine Nichte … ist Ryan der neue Freund oder der Straßenpenner?“

Oh, ja, sie waren bei dem Thema gelandet und nein, Aaron wusste nicht, wie es dazu gekommen war, dass er Darren seit einer Weile versuchte, Emilys Dreiecksbeziehung zu erklären. Er wäre bis eben nie im Leben auf die Idee gekommen, überhaupt mit jemanden darüber zu reden. Es war Emilys Sache und ging niemanden etwas an. Allerdings erzählte er hier auch keine Staatsgeheimnisse und da Darren Emily nie kennenlernen würde, ging das schon in Ordnung. Nahm er zumindest an.

„Ryan ist ihr Freund.“

„Der aktuelle?“, hakte Darren nach. „Wer war dann der Penner?“

„Will und nenn ihn nicht so“, tadelte Aaron, während er sich endlich mal aus dem Bett bequemte. Die Hitze vom Sex hatte schon vor einer Weile nachgelassen und so langsam wurde ihm kalt.

„Warum nicht? Wie soll man das denn sonst nehmen? 'Besonderer Bürger mit wohnungslosen Hintergrund'?“ Darren schnaubte belustigt. „Der Kerl ist ein Obdachloser genauso wie du ein Buchhändler bist. Da liegt keine Wertung drin, es ist eine simple Tatsache.“

„Naja … ja“, musste er zugeben, dass da was dran war. „Es hat trotzdem einen negativen Beigeschmack.“

„Weil die Gesellschaft dem einen negativen Stempel aufgedrückt hat. Kann der Kerl – Will? - doch nichts für.“

Vielleicht nicht. Vielleicht aber doch. Das war ein komplexes Thema und Aaron war zu entspannt, um darüber nachzudenken.

Musste er auch gar nicht, weil Darren wie immer irgendwann den roten Faden wiederfand. „Emily hat also ein Kind mit Will. Der ausgetickt ist und sie deswegen abserviert hat. Darum ist sie jetzt mit Ryan zusammen, obwohl er nicht ihr Traumprinz ist. Will ist aber wieder aufgetaucht und jetzt Will will“, Darren grinste über seine Wortwahl und Aaron verdrehte die Augen, „doch der Kleinen ein Vater sein. Und Emily zurück. Was problematisch ist, weil Emily mit Ryan zusammen ist. Richtig so?“

„Genau“, stimmte Aaron zu, während er den Gürtel seiner Jeans schloss.

Darren lachte fröhlich auf. „Mann, ich hoffe dir ist klar, dass das wie der Plot einer Soap klingt. Wenn sich am Ende nicht jemand umbringt oder im Krankenhaus landet, bin ich enttäuscht.“

„Ich nicht“, musste Aaron trocken widersprechen. Ihm wäre es ganz lieb, wenn alle die Sache unbeschadet überstanden.

„Ich verstehe deine Schwester aber nicht.“ Darren zog die Beine an, stützte seine Unterarme auf den Knien ab. „Ich kenne diese Leute alle nicht, aber sogar mir ist klar, dass Ryan nur ein Lückenbüßer ist und sie eigentlich den anderen will. Warum dann dieses Theater? Soll sie Ryan in den Wind schießen und sich Will schnappen.“

„Will hat sie ziemlich fies fallen lassen“, gab Aaron zu bedenken. „Und Emily ist ein guter Mensch. Wirklich, ein richtig guter Mensch. Sie würde nie im Leben jemanden mit Absicht wehtun.“

„Wenn sie einem Typen vormacht, dass sie ihn liebt, obwohl ihr Herz an einem anderen hängt, ist das nicht sonderlich tugendhaft.“

„So ist es ja nicht“, fühlte er sich genötigt, seine Schwester in Schutz zu nehmen. Er bückte sich nach seinem Hemd und strich den Ärmel glatt. „Emily wird das Richtige tun. Wie immer.“

„Ich weiß ja nicht.“ Darren kratzte sich am Kinn durch den Bart, der heute genauso unordentlich war wie bei ihrem ersten Treffen. „Was ist denn das Richtige?“

„Wenn ich das mal wüsste“, murmelte Aaron grummelnd vor sich her.

„Was hältst du denn für das Richtige?“

Aaron zuckte mit den Schultern. „Das ist egal. Emily muss damit leben.“

„Es ist nicht egal“, widersprach Darren. „Nicht einmal ein Blinder kann übersehen, was deine Schwester für einen Einfluss auf dich hat. Egal welche Wahl sie trifft, es wird auf dich abfärben. Wie kann dir das nichts ausmachen? Am Ende steckst du entweder mit einem Spießer fest, der ein latentes Aggressionsproblem hat oder mit einem Penner, der nach Ärger klingt.“ Darren hielt inne und runzelte leicht die Stirn. „Mann, deine Schwester hat echt kein gutes Händchen bei Männern, was?“

„Das haben wir gemeinsam“, bemerkte Aaron und schaffte es ganz tapfer, nicht dabei zu schmunzeln

„Hey! Ich bin großartig!“ Gerade eben so wich Aaron dem Kissen aus, das in einem brutalen Anschlag nach ihm geworfen wurde. „Jetzt sag schon! Wen würdest du wählen?“

„Will“, erklärte Aaron. Darüber musste er komischerweise gar nicht lange nachdenken, auch wenn die Antwort ihn selbst ein wenig überraschte. „Er ist Marthas Vater, er hat das Potenzial Emily sehr glücklich zu machen und ich glaube, wenn er sich ein bisschen Mühe gibt, kann er ein toller Mensch sein.“ Erneut zuckte er leicht mit den Schultern. So gut kannte er Will ja gar nicht. Emily sah aber etwas in diesem Mann, also war Aaron sicher, dass er Recht hatte.

„Na gut.“ Darren lehnte sich wieder zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Dann setze ich mein Geld auf Will.“

„Ich wette nicht auf das Glück meiner Schwester.“

„Ich wette ja auch nicht mit dir, sondern mit mir! Du hast mich überzeugt. Will ist der Traumprinz.“
„So weit würde ich nicht gehen.“ Aaron räusperte sich unauffällig und setzte sich zu Darrens Füßen aufs Bett, um seine Socken anzuziehen. „Was ist mit dir?“, fiel ihm dabei eine nicht uninteressante Frage ein. „Glaubst du an Traumprinzen?“

„Für mich persönlich?“ Aaron nickte und auf Darrens Gesicht zeichnete sich ein feines Lächeln ab. „Ist das deine Frage für heute?“

„Ja“, entschied Aaron nach einem Moment.

„Ich glaube daran, dass zu jedem Menschen ein anderer Mensch passt, der die eigene Welt aus den Fugen bringt. Auf aufregende und gute Weise. Einen Menschen, den man nicht in seinem Leben braucht, aber ihn dort haben will. Nicht einfach nur die abgedroschene Form von 'Liebe'. Das Wort wird viel zu inflationär benutzt. Sondern diese Mischung aus Vertrautheit, Spannung, Lust und vor allem Heimat. Das ist selten und ich schätze, nur die wenigsten Leute haben das Glück, diesen Menschen zu finden. Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob ich das nicht schon getan habe.“

Überrascht hob Aaron den Kopf und sah den anderen Mann an. „Inwiefern?“

Darren zögerte. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, doch Aaron sah es. „Ich war ein ziemlicher Spätzünder“, erzählte er dann doch. „Nicht was Frauen angeht. Ich hatte mein erstes Mal mit 16 und war total gespannt. Bei den Jungs in meiner Schule gab es kein anderes Thema als Sport und Mädchen. Die Jungs, die schon Sex hatten, haben geprahlt wie toll es ist, also wollten alle anderen es auch. Ich war keine Ausnahme. Als ich dann zum ersten Mal mit einem Mädchen geschlafen habe, war ich ziemlich enttäuscht. Es war nett und hat Spaß gemacht, aber es war nicht einmal ansatzweise so eine große Sache, wie alle es immer behaupten haben. Das hat sich durch meine Teenagerjahre bis ins Erwachsenenalter gezogen. Ich habe immer mal wieder eine Frau in mein Bett geholt. Einmal habe ich es sogar mit einer richtigen Beziehung versucht, weil ich dachte, dass vielleicht diese gewisse Art von Zuneigung als Prise fehlt, die einen richtig guten Fick ausmacht. Das hat auch nicht geklappt. Irgendwann habe ich es einfach so hingenommen und mich nicht weiter damit beschäftigt. Seltsamerweise bin ich nie auf die Idee gekommen, dass es an so etwas Simplen wie dem Geschlecht liegt.“

Aaron hatte inzwischen vergessen, dass er sich eigentlich anziehen wollte. Er zog ein Bein aufs Bett und musterte Darren neugierig. „Wie hast du es denn gemerkt?“

Darren lächelte. So warm und herzlich wie Aaron es noch nie bei dem Mann gesehen hatte. „Als ich 28 war, habe ich jemanden kennengelernt. Kyle. Er war älter als ich und im Gegensatz zu mir war er sich seiner sexuellen Orientierung sehr bewusst. Er hat mich schneller um den Finger gewickelt als ich gucken konnte.“

Aaron schnaubte leise. Ja, das Gefühl kannte er!

„Kyle hat meine Welt rasant auf den Kopf gestellt“, erzählte Darren weiter. „In jeder Hinsicht. Ich habe nicht nur endlich verstanden, was der Aufriss ums Vögeln sollte, sondern auch wie es ist, sich Hals über Kopf zu verlieben. Das war sehr … überwältigend.“

Es klang auch so. Aaron musste zugeben, dass er einen Funken Neid verspürte. Wenn er an die Beziehungen zurückdachte, die er in seinem Leben geführt hatte, war keine einzige dabei, die seine Welt aus den Angeln gehoben hatte. „Aber es hat nicht gehalten“, zog er die logische Schlussfolgerung.

„Wie man es nimmt. Wir waren gute zwei Jahre zusammen. Das waren sehr wilde zwei Jahre. Wenn ich heute darauf zurückblicke, dann denke ich mir manchmal, dass es die beste Zeit meines Lebens gewesen ist. An anderen Tagen denke ich mir, dass ich die Erinnerungen größer mache als es der Realität entspricht und ich frage mich, ob nicht doch noch mehr auf mich wartet.“

Aaron nickte langsam und senkte den Blick ein wenig. Das verstand er. Es ging ihm mit seinen Eltern ähnlich. Er wusste selbstverständlich, dass seine Mutter und sein Vater keine perfekten Menschen gewesen waren. Vor allem als Erwachsener war ihm das mehr als bewusst. Wenn er sich Mühe gab, konnte er sich auch an die weniger schönen Tage erinnern, an denen seine Eltern Emily oder ihn unfair behandelt oder einfach die Nerven verloren hatten, weil jeder irgendwann einmal mit seinen Kindern die Nerven verlor. Doch daran dachte er nicht. Wenn er an seine Eltern dachte, waren sie in seinem Kopf perfekt. Dann erinnerte er sich nur an die guten Sachen; wie geliebt und wie sicher er sich gefühlt hatte.

„Woran ist es gescheitert?“, erkundigte Aaron sich, um sich von seinen eigenen Gedanken abzulenken und weil es ihn ehrlich interessierte.

Darren verlagerte sein Gewicht ein wenig, lehnte den Kopf hinter sich an die Wand und sah ihn mit einem fast schon müden Blick an. „Er ist gestorben. Kyle hatte Aids. Daraus hat er auch kein Geheimnis gemacht. Die Sache ist nur, im 21. Jahrhundert denkt man, dass es nicht mehr tödlich ist. Es gibt all diese Pillen und Tabletten, die man täglich schluckt als wären sie verschissene Smarties und klar, sie helfen. Man fühlt sich die meiste Zeit über fit, führt ein normales Leben, nur eben mit ein paar mehr Arztbesuchen als der Durchschnittsbürger. Man vergisst, dass man krank ist. Und dann Boom!“ Er schnippste mit den Fingern. „Dann passiert es. Bis auf ein paar schlechte Tage hat Kyle auf mich gesund gewirkt. Ich wusste, dass er es nicht war und dass diese beschissene Krankheit irgendwann seinen Tribut fordern würde. Ich war nur nicht darauf vorbereitet, wie schnell es gehen kann. Den einen Tag waren wir noch zusammen im Park joggen, am nächsten ist er auf der Arbeit zusammengebrochen und im Krankenhaus gelandet. Sein Immunsystem war so weit runtergeschraubt, dass eine einfache Grippe ihm den Rest gegeben hat. Innerhalb einer Woche war er tot. Einfach so.“

Aaron merkte, wie er Darren schockiert anstarrte, doch er brauchte einen Moment, bis er seine Mimik wieder in den Griff bekam. Das war nichts, womit er gerechnet hatte. Er könnte sich gerade selbst in den Arsch treten, dieses Thema überhaupt erst angefangen zu haben. „Tut mir leid“, bemerkte er schließlich nach einem Moment peinlichen Schweigens.

„Warum?“ Darren neigte den Kopf ein Stück, suchte seinen Blick, dem Aaron gerade lieber auswich. „Du kanntest Kyle nicht. Es gibt keinen Grund, dass dir irgendwas leid tun sollte.“

„Ich kenne dich.“ Er sah Darren immer noch nicht an, sondern betrachtete die Hände in seinem Schoß. „Es tut mir für dich leid. Niemand sollte einem geliebten Menschen beim Sterben zusehen müssen.“

Er spürte Darrens Blick auf sich, konnte ihn förmlich auf seiner Haut kribbeln fühlen. Es trug nicht gerade zu Aarons Wohlempfinden bei. Genau genommen fühlte er sich gerade miserabler als er sollte.

Die Stille breitete sich im Raum aus wie eine Wand aus Nebel. Drückend und stickig. Aaron knetete nervös seine Finger und überlegte, wie genau er die letzten zehn Minuten zurückdrehen konnte. Aber er war nicht Darren. Er konnte nicht einfach ein unangenehmes Thema fallen lassen und zum nächsten überspringen als wäre nichts gewesen. Er war auch nicht Emily und wusste instinktiv, wie man das richtige Maß an Mitgefühl aufbrachte und Komfort spendete. Er war einfach nur Aaron und Aaron war eine gigantische Niete in solchen Dingen.

„Okay, das wird langsam komisch“, ergriff Darren nach einer Weile wieder das Wort – und brachte ihn damit erleichtert zum Aufatmen. Aaron hörte schon an seinem Tonfall, dass er wieder dieselbe lockere Art anschlug wie sonst auch. „Ich bin dran“, machte Darren auch gleich weiter und jetzt traute Aaron sich auch wieder, den anderen Mann anzusehen. Er wirkte genauso entspannt und ruhig wie vor diesem seltsamen Gespräch.

„Womit?“, nahm Aaron die Ablenkung also liebend gerne an.

„Mit meiner Frage für heute! Das hier ist ein zweischneidiges Schwert, falls du es vergessen hast. Also! Was ist deine Traumprinz-Fantasie?“

Etwas überrumpelt öffnete Aaron den Mund und schloss ihn gleich wieder. „Was ist denn eine Traumprinz-Fantasie? Wie ich mir den perfekten Mann vorstelle?“

„Ja und nein.“ Das leichte Grinsen auf Darrens Gesicht war irgendwie beruhigend und gleichzeitig bekam Aaron wieder dieses gewisse Gefühl, in eine Falle zu rennen. „Jeder hat kitschige Fantasien, die er nur vor sich selbst zugibt. Selbst der härteste Macho. Also, erzähl es mir. Wie kommt dein Traumprinz in deiner Wunschwelt auf seinem Schimmel angeritten? Zeichne mir ein Bild!“

Sofort stieg Aaron die Hitze ins Gesicht. Seine Wangen wurden unangenehm warm und er kam sich auf total dämliche Weise ertappt vor. Darren nahm das zum Anlass, einen triumphierenden Laut von sich zu geben. „Ich wusste es! Komm schon, erzähl es mir!“

„Das ist peinlich“, grummelte Aaron missmutig. Sein Körper fing von ganz alleine wieder an sich in Bewegung zu setzen und sich nach seinen Schuhen zu bücken.

„Du kannst deinen Joker ziehen.“

Für einen Moment erwog Aaron genau diese Möglichkeit. Schon bei dem Gedanken, Darren von solchen Sachen zu erzählen, wollte er am liebsten vor Scham im Erdboden versinken. Allerdings kannte er Darren inzwischen gut genug, um sicher sein zu können, dass das noch nicht die schlimmste Frage war, die er auf Lager hatte. Dieser Joker war kostbarer als Gold. Aaron war nicht gewillt, ihn so frühzeitig zu verschenken! Darum schüttelte er auch mit dem Kopf.

„Wehe du lachst“, warnte er Darren, dass er das nicht lustig finden würde. Es stimmte ihn nicht optimistisch, dass dieser Mistkerl sofort breit grinste. Er zog die Finger über den Mund, als wenn er einen Reißverschluss schließen würde, und schmiss den imaginären Schlüssel weg. Aaron seufzte. Er bereute das jetzt schon.

„Okay, es ist aber nichts Spannendes und ziemlich albern“, gab er gleich die zweite Warnung ab. Darren sagte tatsächlich nichts, sah ihn nur abwartend an, also gab Aaron sich einen Ruck. „In einer perfekten Welt steh ich irgendwann in meinem Laden hinter dem Tresen. Es ist ein ruhiger Tag, an dem nicht viele Kunden da sind.“

„Das ist aber nicht gut fürs Geschäft“, warf Darren schmunzelnd ein.

Aaron zog leicht amüsiert eine Augenbraue hoch. „Das ist eine perfekte Welt, okay? Da macht man sich keine Gedanken über so banale Dinge wie den wirtschaftlichen Ruin.“

„'Tschuldige.“ Darren zog die Beine in einen Schneidersitz, beugte sich ein Stück nach vorne und nickte ihm aufmunternd zu.

„Ruhiger Tag!“, machte Aaron weiter, wo er aufgehört hatte. „Irgendwann erklingt die Türglocke und er kommt rein. Ein gutaussehender Typ, mit einem freundlichen Gesicht. Er sieht mich nicht, sondern geht die Gänge ab, bis er die Kategorie gefunden hat, die er sucht, und verschwindet eine Weile zwischen den Regalen. Ich beobachte ihn, wie er sich ein paar Bücher ansieht und irgendwann entscheidet er sich für eins. Es ist eines meiner Lieblingsbücher und als er schließlich zum Tresen zum Bezahlen kommt, fangen wir ein Gespräch darüber an. Der Funken springt über, wir verabreden uns auf ein Date – und das hört sich ausgesprochen noch viel peinlicher an als in meinem Kopf.“

„Geht so“, widersprach Darren überraschenderweise. „Das ist doch gar kein so unwahrscheinliches Szenario. Es wundert mich aber ein wenig, dass du der Date-Typ bist. So wie ich dich immer überreden muss, mit mir vor die Tür zu gehen.“

„Das ist etwas anderes. Das sind keine Dates.“ Glaubte er zumindest. „Oder?“

„Nein“, versicherte Darren ihm sofort. Er beugte sich noch ein Stück zu ihm und sah ihm direkt in die Augen. „Vergiss das nie. Ich mag dich und das hier“, er machte eine Handbewegung, die den Raum einschloss, „macht Spaß, aber ich bin nicht auf eine Beziehung aus und das wird sich auch nicht ändern. Das weißt du?“

„Natürlich“, stimmte Aaron zu und zuckte leichthin mit den Schultern. Es war die Wahrheit. Er war nicht dämlich. Bis eben hätte er auch darauf gewettet, dass er damit wunderbar klarkam, doch der Stich in seiner Brust kam überraschend und schmerzte mehr als erwartet.

„Gut“, bemerkte Darren. „Ich bin nämlich nicht bereit, dich schon wieder gehen zu lassen. Apropos. Was machst du da eigentlich?“

Fragend hob Aaron den Kopf und sein Hirn brauchte einen Moment, um zu verstehen, worauf Darren hinaus wollte. „Mich anziehen.“

„Ja, das sehe ich. Aber warum? Das macht mir doch nur unnötige Arbeit.“ Mit einem Mal war Darren ihm ziemlich nah, legte ihm eine Hand auf die Brust und drückte ihn nach hinten aufs Bett. Sein Gesicht war dicht über seinem, trug dieses spitzbübische Lächeln, dass Aaron aufregte und im selben Moment zum Niederknien fand.

„Ich dachte, du packst gerne deine Geschenke aus“, erinnerte er Darren an seine Worte von vor ein paar Wochen.

„Stimmt.“ Seine Hand glitt von seiner Brust runter, über seinen Buch und die Hüfte. Aaron musste sich zusammenreißen, um nicht wohlig zu schaudern. „Es ist aber schwer dafür noch die Geduld aufzubringen, wenn man dich einmal nackt gesehen hat.“

„Du spinnst.“

„Und du kannst nicht mit Komplimenten umgehen“, konterte Darren amüsiert. Aaron hätte liebend gerne widersprochen, doch sobald Darrens Hand in seine Hose glitt, vergaß er ziemlich schnell, was er eigentlich sagen wollte.

Kapitel 4

 Etwas kitzelte Aaron am Finger. Mürrisch drehte er sich auf die andere Seite, zog die Decke ein Stück höher und machte weiter damit, die Welt um sich herum einfach auszusperren.

Es dauerte genau zwölf Sekunden, dann kitzelte es erneut. Diesmal an seiner Stirn.

„Ich bin nicht tot“, teilte er Shakespeare mit.

Die Antwort blieb aus. Das Schnüffeln ging weiter.

Erschöpft strich Aaron sich durch die Haare, bevor er sich überwinden konnte, ein Auge zu öffnen. Seine Katze saß auf der Couchlehne, sah ihn mit großen, runden Augen an und mauzte vorwurfsvoll. „Du kannst gar keinen Hunger haben“, erklärte er dem Störenfried, was nicht sonderlich autoritär klang. Seine Stimme war rau und er hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, als ihn ein Hustenanfall durchschüttelte. Gott, wie er es hasste, krank zu sein!

Erkältungen waren die Erfindung des Teufels. Nur erschaffen, um die armen Seelen hier oben zu quälen. Das ganze Jahr über schaffte er es, jedem Virus zu entgehen, aber im Winter erwischte es ihn immer wieder. Er konnte die Uhr danach stellen. Im November oder spätestens Dezember lag er flach. Vollkommen egal, wie viele Vitamine und Medikamente er im Voraus nahm, um dem vorzubeugen. Jedes Jahr dasselbe Spiel. Inzwischen nahm er es einfach nur noch hin, verkroch sich für ein paar Tage in seiner Wohnung und schlief den Mist aus.

Oder er würde genau das tun, wenn seine Katze ihn nicht ständig boykottieren würde.

