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Mann oder Maus?

Jerry zuckte zusammen, als es hinter ihm polterte. Eigentlich war das der Punkt, wo die menschliche Neugierde überwog und man sich umdrehen sollte, um nachzusehen, was dieses Geräusch verursacht hatte. Normalerweise bekam man vom College aber auch keinen Zimmergenossen zugeteilt, der so weit davon entfernt war normal zu sein, dass dafür erst einmal eine neue Skala erfunden werden musste.

 

Einen Monat lebte er jetzt hier mit Joshua zusammen und trotzdem hatte er sich noch nicht an diesen komischen Kauz gewöhnt. Bisher war Jerry davon ausgegangen, dass ihn nichts mehr schockieren konnte. Wenn man als sechstes Kind in einer Großfamilie aufwuchs, dann war man eben eine Menge gewohnt – davon sollte man zumindest ausgehen. Ha! Falsch gedacht! Joshua Sweet hatte ihm das Gegenteil bewiesen, in dem er vor genau vier Wochen in sein Zimmer und damit auch in sein Leben gestolpert war – wortwörtlich.

 

Obwohl der Jurastudent es also besser wissen und sich lieber wieder seiner Wäsche widmen sollte, die er gerade zusammenlegte, warf er trotzdem ein Blick über die Schulter, nur um seinen Zimmergenossen dabei zuzusehen, wie er sich mit einer Hand durch die blonden Haare strich, die ihm so schon immer etwas zerzaust vom Kopf standen. Dabei blickte er in einer Miene auf die Bücher und Hefte hinab, welche sich vor seinen Füßen verstreut hatten, die einem Fünfjährigen Konkurrenz machen konnte: Erstaunt und ein wenig schmollend.

 

"Du guckst so, als wenn die Bücher dich persönlich angegriffen hätten", konnte er es sich deswegen auch nicht verkneifen, den anderen Mann amüsiert darauf hinzuweisen, was er für ein Bild abgab.

 

Für zwei Sekunden sah Joshua noch beleidigter aus, als ohnehin schon, bevor er schließlich den Blick hob und ihn direkt ansah. "Das war ja auch ein gemeiner und hinterhältiger Angriff!"

 

Jerry zog eine Augenbraue nach oben. "Von den Büchern?"

 

So kräftig, wie der andere Student nickte, schien er wirklich davon überzeugt zu sein. "Ja! Boykott! Ich schwöre dir, das war von langer Hand geplant!"

 

"Wie lange steht die Kiste mit den Sachen jetzt auf deinem Regal?"

 

Nachdenklich verzog der blonde Mann das Gesicht, rieb sich dabei über sein Kinn, so dass Jerry die feinen Bartstoppeln gegen die Haut kratzen hören konnte. "Einen Monat?", kam dann schließlich die unsichere Antwort.

"Und du kommst jetzt erst auf die Idee, sie auszuräumen?"

 

"Nun ... ja. Das hatte eben keine Priorität."

 

Jerry wusste, dass er diese Frage nicht stellen sollte und er hatte auch keine Ahnung, warum er es trotzdem machte. Vielleicht hatte er ja tief in sich eine masochistische Ader, die ausgeprägter war, als er das vermutete. Zumindest würde das erklären, warum er die Jeans auf seinem Bett liegen ließ und sich nun doch zu dem anderen Mann umdrehte, die Arme vor der Brust verschränkte und ihn fragend ansah. "Was hatte denn dann Priorität?"

 

Das Grinsen, was sich auf dem Gesicht des anderen Mannes ausbreitete, sah irgendwie ungesund aus. "Alles! Ich meine, du kannst nicht erwarten, dass ich an einen neuen Ort komme und dann erst einmal in Ruhe den Koffer auspacke! Vergiss es! Immerhin gibt es hier einen ganzen Campus, den es zu entdecken galt und ganz viele neue Leute und überhaupt, wie kannst du nur ..."

