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Peace of Mind

Die Flasche in seiner Hand war nicht mehr wirklich kalt. Das Glas unter seinen Fingern hatte sich schon lange seiner Körpertemperatur angepasst. Aiden hatte auch keine wirkliche Ahnung, wie lange er schon hier saß. Zwei Stunden, vielleicht auch drei. Er wusste es nicht und es war ihm auch egal.

Genauso wenig wusste er, warum er auf dem einzigen Stuhl saß, den sein verwahrloster Garten zu bieten hatte. Das Ding knarzte, wenn man sich nur einen Inch bewegte, und dass er noch nicht unter seinem Arsch zusammengebrochen war, glich sowieso einem Wunder. Damit passte er aber perfekt zu dem restlichen Garten. Wenn man das überhaupt so nennen konnte. Eigentlich war es nur ein Strich Gras, der von seinem Haus ein paar Fuß bis zum Zaun und damit zu seinem Nachbarn führte. Den scheiß Rasen mähte Aiden höchstens einmal im Jahr. Das letzte Mal war er einem Maulwurf dabei über den Kopf gefahren und obwohl er echt kein Tierfreund war, hatte ihm das leid getan. Darum drückte er sich dieser Jahr bisher ziemlich erfolgreich davor.

Generell war Aiden kein sonderlich ordentlicher Mensch. Wozu auch? Die meiste Zeit verbrachte er im Clubhaus oder in der Werkstatt. Wenn nicht dort, dann war er woanders mit seinen Freunden. Zuhause hielt er sich meistens nur zum Schlafen oder an den Wochenenden auf, wenn es wirklich so gar nichts zu tun gab. Dann hockte er in seiner Garage und bastelte an seinem Bike, oder setzte sich mit einem Bier vor den Fernseher. Aufräumen brauchte er für niemanden und ihn störte das Chaos nicht.

Seufzend ließ der Ire sich etwas tiefer in den Stuhl sinken und drehte die Flasche in seinen Händen. Es roch immer noch nach Regen. Am Abend hatte es einen kleinen Schauer gegeben, nichts Großartiges. Es hatte vielleicht eine halbe Stunde angehalten, doch der Geruch von nassem Gras und frischer Luft war immer noch deutlich wahrzunehmen, auch jetzt, Stunden später.

Für einen Moment schloss Aiden die Augen und atmete diesen Duft bewusst ein. Er erinnerte ihn an seine Heimat. In Irland hatte es viel öfter geregnet als im sonnigen Kalifornien. Als Kind war er mit seinen Geschwistern immer barfuß über die feuchten Wiesen gerannt, hatte das Gefühl genossen, wie die kalten Halme an seiner nackten Haus gekitzelt hatten.

Aiden ließ seine freie Hand an seiner Seite hinunterbaumeln und strich mit den Fingern über das Gras. Noch ein wenig feucht, aber nicht wirklich kalt. Nicht wie in seiner Heimat. Genauso glatt, genauso geschmeidig, aber nicht so wie in Irland. Was genau anders war, konnte er nicht einmal sagen, aber irgendwas war da. Erneut seufzte er und zog seine Hand zurück. Es war nie wie in seiner Heimat.

Nach fast zwanzig Jahren in Amerika hatte Aiden sich eigentlich daran gewöhnt, recht schnell sogar. In Corona hatte er mehr gefunden, als er es sich je erhofft hatte. Ein Zuhause. Eine Aufgabe. Eine Familie. Ihn. Für alles war der Ire dankbar und er fühlte sich hier wirklich wohl. An manchen Tagen war das Heimweh zu der grünen Insel jedoch wirklich enorm.

Vielleicht war er deswegen aus dem Bett gekrochen und hatte sich in den Garten gesetzt. Aiden wachte öfters nachts auf, aber meistens drehte er sich wieder um und schlief weiter. Heute ging das nicht. Woran das lag wusste er nicht, aber er hatte es erst gar nicht versucht. Viel lieber genoss er die nächtliche Ruhe, die eine kleinere Stadt mit sich brachte.

Mit einem letzten Schluck hatte Aiden das Bier geleert, wobei das Getränk einen bitteren Beigeschmack in seinem Mund hinterließ. Auch den letzten Tropfen leckte er sich von den Lippen, ließ die Flasche aber nicht los. Sie wog gut in seinen Händen und Aiden fühlte sich nicht so alleine. Egal, wie erbärmlich das klang.

Schritte ertönten hinter ihm und ließen ihn aufhorchen. Mehr aber nicht. Aiden blieb entspannt, drehte sich nicht einmal um. Mittlerweile kannte er diese Schritte in- und auswendig, würde sie immer und immer wieder erkennen. Sie waren ihm vertraut und noch so viel mehr. Genau konnte er hören, wie die nackten Füße ein wenig schleppend über das Parkett liefen und dann in der Tür stehenblieben. Eine Sekunde. Zwei. Drei. Vier … "Hier bist du. Kannst du nicht schlafen?"

Aiden schüttelte den Kopf, drehte sich aber immer noch nicht um. "Geh wieder ins Bett." Seine Stimme war ruhig, nicht genervt. Aiden war nie von ihm genervt, nicht wirklich.

Ein tiefes Seufzen drang an seine Ohren, dann setzten die Schritte wieder ein. Die Lippen des Iren verzogen sich zu einem Schmunzeln, weil er sich genau vorstellen konnte, was der andere Mann gerade dachte. Wie unangenehm er es fand, barfuß rauszugehen, und man durfte erst überhaupt nicht daran denken, welchen Dreck man eventuell mit ins Haus brachte. Doch er sagte nichts. Kein Wort. Dafür liebte Aiden ihn.