Shakespeare wirkte nämlich kein bisschen beeindruckt von ihm. Sie sprang mit einem Satz auf seine Schulter, fing an zu schnurren und ließ sich nach ein paar Umdrehungen auf seiner Seite nieder. Als wäre er eine Matratze. Aaron seufzte und überlegte, sie einfach von sich zu schmeißen. Das Schnurren war jedoch ein angenehmes Geräusch. Er konnte es bis in seine Rippen sanft vibrieren fühlen, was irgendwie beruhigend war. Also schloss er die Augen wieder und hoffte, dass Shakespeare erbarmen mit ihm hatte und mindestens eine oder vielleicht sogar zwei Stunden einfach so liegen blieb.

Er war kurz vorm Einschlafen, als sein Handy anfing zu klingeln und ihm einen Heidenschreck einjagte. Aaron saß aufrecht auf der Couch. Shakespeare landete nicht so elegant wie eine Katze das tun sollte auf dem Boden und warf ihm einen Todesblick zu, bevor sie anfing sich zu putzen.

Mit einer Hand rieb er sich müde über die Augen, mit der anderen ging er ans Telefon. „Ja?“

„Hey“, hörte er Darrens vertraute Stimme. Er klang fröhlich und den Hintergrundgeräuschen nach zu urteilen, war er irgendwo draußen auf der Straße. „Wie geht es meinem Lieblingsbuchhändler?“

„Wie viele kennst du denn?“

„Nur dich“, gab Darren zu. „Du hörst dich beschissen an. Was ist los?“

„Charmant wie eh und je“, murmelte Aaron vor sich her, bevor er das Handy ein Stück von sich hielt, um zu husten. „Ich bin erkältet“, erklärte er dann das Offensichtliche.

„Hört sich nicht gut an.“

„Tut es das je?“ Zumindest hatte er noch keinen kranken Menschen erlebt, der wie der strahlende Sonnenschein aussah – oder so klang. „Die Antwort auf die Frage, die du gleich stellen wirst, lautet also heute: nein. Ich habe keine Zeit, mich mit dir zu treffen.“

„Nicht? Was hat ein Kranker denn so Wichtiges vor?“

Sehr, sehr schwer stieß Aaron die Luft aus. Er hatte schon Kopfschmerzen und mit Darren zu reden war auf keinen Fall förderlich dafür. „Du weißt genau, was ich meine.“

„Wenn du meinst, dass fröhlicher Matratzensport keine gute Idee ist, stimme ich dir zu.“ Bei Darren im Hintergrund wurde es etwas leiser, wofür Aaron sehr dankbar war. „Das heißt aber nicht, dass du keine Zeit hast. Ist Emily bei dir?“

„Nein, warum sollte sie?“

„Sie gibt sicher eine gute Krankenschwester ab.“

Aaron nickte, obwohl das niemand sah. „Ist sie. Ich bin aber nicht totkrank und sie hat ein Kleinkind, um das sie sich kümmern muss. Sie kommt morgen vorbei.“

„Also bist du heute alleine.“

„Ja, was sehr günstig zum Schlafen ist.“

Kurz raschelte es, dann hörte er Darrens Stimme wieder. „Ich komme vorbei. Brauchst du was?“

Vor Schreck hätte Aaron fast sein Handy fallen lassen. Er starrte das Telefon an, als würde es jeden Moment anfangen zu brennen. „Ich dachte du würdest eher die Hölle betreten als meine Wohnung?“, hakte er misstrauisch nach.

„Extreme Zeiten fordern eben extreme Maßnahmen. Also: brauchst du was?“

„Meine Ruhe?“

Darren gab einen amüsierten Laut von sich. „Hast du heute schon was gegessen? Hast du was gegen den Husten da?“

„Nein und nein. Das ist aber nicht dein Problem. Ich komme wunderbar klar und wie gesagt, Emily kommt morgen.“

„Jaja. Sagst du mir deine Adresse freiwillig oder muss ich alle Buchläden der Stadt abklappern?“

Gerade bereute Aaron es, jemals erzählt zu haben, dass er über seinem Laden wohnte. Sehr sogar. Shakespeare sprang wieder auf die Couch, setzte sich neben ihn und starrte ihn schon wieder so erwartungsvoll an. Wieso war er eigentlich nur von anstrengenden Lebewesen umgeben?

„Kannst du eine Dose Katzenfutter mitbringen?“, ergab er sich schließlich seinem Schicksal. Er war zu erschöpft, um große Diskussionen zu führen, die er am Ende sowieso verlor.

„Natürlich.“

Er nannte Darren seine Adresse und seinen Nachnamen, damit er wusste, wo er klingeln musste. Was nur zur Folge hatte, dass ein leises Lachen durch den Hörer drang. „Smith? Echt jetzt?“

„Echt jetzt.“

„Aaron Smith … das hört sich gruselig amerikanisch an. Gib mir ungefähr eine halbe Stunde, dann bin ich da.“

Wieso nur klang das wie eine Drohung?

„Wir müssen unseren Umgang überdenken“, teilte er Shakespeare mit, streckte eine Hand aus und kraulte sie unterm Kind. Das Schnurren setzte sofort wieder ein. Aaron war versucht sich einfach wieder hinzulegen, zu schlafen und zu ignorieren, wenn es an der Tür klingelte, doch er blieb sitzen und machte den Fernseher an.

Es dauerte wirklich nicht länger als eine halbe Stunde, bis seine Schelle die Ruhe schrill unterbrach. Shakespeare rannte wie immer sofort ins Schlafzimmer. Aaron blieb diese Option der Flucht leider nicht.

Als er die Tür aufmachte und Darren wie das blühende Leben vor ihm stand, fühlte er sich gleich noch ein wenig miserabler. Kälte haftete an ihm, die Aaron unangenehm schaudern ließ, aber selbst jetzt war er für einen Moment stark versucht, seine Hände auszustrecken, um Darren zu berühren. Einfach nur so.

Das war nicht gut.

„Okay, du siehst auch beschissen aus“, holte der Mistkerl ihn mit einem Schlag nicht gerade sehr freundlich wieder ins Hier und Jetzt.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen.“

Das Grinsen auf Darrens Gesicht war irgendwie nicht gut für seine Nerven. Aaron machte ihm Platz, schloss die Tür und ließ sich sofort wieder auf die Couch fallen. Darren hingegen schritt langsamer in die Wohnung, stellte die beiden Tüten in seinen Händen auf dem Wohnzimmertisch ab und sah sich aufmerksam um.

„Genau so habe ich mir das vorgestellt“, fiel nach ein paar Sekunden sein Urteil.

Aaron sah sich selbst einmal um und versuchte seine Wohnung durch die Augen eines Fremden zu betrachten. Es war kein sehr beeindruckendes Bild. Das Wohnzimmer war nicht groß, genauso wie sein Arbeitszimmer oder sein Schlafzimmer. An der Wand stand ein riesiges Bücherregal aus Eiche. Neben dem Kratzbaum an der gegenüberliegenden Seite stand der Wohnzimmerschrank, auf dem ein paar Fotos aufgereiht waren. Von seinen Eltern, von seinen Großeltern, von Emily und seit neustem auch von Martha. Ansonsten gab es hier nur die Couch, den Tisch und den Fernseher. Sonderlich gut aufgeräumt war es auch nicht, wie er zugeben musste. Auf dem Boden lagen zusammengeknüllte Blätter Papier, mit denen Shakespeare liebend gerne spielte, über der Couch hing ein Pulli, der eigentlich in die Wäsche müsste, und in der Ecke wurden zwei Stapel Bücher immer größer und größer. Für einen Außenstehenden musste das ziemlich langweilig wirken.

„Es ist nichts Besonderes“, fiel dementsprechend sein Kommentar dazu aus.

„Vielleicht nicht, aber es wirkt heimisch.“ Darren lächelte, bevor er zum Wohnzimmerschrank hinüberging. Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und beugte sich so weit nach vorne, dass seine Nasenspitze fast die Bilder berührte. „Das muss Emily sein“, sprach er seine Gedanken laut aus. „Krass, ihr seht euch echt ähnlich.“

„Wir sind Zwillinge“, erinnerte er Darren an eben diese Tatsache. Sie hatten dieselben blau-grauen Augen, dieselbe natürliche Blässe, dieselben schwarzen Haare, dieselben Gesichtszüge. Nur sah Emily aus wie ein modernes Schneewittchen, wohingegen Aaron total unscheinbar wirkte. Er war nicht mager, aber auch nicht muskulös genug, um wirklich attraktiv zu wirken – schon gar nicht neben jemanden wie Darren –, er trug eine langweilig normale Kurzhaarfrisur und langweilig normale Kleidung, die ihn auf der Straße fast unsichtbar machten.

„Ich weiß“, lenkte Darren ein. „Es ist trotzdem krass.“ Er beugte sich noch ein Stück nach vorne. „Mann, ihr Lächeln ist echt umwerfend. Ihre Augenfarbe auch. Das ist cool.“

Aaron zuckte mit den Schultern. Er wusste beim besten Willen nicht, was er dazu sagen sollte.

Darren beendete seine Erkundungstour aber auch schneller als erwartet, zog seine Jacke aus und setzte sich neben ihn auf die Couch. Er zog die Tüten zu sich und fing an, viel zu viele Dinge auszupacken. Kleine Päckchen aus der Apotheke, ein kleines, mysteriöses Tütchen, das ein würziges Aroma ausstrahlte, eine Schüssel Suppe von einem Chinarestaurant und definitiv mehr als eine Dose Katzenfutter.

Aaron starrte die Sachen irritiert an. „Du übertreibst in allen Dingen, oder?“

„Was du nicht brauchst, kannst du später immer noch wegpacken. Hier, iss.“ Er schob ihm die Suppe rüber und griff nach dem duftenden Tütchen. „Wenn du mir verrätst, wo deine Küche ist, mache ich dir einen Tee.“

„Das ist Tee?“, hakte er verblüfft nach.

Darren nickte. „Ich war letztes Jahr beruflich in Richmond, Indiana.“

„Haben die in Richmond keine eigenen Bauarbeiter?“

„Da gibt es diesen Zigeuner-Laden“, überging Darren den Kommentar komplett. „Richtig klischeehaft. Mit Talismanen, selbstgemachten Schmuck und eine Menge verschiedener Kräutern. Wenn du da reinkommst, riechst du sofort die Räucherstäbchen. Ich glaube eigentlich nicht an so spirituellen Humbug und Naturheilkunde. Meiner Meinung nach ist die gute, alte Chemie effektiver.“

„Warum bist du dann reingegangen?“, erkundigte Aaron sich, während er den Deckel der Suppe öffnete. Es roch scharf und obwohl er bis eben keinen Hunger gehabt hatte, rumorte sein Magen jetzt.

„Keine Ahnung. Ich war gut drauf und dachte mir 'warum nicht?'. Ich bereue es auch nicht. Die Verkäuferin war eine junge Roma. Genauso klischeehaft gekleidet wie der ganze Laden dekoriert war. Ihr Akzent klang echt und sie hat an den ganzen Kram geglaubt. Süßes Ding, mit einem tollen Lächeln. Ähnlich wie bei Emily. Sie hat mit so einer Begeisterung gesprochen, dass ich mit einer vollen Tüte da raus bin.“ Darren lachte leise. „Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob sie einfach eine verdammt gute Verkäuferin war oder einen Voodoo-Fluch über mich gelegt hat.“ Er zwinkerte ihm zu und Aaron musste selbst ein wenig lächeln. „Daher habe ich diesen Kräutertee. Er hilft erstaunlich gut, lindert jeden Reizhusten im Handumdrehen. Das habe ich auch von dort.“ Er hob seinen rechten Arm und deutete auf das geflochtene Lederarmband, das er immer am Handgelenk trug.

„Klingt nach einem guten Geschäft“, schmunzelte Aaron, bevor ihm der nächsten Husten packte.

„Finde ich auch.“ Darren stand auf. „Küche?“

Aaron zeigte ihm die Richtung und wenige Momente später hörte er geschäftiges Treiben aus dem anderen Raum. Es machte ihn nervös, ausgerechnet Darren dort zu wissen. Ein Punkt mehr auf die Liste der Dinge, die verwirrend an diesem Mann waren. Nur hatte Aaron gerade absolut keine Energie, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

„Was kriegst du von mir?“, wollte er lieber wissen.

„Wofür?“ Darrens Stimme klang aus dem Nebenraum ein wenig dumpf.

„Na, für die ganzen Sachen.“ Aaron griff nach einem Päckchen Aspirin, von dem er sich gleich eine Tablette nahm.

„Keine Ahnung“, kam schließlich die nicht sehr hilfreiche Antwort. „Ist schon okay so.“

Wie konnte man nicht wissen, wie viel man vor nicht einmal einer halben Stunde für etwas bezahlt hatte? Aaron starrte seine halb offene Küchentür fassungslos an und wollte einfach aus Prinzip seinen Willen durchsetzen, doch auch in diesem Fall fehlte ihm dazu einfach die Energie.

Nach zwei Minuten kam Darren wieder, legte ihm einen Löffel für die Suppe hin und stellte eine dampfende Tasse auf dem Tisch ab. „Danke.“ Aaron sah lächelnd zu ihm hoch. „Für alles. Das ist wirklich nett von dir.“

„Es gibt mir zu denken, dass du überrascht klingst.“ Darren verschränkte die Arme vor der Brust und sah sich suchend im Raum um. „Hast du nicht eine Katze?“

„Ja, aber der Feigling versteckt sich immer im Schlafzimmer, wenn es an der Tür schellt. Sie kommt wieder, wenn sie nachher hört, wie ich die Dose öffne.“

Darren grinste. Viel zu breit und viel zu lauernd. Er verschwand wieder kurz in der Küche und kam mit einem kleinen Löffel und Shakespeares Futternapf wieder, den er neben die Couch auf den Boden stellte. Dann griff er nach einer der Dosen und öffnete sie extra laut.

Wie erwartet kam Shakespeare sofort aus dem Schlafzimmer geschossen. Als sie Darren sah, bremste sie jedoch ab, schlitterte noch ein Stück über den Teppich und hockte sich in Kauer-Stellung auf den Boden. Als wäre sie jederzeit zum Angriff bereit. Aaron hätte fast gelacht. Diese Katze erschrak sich vor ihrem eigenen Schatten.

„Na, hast du Hunger?“, fing Darren amüsanterweise ein Gespräch an.

Shakespeare zuckte aufmerksam mit den Ohren.

„Ich hab hier was für dich.“ Er rührte mit dem Löffel in der Dose. „Du musst nur herkommen.“

Ein wenig hob Shakespeare den Kopf, schnüffelte in der Luft, doch sie blieb genau wo sie war und ließ Darren für keine Sekunde aus den Augen.

„Das kann dauern“, prophezeite Aaron. Er probierte die heiße Suppe, verbrannte sich dabei fast die Zunge, aber das war es wert. Es schmeckte wirklich gut. „Emily hat ein paar Wochen und viele Scheiben Wurst gebraucht, um sie zu bestechen. Jetzt ist sie ihr Liebling. Sobald Emily einen Fuß in die Wohnung setzt, schleicht Shakespeare ihr um die Beine.“

„Shakespeare? Der hat dich wirklich Shakespeare genannt?“, erkundigte Darren sich bei der Katze und schnalzte mit der Zunge. „Bei dem Namen wäre ich auch mies drauf.“

„Shakespeare war ein großer Schriftsteller“, verteidigte Aaron sich schmollend.

„Ist sie nicht ein Weibchen?“ Er wartete das knappe Nicken ab, bevor er einen empörten Laut von sich gab. „Kein Wunder hasst sie die Welt. Ich wäre auch angepisst, wenn ich einen Mädchennamen hätte.“

„Sie ist eine Katze. Sie braucht keinen Grund, um die Welt zu hassen.“

„Das ist Rufmord.“ Darren schien seinen Lockplan über Bord zu werfen. Er füllte den Napf bis zur Hälfte und schob ihn vorsichtig in Shakespeares Richtung. Die Katze kroch ein paar Schritte zurück, aber sobald Darren aufstand und sich wieder zu ihm auf die Couch setzte, hörte man es im Raum schmatzen.

„Wie ist die Suppe?“, erkundigte Darren sich derweil, während er seine Schuhe auszog.

„Sehr gut, danke.“

„Und der Tee?“

Aaron griff nach der Tasse und nahm einen Schluck. Er verzog sofort das Gesicht und hustete. Diesmal nicht, weil sein Hals kratzte. „Oh Gott, das ist fürchterlich.“

Womit er Darren sicher nichts Neues erzählte. Der grinste zufrieden und nickte. „Ich weiß, aber es hilft.“ Er schnappte sich die Fernbedienung und ließ sich nach hinten fallen. Wie bei allem, was er tat, sah er auch jetzt so aus, als würde er schon immer genau dort hin gehören. Aaron fand das stets aufs Neue faszinierend.

„Hast du nichts Besseres zu tun?“, musste er aber einfach nachhaken. Es kam ihm so seltsam vor. Darren hatte ihm nie das Gefühl gegeben, ihn nur wegen dem Sex sehen zu wollen, aber das hier war … anders. Es fühlte sich komisch an, mit Darren in seiner Wohnung zu sitzen.

„Ich bin ein Gewohnheitstier“, kam eine nicht gerade hilfreiche Erklärung. „Ich bin es gewohnt, dich mindestens einmal die Woche zu sehen. Das kannst du mir nicht einfach wegnehmen.“

Aaron verkniff sich einen entsprechenden Kommentar. Irgendwie glaubte er das ja nicht ganz, aber machte das an diesem Punkt noch einen Unterschied? Eher weniger.

In den nächsten Minuten zappte Darren sich durch die Fernsehkanäle, während Aaron seine Suppe aß und tapfer den Tee trank. Nachdem die Schüssel zur Hälfte leer war, rebellierte sein Magen gegen so viel Nahrung. Also gab er auf, ließ sich ebenfalls nach hinten fallen und zog sich die Decke über den Schoß.

„Hast du dir schon deine Frage für heute überlegt?“ Darren sah ihn nicht an, sondern las konzentriert die Frage einer Quizsendung, die er gerade eingeschaltet hatte.

„Nein. Keine Ahnung.“ Sein Hirn war viel zu vernebelt für kreatives Denken. Darum entschied er sich nach einer Weile für eine recht banale Frage, die ihm fair und einfach vorkam. „Wie lautet dein Nachname?“

Darren neben ihm verspannte sich so schnell, dass Aaron sich ein wenig erschreckte. Das Gehäuse der Fernbedienung knackste leise, so hart ballte er seine Hand zur Faust. „Joker“, presste er mit dunkler Stimme raus.

Völlig verwirrt sah Aaron den anderen Mann an. „Was?“

„Ich ziehe meinen Joker. Die Frage beantworte ich dir nicht.“

„Ja, aber ...“ Er blinzelte irritiert. „Dafür willst du deinen Joker benutzen? Du hast nur den einen.“

„Ich weiß.“

„Aber -“

„Aaron, nein.“ Sein Blick verfinsterte sich und man konnte sehen, wie die Schultern sich vor Anspannung deutlich nach oben zogen. Aaron merkte, wie dämlich er starrte, aber ernsthaft: was zur Hölle? Er hatte sich nicht nach den Bauplänen einer Atombombe erkundigt, sondern nur nach seinem Nachnamen. Das war doch keine große Sache! Darren kannte seinen doch jetzt auch.

Nach ein paar sehr angespannten Sekunden schloss Aaron seinen Mund wieder. „Okay“, nahm er das Ganze einfach hin. Was sollte er auch sonst machen? Regeln waren Regeln. Es wäre nicht fair, weiter zu drängen, auch wenn er gerade ein wenig vor Neugierde platzte.

Darren entspannte sich nicht so schnell wie erhofft. Nur langsam nahm er wieder eine normale Körperhaltung ein, was Aaron beruhigender fand als er sollte. Aaron zog die Beine auf die Couch, legte sich die Decke bis unters Kinn und richtete seinen Blick auf den Fernseher. „Ich sage Antwort A.“

Diesmal war es Darren, der ihn irritiert ansah. Das war ein witziger Anblick. Er hielt aber nicht lange, dann lächelte er wieder und nickte. „Würde ich auch sagen.“

Shakespeare trampelte durch die Wohnung, sprang dafür aber fast schon grazil auf den Kratzbaum und kämpfte sich bis auf die oberste Plattform. Dort ließ sie sich auf alle Viere nieder und lauerte vermutlich darauf, dass Darren verschwand und sie sich gefahrlos wieder auf Aaron legen konnte.

Sie musste ziemlich lange warten.  

Kapitel 5

 „Also, erzähl. Was gibt es Neues bei deiner Schwester und ihren beiden Verehren?“ Darren lief neben ihm, sah ihn mit diesem gewissen, neugierigen Blick und dem leicht schiefen Lächeln an, das Aaron immer mehr in Schwierigkeiten brachte.

Heute waren sie nach dem Motel im Park gelandet. Der erste Schnee dieses Jahr war am Mittag gefallen und anscheinend war das für Darren Grund genug, einen ausführlichen Spaziergang zu unternehmen. Aaron störte sich nicht dran. Genau genommen gefiel es ihm sogar. Es war früher Abend, also schon lange dunkel. Der Schein der Straßenlaternen spiegelte sich im Weiß des Schnees und bis auf ein paar Passanten, die trotz des Wetters mit ihrem Hund spazieren waren, traf man kaum auf Leute. Es war ruhig, drei Wochen vor Weihnachten fast schon besinnlich und angenehm. Aaron fühlte sich wohl.

Genau das war das Problem. Je mehr Zeit er mit Darren verbrachte, je wohler fühlte er sich. Der Sex fühlte sich besser, intensiver an, obwohl es genau derselbe wie am Anfang war. Wenn sein Telefon klingelte, verdrehte er nicht mehr genervt die Augen, sondern lächelte gegen seinen Willen. Wenn Darren ihn küsste, raste sein Puls. Wenn Darren ihn so ansah wie jetzt, schrie alles in ihm danach, die Hand auszustrecken, um ihn einfach nur anzufassen. Aarons Finger zuckten, doch wie immer tat er es nicht.

Natürlich wusste er, was das hieß. Er fing an mehr in diese Affäre zu investieren als Darren. Aaron wusste auch, wie das enden würde. Es war abzusehen und glasklar. Er würde verlieren, Darren würde mit einem Schulterzucken weitermachen und innerhalb kürzester Zeit führten sie alle wieder dasselbe Leben wie vor wenigen Monaten auch. Bisher war es jedoch noch nicht kritisch, weswegen er nicht bereit war, es zu beenden.

„Martha hatte Geburtstag“, antwortete er deswegen auf die Frage. Aaron schob die Hände tiefer in die Taschen seines Mantels und beobachtete sich selbst dabei, wie seine Füße Spuren im Schnee hinterließen.