 

Den restlichen Redefluss blendete Jerry gekonnt aus. Das hatte er sich früh angewöhnt, weil man sonst sehr leicht von dem schnellen und oft unzusammenhängenden Gerede des Mannes Kopfschmerzen bekam. Dabei mochte er Josh eigentlich ziemlich gut leiden. Er war ein anstrengender, aber auch verdammt anständiger und netter Kerl, was heutzutage auch irgendwie nicht selbstverständlich war. Letztens erst hatte er ein wenig irritiert dabei zugesehen, wie Joshua einen Regenwurm vom Gehweg aufgesammelt und ihn ein Stück weiter auf einer Wiese wieder abgesetzt hatte, damit niemand auf das Tier trampelte. An so etwas würde er selbst und vermutlich auch sonst niemanden denken und irgendwie war das eine Charaktereigenschaft, die Jerry ziemlich faszinierend fand.

 

Permanent zuhören konnte man dem Kerl aber nicht, weswegen er das auch gar nicht machte. Selbst wenn er wollen würde, könnte er gerade nicht, weil seine Aufmerksamkeit von einem der Hefte angezogen wurde, die verstreut auf dem Boden lagen. Neugierig hob Jerry es auf und wedelte mit einem dicken Grinsen im Gesicht vor Joshuas Nase damit herum. "Die Cosmopolitan? Ernsthaft? Möchte ich wissen, was du damit willst und dann auch mit einer Ausgabe von..." Jerry runzelte die Stirn, sah dann auf das Heft. "2009." Das war immerhin jetzt auch schon wieder vier Jahre her und er fragte sich wirklich, warum man als Kerl überhaupt so etwas las und warum man das dann auch noch so lange aufbewahrte.

 

Es dauerte ein paar Sekunden, in denen man förmlich sehen konnte, wie die Räder in Joshuas Hirn sich drehten, dann trat die Erkenntnis in sein Gesicht und der Student kicherte. Ja, richtig, er kicherte. Bei jedem anderen Kerl hätte Jerry das vollkommen lächerlich gefunden, aber zu Joshua passte es einfach. Es ließ ihn nicht einmal unmännlich wirken, eigentlich war es sogar recht süß.

 

"Susi!", kam dann die triumphierende Antwort, mit der Jerry so überhaupt gar nichts anfangen konnte.

 

"Wer oder was ist Susi?"

 

"Susan Miller", spezifizierte Joshua seine Aussage, nahm ihm das Magazin aus der Hand und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Jerry ließ sich neben ihm nieder, weil er so langsam wirklich neugierig wurde. "Sie war in meiner Parallelklasse und das hübscheste und tollste Mädchen, was mir bis dahin unter die Augen gekommen ist. Gott, ich war so schrecklich verknallt." Josh lachte kurz auf, was seine blauen Augen irgendwie noch heller aussehen ließ. "Ich habe diesen ganzen Mist durchgemacht. Du weißt schon. Dämliches Anschmachten auf dem Pausenhof, nachts nicht schlafen können, weil man an sie denkt und dann glaubt man, dass man stirbt, wenn sie mit dem Kapitän der Basketballmanschaft zusammenkommt." Jetzt musste auch Jerry grinsen. Ja, das konnte er sich verdammt gut vorstellen und irgendwie hatte das wohl jeder von ihnen durchgemacht. "Das erklärt immer noch nicht, warum du eine verdammte Cosmopolitan mit dir herumschleppst."

 

"Doch! Das erklärt alles!" Wie zum Beweis seiner Worte fing Joshua an in dem Heft zu blättern, bis er schließlich bei einem bestimmten Artikel angekommen war. Neugierig beugte Jerry sich ein Stück nach vorne und prustete dann los, als er sah, worum es sich dabei handelte.

 

"Wie gewinnt man ihr Herz – 20 männliche Irrtümer darüber, was Frauen wirklich wollen", las er dann laut vor.

 

"Ich war 15, okay?" Joshua wirkte kein Stück beleidigt, dafür grinste er auch immer noch zu sehr.

 

"Hat es dir denn etwas gebracht?", wollte er von seinem Zimmergenossen wissen, während er ihm das Heft aus der Hand nahm und ein wenig darin blätterte.

 

"Nein, nicht wirklich. Mein Kindermädchen war nur sehr verwirrt, weil sie ihre Zeitung nicht mehr gefunden hat und ich habe vergessen, dass das Magazin noch zwischen meinen anderen Büchern liegt."

 

"Du konntest also nicht ihr Herz erobern? Schande. Vielleicht solltest du einen Beschwerdebrief an die Redaktion schreiben und sie darauf hinweisen, wie scheiße ihre Tipps sind."

 

"Ach was." Joshua machte eine wegwerfende Handbewegung. "Dafür war bin ich zwei Wochen später mit Manuel zusammengekommen."

 

Irritiert hob Jerry den Kopf. "Manuel? Du warst mit einem Jungen zusammen?"

 

Wieder dieses spitzbübische Lächeln, bevor Josh nickte. "Japs. Warum?"

 

"Keine Ahnung. Ich hätte nicht gedacht, dass du auf Kerle stehst, das ist alles." Nicht, dass Jerry das irgendwie schlimm fand, aber er war wirklich überrascht.

 

"Auch", lenkte Joshua dann ein, während er ihm jetzt dabei zusah, wie er sich durch das Heft blätterte. "Ich meine, man kann sich ja nicht aussuchen, in wen man sich verliebt, oder? Zumindest weiß ich nicht, was das mit dem Geschlecht zu tun haben sollte. Wenn ich einen Mensch liebenswert finde, dann ist es mir vollkommen egal, ob er Brüste oder einen Schwanz hat."

 

Nun, da konnte Jerry nicht widersprechen, auch wenn er es immer noch ein wenig irritierend fand. Irgendwie behagte ihm das Thema nicht, obwohl er keine Ahnung hatte, warum das so war. Seine Eltern hatten ihn tolerant und offen erzogen, einer seiner Brüder war sogar mit einem Mann zusammen und damit hatte er auch keine Probleme gehabt. Warum es ihn also jetzt unruhig werden ließ, wenn er sich Joshua mit einem anderen Mann vorstellte, wusste er selbst nicht.

 

"Die Zeitung kann ja nur Mist sein", lenkte er deswegen vom Thema ab und nickte zu der Seite hin, die er gerade offen hatte. "Mann oder Maus? - Finden Sie heraus, was für ein Typ Ihr Freund ist. Was soll den so etwas? Als ob so ein Test irgendwas über die Persönlichkeit eines Menschen aussagen würde."

 

"Ich finde das immer ganz witzig." Joshua wühlte einen Moment in seinem Rucksack herum, der neben ihm stand, und förderte nur kurz darauf einen Stift zu Tage. "Komm, wir machen das jetzt."

 

Genervt stöhnte Jerry auf. "Muss das sein?"

 

"Ja!" Der andere Student grinste so fröhlich, dass er es nicht übers Herz brachte zu widersprechen. Stattdessen rollte er nur knapp mit den Augen und nickte dann schließlich. Wieso konnte er dem Idioten eigentlich nie etwas abschlagen?

 

Dabei war dieser Test so sinnlos, wie man das eben von solchen Sachen erwarten konnte. Es war Jerry auch ein absolutes Rätsel, was es über die Männlichkeit von jemanden aussagen sollte, was für einen Sport er betrieb, wie viele Freundinnen er schon gehabt hatte und ob er lieber Komödien, anstatt Action-Filme ansah. "Das ist so dämlich", tat er nach den ersten sieben Fragen auch seine Meinung zu der ganzen Sache kund, die Josh kein Stück beeindruckte.

 

"Jetzt sei nicht so ein Spielverderber", war dessen einzige Antwort, wobei er ihm mit dem Ellenbogen in die Seite stupste. "Es sind nur noch drei Fragen, das hältst du schon durch."

 

"Tu ich das?"

 

"Ja. Weil du ein tapferer, kleiner Ritter bist, der sich vor nichts und niemanden fürchtet!"

 

Jerry schnaubte. Laut! "Wenn ich ein Ritter wäre, dann würde ich jetzt gegen Drachen kämpfen, anstatt hier mit dir zu sitzen, in einer Frauenzeitschrift von Anno Domini zu blättern und durch pseudopsychologische Tests herauszufinden, ob ich männlich bin. Bisher habe ich eigentlich gedacht, dass ein Blick in meine Hose dazu reichen würde."

 

Sollte es ihm zu denken geben, wie dreckig der Mann grinsen konnte? Vermutlich, aber Jerry versuchte erfolgreich jeden Gedanken in diese Richtung zu verdrängen und forderte den anderen Studenten lieber dazu auf, dass er mit diesem dämlichen Test weitermachte. Alles war besser, als das hier.