„Oh, lass mich raten! Will hat die Party gesprengt!“

„Überraschenderweise nicht, nein.“

„Schade.“ Darren grinste, als er Aarons vorwurfsvollen Blick sah. „Also, gut für Martha und Emilys Nerven, wie ich annehme, aber ich bin sicher, dann hättest du jetzt eine spannende Story zu berichten.“

„Das Leben meiner Schwester ist keine Seifenoper zu deiner Unterhaltung.“

„So meinte ich das auch nicht. Aber komm schon.“ Er stupste ihm mit dem Ellenbogen gegen den Arm und gegen seinen Willen musste Aaron ein wenig lächeln. „Gönn einem alten Mann ein paar Freuden im Leben. Gab es also keinen Hahnenkampf zwischen Ryan und Will?“

„Die beiden haben sich nicht gesehen. Gott sei Dank. Will ist erst nach der Feier gekommen, als alle Leute schon weg waren. Inklusive seiner Mutter. Ich glaube, Emily ist ihm sehr dankbar dafür und gleichzeitig ein wenig enttäuscht.“

Darren schnaubte und fing an in seiner Jackentasche zu wühlen. „Familie ist kompliziert. Wenn Will seinen Eltern aus dem Weg geht, hat er sicher gute Gründe dafür.“

„Vermutlich“, stimmte Aaron zu. Die ganze Hintergrundgeschichte zu dem Thema kannte er nicht und es ging ihn auch nichts an.

„Also“, machte Darren jedoch weiter. „Will ist zum Geburtstag seiner Tochter aufgekreuzt. Das dürfte Pluspunkte bei dem Mädchen geben und Ryan ordentlich angepisst haben. Ich würde sagen, meine Wettchancen stehen gut.“

„Du wettest mit dir selbst“, erinnerte Aaron ihn an dieses nicht unwichtige Detail.

„Wette ist Wette.“ Darren zuckte mit den Schultern und holte eine Packung Zigaretten aus seiner Tasche. Überrascht hob Aaron beide Augenbrauen. Er hatte Darren noch nie rauchen gesehen. „Gelegenheitsraucher“, schien Darren seinen Gedanken zu lesen, bevor er sich die Zigarette zwischen die Lippen schob. „Lästiges Laster, aber ich kann es nicht ganz abstellen. Nur minimieren.“

„Rauchst du bei Stress?“

„Oft, ja.“

Verwirrt runzelte Aaron die Stirn. „Stresse ich dich?“

Der Blick, den Darren ihm zuwarf, war überraschend intensiv und lang. „Manchmal“, gab er zu – und Aaron wusste absolut nicht, was er damit anfangen sollte.

„Meinst du, er wird Weihnachten aufkreuzen?“, wechselte Darren zum Glück das Thema.

„Will? Keine Ahnung.“

„Ich schätze, er wird kommen.“

„So? Wie kommst du darauf? Will kommt mir nicht wie der traditionelle Typ vor. Es würde mich nicht wundern, wenn er Weihnachten einfach aus Prinzip hasst.“

„Kann sein“, stimmte Darren zu, schmunzelte dabei aber deutlich. „Er ist aber nicht dumm und weiß, dass es Emily viel bedeuten würde und Martha vermutlich auch, obwohl sie noch so klein ist. Familie lässt einen verrückte Dinge tun.“

Aaron seufzte leise und zog die Schultern nach oben, als ein kalter Wind an ihnen vorbei zog. „Was ist mit dir?“, wollte er nebenbei von Darren wissen. „Verbringst du Weihnachten bei deiner Familie?“

„Alle drei Tage, ja.“ Darren stieß kräftig den Rauch aus und sah ihm dabei zu, wie er in der Luft verschwand. „Tag Eins treffen sich alle zum Essen bei meinen Eltern. Tag Zwei gibt es Essen bei meiner Schwester und ihrer Familie und am dritten Tag gehen wir auswärts essen. Jedes Jahr dasselbe. Man kann die Uhr danach stellen.“

„Klingt so, als bräuchtest du danach eine Diät.“

Darren lachte überrascht auf und nickte. „Das denke ich mir auch jedes Jahr! Mal gucken, wie es diesmal wird. Fifty-Fifty-Chance, dass wir die Zeit ohne eine mittelschwere Familienkrise überstehen. Aber ich freue mich darauf, meine Nichte und Neffen wiederzusehen. Einer muss die beiden ja daran erinnern, was Spaß bedeutet.“

Aaron warf dem anderen Mann einen überraschten Blick zu. „Du bist Onkel?“

„Japs. Meine Schwester ist älter als ich. Totale Karrierefrau, aber sie wollte trotzdem Kinder. Oder meine Eltern wollten, dass sie welche bekommt. Um den Familiennamen fortzuführen und so was.“ Er zuckte mit den Schultern. „Bei mir sind sie damit aus offensichtlichen Gründen an der falschen Adresse und mein jüngerer Bruder … nun, sagen wir mal, er genießt das Junggesellenleben in ganzen Zügen. Wenn er eine Frau schwängert, dann eher aus Versehen.“

„Hmpf“, war irgendwie Alles, was Aaron dazu einfallen wollte. „Und wieso musst du Kinder daran erinnern, was Spaß ist?“

Darren grinste und schnippste den Zigarettenstummel in den Schnee. „Meine Schwester und ihr Mann sind das Paradebeispiel von Spießern. Versteh mich nicht falsch, ich liebe diese Frau und Freddy ist eigentlich auch ganz okay. Es sind gute Menschen. Allerdings steckt der Stock bei ihnen so tief im Arsch, dass da auch kein chirugischer Eingriff mehr hilft. Also muss der coole Onkel ab und an vorbeikommen und die beiden Kleinen daran erinnern, dass es noch mehr im Leben gibt als Hausaufgaben und irgendwelche Clubs.“ Er zwinkerte Aaron zu und in diesem Moment hatte er absolut keine Probleme dabei sich vorzustellen, wie Darren das Haus seiner Schwester betrat und die Kinder sofort an ihm hingen.

„Du bist ja so ein Held“, kommentierte er das Ganze jedoch nur recht trocken.

„Nicht wahr?“ Darren lachte fröhlich auf. „Wir haben unsere Fragen heute noch gar nicht gestellt.“

„Stimmt“, gab Aaron ihm da Recht. „Leg los.“

„Was hast du dir auf dem Bierdeckel notiert?“

Abrupt blieb Aaron stehen. Er merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg und hasste sich selbst dafür. Vor allem weil Darren sofort Lunte roch und sich neugierig zu ihm beugte. „Joker?“

„Nein.“ Aaron seufzte sehr schwer, fing wieder an zu laufen, aber wich Darrens Blick aus. „Es waren Ideen für eine Geschichte.“

„Du schreibst?“

„Mhm. Ab und an.“

„Hobbymäßig oder so richtig? Also mit Verlag und so?“

Unruhig rollte Aaron mit den Schultern. Er mochte es nicht darüber zu reden. Das war so ... intim. „Ich habe zwei 'richtige' Bücher rausgebracht, wenn du das meinst. Die meiste Zeit schreibe ich aber einfach nur für mich.“

„Das ist ziemlich cool. Was denn so?“ Darren klang ruhig und ernst. Kein bisschen so, als würde er sich über ihn lustig machen.

„Alles, was mir in den Sinn kommt“, antwortete Aaron deswegen wahrheitsgemäß. „Einfach Gedanken oder irgendeine Geschichte. Das meiste ergibt nicht einmal wirklich Sinn.“

„Das glaube ich nicht. Wie heißen deine Bücher?“

„Vergiss es!“ Aaron schnaubte protestierend und hob abwehrend die Hände. „Auf keinen Fall! Du hattest deine Frage!“

„Ach, komm schon!“

„Nein!“

„Du weißt, dass ich einfach das nächste Mal danach fragen kann.“

Natürlich wusste er das! Das war ihm für heute aber total egal. „Dann frag nächste Mal“, blieb er stur. Das war ihm so unangenehm und Darren wusste das ganz genau!

Alleine das leise Lachen, das neben ihm ertönte, verriet ihn. „Du bist so süß, wenn du dich zierst“, bemerkte Darren in einem überraschend sanften Ton – und tat es etwas total Irres. Er beugte sich zu ihm und wollte ihn küssen. Aaron erschreckte sich förmlich und wich sofort einen Schritt zu Seite.

War er verrückt geworden? „Lass das!“

Verwirrt hob Darren den Blick. „Was?“

„Na … das!“ Aaron machte eine Geste, die alles und nichts heißen konnte. Zugegebenermaßen nicht sehr hilfreich, aber ernsthaft! Was sollte das denn?

Einen Moment konnte man es richtig in Darrens Oberstübchen rattern sehen. Dann fielen die Puzzleteilchen wohl zusammen. Er nahm wieder eine gerade Haltung ein und warf ihm einen sehr merkwürdigen Blick zu. „Okay, liegt es an mir im Besonderen oder daran, dass ich ein Mann bin?“

„Das hat nichts mit dir zu tun“, machte Aaron murmelnd klar. Wie schaffte der Mann es eigentlich immer, dass er sich von einer Sekunde auf die nächste so unwohl fühlte?

„Also bist du der Meinung, dass es für zwei Männer nicht okay ist, wenn sie sich küssen?“

„Was? Doch, natürlich! Es geht nur niemanden etwas an.“

„Du schämst dich.“

„Tu ich nicht.“

Wieder dieser merkwürdige Blick. Dann zuckte Darren mit den Schultern und schwieg auffällig.

„Bist du jetzt sauer?“, hakte Aaron vorsichtig nach, auch wenn er ein wenig Angst vor der Antwort hatte.

Doch Darren schüttelte den Kopf. „Warum sollte ich? Das hat ja nichts mit mir zu tun. Dem einzigen Menschen, den du verleugnest und den du damit verletzt, bist du selbst.“

Aaron öffnete den Mund, starrte Darren recht unintelligent an und … fühlte sich mit einem Mal ziemlich miserabel. Er hatte Recht. Darren wusste das. Aaron wusste das. Es änderte nur nichts. Was nicht bedeutete, dass es nicht verdammt wehtat, diese Wahrheit zu hören.

„Du weiß nicht, wie das ist“, versuchte er sich wenigstens ein bisschen zu rechtfertigen. „Du warst schon erwachsen, als du rausgefunden hast, dass du … nicht 'normal' bist.“

„Wenn 'normal' sein“, er machte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, „bedeutet, sich selbst und alle anderen anzulügen, dann will ich es auch gar nicht sein.“

Aaron gab ein missmutiges Geräusch von sich. „Du weißt genau, was ich meine. Die Erfahrung hat mir einfach gezeigt, dass es den Ärger nicht wert ist.“

„Aha.“ Man musste Darren nicht kennen, um zu sehen, dass er noch mehr zu dem Thema zu sagen hatte. Doch er ließ es, wofür Aaron ihm wirklich dankbar war. „Du bist dran“, lenkte er stattdessen wie so oft auf ein anderes Thema.

Ein wenig überrumpelt davon schwieg Aaron zwei Minuten, während er darüber nachdachte. Eine Frage für Darren zu finden war schwer. Als wenn man ein Minenfeld betreten würde. Bei den Themen, von denen Aaron instinktiv ausging, man sollte sie besser meiden, war er offen wie ein Buch. Bei banalen Dingen wie seinen Nachnamen, versteifte er sich sofort, schmiss ihm irgendwelche Halbwahrheiten hin oder wechselte so schnell das Thema, das Aaron es erst viel später mitbekam. Das letzte Mal hatte er Darren nach seinen Hobbys gefragt. Eine normale, harmlose Frage. Dachte Aaron zumindest. Es endete damit, dass Darren mit irgendwelchen Floskeln geantwortet hatte, die ihn kein bisschen weiterbrachten. Aaron wurde da einfach nicht schlau draus.

„Erzähl mir von deinen Freunden“, entschied er sich schließlich für etwas. Darren sprach problemlos von seiner Familie, also vielleicht betraten sie hier sicheres Gebiet.

„Wieso gehst du davon aus, dass ich welche habe?“, hakte Darren zwar nach, doch er klang amüsiert dabei und blieb entspannt.

„Du bist ein geselliger Typ.“

„Ja und nein. Ich kenne viele Menschen, aber ich habe nicht viele Freunde. Genau genommen nur zwei.“

„Dann erzähl mir von ihnen.“

„Na gut.“ Darren lächelte zufrieden. „Da gibt es Michael. Ich habe ihn kurz nach meiner Schulzeit kennengelernt und irgendwie sind wir aufeinander hängen geblieben. Er ist ein rauer Zeitgenosse. Laut und direkt. Der Typ, mit dem man wunderbar ein Bier trinken kann und am Ende des Abends mit Muskelkater im Gesicht nach Hause geht, weil man so viel gelacht hat. Er ist manchmal ein wenig plump, aber sehr gerissen. Einer der schlausten Menschen, die ich kenne. Wobei du ihm da ziemliche Konkurrenz machst.“ Sein Lächeln wurde tiefer und Aaron spürte viel zu schnell, wie ihm wieder unangebracht warm wurde.

„Und der andere?“

„Stacey. Ihre Familie und meine sind seit Ewigkeiten befreundet. Sie ist ein Jahr jünger als ich, aber wir sind zusammen aufgewachsen. Von klein auf. Ich glaube unsere Familien hätten es gerne gesehen, wenn wie geheiratet hätten. Romeo und Julia, nur ohne den ganzen Hass dazwischen.“ Darren lachte kurz auf. „Ich bin sicher, diese Ehe hätte ich nicht überlebt!“

„Weil sie eine Frau ist?“, hakte Aaron verwirrt nach.

„Oh, nein. Sie ist eine klasse Frau, aber sehr … speziell. Sehr selbstbewusst. Sie weiß immer, was sie will und wie sie es bekommt. Sie ist verwöhnt und wenn du sie siehst, ist das erste Wort in deinem Kopf 'Tussi'. Aber eigentlich ist sie ziemlich cool. Sie ist verheiratet mit einem Typen, der meiner Meinung nach Eier aus Stahl haben muss, und hat drei wunderbare Kinder. Löwenmutter wie aus dem Bilderbuch. So war sie schon immer. Ich erinner mich noch gut daran, dass sie schon als Kind die schicksten Kleider anhatte. Ständig. Jedes Mal, wenn sie bei uns zu Besuch war, stand sie da wie eine Prinzessin. Kein Haar auf ihrem Kopf war nicht dort, wo es hingehörte, das perfekteste, süßeste Mädchen-Lächeln im Gesicht, das du dir vorstellen kannst. Jeder Erwachsene hat sie geliebt. Was es leicht für uns gemacht hat, die Äpfel vom Nachbarsgarten zu klauen oder uns nachts rauszuschleißen, um auf selbsterklärte Abenteuer aufzubrechen. Stacey ist der Inbegriff einer verwöhnten Prinzessin, aber sie hat keine Probleme damit, sich die Hände schmutzig zu machen, wenn die Situation es verlangt. Sie ist großartig.“

Aaron lächelte darüber. Weniger wegen der Erzählung, sondern wegen den warmen Tonfall, den Darren anschlug. „Das klingt nach einer interessanten Person.“

„Und wie. Wir sollten sie und Will mal in einen Raum stecken. Das gibt eine Explosion, die keiner übersteht.“ Darren grinste und klang so, als würde ihm der Gedanke wirklich gefallen.

„Besser nicht“, tat Aaron das sehr trocken ab.

„Und darum bist du der Schlaue von uns.“

Aaron gab ein humorloses Lachen von sich. „Manchmal frage ich mich, ob wir beide in derselben Welt unterwegs sind.“

„Das frage ich mich öfter.“ Wieder lehnte sich Darren zu ihm, doch diesmal machte er keine Anstalten ihn zu küssen. Dafür sah er ihn viel zu intensiv in die Augen. „Aber es gefällt mir hier bei dir.“

Peinlich berührt murmelte Aaron irgendwas Unverständliches vor sich her, während er nicht zum ersten Mal dachte, dass er wirklich, wirklich in Schwierigkeiten war.  

Kapitel 6

 Aaron saß auf seiner Couch, kraulte mit der einen Hand Shakespeare auf seinem Schoß und mit der anderen schwenkte er das Weinglas. Seit einer gefühlten Ewigkeit tat er nichts anderes. Sah man einmal davon ab, dass er sein Handy auf dem Tisch so intensiv anstarrte, dass es schon ein Loch haben müsste.

Er fühlte sich komisch. Schon seit Tagen. Je mehr er darüber nachdachte, je klarer wurde ihm auch, woran das lag: an seinem persönlichen Untergang namens Darren.

Aaron wusste einfach nicht, was er mit diesem Mann machen sollte.

Sie hatten sich jetzt seit etwas über zwei Wochen nicht gesehen. Das war die längste Zeit, seit er Darren kannte, und es war komisch, wenn auch verständlich. Zur Weihnachtszeit war in seinem Laden immer viel los – Gott sei Dank. Da hatte er einiges um die Ohren, arbeitete viel und lange und musste nebenbei noch irgendwie die Inventur und den Jahresabschluss stemmen. Das war jedes Jahr aufs neue nervenaufreibend. Es lag aber nicht nur an ihm. Darren schien selbst keine Zeit zu haben. Die Begründung dafür lautete Familie – woran Aaron wegen der Weihnachtszeit auch gar nicht zweifelte – und ebenfalls beruflicher Stress. Dieser Punkt stieß ihm etwas sauer auf. Es war nicht direkt so, dass er Darren nicht glaubte, aber auch auf die Gefahr hin hier ein wenig arrogant zu klingen: was sollte für einen Bauarbeiter denn im Winter stressiger sein als im Herbst? Aaron war nun wirklich nicht vom Fach, aber jeder wusste, dass die meisten Bauarbeiter im Winter wenig zu tun hatten, weil die Temperaturen und gerade der Bodenfrost die Arbeit verhinderten. Es konnte natürlich auch sein, dass Darren schon wieder in den nächsten Job gesprungen war. Seiner Aussage nach wechselte er ja öfter den Arbeitsplatz aber das war auch wieder so eine Sache. Welcher normale Mensch konnte es sich leisten, fröhlich durch die Jobs zu springen? Das machte alles überhaupt keinen Sinn.

Es gab so viele Dinge, die an Darren keinen Sinn machten! Solche Aussagen über seinen Job zum Beispiel. Dann die Tatsache, dass er bei den simpelsten Fragen so tat als wenn man ihm sonst was abverlangen würde, dafür aber manchmal so plötzlich so intime Dinge von sich erzählte, dass man sich ein wenig überrollt fühlte. Es war wirklich nicht so, dass er Darren Lügen unterstellen würde. Es war viel gerissener. Darren besaß ein Talent dafür, einem Halbwahrheiten zu servieren, um den Brei herum zu reden oder subtil das Thema zu wechseln, dass man erst viel später merkte, was da gerade passiert war. Es fiel ihm so leicht als würde er das schon seit Jahren machen und was bitte sollte Aaron damit anfangen?

Es war anstrengend und er wurde müde.

Das wirkliche Problem lag darin, dass er Darren trotz allem mochte. Aaron fühlte sich wohl bei dem Mann, doch je mehr Zeit sie miteinander verbrachten, je deutlicher spürte er diese gewisse Distanz. Manchmal fühlte Darren sich so nah an, als würden sie sich schon Jahre kennen und dann gab es Momente, in denen Aaron sich fragte, wer der Mann neben ihm überhaupt war. Diese Mauer zwischen ihnen war dünn und durchsichtig, doch sie war da und nicht zu überwinden. Inzwischen war er an dem Punkt angekommen, wo er sich fragte, ob es die Mühe wert oder es Zeit war, die Notbremse zu ziehen.

Eigentlich kannte Aaron die Antwort. Nicht nur sein Verstand sagte ihm, dass es eine dumme Idee war, sich weiter auf Darren einzulassen. Er hatte diesen schweren Klumpen tief in seiner Brust, der jedes Mal schwerer und schwerer wurde, wenn er merkte, wie Darren ihm auswich. Irgendwann würde es ihn runterziehen. Aaron war nicht bereit das zuzulassen. Warum sollte er auch? Bis zu diesem Punkt war es spaßig gewesen. Für sie beide. Es genau jetzt zu beenden, wo es anfing ins Negative zu schwanken, war die beste Entscheidung, die man treffen konnte. Aaron wusste das. Er war auch überzeugt davon. Er konnte sich nur nicht dazu bewegen, Darren anzurufen und ihm diese Entscheidung mitzuteilen.

„Ist es grausam, an Weihnachten mit jemanden Schluss zu machen?“, erkundigt er sich bei Shakespeare. Sie zuckte nicht einmal mit dem Schnurrhaar. Aaron seufzte. „Es ist ja kein richtiges Schlussmachen“, erzählte er der Katze ungerührt weiter. „Dafür müsste man zusammen sein, was wir nicht sind. Außerdem gibt es wohl keinen guten Zeitpunkt für so etwas, oder?“ Er sah Shakespeare fragend an … und bekam nichts als Schweigen.

„Du bist nicht hilfreich“, beschwerte Aaron sich, während er seine Finger tiefer in das weiche Fell grub und einen großen Schluck vom Wein nahm. Er stellte das Glas auf dem Tisch ab und griff stattdessen nach seinem Handy.

Er wusste nicht, wie lange er den schwarzen Display anstarrte. Dann schellt es plötzlich an der Tür und er zuckte vor Schreck zusammen. Shakespeare sprang so schnell von seinem Schoß und rannte schlitternd ins Schlafzimmer, dass er gerade noch ihren Schwanz sah. Aaron blieb sitzen und blinzelte irritiert, während sein Herz von dem unerwarteten Adrenalinschub anfing zu hämmern.

Es schellte wieder und diesmal kam Bewegung in seinen Körper. Verwirrt und neugierig lief er in den Flur. Ganz sicher erwartete er keinen Besuch und Emily war es auch nicht. Sie schellte einmal, wenn er dann nicht öffnete, benutzte sie ihren Schlüssel. Außerdem verbrachte sie den Abend mit Ryan und Martha zuhause. Er hatte vorhin noch mit ihr telefoniert. All seine Freunde waren heute ebenfalls bei ihren Familien, also: was zur Hölle?

Aaron stellte sich innerlich schon auf einen Klingelstreich ein oder vielleicht auf einen Nachbar, der irgendwas wollte. Dementsprechend vor den Kopf geschlagen fühlte er sich, als er die Türe öffnete und Darren vor ihm stand.

Er sah … anders aus.

Die sonst gewollt zerzausten Haare waren ordentlich nach hinten frisiert. Keine Strähne war nicht dort, wo sie nicht hingehörte. Der Bart war ebenfalls fein säuberlich getrimmt und in Form gebracht. Darren trug trotz der Temperaturen keine Jacke, sondern nur ein weißes Hemd, das über der Anzughose hing. Keine Motorradstiefel, sondern schlichte, schwarze Schuhe. Es war ein wenig, als hätte man ihm Darrens unbekannten Zwillingsbruder vor die Nase gestellt.

Wirklich irritierend war aber der Ausdruck in seinem Gesicht. Kein schiefes Grinsen, kein neugieriger Blick. Darren wirkte überwältigend erleichtert als er ihn sah.

„Gott sei Dank, du bist da“, fiel passend dazu seine Begrüßung aus.