 

"Welchen körperliche Merkmal findet Ihr Freund an Ihnen am attraktivsten", las Josh auch prompt weiter, wobei er sich erschreckend professionell anhörte. Ein wenig kam Jerry sich ja vor, wie auf der Couch eines Psychologen, der gerade versuchte, ihn besser kennenzulernen. "Gesicht, Haare, Brüste oder Hintern."

 

"Und ich dachte, die Fragen könnten nicht noch schlechter werden."

 

"Jetzt komm schon, raus mit der Sprache. Wohin guckst du zuerst bei einer Frau?"

 

Nachdenklich runzelte Jerry die Stirn und hatte ehrlich gesagt nicht die geringste Ahnung. "Ich weiß nicht. Gesicht?"

 

"Als ob!" Grinsend schüttelte Joshua den Kopf und kreuzte stattdessen 'Hintern' an.

 

"Das habe ich doch gar nicht gesagt!" Hörte der Kerl ihm eigentlich zu?

 

"Aber gedacht." Joshua zog das Heft in weiser Voraussicht ein Stück zur Seite, so dass Jerry nicht mehr die Möglichkeit hatte dran zu kommen. Arschloch! "Hat Ihr Freund schon mal einen anderen Mann geküsst?", machte der Idiot dann einfach weiter mit diesem beschissenen Test.

 

Die Frage warf Jerry jedoch ziemlich aus der Bahn. Irritiert blinzelte er, während Joshua ihn eine Spur zu interessiert ansah. "Moment mal", kam ihm dann der Geistesblitz. "Das steht da doch gar nicht."

 

"Nein, aber mich würde das trotzdem interessieren."

 

"Hmpf", entfuhr es dem Jura-Studenten, was ihn aber auch nicht vor einer Antwort rettete. "Nein, habe ich nicht."

 

Bildete er sich das ein, oder sah Joshua gerade wirklich enttäuscht aus? "Schade, du weißt ja nicht, was du verpasst."

 

"Ich dachte, es macht keinen Unterschied? Hast du doch vorhin selbst noch gesagt."

 

"Papperlapp." Josh schlug das Magazin zu, schmiss es achtlos auf den Haufen der anderen Bücher und sah ihn dann wieder an. "Das musst du selbst beurteilen. Willst du es ausprobieren?"

 

"Was?" Vielleicht sollte er nicht so entsetzt klingen, wie er das tat, aber gerade konnte Jerry nicht anders. "Warum? Jetzt? Hier? Mit dir?"

 

"Weil ich Lust darauf habe, jeder die Erfahrung gemacht haben sollte, ja, ja und ja! Hab ich damit alle Fragen beantwortet oder etwas vergessen?"

 

"Dein Hirn!" Nein, ehrlich das konnte doch jetzt nicht sein Ernst sein!

 

Anscheinend doch, denn Joshua kam ihm definitiv eine Spur zu nah, was Jerry wiederum ein wenig sehr nervös nach hinten rutschen ließ. "Also?", hakte der andere Student mit lauerndem Unterton nach. "Was bist du? Mann oder Maus?"

 

"Ich bin zumindest nicht lebensmüde!" Mit einem Satz war Jerry aufgesprungen und ging wieder zu seinem Bett zurück. Eigentlich um sich wieder seiner Wäsche zu widmen, aber er nutzte die Gelegenheit, um Joshua ein Kissen gegen den Kopf zu werfen. So, wie der nämlich loslachte, schien er sich ja schön über ihn lustig gemacht zu haben. Arschloch! Allerdings fand es Jerry viel bedenklicher, dass sein Herz wie verrückt gegen seine Brust hämmerte.

Mann und Idiot!

Sechs Wochen später beobachtete er Joshua, der wenige Fuß von ihm entfernt gerade mit ein paar Kommilitonen redete, seine üblichen Scherze riss und dabei so herzlich lachte, wie der Mann das immer machte. Dieses Mal wusste Jerry ganz genau, wieso sein Herz bei diesem Anblick einen kleinen Sprung machte und dieses dumme, verschissene Dreckskribbeln in seiner Magengegend einsetzte. Wie immer in letzter Zeit, wenn Josh lachte. Oder redete. Oder atmete. Es war zum verrückt werden!