„Was -“, wollte Aaron in Erfahrung bringen, was los war, doch er kam gar nicht so weit. Darren war plötzlich bei ihm, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn so tief, dass es Aaron den Atem verschlug. In dem Moment, wo Darrens Lippen seine berührten, vergaß er absolut jeden Gedanken darüber, diese Sache zu beenden. Er ließ sich mit wild klopfenden Herzen von Darren in die Wohnung drängen, stolperte dabei rückwärts, doch er unterbrach den Kuss für keine Sekunde. Selbst wenn er wollte, könnte er nicht. Darren ließ ihn nicht los, ganz im Gegenteil. Er küsste ihn härter, gieriger. Fast schon verzweifelt. Es warf Aaron völlig aus der Bahn.

Darren hörte genauso plötzlich auf wie er angefangen hatte. Doch er zog sich nicht zurück, blieb genauso dicht bei ihm und sah ihm viel zu tief in die Augen. Aaron spürte Darrens Daumen sanft über seine Wange streichen und fühlte sich ein wenig verloren.

„Ich habe dich vermisst“, murmelte Darren gegen seine Lippen. „Ich habe  das vermisst.“ Wieder ein Kuss, diesmal nur hauchzart.

Aaron schluckte schwer, wusste beim besten Willen nicht, was er sagen oder machen sollte. Er konnte Darren nur völlig überwältigt anstarren. Ein paar Sekunden tat er auch nichts anderes. Dann strich Darren ihm mit dem Finger über die Lippen, jagte Aaron damit einen Schauer über den Rücken und lächelte auf so eine warme Art, dass Aaron weiche Knie bekam.

Dann fand er sich mit einem Mal in einer Umarmung wieder. Darren schmiegte sich an ihn, vergrub das Gesicht an seinem Hals und atmete schwer aus. Aaron rührte sich nicht, nahm nur irgendwo im Unterbewusstsein wahr, dass selbst Darrens Aftershave heute ein anderes war. Sein Kopf war leergefegt, sein Puls pochte überdeutlich und Darren … Gott, Darren fühlte so gut an.

Nach einem Moment hob Aaron die Hände und erwiderte die Umarmung. Er zog den anderen Mann dichter an sich, schmiegte seine Wange gegen Darrens Haare und atmete ebenfalls schwer aus. Darren war warm und nachgiebig und zum allerersten Mal, seit er diesen Verrückten kannte, war diese seltsame Mauer verschwunden. Zum ersten Mal dachte er darüber nach, ob er vielleicht nicht der Einzige war, der mehr in diese Affäre investierte als er sollte. Er wusste nur nicht, was er damit anfangen sollte.

Eine Weile standen sie einfach nur in der Mitte seines Wohnzimmers und hielten sich gegenseitig fest. Es war bizarr und wunderschön zugleich. Fast schon ein wenig zu sehr, weswegen Aaron sich schließlich zusammenriss. „Gibt es einen Grund für diese stürmische Begrüßung?“, erkundigte er sich und brach damit ein wenig den Bann. Das Atmen fiel ihm zumindest leichter.

Er konnte spüren, wie Darren gegen seinen Hals lächelte. „Ich sagte doch, ich habe dich vermisst.“

„Mhm, das merke ich.“ Er strich Darren durch die Haare und lehnte sich langsam ein Stück zurück, bis er ihm ins Gesicht sehen konnte. Dieser gewisse Funke Schabernack war zurück in seinen Augen, was sehr, sehr beruhigend war. „Familienkrise?“, riet Aaron ins Blaue

Und traf anscheinend ins Schwarze. Darren zuckte kurz zusammen, grinste im nächsten Moment aber schon wieder. Es erreichte nur nicht ganz seine Augen. „Auch, ja.“

„Was ist passiert? Hat jemand den Weihnachtsbaum angezündet?“

Darren lachte, ließ ihn jetzt doch los und wirkte viel entspannter als vorher. „Schön wäre es. Aber nein. Nichts dergleichen. Einfach nur die üblichen Meinungsverschiedenheiten und Vorwürfe, die immer auf den Tisch gepackt werden, wenn wir zu viel Zeit miteinander verbringen. Ich würde gerne sagen, dass ich dabei unschuldig bin, aber du kennst mich zu gut, um mir das zu glauben.“ Er zuckte leicht mit den Schultern und da war es – das schiefe Lächeln, das einen ganzen Schwarm Schmetterlinge in Aufruhr bringen konnte.

Aaron seufzte innerlich über sich selbst.

„Sag mir bitte, dass du heute nichts mehr vorhast.“ Darren sah ihn so erwartungsvoll an, dass Aaron sich irgendwie mies fühlte.

Sein Blick glitt wieder zu dem Handy auf seinem Tisch, dann schüttelte er den Kopf. „Ich habe meine sozialen Pflichten für dieses Jahr erledigt. Also könntest du mir dabei helfen, die Flasche Wein zu leeren.“

Das Lächeln in Darrens Gesicht war ansteckend. „Klingt perfekt.“

Da war Aaron nicht so sicher. Er ging trotzdem in die Küche, um ein zweites Glas zu holen. Sobald er auf der Couch saß und nachgefüllt hatte, setzte Darren sich zu ihm. Doch er ignorierte den Wein, rutschte nach unten, bis er mit dem Kopf auf Aaroms Schoß lag, genau an der Stellte, wo Shakespeare sich vorhin schon breitgemacht hatte. Sah er eigentlich aus wie eine Matratze?

Aaron schnaubte und warf einen etwas skeptischen Blick nach unten. „Gemütlich?“

„Sehr.“ Darren lächelte wieder so seltsam, rutschte noch ein wenig hin und her, bis er wohl die richtige Position gefunden hatte, und dann konnte man dabei zusehen, wie seine Muskeln sich entspannten. Aaron sah ihm dabei zu, ließ seinen Blick über das Hemd und die Anzughose gleiten und konnte nur denken, wie falsch das aussah.

„Erzähl mir was“, forderte Darren und lenkte ihn damit ab. „Gab es bei dir auch Familiendrama?“

„Überraschenderweise nicht.“ Aaron verzichtete nicht auf seinen Wein, sondern lehnte sich mit dem Glas in der Hand zurück. Seine freie Hand schob er in Darrens Haare und strich ruhig hindurch. Das zufriedene Seufzen, das er dafür bekam, löste ein ziemlich warmes Gefühl in seiner Brust aus.

„War Will da?“

„Ja, aber genau dann, als Ryan nicht da war. Ich glaube manchmal, dass die beiden sich instinktiv aus dem Weg gehen.“

„Besser so.“

„Mit Sicherheit.“

Aaron nahm einen Schluck, betrachtete Darren dabei weiter. „Du siehst erschöpft aus.“

„Könnte daran liegen, dass ich es bin, Mr. Watson!“ Er grinste und einfach aus Prinzip schnipste Aaron ihm gegen die Nase.

„Hör auf so ein Klugscheißer zu sein und verrate mir den Grund.“

„Habe ich schon! Weihnachten mit meiner Familie ist am ersten Tag anstrengend, am zweiten unterhaltsam und am dritten sind wir nur einen Druck auf den roten Knopf davon entfernt aus dieser Stadt Dresden 1945 zu machen. Normalerweise balanciere ich das ganz gut aus, aber normalerweise stresst mich die Arbeit auch nicht so sehr.“

Aaron runzelte leicht die Stirn. Die passende Frage an dieser Stelle lag schon auf seiner Zungenspitze, doch er schluckte sie runter. Vielleicht gab es nie einen richtigen Zeitpunkt, aber das hier war er auf keinen Fall.

„Okay, und was tut man, um stressigen Feiertagen entgegenzuwirken?“

„Hübsche Männer besuchen?“

Aaron verdrehte die Augen, auch wenn er ein bisschen schmunzeln musste.

„Sei einfach da“, bemerkte Darren mit erschreckend ernster Stimme. Aaron blickte hinab in ein ebenso ernstes Gesicht.

Also verkniff er sich jeden dummen Spruch und nickte einfach nur. „Das kann ich.“

Darren lächelte leicht, vergrub das Gesicht an seinen Hüften und wirkte viel zu verletzlich für einen erwachsenen Mann.  

Kapitel 7

 Das neue Jahr fing komisch an.

Genau das dachte Aaron sich von der ersten Minute an.

Es hatte damit angefangen, dass Will am Silvesterabend plötzlich in Emilys Wohnung aufgetaucht, sie ins Bad entführt und wenige Minuten später wieder verschwunden war. Aaron hatte sich nur vom Zusehen wie vom Zug überfahren gefühlt und er wusste nicht einmal, was Will gewollt hatte. Es konnte aber nichts Gutes sein. Als er nach Emily sehen ging und sie völlig erschüttert im Flur gefunden hatte, war ihm das klar gewesen. Er konnte sich nicht an viele Situationen erinnern, wo seine Schwester so aufwühlt gewesen war. Sie hatte es versucht hinter einem Lächeln zu verstecken und für jeden anderen wäre es ihr sicher auch gelungen, doch Aaron kannte sie besser. Er wusste genau, wie ein ehrliches Lächeln aussah und wann es nur Fassade war, um den Schein zu wahren.

Emily hatte deutlich gemacht, dass sie nicht drüber reden wollte, also hatte er sie nicht gedrängt.

Das klamme Gefühl war für die nächste Zeit dennoch geblieben. Ryan war natürlich kein Idiot. Er hatte Will auch gesehen und ihm musste klar sein, dass er nicht zu einem netten Kaffeekranz vorbei gekommen war. Doch er hatte Emily das Lächeln abgekauft und keine Fragen gestellt, auf die er sowieso keine Antworten bekommen hätte. Also hatten sie normal weiter gefeiert, waren um Mitternacht nach draußen gegangen und vor allem Aaron hatte Spaß daran gehabt zu sehen, wie Martha sich über das laute Knallen und die bunten Lichter am Himmel gefreut hatte. Es war eigentlich ein schöner Abend gewesen. Merkwürdig, aber schön.

Als er ein paar Stunden später auf dem Weg nach Hause gewesen war, hatte sein Handy geklingelt. Darren, deutlich angetrunken und ziemlich gut drauf. Darren hatte Silvester mit seinem Freund Michael in einer anderen Stadt gefeiert. Sie waren auf einer ziemlich wilden Party gewesen, so wie Aaron das verstanden hatte, wo eine Menge Alkohol geflossen war. Das hatte er sofort gemerkt. Darrens Stimme war rauchig sexy gewesen und obwohl er es problemlos geschafft hatte, Wörter sinnvoll aneinander zu reihen, hatte man es einfach gehört. So was schaffte man wohl auch nur mit viel Übung im Kampftrinken.

Darren rief an, um ihm ein frohes neues Jahr zu wünschen. Das an sich war schon sehr nett und wirklich lieb. Es ging aber noch weiter. Er hatte ihm gesagt, wie gerne er Silvester bei Aaron verbracht hätte, dass er den ganzen Abend an ihn gedacht hatte und ihn vermisste. Wie so oft hatte Aaron darauf nichts zu sagen gewusste. Natürlich hatte ihn das nicht kalt gelassen! Sein Herz hatte wie verrückt gehämmert und die Schmetterlinge in seinem Bauch fühlten sich nicht nur nach einer Metapher an. So etwas konnte einen gar nicht kalt lassen. Er wusste nur nicht, wie viel Wahrheit darin steckte. Seit Weihnachten war Darren irgendwie anhänglicher. Offener. Aaron hatte keine Ahnung woran das lag, aber er wusste, dass es fragil war. Eine falsche Frage, ein falscher Kommentar und die Mauer würde schneller wieder da sein als er gucken konnte. Das war keine Basis, auf der etwas aufbauen konnte.

An dem Abend hatte er selbst ein paar Gläser Wein und Sekt getrunken. Keine guten Voraussetzungen für vernünftige Entscheidungen. Er hatte den ganzen Weg nach Hause mit Darren telefoniert, geflirtet als wenn sie sich gerade erst kennenlernen würden und als er zuhause gewesen war, hatte Darren es irgendwie geschafft ihn zum Telefonsex zu überreden. Echt echt! Aaron wusste immer noch nicht, wie das überhaupt passiert war. So was hatte er noch nie in seinem Leben gemacht und wenn man ihn fragen würde, hätte er jederzeit gesagt, dass ihn das auch nicht reizte. Darren hatte ihn eines Besseren belehrt. Es war überraschend aufregend, gut und erregend gewesen. Aaron hatte sich danach befriedigt gefühlt.

Nur die danach aufkommende Sehnsucht nach Darren hatte ihm ein wenig Angst gemacht und einen faden Beigeschmack hinterlassen. Er war dabei mit Anlauf ins Verderben zu rennen und schaffte es nicht, sich selbst davon abzuhalten. Wie die Motte, die zielgenau ins Licht steuerte. Das war erbärmlich.

Heute war das erste Mal dieses Jahr, dass sie sich sahen. Aaron war mit gemischten Gefühlen zu dem Treffen gefahren, konnte aber nicht leugnen, dass seine Freude überwog. Sobald er Darren gesehen hatte, war das Gefühl von Sorge überdeckt worden.

Darren sah nicht gut aus. Also, doch, natürlich sah er gut aus! Aaron konnte sich kein Szenario vorstellen, in dem dieser Mann es schaffte nicht wie ein wahr gewordener Traum zu wirken. Niemand wurde über Nacht hässlich. Das meinte er auch gar nicht. Es war subtiler, lag auf einer anderen Ebene. Seine Haltung war nicht so entspannt wie sonst, das Lächeln wirkte ehrlich, aber müde und die Schatten unter den Augen ließen nicht darauf schließen, dass Darren in letzter Zeit viel Schlaf gefunden hatte. Das tat Aaron leid und machte ihm Sorgen. Er wusste jedoch nicht, ob es eine gute Idee war, ihn darauf anzusprechen.

Im Moment sahen sie sich sowieso anderen Problemen gegenüber. Wobei 'Problem' ein sehr großes Wort war.

Wie immer trafen sie sich vor dem Motel, das sie nun schon seit ein paar Monaten besuchten. Sie standen vor dem Eingangsbereich vor einem großen Schild, dass die Schließung des Motels bis Mitte Januar verkündete. Angeblich wegen Renovierungsarbeiten, aber Aaron glaubte das nicht. Das war ein Motel. Mit vielen Zimmern. Man renovierte ja nicht alles gleichzeitig. Wirtschaftlich war es total dämlich, wegen so etwas das gesamte Motel zu schließen anstatt nur einen gewissen Bereich. Das würde die Einnahmen senken, aber sie fielen nicht ganz aus. Darum ging er davon aus, dass es andere Gründe für die Schließung gab. Doch das war gerade egal.

Darren stand seit drei Minuten vor diesem Schild, die Hände in die Hüften gestemmt und gab immer wieder ein nicht sehr begeistertes „Hmpf“ von sich. Aaron neben ihm amüsierte sich ein wenig darüber und hatte sich vorgenommen auf eine andere Reaktion zu warten. Gerade dachte er jedoch, dass ihm dafür die Geduld fehlte.

„Die Türen öffnen sich nicht auf magische Weise, nur weil du ein Loch in das Schild starrst“, wies er Darren deswegen auf eben diese Tatsache hin.

Das Murren klang wenig begeistert, genauso wie das schwere Seufzen, das darauf folgte. „Ich weiß.“

„Gut. Dann lass uns über unser weiteres Vorgehen nachdenken.“

Langsam nickte Darren und löste endlich den Blick von diesem dämlichen Schild, um ihn anzusehen. „Wir gehen zu dir.“

Aarons erster Impuls war es zuzustimmen. Die Wahrheit war: er hatte Darren vermisst und verspürte seit Stunden das unbändige Verlangen, diesen Mann zu küssen und anzufassen und zum Stöhnen zu bringen. Schon bei dem Gedanken, Darrens schweren Körper auf sich zu spüren, schauderte er wohlig. Sein Körper war bereit einen Marathon nach Hause hinzulegen, so langer er nur bekam, was er wollte.

Doch Aaron unterdrückte den Impuls. „Nein, tun wir nicht.“

„Okay, dann suchen wir uns ein anderes Motel.“

„Nein. Wir gehen zu dir.“

Unter anderen Umständen wäre es witzig, wie schockiert Darren ihn ansah. In letzter Zeit war er nicht sehr gut darin, seine sonst so sorgfältig einstudierte Mimik im Zaum zu halten. „Auf keinen Fall. Ich habe dir doch erklärt, dass ich -“

„Jaja“, unterbrach Aaron diese Ansprache, halb genervt, halb gelangweilt. „Ich weiß. Aber meinst du nicht, dass es langsam wirklich lächerlich wird? Wir sind zwei erwachsene Menschen und du kennst mich nicht erst seit heute. Ich habe keine Ahnung, wieso du so ein Drama daraus machst. Du solltest mich inzwischen gut genug kennen, um zu wissen, dass ich dich nicht beklaue, dich nicht auslache, wenn du irgendwelche komischen Hobbys hast wie Briefmarkensammeln“, seine Mundwinkel zuckten kurz und auch Darren sah für einen Moment amüsiert aus,“oder du in einer Bruchbude lebst.So lange du keinen Menschenhandel in deinem Schlafzimmer treibst, wird mich nichts stören. Du weißt das. Also hör auf, so ein Theater zu machen.“ Aaron schnaubte. „Außerdem warst du jetzt schon zweimal bei mir. Hast du nicht selbst gesagt, dass das unfair ist?“

„Ich hasse es, wenn du meine eigene Argumentation gegen mich verwendest.“ Darren brummte und sah ungefähr so begeistert aus wie er sich anhörte. Also nicht sonderlich.

Es wäre leicht, jetzt einfach nachzugeben. Es wäre der einfache Weg. Doch Aaron wusste, wo dieser Weg endete, weswegen er stur blieb. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah den anderen Mann abwartend an. „Also?“

„Wieso lässt du es so klingen, als wenn du mir eine Wahl lässt?“

Aaron zuckte leicht mit den Schultern. „Du hast die Wahl.“

„Nicht wirklich. Ich drehe durch, wenn ich dich nicht bald wieder besinnungslos vögeln kann.“

Etwas peinlich berührt und im selben Moment mit einem wohlig warmen Gefühl in seiner Brust räusperte sich Aaron. „Dann lass uns zu dir gehen.“

Darren zögerte sichtlich. Man konnte sehen, wie er sich mit kämpfte. Dann stieß er angestrengt die Luft aus und nickte ergeben. „Na gut. Aber ich warne dich: es ist nicht aufgeräumt. Genau genommen habe ich seit Wochen nicht aufgeräumt.“

Überrascht darüber gewonnen zu haben und erleichtert lachte Aaron auf. „Ich schätze, darüber kann ich sehr großzügig hinwegsehen.“

Sie gingen zu Fuß. Wie sich herausstellte wohnte Darren noch näher an dem Motel als Aaron selbst und für ihn war es schon nur ein Katzensprung. Was diese ganze Geheimniskrämerei noch merkwürdiger machte. Darren erzählte von seinem Kurztrip mit Michael und erkundigte sich bei ihm mal wieder nach dem neusten Stand bei Emily und ihren Männern, während sie eine recht nette Gegend kamen. Klassische Mittelschicht, wo die Straßen nicht gerade ruhig waren, aber ordentlich. Hier stand Miethaus an Miethaus gereiht, alle mit mindestens sechs Wohnparteien. Ein paar Fassaden könnten einen neuen Anstrich vertragen, doch alles in Allem sah es typisch städtisch und unspektakulär aus.

Als sie direkt auf eines dieser Häuser zusteuerten, wurden Darrens Schritte ein wenig schneller, bis er mit etwas Abstand vor ihm an der Tür ankam. Aaron dachte im ersten Moment, dass er einfach nur schon mal die Tür aufschließen wollte. Das tat er auch. Dabei verdeckte er mit seinem Körper jedoch die Klingelschilder, was Aaron ein wenig die Augen verdrehen ließ. Er sagte jedoch nichts oder wies Darren darauf hin wie sinnlos das war. Jetzt, wo er wusste, wo Darren wohnte, konnte er jederzeit wiederkommen und sich die Namensschilder durchlesen. Das musste ihm doch klar sein! Aber er sah auch ein, dass das hier für Darren wohl ein ziemliches Zugeständnis war, also hielt er den Mund.

Sobald sie im Treppenhaus waren, wirkte Darren mit einem Mal viel entspannter. Als hätte er seine Sorgen worüber auch immer an der Türschwelle liegen gelassen. Sie gingen in den dritten Stock und hielten vor einer Tür mit der Fußmatte in Form einer Tastatur, wo die Enter-Taste farblich vorgehoben war. Aaron schmunzelte darüber.

Dann schloss Darren die Tür auf und Aaron musste zugeben vor Neugierde zu platzen. Darum war er fast schon enttäuscht.

Vor im erstreckte sich ein Flur, an dessen Ende sich eine halb geöffnete Tür fand. Rechts und links gingen ebenfalls Türen ab. Direkt neben ihm befand sich die Küche, die klein, aber erstaunlich modern eingerichtet war. Ein paar Teller und Tassen standen ungespült auf der Anrichte, auf dem kleinen Tisch stand ein halb gefüllter Aschenbecher und Aaron war kurz von einem Gerät neben der Mikrowelle irritiert, das er vorher noch nie gesehen hatte. Es hatte einen Boden aus weißem Kunststoff. Darüber beugten sich zwei dicke Glasscheiben, in denen ein Draht verlief, und endeten in einem offenen Schlitz. Es sah merkwürdig aus.

„Geh ruhig durch“, lenkte Darren ihn jedoch ab, bevor er danach fragen konnte. Er schälte sich aus seiner Jacke und steuerte auf die Küche zu. „Ich bin gleich bei dir.“

Aaron nickte, lief weiter über den Flur und konnte nicht verhindern, in jedes Zimmer einen kurzen Blick zu werfen. Doch es blieb unspektakulär. Das Bad war völlig normal, genau wie das Schlafzimmer. Ein großes Bett, ein großer Schrank und eine Hantelbank, mehr gab es dort nicht. Also ging er weiter und stieß die letzte Tür auf. Dahinter kam das Wohnzimmer zum Vorschein und Aaron bleib abrupt stehen, weil er das Gefühl hatte, ein völlig anderes Gebäude betreten zu haben.

Das Wohnzimmer war ziemlich groß, wirkte aber nicht so, weil es vollgestopft war. Sein Blick huschte über das Surfboard an der Wand, das gepflegt, aber abgenutzt wirkte. In der Ecke darunter stand eine Gitarre, was irgendwie zu Darren passte. Der Rest hingegen ….

Der Flachbildfernseher nahm einen nicht gerade kleinen Teil der Wand ein. Neben ihm hing irgendein elektronisches Gerät an der Wand, das Aaron nicht kannte. In dem offenen Regal des Wohnzimmerschranks standen drei angeschlossene Konsolen. Zwei verpackte standen in ihren Kartons daneben. Der wirkliche Blickfang war jedoch der gigantische Schreibtisch, der den halben Raum ausfüllte und der bis oben hin voll gepackt war. Kabel, elektrische Platten, Schraubenzieher und Drähte stapelten sich wie bei ihm zuhause die Bücher. Neben den Schreibtisch standen drei riesige Stapel mit verschiedenen Handys. Ein paar iPhones, aber auch andere Modelle, die nicht weniger teuer aussahen. Aaron blieb der Mund ein wenig offen stehen, während ihm Galle die Kehle hoch kroch. Wie hatte er so dumm sein können?

„Wie trinkst du deinen Kaffee?“, ertönte Darrens Stimme hinter ihm. Sie kam näher. „Ich wollte schon immer mal jemanden mit der Ausrede für einen Kaffee in meine Wohnung holen“, erzählte er deutlich amüsiert.

Aaron wurde schlecht. Er drehte sich langsam um, sah Darren grinsend hinter ihm stehen und wollte schreien. „Ist das dein verdammter Ernst?“

Er verlor das Grinsen. „Was? Ich habe gesagt, dass es nicht aufgeräumt ist!“

„Achso! Hättest du das Diebesgut also im Keller versteckt, wenn ich mich angekündigt hätte?“

Jetzt völlig verwirrt starrte Darren ihn an. „Was?“

„Gott, ich bin so dämlich!“ Aaron schnaubte, fuhr sich mit einer Hand gestresst durch die Haare und konnte nur schwer das Bedürfnis unterdrücken, seinen Kopf gegen die nächste Wand zu schlagen. Kein Wunder ging Darren mit Geld um, als wäre es völlig bedeutungslos, wenn seine Wohnung ein Lager für von LKW gefallenen Gütern war. Dämlich! Wirklich dämlich!

„Aaron“, wollte Darren wieder seine Aufmerksamkeit. „Ich habe keine Ahnung, wo dein Problem liegt. Erklär es mir.“

Wieder schnaubte Aaron, diesmal nur noch wütend. Er kniff die Augen zusammen und musterte Darren lauernd. „Erklär mir, wie ein 'Bauarbeiter' sich das alles“, er machte eine Geste, die das gesamte Wohnzimmer einschloss, „leisten kann.“

Man konnte dabei zusehen, wie bei Darren der Groschen fiel. Sein Blick glitt zu den überladenen Schreibtisch, wobei ihm ein paar Gesichtszüge entglitten, und wieder zurück zu Aaron. „Das ist … kompliziert.“

„Keine Ahnung. Klär mich auf. Wie kompliziert ist Hehlerei?“

„Was? Nein, so ist das nicht!“ Darren wirkte ein bisschen beleidigt, aber vor allem leicht verzweifelt. Er kratzte sich nervös im Nacken und sah aus wie ein ertapptes Kind. „Hör zu, Aaron, ich weiß gerade nicht, wie ich dir das erklären soll, aber es ist nicht das wonach es aussieht.“

„Das ist sogar für dich ziemlich abgedroschen.“

Darren gab einen resignierten Laut von sich und war drauf und dran was zu sagen, als Aarons Handy klingelte. Nicht im normalen, nervigen Piepston, sondern eine sanfte Melodie. Emily rief ihn an. Kurz war er versucht sie zu ignorieren, weil er wütend war und eine Erklärung wollte und nicht darüber hinweg kam, wie dämlich er einfach war. Doch es war Emily, also ging er natürlich dran.

Er bereute es auch nicht, als er das Schluchzen hörte. Darren war sofort vergessen. „Was ist los?“, wollte er von seiner Schwester wissen.

„Ich … ich habe mit Ryan Schluss gemacht“, folgte die Erklärung. Überrascht hob Aaron eine Augenbraue, ignorierte Darren, der ungeduldig das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlegte und ihn beobachtete. „Es war schrecklich. Er war so wütend. Und traurig.“ Wieder ein Schluchzen, tiefer diesmal. „Gott, ich bin so ein schrecklicher Mensch!“

„Bist du nicht“, widersprach Aaron sofort und das nicht nur aus Reflex. Er kannte keinen so guten Menschen wie Emily.

„Doch, bin ich. Und ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll.“

„Wo bist du?“

„Zuhause. Aber …“, sie amtete tief durch, „die Wohnung fühlt sich furchtbar leer und groß an. Ich habe Angst, dass Will jeden Moment vor der Tür steht und ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll. Ich kann einfach nicht … ich weiß nicht ...“

„Beruhig dich.“ Aaron klang ruhiger als er sich fühlte. „Pack ein paar Sachen ein und komm mit Martha zu mir. Will weiß nicht wo ich wohne und ich schätze, Ryan wird auch nicht vorbei kommen.“

Es war kurz ruhig in der Leitung. Dann stieß Emily zittrig die Luft aus. „Bist du zuhause?“

„Noch nicht, aber ich mache mich sofort auf den Weg.“

„Okay. Danke! Bis gleich!“

Aaron legte auf, noch während er sich umdrehte und gehen wollte. Nur stand Darren ihm im Weg. „Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich und klang sogar besorgt. Aaron hätte fast gelacht.

„Ich muss los.“ Er drängte sich an Darren vorbei. Der packte ihn am Arm, genau wie damals in der Kneipe, und hielt ihn fest. „Lass mich los.“

„Aaron, ich -“

„Fass mich nicht an!“

Darren zog seine Hand zurück, als wenn er sich verbrannt hätte. Er wirkte verletzt, doch das war Aaron egal. Er ging weiter zur Haustür.

„Aaron! Du kannst so nicht gehen. Verdammt, Aaron! Lass mich dich wenigstens nach Hause oder zum Motel zurück fahren.“

Jetzt blieb er stehen und sah Darren mit einem tiefen Stirnrunzeln an. „Dein Motorrad steht selbst am Motel.“

Deutlich ertappt fing Darren wieder an sich am Nacken zu kratzen. „Ich … habe noch ein Auto hier.“

War das sein Gott verdammter Ernst? Aaron knurrte und sah zu, dass er von hier verschwand.

Als er im Flur war und die Tür hinter sich ins Schloss stieß, merkte er erst, dass er zitterte. Vor Wut oder Enttäuschung, er konnte es selbst nicht sagen. Es war aber auch nicht wichtig. Gar nichts war gerade wichtig. Nichts außer Emily. Darum ignorierte er, dass seine eigene, kleine Welt gerade dabei war zusammenzubrechen und beeilte sich nach Hause zu kommen.  

Kapitel 8

 Aaron saß auf der Kannte seines Bettes, strich Emily sanft durchs Haar und sah den beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben beim Schlafen zu. Emily hatte sich zusammengerollt wie ein Embryo, die Ränder um ihre Augen waren auch jetzt noch leicht von den ganzen Tränen gerötet, die sie in den letzten Tagen vergossen hatte. Wegen Ryan, wegen Will, wegen dem Leben im Allgemeinen. Martha lag in ihrer Armbeuge,dicht an sich gekuschelt und schlief fest. Wie ein Baby. Dieses Sprichwort hatte seine Daseinsberechtigung. Auch wenn er davon ausging, dass Martha durchaus mitbekam, dass etwas nicht stimmte.

Emily hatte ihm alles erzählt, wie sie mit sich gehadert und am Ende trotzdem mit Ryan Schluss gemacht hatte. Wie wütend und traurig und verletzt er deswegen war. Weil er Emily verlor und auch Martha. Aaron tat das wirklich, wirklich leid. Ryan hatte nichts falsch gemacht und am Ende trotzdem nicht das Mädchen bekommen. In welcher Welt war das fair?

Das Schlimme war: Aaron hatte es kommen sehen. Er hatte damit gerechnet, dass Emily sich gegen Ryan entscheiden würde, weil sie irgendwann einfach einsehen musste, dass er sie mehr liebte als sie ihn. Was nicht hieß, dass sie keine Gefühle für Ryan hegte. Ein wenig Liebeskummer kam zu dem ganzen Desaster also auch noch hinzu.

Aaron seufzte leise, fragte sich aber, ob er es doch laut gemacht hatte, weil Emily in dem Moment die Augen aufschlug. Verschlafen und ein bisschen orientierungslos sah sie sich um, bis ihr Blick an ihm haften blieb. „Wie spät ist es?“

„Noch früh. Gerade mal um acht. Du kannst ruhig noch ein wenig schlafen.“

Müde strich Emily sich über die Augen, bevor sie Martha betrachtete. Ungewöhnlich intensiv. „Sie sieht wirklich aus wie Will“, stellte sie dann fest. Nicht zum ersten Mal, weswegen er nur nickte. Emily lächelte leicht, gab Martha einen Kuss auf die Stirn und stand dann vorsichtig auf. „Lass uns einen Kaffee trinken.“

Das war der nicht sehr geheime Code für: ich will reden und möchte, dass du mir zuhörst. Also stand Aaron auf, ging dreimal sicher, dass Martha nicht aus dem Bett fallen würde, falls sie entschied im Schlaf aktiv zu werden, und folgte Emily in die Küche. Shakespeare saß auf der Fensterbank, wedelte mit dem Schwanz und gab ein leises Mauzen von sich. „Dir auch einen guten Morgen“, grüßte Aaron die Katze.

„Du weißt schon, dass sie dich nicht versteht?“ Emily sah ihn fragend an, während sie zwei Tassen aus dem Schrank nahm und sie mit dem schon in der Kanne wartenden Kaffee füllte.

„Oh, sie versteht mehr, als sie zugeben will. Es interessierte sie nur nicht, weil sie ein kleines, gemeines Biest ist.“ Entgegen seiner Worte, hielt er Shakespeare die Hand hin. Sofort rieb sie ihr Köpfchen dagegen und fing an zu schnurren, als Aaron sie eine Weile kraulte.

Emily setzte sich an den Küchentisch. Die Tasse blieb unberührt vor ihr stehen. Sie strich sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht und starrte eine Weile einfach die Wand an. Aaron wartete.

„Habe ich das Richtige gemacht?“, fing sie schließlich das Gespräch an.

Ruhig setzte er sich seiner Schwester gegenüber. „Was glaubst du denn?“

„Ich weiß es nicht! Ich denke schon. Es war nicht fair Ryan gegenüber. Aber vielleicht hätte ich anders an die Sache herangehen sollen. Vielleicht hätte ich -“

„Emily.“ Er griff über den Tisch nach Emilys Hand, um das leichte Zittern zu unterbinden. „Wenn eine Trennung ohne Emotionsausbrüche geschieht, dann war die Beziehung sowieso nichts wert. Ich weiß, dass Ryan dir nicht egal ist und dass du ihm nicht wehtun wolltest, aber das lässt sich nun mal nicht immer vermeiden. Besser du hast jetzt einen Schnitt gemacht als später.“

Emily blickte ihm direkt in die Augen, suchte nach einer Lüge in seinen Worten. Als sie keine fand, atmete sie etwas erleichtert aus. „Du hast Recht.“

„Manchmal kommt das vor.“ Aaron lächelte und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Shakespeare sprang von der Fensterbank direkt auf seinen Schoß, drehte sich mehrmals im Kreis und ließ sich dann furchtbar unelegant für eine Katze einfach fallen. Ergeben vergrub er seine Finger in ihr Fell und kraulte sie wieder.

„Was willst du jetzt wegen Will machen?“, wagte er es sich dann, die fatale Frage zu stellen.

Eine Weile bekam er keine Antwort. Emily biss sich auf die Unterlippe, während sie anstrengend darüber nachdachte. Aaron ließ sie – oder hatte es vor, weil sein Handy mit einem Mal die Stille unterbrach. Er brauchte nicht auf Display gucken, um zu wissen, dass es Darren war. Er rief in den letzten Tagen immer mal wieder an, doch Aaron weigerte sich dranzugehen. Hauptsächlich wegen dem schmerzhaften Stich, den er in der Brust spürte, wenn er nur an Darren dachte.

„Willst du nicht drangehen?“, hakte Emily irritiert nach.

„Nicht jetzt. Das ist nicht wichtig. Du schon.“

Das Lächeln, das Emily schenkte, war dieses ganz besondere Emily-Lächeln, das einem das Gefühl gab, direkt in die Sonne zu blicken. Es hielt leider nicht lange. „Okay, wir sind uns einig, dass mit Ryan Schluss zu machen die richtige Entscheidung war“, fing sie schließlich an ihre Gedanken mit ihm zu teilen. Aaron nickte. „Das heißt aber nicht, dass es eine gute Idee ist, wieder etwas mit Will anzufangen. Es ist das letzte Mal schon nicht gut gelaufen, wieso sollte es das jetzt?“

„Weil er sich verändert hat.“ Überrascht sah Emily ihn. Aaron zuckte nur leicht mit den Schultern. „Das fällt auf. Früher wäre er nie regelmäßig gekommen, hätte sich nichts aus Geburtstagen oder Weihnachten gemacht. Deine Welt hat sich verändert, seit Martha da ist, genau wie deine Prioritäten. Warum sollte das bei ihm anders sein?“

„Stimmt schon“, gab Emily ihm Recht, strich sich erneut durch die Haare und griff nach ihrem Handgelenk, um sich das Haargummi abzuziehen, vergaß aber irgendwie sich einen Zopf zu machen. „Es ist aber nicht klug. Will ist nicht Ryan. Will ist wie niemand, den ich kenne. Er wird keine fröhliche kleine Familie mit mir und Martha spielen. Es gibt absolut keinen logischen Grund, der für ihn spricht. Also komm! Überzeug mich, dass es eine dumme Idee wäre, wieder etwas mit ihm anzufangen!“

„Nein.“

Völlig verblüfft hob Emily eine Augenbraue. „Nein?“

„Nein“, wiederholte Aaron. „Ich denke, du solltest auf jeden Fall wieder etwas mit ihm anfangen.“

Seine Schwester starrte ihn an als wäre er ein Alien. Nicht unberechtigt. Manchmal dachte Aaron, dass er vielleicht einen Hirnschlag erlitten hatte, weil er so über Will dachte, aber es war nun einmal so. „Er wird nie der perfekte Mann sein“, erklärte er seine Meinung. „Er wird kein Hausmann und die meisten deiner Freunde werden ihn nicht leiden können, aber mal ganz im Ernst: ist das wichtig? Du brauchst ihn nicht“, stellte Aaron fest und musste schlagartig an Darrens Worte denken. Damals im Motel, als er ihm erklärt hatte, was Liebe für ihn war. Aaron schluckte schwer und ertappte sich jetzt dabei, wie er genau Darrens Worte wiedergab. „Du brauchst Will nicht“, wiederholte er. „Aber du willst ihn. Will macht dich glücklich. Er ist Martha ein guter Vater. Er bringt deine Welt aus den Fugen, aber auf die gute Art. Das hat nichts mit Logik zu tun. Oder Vernunft. Es liegt nicht an Ryan, dass es mit euch nicht geklappt hat. Es liegt daran, dass er nicht Will ist und ich schätze, dass es auch mit jedem anderen Mann so sein wird, der folgen sollte.“

Noch während er sprach, wurde ihm klar, dass das nicht nur für Emily galt. Dass Darren, dieser mieser Dreckskerl, ungefragt in sein Leben geplatzt war. Wie eine unaufhaltsame Naturgewalt hatte er ihn aus seiner drögen Routine gezerrt, seine Welt auf den Kopf gestellt und ihn wahnsinnig gemacht. Aaron brauchte ihn nicht, aber bei Gott, er wollte ihn. Selbst jetzt. Trotz allem.

Schweigen breitete sich in der Küche aus, das nur von Shakespeares leisen Schnurren unterbrochen wurde. Aaron trank seinen Kaffee, während Emily ihn nachdenklich ansah. „Ich hätte nicht gedacht, dass Will magst“, stellte sie dann fest.

„Warum nicht? Auf seine eigene, verdrehte Art ist er ein guter Kerl.“

Emily lächelte leicht und nickte. „Ja, das ist er.“

Dann schwiegen sie wieder. So lange, bis sein Kaffee leer war und Emilys kalt. Sie sah immer noch müde und furchtbar erschöpft aus. „Ich glaube, ich lege mich doch noch etwas hin“, schien ihr das auch klar zu sein.

„Mach das. Schlaf gut.“

Als Emily wieder im Schlafzimmer war, blieb Aaron sitzen und dachte über sein eigenes, verwirrendes Leben nach. Vielleicht hatte er, was Darren anging, ein wenig übertrieben. Vielleicht hätte er ihn erklären lassen sollen, was es zu erklären gab, aber machte das Sinn? Darren war ein Meister darin, vom eigentlichen Kern abzulenken, ihm gerade genug Informationen hinzuschmeißen, dass er Ruhe gab und erst viel später wieder darüber nachdachte, was er eigentlich hätte wissen wollen. Aaron ertrug das nicht mehr. Er hasste dieses Spielchen, diese Manipulation. Er war keine verdammte Marionette! Außerdem fielen ihm nicht viele Szenarien ein, die das ganze Zeug in Darrens Wohnung und das ganze Geld erklärten, die legal waren. Sie sprachen hier immerhin nicht von ein paar Dollar, sondern von wirklich viel Geld. Aaron kannte sich kaum mit Technik aus, aber er lebte auch nicht auf dem Mond. Er wusste, wie teuer ein iPhone, eine xBox oder ein Flachbildfernseher dieser Größe war. Wie viel ein Auto und ein Motorrad in der Anschaffung sowie im Unterhalt kosteten. Wenn es nichts Schlimmes war, wieso machte Darren dann so ein Geheimnis daraus? Wieso hatte er ihm nicht von Anfang an davon erzählt? Es konnte also nur irgendwas Mieses oder Illegales tun und das ging einfach nicht.

Witzigerweise hatte er an diesen Punkt Will und Darren verglichen. Aaron hatte von dem Leben auf der Straße genauso wenig Ahnung wie von Technik, aber auch hier war er nicht so naiv und dachte, dass Will so lange dort überlebte, weil er Passanten nett um ein paar Dollars bat. Er wusste nicht, was genau Will tat, aber Aaron wettete darauf, dass einige dieser Sachen auch illegal waren. Es sollte ihn also stören. Es sollte ihn noch mehr stören, dass so jemand der Vater seiner Nichte und vielleicht bald der feste Freund seiner Schwester war. Doch es störte Aaron eigentlich kein bisschen. Ganz im Gegensatz zu Darren.

Es gab nämlich einen signifikanten Unterschied zwischen den beiden: Will tat nichts davon, um sich selbst zu bereichern. Aaron hatte noch nie erlebt, dass Will irgendwas Materielles von Emily wollte. Er aß manchmal dort, mehr aber auch nicht. Er pumpte sie nicht nach Geld an, er klaute nichts – so viel Aaron wusste – und er machte sich auch nichts aus irgendwelchen Luxusartikeln wie Fernseher, die bei Emily herumstanden. Wenn er wirklich etwas Illegales tun sollte, dann um zu Überleben. Jetzt konnte man natürlich sagen, dass niemand Will dazu zwang, weil er freiwillig auf der Straße lebte, aber niemand traf so eine Entscheidung, ohne verdammt gute Gründe dafür zu haben.

Darren hingegen tat was auch immer er genau tat, um sich selbst zu bereichern und seine Wohnung mit Luxusartikeln vollzustopfen. Das war einfach nur falsch. Wie sollte er mit so jemanden zusammen sein?

Als wenn dieser Mistkerl seine Gedanken lesen konnte, klingelte sein Telefon erneut. Aaron sah sofort in Richtung Schlafzimmer. Er fluchte leise, nahm das Handy in die Hand, um den Anruf wegzudrücken, doch einem Impuls folgend ging er dran. „Hör auf damit“, grüßte er Darren nicht gerade freundlich. „Hör auf, ständig anzurufen.“

„Dann hör auf, mir aus dem Weg zu gehen!“ Darren klang tatsächlich ein wenig angepisst. Gut! Dann waren sie schon zu zweit!

„Ich habe allen Grund, dir aus dem Weg zu gehen.“

„Hast du nicht! Gott, Aaron, wenn du einfach mal zuhören würdest!“ Kurz war es still in der Leitung. Aaron hörte ein schweres Atmen, dann wieder Darrens Stimme, um einiges sanfter. „Lass mich vorbei kommen. Dann können wir reden und ich erkläre dir alles. Wenn du danach immer noch nichts mit mir zu tun haben willst, dann lasse ich dich in Ruhe.“

Aaron zögerte, war schon drauf und dran Darren zu sagen, dass er nicht wollte, doch er konnte sich nicht dazu bringen. Sein Kopf schwirrte und seine Gefühle fuhren Achterbahn. Nicht auf die gute Weise, sondern auf die Art, die einen mit Übelkeit zurückließ. „Du kannst nicht vorbei kommen“, bemerkte Aaron schließlich. Er sprach leise, um niemanden zu wecken. „Emily und Martha wohnen momentan bei mir.“

„Ist was passiert? Geht es ihnen gut?“

Aaron schnaubte und entschied sich, nicht darauf zu antworten.

„Okay, dann lass uns irgendwo anders treffen. Bei dem Diner, das du so gerne magst. In einer halbe Stunde?“

Aaron war nicht sicher, ob er so eine Diskussion an einem öffentlichen Ort führen wollte. Wirklich nicht! Allerdings war alles besser, als wenn Darren plötzlich vor seiner Tür stand und er Emily erklären musste, wer dieser Verrückte war.

„Okay“, stimmte er deswegen zu und legte einfach auf. Ein paar Minuten blieb er sitzen, haderte mit sich, ob er wirklich dort hingehen sollte. Dann setzte er Shakespeare sanft auf den Boden ab, stand auf und ging sich anziehen.  

Kapitel 9

 Aaron stand vor dem Diner, in das er schon seit Jahren ein- und ausging. Beide Händen waren zu Fäusten geballt und er presste seine Zähne hart aufeinander, um den lodernden Zorn in sich zu unterdrücken. Es brachte nichts. Er zitterte vor Wut.

Zum zweiten Mal in wenigen Tagen verbrachte er seine Zeit damit, ein Schild anzustarren. Aaron las die schwarzen Buchstaben auf dem Signalorange immer und immer wieder. Er verstand die Botschaft. Er konnte es nur nicht fassen. Oder nein, das stimmte nicht. Traurigerweise war er nicht einmal überrascht. Er wollte es nicht wahrhaben.

We don't serve gays stand dort, deutlich für jeden sichtbar, der das Diner betreten wollte. Aaron hatte das Schild schon von Weitem gesehen. Er war auf dem Parkplatz stehen geblieben, während sein Hirn versuchte zu verarbeiten, was hier gerade passierte. Seit dem stand er hier. Wütend, verletzt und bis ins Mark erschüttert.