 

Manche Leute würden es vielleicht anzweifeln, aber Jerry war kein Idiot. Er war weder weltfremd, noch machte er sich großartig etwas vor, weswegen er die Zeichen auch sehr gut zu deuten wusste. Ihm war klar, was dieses Herzrasen bedeutete, wann immer Joshua ihm zu nah kam, oder warum er manchmal nachts wach lag und dem anderen Mann beim Schlafen zusah, bis es ihm selbst zu dumm wurde und er sich demonstrativ auf die andere Seite drehte. Was man nicht sah, das war schließlich auch nicht da, nicht wahr? Wenn es doch immer so einfach wäre.

 

Jerry hatte sich verliebt. Nicht in irgendjemanden, nein! Das wäre ja sonst auch nicht schlimm und auch kein Problem. Es musste aber ausgerechnet sein lauter und nerviger und hibbeliger und penetranter Zimmergenosse und Mitstudent sein. Alles andere wäre dem Schicksal – falls es so etwas denn wirklich gab – vermutlich auch zu einfach gewesen. Irgendwie war Jerry ja fest davon überzeugt, dass irgendwo da oben eine höhere Macht saß, die für dieses Dilemma verantwortlich war und sich tierisch über ihn lustig machte. Haha, sehr witzig.

 

Schwer seufzte der Student, nahm einen Schluck von der Bowle in seinem Plastikbecher und wollte den Blick eigentlich abwenden, sich nicht selbst quälen, sondern sich auf etwas anderes – oder auf jemand anderes – konzentrieren. Nur konnte er nicht. Josh war auch auf dieser verdammten Party und der Mann strahlte so eine aufdringliche Aura aus, dass man ihn einfach nicht übersehen konnte. Ganz abgesehen davon, dass dieses verdammte Lachen einzigartig war und Jerry es sogar über die Musik hinweg hören konnte.

 

Dabei wusste er nicht einmal, was er überhaupt hier machte. Weder kannte er den Gastgeber – nicht, dass es auf solchen Feiern irgendeine Rolle spielte – noch fand er allgemein Gefallen an solchen Menschenmassen. Es war ihm zu viel, zu laut und er hatte definitiv nicht genug Alkohol in seinem Blut, um das alles hier ertragen zu können. Grund genug sich umzudrehen, nach Hause zu gehen und ... irgendwas zu machen. Ihm fiel bestimmt etwas ein, wenn er einmal darüber nachdenken konnte, aber es war viel spannender, Joshua weiterhin anzustarren. Manchmal machte Jerry das so offensichtlich, dass es ihm wirklich ein Rätsel war, warum der andere Mann es noch nicht gemerkt hatte. Allerdings lebte Josh auch in seiner eigenen, kleinen Welt, die voller Ritter und Regenbögen war.

 

Vor drei Wochen war Jerry krank geworden und hatte mit einer Grippe im Bett gelegen. In der Zeit war Joshua aufmerksam ruhig gewesen, hatte nicht so viel gequatscht, wie es sonst der Fall gewesen war und sich wirklich nett um ihn gekümmert, auch wenn das gar nicht nötig gewesen wäre. Eine Nacht hatte Jerry nicht schlafen können, weil die Kopfschmerzen wirklich bestialisch gewesen waren. Da hatte Josh seine Bücher liegen lassen, über denen er gerade gelernt hatte, war zu ihm ans Bett gekommen und hatte angefangen ihm eine Geschichte zu erzählen. Heute konnte Jerry gar nicht mehr sagen, worum es ging. Irgendwas über einen Regentropfen und Hasen, die verdammt beschissene Namen gehabt hatten. Es war total dämlich gewesen und total süß. Wie sollte man da von ihm erwarten, dass er sich nicht in diesen Mann verliebte?

 

Gestresst fuhr Jerry sich durch die dunklen Haare und überlegte für einen Moment, ob er sie sich nicht einfach herausreißen sollte. Vielleicht würde ihn dann jemand für verrückt halten und in die nächste Psychiatrie einweisen, damit wäre ihm sicherlich geholfen. Dann würde er Joshua nämlich nicht mehr sehen und er musste nicht darüber nachdenken, ob er das wirklich wollte. Bei einer Frau würde er sich die Frage ehrlich gesagt gar nicht stellen, aber Joshua war eben keine Frau, sondern ein Mann und das überforderte ihn maßlos.