Das war so … er fand da keine Worte für. Genau das war das Problem, war es schon immer gewesen. Aaron verstand in der Theorie, dass Randgruppen ausgegrenzt wurden. Rassismus gab es zum Beispiel schon so lange wie es Menschen gab. Das war traurig, aber natürlich. Er konnte von sich selbst auch nicht behaupten, nicht in Schubladen zu denken oder vorurteilsfrei durchs Leben zu gehen, aber das? Er fühlte sich erniedrigt, ausgegrenzt und herabgesetzt. Weil er nicht 'normal' war. Aaron erinnerte sich daran, wie oft er morgens in diesem Diner gesessen und seinen Kaffee getrunken hatte, während er die Morgenzeitung las und ein paar nette Worte mit der Kellnerin wechselte. Er hatte sich wohl in diesem Laden gefühlt. Jeder war nett zu ihm gewesen. Immer. Das wäre nicht so gewesen, hätten sie gewusst, dass er schwul war? Was änderte das? Aaron verstand es einfach nicht und genau das machte ihm so zu schaffen.

Eine ganze Weile blieb er einfach so stehen, bis ihm irgendwann in den Sinn kam, dass er vielleicht Darren anrufen und ihm sagen sollte, dass sie woanders hingehen  mussten. Seine Muskeln fühlten sich taub an. Seine Bewegungen waren steif, als er in seine Jackentasche griff. Er brauchte das Handy jedoch nicht rausziehen. Darren parkte in dem Moment ein Stück rechts von ihm auf dem Parkplatz. Er stieg von seiner Maschine, nahm den Helm ab und strich sich mit gewohnter Lässigkeit durch die Haare, die sofort perfekt saßen. Aaron wusste, dass er das vor einer Viertelstunde noch sexy gefunden hätte. Jetzt gerade gab es nicht viel, das ihm mehr egal sein konnte.

Trotzdem entging ihm nicht, dass Darren immer noch gestresst aussah, als er näher kam. Aaron würde seinem Ego gerne etwas Gutes tun und sich einreden, dass er der Grund für Darrens schlaflose Nächte war. Allerdings hatte Darren vorher schon so ausgesehen, also lag es eher nicht an ihm. Eine kleine Stimme in seinem Kopf erinnerte ihn daran, dass er sich Sorgen machen sollte, aber er konnte sich nicht dazu bringen. Gerade sah er alles in einem zornigen Rot. Für etwas anderes war kein Platz.

Das schien Darren auch aufzufallen. Sein angedeutetes Lächeln verschwand, während er ihn kritisch musterte. „Ich weiß, du bist nicht gut auf mich zu sprechen, aber was genau habe ich jetzt wieder verbrochen?“

„Das hat nichts mit dir zu tun“, presste Aaron mühselig heraus und nickte in Richtung des Schilds, das im Fenster hing.

Darren folgte seinem Blick, runzelte die Stirn und … blieb völlig ruhig. „Na und?“

„Na und?“, wiederholte Aaron fassungslos. „Ist das dein Ernst? Kannst du nicht lesen?“

„Doch, sehr gut sogar. Aber was soll es? Idioten gibt es überall.“

Völlig überfahren starrte Aaron den anderen Mann an. Hatte er das gerade wirklich gesagt? „Du bist schwul! Wie kann dich das nicht stören?“

Fast schon entschuldigend zuckte Darren mit einer Schulter. „Wenn ich mich aufrege, bekommen solche Arschlöcher doch genau, was sie wollen. Ignoranz ist die größte Strafe. Sehr bald wird irgendein Fernsehteam darüber berichten, es wird Demonstrationen von selbsternannte liberalen Volksvertretern und Mitglieder der LGBT-Community geben und das Schild wird verschwinden. Dann ist alles beim Alten. Es ist nur eine große Sache, wenn du eine daraus machst.“

„Spar dir deine beschissenen Glückskekssprüche!“, ging Aaron ihn an, obwohl er wusste, dass es nicht fair war.

Darren machte keinen beleidigten Eindruck. Er neigte den Kopf, betrachtete ihn viel zu intensiv. „Dir macht das wirklich zu schaffen, oder?“

„Ja! Es ist … das ist ...“ Er suchte wie immer verzweifelt nach Worten, aber er fand sie einfach nicht. Was ihn nur noch wütender machte. Es machte etwas in ihm kaputt, dass er sich so mühselig versucht hatte wieder aufzubauen.

„Okay, das ist nicht ganz die Art, wie ich es geplant habe es dir zu sagen, aber gut“, bemerkte Darren und ging los, in Richtung Diner. „Komm.“

Aaron sah ihm wütend und vor allem irritiert hinterher. „Bist du irre? Wie kannst du da reingehen?“

„In dem ich es tue.“ Der altbekannte Schabernack trat in die blauen Augen, was Aaron für einen Moment ablenkte. „Wir werden jetzt da reingehen, Kaffee trinken, ein Stück Kuchen essen, diesen Idioten eine kleine Lektion erteilen und dann reden wir. Komm mit oder warte hier, aber ich werde mir jetzt diesen Kuchen holen.“ Mit diesen Worten ging er weiter.

Aaron blieb ein paar Sekunden stehen, bevor er laut fluchte und zu Darren aufholte.

Das Diner sah aus wie immer. Dieselben alten Tische, dieselben roten Sitzbänke, dieselbe Theke mit demselben Koch und derselben Kellnerin, die zwischen den spärlich anwesenden Gästen hin und her lief, um Kaffee nachzuschenken. Sie lächelte und winkte sogar, als sie Aaron sah. Er erwiderte den Gruß nicht. Im Gegensatz zu Darren, der mit federleichten Schritten zu einem der leeren Tische ging und sofort einen Blick in die Speisekarte warf, kostete es Aaron wahnsinnige Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzten. Er fühlte sich wie ein Parasit an diesem Ort, der ihm früher Freude bereitet hatte.

Steif ließ er sich gegenüber von Darren auf die Sitzbank fallen. Keine Minute später tauchte Sammy, die Kellnerin bei ihnen auf, lächelte so freundlich wie immer. Aaron wollte sich am liebsten übergeben. „Hallo! Was darf es heute sein?“

„Kaffee für uns beide“, übernahm Darren das Reden. Er erwiderte das Lächeln absolut charmant. „Wie ist der Käsekuchen?“

„Hausgemacht! Unsere meist verkaufte Speise! Einige Gäste kommen nur deswegen.“

„Und ich dachte, sie kommen wegen den hübschen Kellnerinnen.“

Sammy kicherte – echt wahr – und schaffte es sogar, ein wenig rot anzulaufen. Sichtlich zufrieden mit sich, legte Darren die Karte zur Seite. „Dann nehme ich ein Stück, bitte.“ Er sahn Aaron an. „Willst du auch was?“

Aaron schüttelte den Kopf. Er glaubte gerade verlernt zu haben, wie man sprach. Sammy warf ihm einen etwas pikierten Blick zu, verschwand aber ohne jeden Kommentar, nur um kurz darauf mit frischen Kaffee und einem Stück extra großen Käsekuchen wiederzukommen. Darren bedankte sich freundlich und ließ es sich nicht nehmen, noch ein wenig mit ihr zu flirten. Aaron schwankte sekündlich zwischen dem Bedürfnis in die Tischkante zu beißen und von hier zu verschwinden.

Und was machte Darren? Aß in aller Seelenruhe seinen verdammten Kuchen und schlürfte seinen Kaffee. Das war zum Ausrasten!

Als er fertig war, kam Sammy wieder zu ihnen an den Tisch und lächelte Darren an. „Habe ich zu viel versprochen?“

„Nein! Der Kuchen ist wirklich fantastisch! Wieso hast du mir so etwas vorenthalten?“ Darren schaffte es allen Ernstes ihm einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. Aarons Auge zuckte.

„Kann ich sonst noch etwas für euch tun?“

„Da gibt es tatsächlich noch etwas.“ Darren lehnte seine Unterarme auf den Tisch. Er behielt sein Lächeln bei, doch Aaron entging nicht der kampfeslustige Funke in seinen Augen. „Du könntest mir erklären, was diese Sache mit dem Schild soll.“

„Äh, was?“ Sammy hatte immerhin den Anstand, peinlich berührt auszusehen.

„Na, dieses nicht zu übersehen Schild dort vorne.“ Darren nickte zum Fenster, obwohl jeder hier wusste, wovon er sprach. „Ich frage mich, wer so ein niedriges Selbstbewusstsein hat, dass er auf so dämliche Ideen kommt. Ich schätze mal, es war nicht deine Idee. Du scheinst ein nettes Mädchen zu sein. Also, wer war es? Der Koch? Der Manager?“

„Ich … also ..“, stammelte Sammy und fast – wirklich nur fast – tat sie Aaron leid.

„Ach, komm schon. So schwer ist die Frage nicht. Aber gut, lassen wir das.“ Er sah ihn wieder an. „Was meinst du, Schatz? Gehen wir oder willst du noch etwas?“

Aaron war nicht sicher, wer dämlicher aus der Wäsche schaute. Er selbst oder Sammy. Darren jedenfalls nicht. Der lächelte immer noch und tat dann was völlig Dämliches: er beugte sich über den Tisch und küsste ihn. Nur kurz, aber eindeutig. Aaron war so schockiert, dass er vergaß zu atmen. An jedem anderen Tag wäre es für ihn schon der pure Graus gewesen, wenn Darren so etwas in der Öffentlichkeit getan hätte, aber hier und jetzt … wie konnte er nur? Aaron war so wütend, dass er fast schon wieder ruhig war. Er war so kurz davor Darren eine Szene zu machen, was gegen alles sprach, woran er glaubte. Also blieb er sitzen, starrte Darren fassungslos an und wollte ihm wirklich, wirklich gerne dieses verdammte Lächeln aus dem Gesicht schlagen.

Sammy tat das, was er nicht konnte: sie verschwand. Aaron beneidete sie.

„Aaron“, lenkte Darren ihn ein wenig von diesem Gefühlsstau ab. Er sah ihm mit einem Mal sehr, sehr ernst in die Augen, was ihn noch nervöser machte. „Du musst mir das jetzt glauben.Versprich mir, dass du mir glaubst.“

Gerade glaubte Aaron höchstens, dass er in einem Paralleluniversum gelandet war, wo alle seine schlimmsten Albträume wahr wurden. Darren sah jedoch so ernst aus, dass er automatisch nickte.

„Gut. Denn das ist wichtig: ich mache so etwas normalerweise nicht. Ich bin kein Papakind. Verstanden?“

Nein, Aaron verstand kein Wort. „Was?“, hakte er deswegen auch völlig ratlos nach.

Er bekam keine Antwort. Darren lehnte sich zurück und beobachtete mit einem selbstgefälligen Ausdruck im Gesicht, wie ein Mann auf sie zugesteuert kam. Mitte Vierzig, dunkle Hautfarbe, Schnurrbart und Wohlstandsbauch. Sammy schlich hinter ihm her und sah aus, als wäre sie gerne überall oder nicht hier. Aaron konnte es ihr so gut nachvollziehen.

„Meine Herren“, begrüßte der Mann sie in einem absolut nicht netten Tonfall. „Ich muss sie leider bitten zu gehen. Wie Sie sicher wissen, können wir Leute wie Sie hier nicht bedienen.“ Er deutete zu dem Schild und besaß die Dreistigkeit empört auszusehen. Aaron war so kurz davor sich zu vergessen!

„Leute wie uns?“ Darren legte unschuldig den Kopf ein wenig schief. „Sie meinen Homosexuelle?“

Der Mann nickte, nicht ohne bei dem Wort angewidert den Mund zu verziehen.

Irgendwie schaffte es Darren immer noch völlig ruhig und entspannt zu sein. Obwohl inzwischen alle Augen im Diner auf sie gerichtet waren. Aaron würde gerade sehr viel für das bekannte schwarze Loch vor seinen Füßen tun. „Sind sie der Manager hier?“

„Neuer Eigentümer!“

„Noch besser.“ Darren sah zu dem Mann nach oben und lächelte jetzt offen angriffslustig. „Also nehme ich an, dieser Mist ist auf Sie gewachsen. Bevor wir gehen, klären Sie mich bitte über etwas auf: als Geschäftsmann müsste ihnen der Grundsatz Geld stinkt nicht bekannt sein. Ihre persönliche Meinung gewissen Gruppierungen gegenüber mal ausgeschlossen, sollte Ihnen doch klar sein, dass Geld von Homosexuellen genauso viel Wert ist wie von jedem anderen Menschen, oder?“

„Das tut nichts zur Sache!“ Die Wangen des Mannes blähten sich so empört auf, dass sein Schnurrbart vibrierte. „Es geht um Moral und Anstand. Ich dulde keine Untiere in meinem Etablissement!“

„Ihr gutes Recht“, bemerkte Darren doch allen Ernstes. „Aber von Geschäftsmann zu Geschäftsmann, gebe ich Ihnen jetzt einen gut gemeinten Rat. Ganz kostenlos! Wenn Sie dieses Schild nicht in den nächsten – sagen wir zwanzig Minuten – entfernen, wird es diesen Laden hier nicht mehr lange geben.“

Die Augen des Mannes verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Drohen Sie mir etwa?“

„Gott bewahre, natürlich nicht! Ich weise Sie nur auf Tatsachen hin. Denn wissen Sie, Geld von Schwulen ist genauso viel Wert wie von jedem anderen. Und ich habe Geld. Eine Menge Geld. So viel, dass ich diesen Laden hier mit einem Fingeschnippen kaufen kann. Einfach so. Nur um ihn abreißen zu lassen oder hey, vielleicht mache ich einen Schwulen- und Lesbenclub draus! Das würde die Qualität der Nachbarschaft ein wenig anheben.“

„Das ist Erpressung!“

„Mag sein.“ Darren zuckte leichthin mit den Schultern. „Beweisen Sie mir das. Los, ziehen Sie vor Gericht.Ihr Wort gegen meines. Sie werden verlieren und wissen Sie, warum? Weil ich vielleicht eine verdammte Schwuchtel bin, aber ich bin ein weißer, stinkreicher Mann. Das hat in diesem Land traurigerweise immer noch mehr Wert als Fairness oder Gerechtigkeit. Sie hingegen sind ein einfacher, homophober, schwarzer – ehrlich, entgeht Ihnen die Ironie an dieser Sache? - Ladenbesitzer, der seinen Job und vermutlich auch seine gesamte Existenz zu verlieren hat. Also tun Sie sich selbst den Gefallen und nehmen Sie dieses dämliche Schild ab.“

Ein paar Sekunden war es still, während alle – Aaron eingeschlossen – Darren einfach nur ansahen wie eine Erscheinung.

„Verschwinden Sie aus meinem Laden!“, fand der Mann als erstes seine Stimme wieder. Er schrie fast und auf seinem Gesicht zeichneten sie rote Flecken ab. Er musterte Darren abschätzig und glaubte ihm mit Sicherheit kein Wort. Aaron verstand das. Mit der zerschlissenen Jeans und der abgenutzten Lederjacke wirkte Darren nicht wie ein wohlhabender Mann.

„Schon gut, schon gut. Kann ich wenigstens vorher bezahlen?“

„Das ist jawohl das Mindeste.“

Immer noch die Ruhe in Person griff Darren in seine Jackentasche. „Ich kann mit Karte bezahlen?“

„Natürlich“, meldete sich Sammy zu Wort, sichtlich bemüht etwas zu schlichten.

Darren nickte ihr dankend zu, kramte sein Portemonnaie raus und zog seine Kreditkarte. Eine schwarze American Express. Aaron fiel fast die Kinnlade auf den Tisch. Schwarze American Express Karten waren so selten, dass man sie fast schon als schlechte Erfindung der Filmindustrie abstempeln konnte, doch Aaron wusste, dass es sie in der Realität gab. Man musste nur verdammt viel Kohle haben, um so etwas zu bekommen. Kein Millionär, sondern Milliardär. Die Banken luden einen dazu ein, aber nur, wenn über Jahre mehrere Millionen über die Konten geflossen waren. Auf legale Weise, das war Aaron klar. Das schaffte man nicht, in dem man ein paar Konsolen oder Handys auf dem Schwarzmarkt verkaufte. Wie zur Hölle kam jemand wie Darren an so eine gigantische Summe Geld?

Der Ladenbesitzer und Sammy blickten genauso dämlich aus der Wäsche wie er. Der Mann nahm Darren die Karte ab, las den Namen darauf – und bekam große Augen. Seine ganze Haltung veränderte er sich und er verschwand rasend schnell hinter der Theke. Aaron sah ihm hinterher, beobachtete ohne auch nur zu blinzeln, wie er die Karte in das Lesegerät steckte. Er war so fest davon überzeugt, dass es eine Fälschung war, dass er einen überraschten Laut von sich gab, als das Gerät zufrieden piepte und den Bon ausdruckte.

„Ich glaube, ich nehme noch etwas von dem Kuchen!“, rief Darren dem Mann zu. Dabei fiel ihm Aarons fassungsloser Blick auf. „Was?“, verteidigte er sich. „Der ist wirklich gut.“

Paralleluniversum! Eine andere Erklärung konnte es nicht geben!

Der Mann kam kurz darauf wieder, das abgenommene Schild unter den Arm geklemmt und eine riesige Packung mit Kuchen in der Hand. „Das geht aufs Haus!“, verkündigte er in einem schmierig freundlichen Tonfall, während er Darren seine Karte wiedergab. „Das Ganze tut mir wirklich leid. Es war alles nur ein Missverständnis!“

Ja, klar. Wem wollte er das eigentlich erzählen? Darren glaubte sicher kein Wort, doch er nickte höflich. „Da bin ich sicher. Vielen Dank! Wollen wir gehen, Schatz?“

Aaron nickte, völlig benommen. Er wusste gar nicht, wie er es schaffte aufzustehen, seine Jacke überzuziehen und nach draußen zu gehen, aber irgendwie schaffte er es. War das gerade wirklich passiert?

Erst auf dem Parkplatz, erinnerte er sich wieder daran, wie man Wörter sinnvoll aneinander reihte. „Was zur Hölle war das?“

„Eine Lektion“, bemerkte Darren leichthin. „Der Idiot wird nie wieder einen homophoben Satz von seinen Lippen lassen.“

„Er hasst uns trotzdem!“

„Daran wird auch niemand etwas ändern können. Selbst ich nicht.“

Wütend schnaufte Aaron, musterte Darren, als würde er ihn zum ersten Mal sehen. „Wer bist du?“

Jetzt sichtlich unruhig rollte Darren mit den Schultern. „Lass uns woanders hingehen, dann -“

„Nein! Ich schwöre bei Gott, Darren, wenn du mir nicht hier und jetzt eine Antwort gibst, war es das. Ich gehe und du siehst mich nie wieder.  Wer bist du?“

Fast schon schüchtern biss Darren sich auf die Unterlippe, bevor er schwer ausatmete. „Darren Louis Brewster."

Aaron fiel jetzt wirklich die Kinnlade nach unten. "Das ist ein Witz."

"Leider nein. Ich kann dir meinen Ausweis zeigen."

Ein kleines Bisschen überwältigt hielt Aaron sich an einem Laternenmast fest. Ihm wurde schlecht. Sehr schlecht.

Die Brewester-Familie war die reichste und dementsprechend auch bekannteste Familie in der Stadt und vermutlich im ganzen Bundesstaat. Sie betrieben einen Mischkonzern, der fast überall seine Finger im Spiel hatte. Lebensmittel, Banken, Sport, Mode … und vieles mehr. Seit Generationen war der Konzern in Familienbetrieb und seit Jahrzehnten wirklich, wirklich wohlhabend. Und beliebt. Frank Brewester, das Familienoberhaupt und mit großer Wahrscheinlichkeit Darrens Vater, spendete regelmäßig an lokale Vereine. Kinderhilfe, Naturschutz, Armenküche. Aaron erinnerte sich daran, wie er erst letzten Dezember gelesen hatte, dass die Brewsters nur haarscharf an die Top Ten der wohlhabensten Unternehmer der Welt vorbeigeschrammt waren. Der Welt! Um überhaupt von Forbs beachtet zu werden, musste man so viel Geld haben, dass Aaron schwindelig von den Zahlen wurde.

Und Darren gehörte dazu? Der kneipenbesuchende, biertrinkende, dreiste Darren, der sich mit fremden Männern in Motels traf?

Mit einem Schlag fielen einige Puzzleteile an ihren Platz. Woher das Geld kam, warum er so einen Aufstand wegen seinem Namen machte, warum er manchmal zeigte, wie gebildet er eigentlich war. Aaron wusste nicht, ob er erleichtert oder wütend sein sollte. Er war beides gleichzeitig.

„Aaron?“ Darren klang vorsichtig, sah ihn an als wäre er ein scheues Tier, das beim nächsten lauten Ton einfach verschwand. „Alles in Ordnung?“

„Alles in Ordnung? Nichts ist in Ordnung! So etwas kannst du mir doch nicht einfach an den Kopf knallen!“

„Du hast mir ja keine Wahl gelassen!“

„Ich fass das nicht.“ Aaron fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, fing an unruhig auf und ab zu laufen. „Dieses ganze Theater nur, weil du mir nicht sagen wolltest, dass du von dem Geld deiner Eltern lebst?“

„Tu ich nicht!“ Darren knurrte so wütend, dass Aaron erschrocken einen kleinen Schritt nach hinten machte. „Genau deswegen erzähle ich das nie! Jeder denkt immer sofort: ach, der arme, kleine, verwöhnte Bengel. Ist mit dem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen und musste sich nie Sorgen um Geld machen. Keiner kommt auch nur auf die Idee, dass ich mir mein scheiß Geld selbst erarbeitet habe!“ Darren schrie fast, so sehr redete er sich in Rage. Es war offensichtlich, dass Aaron hier unabsichtlich einen ziemlich wunden Punkt getroffen hatte. „Aber weißt du was, Klugscheißer? Genau so ist das: ich habe mir alles, was ich habe, selbst erarbeitet! Ohne meine Eltern oder den Rest meiner Familie! Seit ich erwachsen bin ist das einzige Geld, das ich von denen angenommen habe, das Geld fürs College. Ich musste wie jeder andere Student dort lernen und mir den Arsch für meinen Abschluss aufreißen. Und ich habe jeden Cent plus Zinsen meiner Studiengebühren an meinen Vater zurückgezahlt. Das gerade eben“, er deutete zum Diner, „war das erste Mal seit dem, dass ich das Konto meiner Eltern angerührt habe.“

„Du hast mich angelogen! Du hast gesagt, du bist Bauarbeiter!“

„Ich habe gesagt, ich arbeite auf dem Bau“, stellte Darren klar. „Das habe ich auch, als wir uns kennengelernt haben.“

Sehr um Beherrschung bemüht, atmete Aaron zittrig aus. „Was arbeitest du wirklich?“

„Ich bin Diplom-Ingenieur“, brachte Darren Licht ins Dunkel. „Oder vielleicht passt die Bezeichnung Erfinder besser. Keine Ahnung. Ich schraube gerne. Ich denke darüber nach, was nützlich sein könnte und baue es.“ Er zuckte leicht mit den Schultern, als wäre das keine große Sache. „Oft 'wechsel' ich dafür den Job. Fachidioten sind furchtbar, also gehe ich für Projekte vor Ort und schau mir an, was das Problem ist und wie man es lösen kann. Damals habe ich für so ein Projekt auf dem Bau gearbeitet.“

„Das erklärt nicht, wie du an so viel Geld kommst, wenn nicht von deiner Familie.“

„Es ist nicht von ihnen!“, wiederholte Darren, immer noch knurrend, bevor er sich zusammenriss. „Wie gesagt, ich erfinde Sachen und ich bin verdammt gut darin. Meistens verkaufe ich die Prototypen oder die Ideen an Firmen, die sich die Rechte sichern und es ausschlachten. Ich habe zum Beispiel eine App konstruiert und sie an Apple verkauft.“

„Das … ist alles?“, hakte Aaron ungläubig nach.

„Nein. Ich habe einen hochsensible Bewegungssensor entworfen und ihn an Nintendo verkauft. Ich habe Steckdosen mit eingebauten Verlängerungskabel entworfen, einen Roboter, der einfache Arbeiten an Plätzen übernehmen kann, die für Menschen zu gefährlich sind oder wo sie nicht dran kommen, langhaltende Akkus mit USB-Port zum Aufladen für Unterwegs, einen Toaster aus Glas, -“

„Das war das Teil in deiner Küche?“

Darren grinste kurz. „Genau. Normale Toaster machen mich wahnsinnig! Entweder kommen sie zu hell raus oder zu dunkel. Mit dem Toaster aus Glas kann man sehen, wenn es die richtige Bräune hat und es dann rausholen.“

Das barg einer so deutlichen Logik, dass Aaron nicht widersprechen konnte. Es änderte allerdings nichts daran, dass er sich irgendwie betrogen fühlte. „Du hast mich angelogen“, wiederholte er deswegen, müder diesmal.

„Habe ich nicht.“

"Natürlich hast du das! Du hast mir irgendwelche Halbwahrheiten serviert, mich ständig über die einfachsten Dinge rätseln lassen. Du wolltest mir nicht einmal deinen Namen sagen.“

„Aus guten Grund!“

„Du hast mich glauben lassen, dass du ein Krimineller bist!“

„Das waren deine eigenen Schlussfolgerungen!“

Aaron knurrte jetzt selbst wütend. „Was hätte ich denn denken sollen? Deine Wohnung sieht aus als wäre sie die Höhle von Sindbad!“

„Dafür kann ich nichts! Ich hab Einzelteile aus den Smartphones gebraucht und ironischerweise ist es günstiger, die Handys zu kaufen als die Einzelteile.“

„Das hättest du mir einfach sagen können!“, brüllte Aaron jetzt.

„Du hast mich ja nicht gelassen!“, brüllte Darren zurück.

Sie schnauften beide schwer und sahen sich einen Moment einfach nur wütend an.

„Trotzdem“, beharrte Aaron dann. Nicht weil er unbedingt Recht haben wollte, sondern weil er sich so fühlte. Die Wut war mit einem Schlag verschwunden. „Du hättest dieses ganze unnötige Drama verhindern und mir einige schlaflose Nächte ersparen können, wenn du einfach von Anfang an ehrlich gewesen wärst.“

„Du hattest schlaflose Nächte? Wegen mir?“ Darren sah ehrlich überrascht aus,

„Natürlich, du Idiot. Denkst du, ich würde mir diesen ganzen Scheiß geben, wenn du mir egal wärst? Das macht es nur noch schlimmer.“

Darren seufzte und klang jetzt selbst irgendwie müde. „Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht an der Nase herumführen.“

„Hast du aber.“

„Ich weiß. Es ist nur so, dass es in der Vergangenheit nicht gut gelaufen ist, wenn ich von Anfang an die Karten auf den Tisch gelegt habe.“

„Aha“, bemerkte Aaron, nicht sehr intelligent, aber ihm fiel dazu wirklich nichts mehr ein.

Gerade war ihm das auch alles zu viel. Viel zu viel. Er hatte das Gefühl, einen Menschen vor sich zu haben, den er gar nicht kannte. Er konnte das gerade einfach nicht verarbeiten.

Er drehte sich abrupt um und ging.

„Hau nicht schon wieder ab!“, rief Darren ihm hinterher, machte aber diesmal keine Anstalten ihm zu folgen. Aaron ignorierte ihn. Er bekam keine Luft. Er musste hier weg.  

Kapitel 10

 Aaron stand hinter der Verkaufstheke in seinem Laden, die Ellenbogen auf das Holz gestützt, und störte sich nicht daran, dass er einen sehr lustlosen Eindruck machte. Es war spät, kurz vor Ladenschluss. Der vermutlich letzte Kunde war eben gegangen. Jetzt herrschte eine erdrückende Stille. Normalerweise genoss er das. Die Ruhe, der Geruch von Büchern, die Passanten, die draußen am Schaufenster vorbeiliefen, um nach Hause zu kommen. Normalerweise mochte er den Gedanken, gleich abzuschließen, nach oben zu gehen, sich selbst ein Buch zu schnappen und sich mit Shakespear auf die Couch zu verkriechen.

Heute fühlte er nicht so und das war alles Darrens Schuld!

Er konnte das alles immer noch nicht fassen. Er hätte mit vielen Dingen gerechnet, die Darren ihm als Erklärung für sein seltsames Verhalten an den Kopf warf. Einige besser als die anderen. Aaron wäre nur nie im Leben auf die Idee gekommen, dass Darren Millionen schwer war. Mindestens.

Es war nicht so, dass er sich viel aus Geld machte. Aaron war kein materiell veranlagter Mensch. Es beruhigte ihn, wenn er ein Polster auf dem Konto hatte. Ab und an gönnte er sich was, aber ansonsten lebte er ziemlich sparsam. Als sie ihren Großvater ins Pflegeheim geben mussten, war der Preis für Emily und ihn total irrelevant gewesen, obwohl sie beide nicht zu den Großverdienern zählten. Geld war einfach ein notwendiges Übel. Etwas, worüber er sich manchmal ein wenig Sorgen machte, aber mehr auch nicht. Er hatte andere Menschen noch nie danach bemessen, wie viel oder wie wenig sie auf dem Konto hatten.

Das 'Problem' war nur, dass er das alles irgendwie sehr einschüchtern fand. Darren war ganz offensichtlich kein verwöhnter und verzogener Mensch. Trotzdem musste er völlig anders aufgewachsen sein als Aaron. Er konnte nicht einmal erahnen, wie es sein musste, so reich zu sein. Geschweige denn mit den ganzen Bürden zu leben, die so etwas mit sich brachte. Adel verpflichtet, so sagte man doch. Es musste ein anstrengendes Leben sein, wenn man keinen Schritt machen konnte, ohne darauf achten zu müssen, den guten Ruf der Familie nicht zu ruinieren. Vielleicht nahm Darren deswegen seine One-Night-Stands mit in ein Motel. Was würden die Leute denken, wenn rauskam, dass der Sohn einer solch wohlhabenden Familie seine Zeit damit verbrachte, sich mit fremden Männern durch die Laken zu wühlen? Darren scherte das mit Sicherheit nicht, aber er schien Aaron auch nicht der Typ zu sein, der ohne Rücksicht auf Verluste handelte. Sollte das rauskommen, wäre es sicher ein kleiner bis mittelgroßer Skandal. Also konnte man es ihm nicht verübeln, wenn er nicht mit seinem Namen hausieren ging.

Nur waren sie über die Sache mit dem One-Night-Stand schon längst hinaus. Weil Darren das so wollte. Er hatte ihn angerufen, er hatte darauf bestanden, dass sie sich erneut trafen. Immer und immer wieder. Hätte nicht irgendwann der Punkt kommen müssen, an dem Darren merkte, wie wenig Aaron sich für Klatsch oder Reichtum interessierte? Hätte er nicht irgendwann einsehen müssen, dass eine einfache Erklärung die Beziehung zwischen ihnen stabilisiert hätte? Mit Sicherheit. Darren war klug. So viel klüger als er es die Welt wissen ließ. Also warum hatte er es nicht getan? Aaron fiel keine Antwort ein, die ihm gefiel.

Jetzt, mit etwas Abstand, wurde ihm auch schmerzlich bewusst, dass er vielleicht ein kleines Bisschen übertrieben hatte. Darren hatte Recht. Er hätte eine Chance verdient gehabt sich zu erklären, die Aaron ihn zumindest am Schluss nicht gegeben hatte. Weil er an diesem Punkt schon so verwirrt von diesem dämlichen Spiel gewesen war, dass er sowieso nichts von dem glauben würde, was aus Darrens Mund kam. Trotzdem. Aaron war nicht fair oder rational gewesen. Es gab einige Stellen, an denen er erwachsener handeln könnte, doch der Zug war abgefahren. Was auch immer zwischen ihnen gewesen war, es war jetzt zertrümmert. Aaron wusste das. Er konnte nur nicht damit abschließen.

In seinem Kopf existierten momentan zwei Darrens. Die Variante, die er kennengelernt hatte. Der nette, charmante Typ, der sich über die einfachen Dinge des Lebens freute. Wie gutes China-Essen, Motorrad fahren oder einem Abend auf der Couch. Der Mann, der ihn besuchte und umsorgte, nur weil er ein wenig erkältet war. Der sich Sorgen um Emily machte, obwohl er sie gar nicht kannte. Dann gab es anscheinend noch die andere Variante. Der reiche Sohn, der Geschäftsmann, der Bastler. Irgendwie fiel es ihm gar nicht schwer sich vorzustellen, wie Darren versunken in seinem Element in einem Haufen Technik saß, während seine geschickten Finger ein Teil mit dem anderen verband. Es war irgendwie seltsam, dass es ausgerechnet Technik war. Bis vor Kurzem hätte er Darren für jemanden gehalten, der lieber rausging und ein Bier trank, anstatt zuhause vor dem PC zu sitzen. Dieser Darren hatte mit Sicherheit perfekte Manieren, konnte sich in gehobenen Kreisen genauso gut bewegen wie in einer billigen Kneipe. Es war so schwer für Aaron, diese beiden Varianten zu einem sinnvollen Bild zusammenzufügen und er stellte sich die Frage, ob er diesen Mann, der ihn so verrückt machte, überhaupt richtig kannte. Anscheinend ja nicht.

Die logische Schlussfolgerung wäre also, alles hinter sich zu lassen und nach vorne zu sehen. Es war nicht das erste Mal in seinem Leben, dass so etwas schiefging. Das war nie schön, doch bisher hatte Aaron nie Probleme gehabt weiterzumachen. Ohne zurückzublicken. Diesmal saß er jeden Abend eine ganze Weile vor seinem Handy und rang mit sich selbst, ob er Darren anrufen sollte oder nicht. Er tat es nicht. Was sollte er ihm auch sagen? Es war offensichtlich, dass sie beide in völlig verschiedenen Welten lebten. Nichts sprach dafür, dass einer von ihnen versuchte irgendwas daran zu ändern. Darren hatte sich seit dem Tag im Diner auch nicht mehr bei ihm gemeldet, was bezeichnend genug war. Vermutlich hatte er die Schnauze voll von Aarons Vorwürfen. Er konnte es ihm nicht verübeln.

Dummerweise hatte er in den letzten Wochen gelernt, dass Logik bei solchen Sachen keinen Platz hatte.

Müde rieb Aaron sich übers Gesicht, warf einen Blick auf die Uhr und überlegte, ob er heute einfach eine halbe Stunde früher Schluss machen sollte. Die Erfahrung zeigte ihm, dass unter der Woche um diese Uhrzeit sowieso nichts mehr passierte.

Bevor er den Gedanken richtig zu Ende bringen konnte, ertönte das leise, sanfte Klingeln der Türglocke. Aaron richtete sich auf und versuchte keine völlig jämmerliche Figur abzugeben. Er war sogar versucht zu lächeln, als er den Neuankömmling sah und ihm alles aus dem Gesicht fiel.

Darren betrat den Laden mit seiner Gott gegebenen Ruhe, die Aaron momentan so oft dazu bringen wollte, ihn zu packen und zu schütteln. Er sah gut aus. Immer noch dieselbe, zerschlissene Jeans und abgenutzte Lederjacke, aber irgendwas war anders. Darren sah irgendwie ordentlicher aus. Als wenn er heute Morgen ausnahmsweise mal mehr als fünf Minuten im Bad verbracht hätte. Nur sein Gesicht zeigte immer noch diese gewisse Erschöpfung, die er nicht verstecken konnte und die immer schlimmer zu werden schien. Aaron war so überrumpelt davon ihn zu sehen, dass sein Körper vor seinem Hirn reagierte. Sein Magen machte einen verräterischen Looping und sein Herz fing an zu pochen.

Darren ignorierte ihn, sah ihn nicht einmal an, sondern verschwand zwischen den Regalen. Aaron beugte sich zur Seite, um den Blickkontakt nicht zu verlieren, war hin und her gerissen zwischen dem Drang nach dem anderen Mann zu rufen oder ihn einfach nur zu beobachten. Gerade vergaß er für eine Minute dieses ganze Chaos. Darren dabei zu sehen, wie er zwischen all den Büchern lief, völlig ruhig und gemächlich, machte witzige Dinge mit Aaron. Darren blieb stehen, strich mit den Fingerspitzen über ein Einband. Hauchzart, fast schon zärtlich. Dann setzte er einen konzentrierten Ausdruck auf, lehnte sich ein Stück nach vorne und las ein paar Buchtitel. Das wiederholte er ein paar Mal, bis Aaron klar wurde, was er da eigentlich tat. War das ein schlechter Witz? Machte er sich über ihn lustig? Aaron war nicht sicher, ob er wütend oder gerührt sein sollte, aber sein ganzer Körper war in Aufruhr.

Er beobachtete Darren dabei, wie er zu einem anderen Regal lief. Auch hier wiederholte er sein kleines Ritual, bis er plötzlich lächelte und ein dünnes, weißes Buch aus dem Regal zog. Aaron konnte von hier aus nicht erkennen, welches es war, doch er hatte eine Ahnung. Auch darüber, was jetzt passierte.

Und richtig. Darren kam zu ihm, ein feines Lächeln auf dem Gesicht. „Hi!“, begrüßte Darren ihn, als wenn er ihn jetzt erst wahrnehmen würde. Er schob das schmale Buch auf die Theke, bevor er sich selbst mit beiden Unterarmen darauf abstützte und zu ihm nach oben sah. „Ein wirklich toller, hübscher und sehr schlauer Mann hat mir erzählt, dass das hier ein sehr gutes Buch sein soll.“ Er tippte mit dem Zeigefinger auf das Einband von Der kleine Prinz. „Ich habe im Internet ein paar Seiten überflogen, bin mir aber noch nicht sicher. Was wäre dein professioneller Rat?“

Aaron schaffte es nicht so ganz, etwas anderes zu tun als Darren misstrauisch anzustarren, während sein verräterisches Herz so wild gegen seine Rippen schlug, dass es fast schon schmerzte. „Ist das ein Witz?“, musste er einfach nachfragen. Das war nämlich nicht witzig. Aaron hatte nicht von seinem kleinen Traumszenario erzählt, damit man sich über ihn lustig machte. Er glaubte nicht, dass er das ertrug.

„Sehe ich aus, als würde ich Witze machen?“ Darren hob fragend eine Augenbraue. Er wartete aber keine Antwort ab, sondern nahm das Buch und schlug gezielt eine Seite auf. Offen schob er es wieder in seine Richtung. „Dieser Part hier hat mir wirklich gut gefallen.“ Er deutete auf einen Absatz und obwohl Aaron dieses Buch in- und auswendig kannte, las er trotzdem.

»Was bedeutet ›zähmen‹?«, fragte der kleine Prinz.
»Das wird oft ganz vernachlässigt«, sagte der Fuchs. »Es bedeutet ›sich vertraut miteinander machen‹.«
»Vertraut machen?«
»Natürlich«, sagte der Fuchs. »Du bist für mich nur ein kleiner Junge, ein kleiner Junge wie hunderttausend andere auch. Ich brauche dich nicht. Und du brauchst mich auch nicht. Ich bin für dich ein Fuchs unter Hunderttausenden von Füchsen. Aber wenn du mich zähmst, dann werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzigartig sein. Und ich werde für dich einzigartig sein in der ganzen Welt …«
»Ich verstehe allmählich«, sagte der kleine Prinz. »Da gibt es eine Blume … ich glaube, sie hat mich gezähmt …«

Aaron schluckte schwer. Sein Mund fühlte sich trocken an.

Wieder streckte Darren seine Hand aus. Das schlichte Lederarmband schwang bei der Bewegung leicht mit. Er blätterte zwei Seiten um. Seine Stimme war leiser, ruhiger, ein wenig melancholisch. „Und die hier.“

Wieder wusste Aaron, was dort stand. Wieder hielt es ihn nicht davon ab, erneut zu lesen.

»Lebe wohl«, sagte der Fuchs. »Hier ist mein Geheimnis. Es ist sehr einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.«
»Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar«, wiederholte der kleine Prinz, um es sich einzuprägen.
»Die Zeit, die du für deine Rose gegeben hast, sie macht deine Rose so wichtig.«
»Die Zeit, die ich für meine Rose gegeben habe«, sagte der kleine Prinz, um es sich einzuprägen.
»Die Menschen haben diese Wahrheit vergessen«, sagte der Fuchs. »Aber du darfst sie nicht vergessen. Du bist für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast. Du bist für deine Rose verantwortlich.«
»Ich bin für meine Rose verantwortlich«, wiederholte der kleine Prinz, um sich auch dies einzuprägen.

Ein Schauer kroch seine Wirbelsäule runter, während die Gedanken in seinem Kopf rasten. Meinte Darren das Ernst? Oder war das nur wieder eine seiner Manipulationen? Aaron konnte es nicht sagen, wie immer, doch es änderte nichts daran, dass er sich überwältigt fühlte.

"Es tut mir leid", bemerkte Darren und sah tatsächlich reuevoll aus. "Ich bin ein Idiot. Ich hätte viel früher für klare Verhältnisse sorgen müssen, aber ... das ist nicht so leicht."

Aaron traute sich kaum, den anderen Mann anzusehen. „Warum nicht?“

„Sobald diese Katze aus dem Sack ist, dreht sich alles nur noch um meine Familie. Es ist zermürbend. Versteh mich nicht falsch, ich liebe meine Familie, aber sie machen nur einen Bruchteil von meinem Leben aus. Es ist schwer jemanden kennenzulernen, der darüber hinweg sieht.“

„Es hat bei Stacey und Michael geklappt“, stellte Aaron nüchtern fest.

Darrens Mundwinkel zuckten. „Staceys und meine Familie sind seit Ewigkeiten befreundet. Ihre Eltern sind fast so wohlhabend wie meine. Im Gegensatz zu mir liebt sie den Luxus und den Prestige. Für sie ist das alles nichts Besonderes. Und Michael … ich hab ihn während meines Studiums kennengelernt. Wir waren Zimmergenossen. Er ist ein genauso großer Nerd wie ich, allerdings mehr im Bereich Internet und PCs. Hab ich erzählt, was er beruflich macht?“ Aaron schüttelte den Kopf und Darren schmunzelte ein wenig. „Große Firmen heuern ihn an, damit er sich durch ihr Sicherheitsnetz hakt. Er schleicht sich hauptberuflich um Firewalls herum und sucht Mittel und Wege, um auf die Firmenserver zu gelangen, um Lücken aufzuzeigen und auszubessern. Bisher ist er überall reingekommen.“

„Das ist ernsthaft ein Beruf?“, ließ sich Aaron kurz davon ablenken.

Darren nickte. „Michael lebt für dieses Zeug. Für PCs, Frauen und Alkohol. Mehr interessiert ihn nicht. Er kümmert sich nicht darum, wer meine Eltern sind.“

„Ich auch nicht“, stellte Aaron klar.

„Ich weiß. Aber das wusste ich am Anfang nicht. Als ich es realisiert habe, waren wir schon so festgefahren … ich hatte Angst dich zu verjagen. Diese ganze Sache kann sehr einschüchternd wirken.“

„Warum nur?“, hakte Aaron trocken und sehr rhetorisch nach, bevor er er leise seufzte.

„Es tut mir leid“, wiederholte Darren.

Aaron sah ihn an, direkt in dieses erschöpfte Gesicht, und diesmal glaubte er ihm. Er wusste nicht wieso, aber es war so. „Mir auch“, gab er deswegen zu, dass er sich selbst idiotisch benommen hatte.

„Also ...“ Darren stemmte sich ein wenig höher, kam ihm etwas näher und lächelte fast schon schüchtern. „Heißt das, du gibst mir noch eine Chance? Meine dritte? Man sagt doch immer, alle guten Dinge sind drei!“

Eine Weile sah er Darren einfach nur an, versuchte den Mann zu sehen, den er in den letzten Wochen kennengelernt hatte. Es gelang ihm nicht ganz. „Warum siehst du seit einer Weile aus, als wenn du keinen Schlaf bekommen würdest?“, überging er Darrens Frage, um etwas Zeit zu schinden.

Sichtlich verunsichert davon, zuckte Darren leicht mit einer Schulter. „Das ist nicht so wichtig.“

„Für mich schon. Ich mache mir Sorgen.“

Überrascht hob Darren den Blick, was Aaron tatsächlich ein wenig beleidigend fand. Was war daran überraschend?

„Es ist wegen einem neuen Projekt von mir“, erklärte Darren sich dann. „Ein Hochleistungschip, der exakt auf GPS-Daten reagiert, Wetterverhältnisse mit einbezieht und mittels CPT-Sensor Hindernisse… okay, lassen wir die langweiligen Details“, beschloss er, als er in Aarons recht ratloses Gesicht blickte. „Es war eigentlich für Navis gedacht, aber das Militär hat Wind davon bekommen und will es mir abkaufen. Für eine stolze Summe, was auf der einen Seite verlockend ist. Auf der anderen braucht man kein Genie sein um zu wissen, dass sie ihn nicht haben wollen, damit die Panzer den Weg nach Hause finden. Dann wiederum denke ich mir, wenn ich so etwas erfinde, dann tut es irgendwann jemand anderes. Vielleicht nicht für das US Militär, sondern jemand in Russland oder im Irak oder wo auch immer. Also wäre es nicht das Richtige, ein wenig Patriotismus zu zeigen?“

Okay, Aaron war schon vom zuhören völlig überfordert. Das klang um einiges ernster als er vermutet hatte und er wusste beim besten Willen nicht, wie man so etwas entscheiden sollte. „Ich habe keine Ahnung“, gab er deswegen zu.