 

Bei anderen Leuten tolerant zu sein, das war nämlich relativ einfach, weil es einem am Ende doch nicht betraf. Sich selbst jedoch in eine Position zu begeben, in der man angreifbar war, das war etwas ganz anderes. Jerry wusste nicht, ob er damit umgehen konnte, wenn ihn jemand beleidigte, weil er einen Mann liebte, ob er damit klarkam, wenn man ihn deswegen ausgrenzen würde. Darüber machte er sich schon eine Weile Gedanken und es war wirklich schwer auf diese Fragen eine Antwort zu finden.

 

Noch viel mehr zu schaffen machte es ihm jedoch, dass er Josh nicht gerecht werden würde. Wenn er mal von der völlig absurden Annahme ausging, dass sein Zimmergenosse ihn nicht auslachen würde, wenn er ihm die Wahrheit sagte, dann blieb da immer noch das kleine, aber nicht unwichtige Detail, dass Jerry nicht die geringste Ahnung von solchen Dingen hatte. Er wusste nicht, ob man sich in einer Beziehung zu einem Mann anders verhalten musste, als bei einer Frau, ob es irgendwas zu beachten gab und schon gar nicht wusste er, wie man mit einem anderen Mann schlief. In der Theorie vielleicht, aber die Praxis sah da mit Sicherheit vollkommen anders aus und so sehr er Joshua auch begehrte, er hatte nicht die geringste Ahnung, ob er mit all dem überhaupt umgehen konnte.

 

Also ja, Jerry hatte Angst. Verdammt große Angst, die schon in leichter Panik ausartete. Ihm ging der Arsch so auf Grundeis, dass er sich bald Frostbeulen holen würde und es gab nur zwei Dinge, die er dagegen tun konnte. Entweder er kroch in sein Mauseloch zurück und wartete ab, bis diese völlig nervigen und unangebrachten Gefühle wieder verschwanden, oder aber er gab sich einen Ruck und legte die Karten auf den Tisch. Keine dieser Optionen wirkte sonderlich attraktiv auf ihn, was den Studenten nicht gerade positiv in seine Zukunft blicken ließ.

 

Noch genau drei Sekunden zögerte Jerry, dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen, trank die Bowle mit einem kräftigen Schluck leer und stellte den Plastikbecher auf der kleinen Theke ab, an der er vorbeikam, als er mit weichen Knien in Richtung Joshua ging. Seine Hände schwitzten, so nervös war er, die Musik hämmerte laut in seinen Ohren wider. Um ihn herum war so viel Tumult und doch ließ er sich nicht ablenken, ging stur auf seinen Zimmergenossen zu, bis er schließlich bei ihm angekommen war. "Jerry!", begrüßte dieser ihn, wie immer breit grinsend, und legte einen Arm um ihn. "Ich habe mich schon gefragt, wo du geblieben bist."

 

Das machte die Sache nicht besser und es kostete Jerry einiges an Mühe, jetzt nicht selbst breit und dämlich zu grinsen. "Ich habe nachgedacht", bemerkte er stattdessen, wobei er gegen die laute Musik ankämpfen musste.

 

Anscheinend hatte Josh ihn aber trotzdem verstanden, denn er hörte auf mit den anderen Studenten zu reden und schenkte ihm jetzt seine volle Aufmerksamkeit. "Nachgedacht? Über was? Das ist hier eine Party, du kleiner Streber! Du sollst dich amüsieren."

 

"Kann ich aber nicht und das ist deine Schuld!" Okay, das war jetzt um einiges ehrlicher, als geplant, aber einen Rückzug konnte und wollte er jetzt auch nicht mehr machen.

 

Völlig verwirrt – und witzigerweise auch irgendwie schuldbewusst – sah Joshua ihn an, zerrte ihn Gott sei Dank ein Stück zur Seite, wo nicht mehr ganz so viele Menschen waren und sah ihn dann irgendwie besorgt an. "Was ist los?"