Darren nickte wissend. „Ich auch nicht. Darüber zerbreche ich mir seit einer Weile den Kopf. Außerdem hilft es nicht, dass ich es mir mit den einzigen Mann, der mich in den letzten sechs Jahren wirklich interessiert und dem ich hoffnungslos verfallen bin, ziemlich verscherzt habe. Für niemanden der mich kennt überraschend, aber dennoch sehr Schlaf raubend.“

Verrückterweise spürte Aaron, wie ihm Hitze in die Wangen stieg. „Du bist ein Spinner.“

„Und du kannst immer noch nicht mit Komplimenten umgehen.“ Darren beugte sich über die Theke, bis sein Gesicht dicht vor seinem war. „Du hast mir nicht geantwortet. Gibst du dem Spinner noch eine Chance? Ich will dich, Aaron. Richtig. Mit allem, was dazu gehört.“

„Keine Spielchen mehr?“

„Keine Spielchen mehr. Du wirst dir jedes Gejammer und Gemecker über meine Familie im Detail anhören müssen!“

Aaron zögerte. Nicht weil er sich nicht schon längst entschieden hatte, sondern weil er die Spannung in der Luft auskosten wollte. Das hier fühlte sich wie ein wichtiger Moment an, ein Meilenstein in seinem Leben. Er wollte das speichern, nie vergessen.

Erst dann überbrückte er das letzte Stück, küsste Darren und wusste sofort, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Nur davon wurden seine Knie weich, sein Puls jagte in die Höhe und seine Finger kribbelten.

Er spürte, wie Darren in den Kuss lächelte. Genau wie bei ihrem ersten Mal im Motel. Zufrieden, sicher auch ein wenig selbstgefällig, aber es war Aaron gleich. Mit ein klein wenig Glück würde es nicht das letzte Mal sein.  

Epilog

 Darren wischte den Beschlag vom Spiegel, bis er seine Reflexion sehen konnte. Tropfen fielen von den nassen Haaren auf seine Schultern und vom Bart auf seine Brust. Er drehte den Kopf ein Stück zur Seite, rieb sich mit der Hand übers Kinn und überlegte, ob er sich die Mühe machen sollte, Aaron nach einen Rasierer zu fragen. So langsam wäre es mal wieder nötig. Aaron schien es jedoch nicht zu stören, so oft wie er ihm durch den Bart und die Haare strich, wenn sie zusammen auf der Couch lagen … oder im Bett. Darren lächelte ein wenig darüber.

Es kam ihm immer noch seltsam vor nach all den Jahren wieder in einer Beziehung zu stecken. Eine richtige, mit allem, was dazu gehörte. Bevor Darren vor drei Wochen in Aarons Buchladen gegangen war, hatte er sich überlegt, ob er das wirklich wollte. Dieses 'ganz oder gar nicht'. Er hatte sich gefragt, ob es nicht klüger wäre, die Sache langsam angehen zu lassen. So wie eine Art Testlauf. Eine Beta-Phase, bevor man das Projekt wirklich an den Start brachte. Ihm war schnell klar geworden, dass das Schwachsinn wäre. Er war zu alt für diesen Mist und das Leben war zu kurz. Nach Kyle hätte er nicht gedacht, überhaupt je wieder so für einen anderen Menschen zu empfinden, aber es war passierte. Irgendwie hatte Aaron es geschafft durch die Wand aus Gleichgültigkeit zu dringen und jetzt wollte Darren nicht mehr ohne ihn. Das Verrückte war, dass Aaron das vermutlich nicht einmal mit Absicht gemacht hatte. Es war eben passiert.

Im Grunde lief es auch ganz gut. Es hatte sich nicht viel zu vorher geändert und dann doch eine ganze Menge. Sie trafen sich nicht mehr im Motel, sondern meistens bei Aaron. Darren hatte nichts mehr dagegen, wenn Aaron seine Wohnung betrat, weil er jetzt nichts mehr zu verstecken hatte, doch sie trieben sich meistens hier herum. Bei Aaron war es gemütlicher und man stolperte nicht über dreißig Kabel und Schraubenzieher, die verstreut auf dem Boden herumlagen. Sie unternahmen dieselben Dinge wie vorher, sie redeten über dieselben Dinge wie vorher und der Sex war seiner Meinung nach sogar noch besser geworden, auch wenn er kaum gedacht hätte, dass das möglich war. Der einzige Unterschied bestand eigentlich nur darin, dass Darren nicht mehr mit diesem klammen Gefühl nach Hause ging. Mit dieser nagenden, nervigen Stimme in seinem Kopf, die ihm prophezeite, dass alles in die Brüche ging, sobald Aaron herausfand, wer er war und aus welcher Familie er kam. Darren schämte sich nicht. Weder für seine Eltern noch für seine Geschwister. Er liebte seine Familie, auch wenn sie ihn manchmal an den Rand der Verzweiflung brachte. Die Erfahrung zeigte nur, dass die wenigsten Leute damit umgehen konnten.

Aaron tat es. Auf seine eigene, ganz rationale Weise. Er verurteilte ihn nicht oder unterstellte ihm irgendwelche Dinge, die man in der Schublade für Kinder reicher Eltern so fand. Er fragte, hörte sich in Ruhe Darrens Erklärungen und Erzählungen an und entweder nickte er das ab oder machte einen frechen Spruch darüber, der seine tollen Augen für einen Moment zum Glänzen brachte und Darren ihn einfach nur nieder küssen wollte. Es war ein seltsames und fantastisches Gefühl einen Menschen an seiner Seite zu haben, bei dem man nicht das Bedürfnis hatte sich zu verstellen. Das war der Hauptgrund dafür, dass Stacey und Michael seine besten Freunde waren, aber Aaron … Aaron war eine ganz andere Geschichte.

Darrens Lippen verzogen sich zu einem feinen Lächeln. Er nahm das Handtuch von seinen Hüften, trocknete sich die Haare ab und schlüpfte wieder in seine alte Jeans, die schon bessere Tage gesehen hatte. Als er nach dem Shirt greifen wollte, hielt er mitten in der Bewegung inne.

„Ich fürchte, du musst da runter gehen, Süße.“

Shakespeare saß auf dem Boden, mitten auf seinem Shirt, und starrte ihn mit großen Katzenaugen an. Ihr Schwanz peitschte energisch in der Luft. Darren nahm es als gutes Zeichen, dass sie aufgehört hatte, sofort wegzurennen und sich zu verstecken, wenn er die Wohnung betrat, aber das hier war auch nicht gerade hilfreich.

„Komm schon“, versuchte er es und ging in die Hocke, um näher auf Augenhöhe zu sein. „Du mit deinem dicken Pelz verstehst das vielleicht nicht, aber wir unterentwickelten Menschen haben die Sache mit de Fell schon vor Jahren aufgegeben. Evolution bedeutet nicht immer Fortschritt, weißt du? Also sei ein Schatz und hab Mitleid mit einem dummen, armen Menschen, der Kleidung braucht, um nicht zu erfrieren.“

Shakespeare sah nicht sehr beeindruckt aus. Ihr leises Mauzen hörte sich ebenfalls nicht beeindruckt an. Darren seufzte, murmelte ein „ich hab es auf die nette Tour versucht“ und zog leicht an dem Shirt. Die Katze bewegte sich immer noch nicht. Erst als Darren den Stoff mit einem Ruck näher zu sich zog, sprang sie auf und warf ihm so einen bitterbösen Blick zu, dass er das Bedürfnis verspürte, loszugehen und ihr ein Pfund Rindersteak zu kaufen. „Sieh mich nicht so an!“, befahl er dem Tier.

Shakespeare drehte ihm den Rücken zu und verschwand mit erhobenem Schwanz aus dem Badezimmer.

Darren seufzte, zog sich das weiße T-Shirt über und überlegte dasselbe mit dem Pullover zu tun, entschied sich aber dagegen. Zu viel Stoff für das, was er heute noch mit Aaron vorhatte. Er räumte seine Sachen zur Seite und ging auf die Suche nach dem einzigen Lebewesen in dieser Wohnung, dass ihm nicht grundlos die kalte Schulter zeigte.

Aaron saß auf seinem Bett, mit dem Rücken an der Wand und die Beine von sich gestreckt. Er trug eines der weißen Hemden, von denen er gefühlt hundert Stück hatte, und war voll und ganz in ein Buch vertieft. Darren blieb im Türrahmen stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete ihn einfach eine Weile. Bis jetzt hatte er es immer für ein Klischee gehalten, dass man seinem Partner bei Dingen zusah, die er gerne machte. Ein ausgedachtes Szenario aus Filmen, um dem Zuschauer weiszumachen, wie vernarrt die beiden Protagonisten ineinander waren. Seit er Aaron kannte, revidierte er diese Meinung. Er liebte es, Aaron beim Lesen zuzusehen. Oder ihm zuzuhören, wenn er über Bücher sprach. Dann legte er diese ruhige, besonnene Art ab, die er sonst immer an den Tag legte und war so … menschlich. Aufgeregt. Leidenschaftlich. Es war total faszinierend. Als wenn er in einer anderen Welt leben würde.

Auch jetzt schien er nichts um sich herum mitzubekommen. Darren beobachtete ihn ein paar Minuten, bevor er nicht mehr widerstehen konnte. Er kletterte über die Fußseite des Bettes zu Aaron nach oben, über seine Beine, bis er mit dem Kopf das Buch ein Stück zur Seite stupste. Aaron gab ein Brummen von sich, reagierte sonst aber nicht. Mit einem vielleicht etwas fiesen Lächeln stemmte Darren sich mit beiden Händen von der Matratze ab und zwang Aaron damit, die Arme auseinander und das Buch zur Seite zu nehmen. Der resignierte Blick mit der hochgezogenen Augenbraue brachte ihn leise zum Lachen.

„Das ist nicht witzig“, beschwerte Aaron sich, klang dabei aber ziemlich halbherzig.

„Stimmt. Wenn mein Freund mich missachtet, ist das gar nicht witzig.“

„Du warst duschen! Du warst nicht einmal im selben Raum! Also kannst du-“

Darren küsste ihn so hart, dass er jedes weitere Wort erstickte. Er konnte spüren, wie die Spannung in Aarons Körper nachgab und er nachgiebig wurde. Darren küsste ihn tiefer, während er Aaron langsam das Buch aus der Hand nahm und es irgendwo neben sich auf die Matratze legte. „Das ist nicht fair“, schaffte der Spinner es sogar jetzt noch zu protestieren, auch wenn es nur noch ein Murmeln gegen seine Lippen war.

„Ich habe nie behauptet fair zu spielen“, murmelte Darren zurück, bevor er seine Lippen über Aarons gleiten ließ, sich über die Mundwinkel und den Kiefer küsste. Er hörte Aaron schwer ausatmen, fühlte Finger durch seine Haare streichen. Darren lächelte gegen die Haut an Aarons Hals – und zog sich zurück. Bei dem verwirrten Blick, den er dafür bekam, tat ihm das glatt schon leid! Aber nur fast.

„Warum hörst du auf?“

„Du wolltest lesen“, bemerkte Darren leichthin.

Aaron verdrehte in inzwischen gewohnter Manier die Augen, nahm das Buch – und schlug ihm damit auf den Kopf. „Hey! Das ist kein Grund, gleich handgreiflich zu werden.“

„Doch. Ich habe mir sagen lassen, dass kleine Schläge auf dem Hinterkopf das Denkvermögen anregen.“

„Sagt wer?“

„Geht dich gar nichts an.“

Darren schnaubte. „Natürlich. Ich kann daraus meine Frage für den Tag machen.“

Wieder wanderte Aarons Augenbraue ein Stück nach oben. „Das ist noch aktuell?“

„Natürlich! Wir haben das nie offiziell beendet.“ Darren setzte sich auf Aarons Beine und fing mit einer Hand an, sinnlose Muster über seine Jeans zu zeichnen. „Genau genommen haben wir beide noch eine Menge Fragen von den letzten Malen offen.“

„Ich habe keine Ahnung, wie oft wir uns seit dem gesehen haben.“

„Oft“, bemerkte Darren fröhlich.

Aarons Mundwinkel zuckten. „Das ist nicht sehr mathematisch, Herr Ingenieur.“

„In machen Fällen wird Logik überbewertet. Also! Was sagst du?“

Ein paar Sekunden starrte Aaron ihn einfach nur an, dann nickte er. „Von mir aus. Frag!“

„Warum warst du damals in der Kneipe?“

„Das habe ich dir damals schon gesagt. Ich wollte nur meine Ruhe!“

„Na!“, protestierte Darren. „Keine Lügen!“

„Ich lüge nicht!“ Aaron rutschte ein wenig an der Wand hinab und musste jetzt eindeutig zu ihm hoch sehen. „Manchmal, wenn ich den Kopf frei bekommen will, dann gehe ich dort hin.“

Langsam schob Darren seine Hände unter dem Saum des Hemdes, bis er Haut fühlen konnte. Er streichelte mit den Fingerspitzen über die Linie entlang des Hosenbundes und genoss es, wie er sofort Aarons ganze Aufmerksamkeit hatte. „Warum in so einen Laden? Ich meine, niemand geht dorthin, um seine Ruhe zu haben.“

„Dann bin ich wohl niemand.“

Darren schnaubte, schob seine Hände höher und strich jetzt feste über die Seiten und den Bauch. Er ignorierte, wie Aaron anfing, sich unruhig unter ihm zu bewegen. „Im Ernst. Du bist der Typ, der sich mit einem Glas Wein und einem Buch auf die Couch verzieht. Nicht der Typ, der in so einen Laden geht, wo vermutlich mehr Wichse auf dem Boden der Toiletten ist als in einer Samenbank.“

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du widerlich bist?“

„Schon einige Leute, ja. Lenk nicht ab.“

Aaron seufzte und Darren war nicht sicher, ob es an seinen Händen lag oder an einer Spur Resignation. „Ich mag den Laden, weil ich dort nicht so tun muss, als wäre ich eher daran interessiert, einer Frau hinterherzusehen als … naja, du weißt schon.“ Er zuckte etwas hilflos mit den Schultern. „Es ist auf simple, aber grundlegende Art ehrlich dort. Ich mag das. Es beruhigt mich irgendwie.“

„Ah“, machte Darren im wissenden Tonfall und er verstand wirklich. Das war typisch Aaron.

„Sollte ich mich schlecht fühlen, deine Ruhe unterbrochen zu haben?“, hakte er nach und schob seine Hände wieder nach unten. Deutlich nach unten, bis er zwischen Aarons Beinen war. Mit Hose nicht halb so aufregend wie ohne, aber es brachte ihm eine ziemliche Genugtuung ein, wie Aaron sich ihm sofort entgegenstreckte.

„Solltest du“, behauptete der Mistkerl trotzdem.

Darren lachte leise und ließ ihn sofort los. „Dann sollte ich dich wohl jetzt in Ruhe lassen“, bemerkte er todernst und tat so, als wenn er aufstehen wollte.

Aaron hatte ihm schneller am Shirt gepackt und wieder zu sich gezogen als er blinzeln konnte. Der Kuss war hart und süß zugleich; ließ ihn ein wenig benommen zurück. Darren keuchte und war plötzlich gar nicht mehr in Stimmung für Spielereien. Er schob eine Hand in Aarons Haare, hielt ihn dicht bei sich.

Dann klingelte plötzlich Aarons Handy auf dem Nachtisch und beide zuckten zusammen. „Erwartest du jemanden?“

Aaron schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Dann ignoriere es“, beschloss Darren, bevor er ihn wieder küsste. Gieriger diesmal, eindeutig fordernd. Er schauderte als er Aarons Finger unter seinem Shirt fühlte und machte sich selbst daran, die Knöpfe des Hemds zu öffnen. Viel zu fahrig und eigentlich dauerte ihm das viel zu lange, aber ausziehen gehörte nach wie vor einfach zu den besten Dingen beim Vorspiel.

Er war fast beim letzten Knopf angekommen, als er Aaron schwer ausatmen hörte. „Ich sollte da dran gehen.“

„Warum?“

„Es ist Emily.“

Darren knurrte leise, überhaupt nicht glücklich über die Unterbrechung. „Du setzt deine Prioritäten falsch!“


„Es könnte wichtig sein!“

„Du immer mit deiner Logik!“ Darren grinste, küsste ihn ein letztes Mal und streckte sich dann, um Aaron sein Telefon in die Hand zu drücken, bevor aufstand und die Geschwister in Ruhe reden ließ.

Er machte einen kurzen Abstecher ins Wohnzimmer, um zu gucken, ob Shakespeare in Stimmung für Spielchen war, aber die Katze lag eingerollt auf ihrem Kratzbaum und hob nicht einmal den Kopf, als er an ihr vorbei lief. Also ging er gleich weiter in die Küche und steckte seinen Kopf in den Kühlschrank. Aaron war ein großartiger Mann mit vielen Talenten. Kochen gehörte dummerweise nicht dazu, weswegen Darren sich bereit erklärte, diese verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen!

Die Eier brutzelten wenige Minuten später in der Pfanne, als er Schritte hinter sich hörte. „Das ging schnell“, stellte Darren fest, während er im Schrank nach dem Pfeffer suchte.

„Mhm“, stimmte Aaron zu und im nächsten Moment spürte Darren Arme um seinen Bauch und Aarons Kopf an seiner Schulter. Sein Herz machte sofort einen Satz und er konnte rein gar nichts gegen das verdammte Lächeln machen.

„Also nichts Wichtiges?“, hakte er nach, würzte die Eier und legte seine freie Hand auf Aarons an seinem Bauch.

„Nein. Sie hat uns allerdings fürs Wochenende eingeladen. Hast du Zeit?“

„Kommt drauf an. Sonntag ist Familien-Essen.“ Er warf einen Blick über die Schulter, auch wenn er nicht mehr als Aarons dunklen Haarschopf sehen konnte. „Wozu du übrigens offiziell eingeladen bist, wie mir gerade einfällt.“

Er konnte spüren, wie Aaron sich sofort versteifte. „Wann hattest du vor, mir das zu sagen?“

„Letzten Montag? Aber du kennst mich und mein Hasenhirn! Ich bin alt. Und vergesslich. Hab Mitleid!“

Aaron brummte irgendwas Unverständliches vor sich hin, bevor er schwer seufzte. „Bist du sicher, dass du mich deiner Familie vorstellen willst?“

„Absolut! Ich habe Emily und Martha doch auch schon kennengelernt.“ Was eine echt abgefahrene Erfahrung gewesen war. Emily sah ihrem Bruder aus offensichtlichen Gründen total ähnlich, aber die beiden könnten kaum unterschiedlicher vom Charakter sein. Sie waren beide herzensgut und liebevoll, doch wo Aaron ruhig und besonnen war, war Emily aufgedreht, fröhlich und alles andere auf den Mund gefallen. Darren hatte sie sofort gemocht und die kleine Martha war einfach zuckersüß.

„Das ist was anderes“, behauptete Aaron, gab ihn einen Kuss auf den Nacken und ließ ihn dann sehr zu Darrens Bedauern komplett los. „Emily ist meine Schwester und nur eine erwachsene Person! Ich muss deine Eltern und deine Geschwister kennenlernen. Was ist, wenn sie mich hassen?“

Darren lachte laut auf. „Ich bezweifel, dass irgendjemand dich hassen kann, Aaron.“

„Und wenn ich ihnen nicht gut genug bin?“

Jetzt schnaubte Darren. Er wendete die Eier, stellte den Herd etwas runter und drehte sich zu seinem Freund um. „Ich kann dir ganz genau sagen, wie es ablaufen wird. Haargenau, wenn du es wissen willst. Meine Mutter wird ganz aus dem Häuschen sein, dass ich überhaupt jemanden mitbringe. Sie wird dir Löcher in den Bauch fragen und dir mindestens dreimal raten, dass du über meinen Dickschädel hinwegsehen musst.“

„Sympathische Frau“, bemerkte Aaron schmunzelnd.

„Mein Vater wird auch begeistert von dir sein.“

„Warum sollte er?“

„Weil du ein bodenständiger, ehrlicher Geschäftsmann bist.“ Darren zuckte leicht mit den Schultern. „Mein Vater hat in erster Linie Respekt vor Menschen, die auf den eigenen Füßen stehen und sich ihren Lebensunterhalt verdienen, egal auf welchem Weg. Darum streitet er sich auch gerne mit meinem jüngeren Bruder, der nicht unbedingt in diese Kategorie fällt. Aber du brauchst dir da wirklich keinen Kopf machen. Du bist klug, du bist belesen, du weißt, wie die Welt tickt. Er wird dich mögen. Meine Schwester kommt komplett nach meinem Vater, für sie gilt dasselbe.“

„Und dein Bruder?“, hakte Aaron nach, der immer noch nicht ganz überzeugt aussah.

„Du wirst Thommy scheißegal sein.“

Aaron lachte überrascht auf. „Charmant!“

„So ist er! Thommy ist ein guter Mensch, aber … naja. Seiner Meinung nach dreht die Welt sich nur um ihn. Da du keine hübsche Blondine bist, die er mir ausspannen könnte, wirst du ihn nicht weiter interessieren.“

Unsicher kratzte Aaron sich am Hinterkopf. Darren konnte sehen, wie die Räder in seinem Kopf ratterten und obwohl es ihm ein wenig leid tat, musste er darüber lächeln.

„Na gut“, gab Aaron schließlich nach. „Unter einer Voraussetzung.“

„Die da wäre?“

„Du sagst mir, was ich anziehen soll. Ich habe nämlich absolut keine Ahnung.“

Darren grinste, überbrückte den kurzen Abstand zwischen ihnen und schob seine Hände unter Aarons Hemd. „Mir total egal. Hauptsache, ich kann es später wieder ausziehen.“

„Hat dir schon mal jemand gesagt, wie unmöglich du bist?“

„Du. Ständig. Ich sollte jedes Mal einen Dollar bekommen, wenn du das tust. Dann wäre ich reich.“

„Du bist reich“, merkte Aaron trocken an.

„Okay. Dann einen Kuss.“

Aaron lächelte. „Du bist unmöglich.“

„Ich weiß!“ Er küsste Aaron und dieses verrückte Herzklopfen setzte sofort wieder ein, nur weil Aaron sofort beide Arme um ihn schlang und ihn näher zog.

„Völlig unmöglich“, behauptete er, jetzt eine ganze Spur leiser.

„Ich weiß“, gab Darren ihm erneut Recht und küsste ihn noch mal.

„Sollte das nicht anders herum laufen?“

Darren zuckte mit den Schultern. „Ich nehme, was ich kriegen kann.“

Leicht neigte Aaron den Kopf, sah ihn mit einem Mal seltsam intensiv an. „Du hast mich schon, Darren“, bemerkte er ungewohnt ernst, bevor er wieder lächelte und Richtung Herd nickte. „Allerdings nicht mehr lange, wenn du meine Wohnung abfackelst“

„Was habe ich dir über Logik gesagt?“, erinnerte Darren ihn, bevor er sich widerwillig von Aaron löste und einen skeptischen Blick in die Pfanne warf.

„Beschwer dich so viel du willst. Du liebst mich.“

Darrens Mundwinkel zuckten leicht. Oh ja, das tat er.  

Impressum

Texte: Seth Ratio
Cover: https://pixabay.com/de/illustrations/kerze-falter-licht-motte-feuer-647211/
Lektorat: Ausstehend
Tag der Veröffentlichung: 18.09.2019

Alle Rechte vorbehalten

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