 

Oh, ehrlich? Musste der Mann so unglaublich nett sein? Das war ja nicht zum Aushalten! Gerade überlegte Jerry, ob er sich das Ganze nicht doch sparen sollte, aber jetzt hatte er sich dafür entschlossen und jetzt wollte er das auch durchziehen. Entweder klappte es, oder aber er bekam den Korb seines Lebens und dann wusste er immerhin, woran er war.

 

"Ich hab nachgedacht", wiederholte er deswegen seine Worte von vorhin, wobei es ihm wirklich schwerfiel Joshua ins Gesicht zu sehen. "Über die Cosmopolitan."

 

"Was?" Es kam nicht oft vor, dass Joshua so verwirrt aus der Wäsche schaute und wenn ihm das hier nicht so ernst wäre, dann hätte Jerry das auf jeden Fall genossen. Jetzt aber ärgerte er sich nur darüber, dass er nicht einfach direkt sein konnte.

 

"Na, du weißt schon. Über diesen komischen Test. Mann oder Maus oder was auch immer da für ein Mist drin stand."

 

Immer noch ziemlich ratlos blickte Josh ihn an, nickte dann aber langsam. "Und?"

 

"Und ich habe mich entschieden."

 

"Für?"

 

Unsicher ballte Jerry ein Hand zur Faust, sah sich kurz nach allen Seiten um und überlegte, ob er das wirklich machen wollte. Hiermit setzte er alles auf eine Karte und wenn es schief ging, wenn Joshua ihn abwies oder die anderen schlecht darauf reagieren würden, dann würde er sofort wissen, wie er damit umgehen konnte – oder ob er überhaupt dazu in der Lage war. Deswegen sammelte er doch seinen ganzen Mut, beugte sich nach vorne und küsste Joshua schließlich einfach. Erklären konnte er gerade nicht, was in seinem wirren Kopf vor sich ging und er hoffte, dass es ausreichen würde. Allerdings reagierte Josh im ersten Moment gar nicht, weswegen Jerry sich wünschte, dass sich unter ihm bitte ein ganz großes Loch auftun würde, in dem er einfach unauffällig verschwinden konnte.

 

Gerade als er sich wieder zurückzog und sich innerlich schon tausend Ausreden einfallen ließ, womit er sein dämliches Verhalten erklären konnte, legte Joshua ihm eine Hand in den Nacken, zog ihn so ruckartig wieder zu sich, dass Jerry sich im ersten Moment richtig erschreckte. Sobald er jedoch die Lippen des anderen Mannes auf seinen spürte, dachte er gar nichts mehr, konnte sich nur darauf konzentrieren, wie überraschend gut sich das anfühlte.

 

Josh hatte vollkommen Recht gehabt, es machte wirklich keinen Unterschied, ob man einen Mann oder eine Frau küsste, aber das hier, das fühlte sich auf jeden Fall verdammt gut an. Sein Fingerspitzen kribbelten, als sie sich in den blonden Strähnen vergruben und er konnte wirklich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Bisher hatte Jerry immer gedacht, dass es ein dummes Klischee war, was man nur in schlechten Filmen und Büchern finden konnte, aber gerade war ihm sogar egal, dass jeder sie sehen konnte. Eigentlich bekam er die anderen Leute hier gar nicht mehr richtig mit.

 

Erst als Joshua wieder von ihm ließ, drang der Lärm wieder in sein Bewusstsein. Aber auch jetzt scherte er sich wenig darum, weil sein Freund dieses feine Schmunzeln auf den Lippen trug, was ihm verboten gut stand. "Definitiv Mann", meinte er dann, was Jerry fragend das Gesicht verziehen ließ. "Na, Mann oder Maus?", hatte der Arsch dann die Güte sich zu erklären.

 

Jerry konnte nicht anders, als jetzt selbst ein wenig zu grinsen und dem anderen Mann leicht gegen die Brust zu schlagen. "Idiot."

 

"Okay, dann eben Mann und Idiot. Damit kann ich leben!"

 

Nicht ganz so genervt wie sonst verdrehte Jerry die Augen, wobei die Anspannung immer mehr von ihm abfiel. Anstatt jetzt aber einen Streit anzufangen, begnügte er sich damit, den anderen Mann erneut zu küssen. Was auch immer aus ihnen werden würde, das war auf jeden Fall eine sehr gute Methode, um Joshua zum Schweigen zu bringen.

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Tag der Veröffentlichung: 09.02.2014

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