Hände legten sich auf seine Schultern, glitten ruhig nach vorne, bis sie sich auf seiner Brust trafen. Genau spürte Aiden, wie er sein Gesicht kurz in den grauen Haaren des Iren vergrub und tief einatmete. Aiden lächelte. Typisch.

"Geh schlafen", wiederholte er ruhig, hob entgegen seiner Worte aber eine Hand und legte sie auf dem Unterarm, der sich um seine Brust geschlungen hatte. Geistesabwesend strich Aiden über die warme Haut. Besser als das Gras.

Hinter ihm schnaubte es und der Atem kitzelte ihm im Nacken. Eine feine Gänsehaut breitete sich auf seinem ganzen Körper aus, doch Aiden kam überhaupt nicht auf die Idee, sich zu beschweren. "Wenn du das noch mal sagst, dann denke ich, dass du mich loswerden willst. Und dann musst du dir ewig mein Gemotze anhören. Willst du das?"

"Niemals" … würde Aiden ihn loswerden wollen. Nie und nimmer. Das wäre so, als wenn er sich selbst eine Hand oder ein Bein abschneiden würde. Ein Teil von ihm, ohne den er nicht mehr vollständig war.

"Was machst du hier draußen? Dir ist doch bestimmt kalt."

"Mir ist immer kalt." Trotz Kalifornien, trotz Sonne. Aiden kam es immer zu kühl vor. Auch jetzt fand er den leichten Wind einen Ticken zu frisch, aber er hatte sich trotzdem nicht die Mühe gemacht, sich mehr überziehen als sein schwarzes Muskelshirt.

"Ist alles in Ordnung?" Die Stimme dicht an seinem Ohr, die leichte Sorge genau herauszuhören. Die Wange, die sich dabei an seine eigene schmiegte. Warm. Er war immer warm. Wie machte er das?

"Aye, ich kann nur nicht schlafen. Das kennst du doch mittlerweile." Aiden spürte, wie der Mann hinter ihm nickte. Natürlich kannte er das. Niemand kannte den Iren besser. Niemand nahm ihm trotz allem genau so, wie er war. Ein alter Mann, mit einer ungesunden Neigung zum Alkohol.

"Soll ich dich alleine lassen?" Da war er wieder, dieser leise Hauch von Unsicherheit. Wie so oft. Dabei gab es keinen Grund dafür, nicht bei Aiden. Er konnte überhaupt nichts falsch machen. Nicht wirklich. Nichts, was es nicht zu verzeihen gab.

Die Körpersprache strafte den Worten Lügen. Die Arme zogen Aiden enger an den Körper hinter ihm. Nur ein winziges Stück, aber es war spürbar. Die Wange schmiegte sich gegen seine, als wollte er sich so viel Berührung holen, wie es ging, bevor er weggeschickt wurde. Nie. Niemals. Wie könnte man auch?

"Nah, alles gut so." Und das war es. Alles war gut, alles war in Ordnung. Spätestens jetzt.

Ein feines Lächeln, erleichtertes Ausatmen. Nicht laut, sondern leise. Heimlich, wie immer. Wie alles, was sie machten. Heimlich. Alleine. Nur sie zwei, ohne dass jemand es auch nur ahnte. Besser so. Aiden durfte nicht daran denken … Der Ire schüttelte leicht den Kopf. Er würde nicht daran denken. Nicht jetzt, nicht hier.

"Ein Sack voller Gold für deine Gedanken." Finger, die durch seine Haare strichen, die einzelnen Strähnen aus dem Gesicht nahmen. Aidens Kopfhaut prickelte angenehm bei der Berührung und er legte den Kopf ein wenig zur Seite, atmete schwer aus und schloss die Augen.

"Warum zur Hölle ein Sack voller Gold?" Aiden konnte förmlich spüren, wie der andere Mann grinste. Genau sah er das Gesicht vor sich, wie die Mundwinkel sich verzogen.

"Na, das findet man doch am Ende des Regenbogens, oder nicht? Ihr Iren versteckt da doch euer Gold."

Leise schnaubte Aiden aus, konnte aber nichts gegen das Schmunzeln machen. "Wenn schon, dann verstecken die Kobolde das Zeug."

"Gibt's die wirklich?" Und ja, nur er schaffte es, dabei so ernst zu klingen.

"Ich habe schon Verrückteres gesehen."

"Du kennst ja auch Alex. Das zählt nicht."

Aus dem Schmunzeln wurde kurz ein Grinsen, als er an seinen besten Freund dachte, und der Ire nickte. "Aye, Argument."

Und dann war es ruhig. Völlig still. Keiner von beiden sagte mehr etwas und das brauchte auch niemand. Die Stille war angenehm und Aiden genoss es einfach, konzentrierte sich ganz auf die Hand in seinen Haaren und auf den Atem, den er leicht im Gesicht spürte. Der so vertraute Geruch, der ihn langsam einlullte.

In solchen Momenten war Aiden völlig ruhig. Äußerlich wie innerlich. Diesen Zustand erreichte er sonst nicht einmal nach einer Flasche Whiskey und zahlreichen Bieren. Nein, das konnte nur er, sonst niemand, und Aiden war so unglaublich dankbar dafür. Frieden. Heimat. Nicht wie in Irland. Nicht schlechter oder besser, einfach anders. Trotzdem nicht weniger wertvoll.

Erst nach einer ganzen Weile öffnete er die Augen wieder und seufzte schwer. "Wir sollten schlafen. Morgen müssen wir früh auf der Arbeit sein."

"Ich weiß." Doch er hörte nicht auf, bewegte sich nicht, ließ ihn nicht los.

Aiden legte den Kopf in den Nacken, wollte ihn ansehen, irgendwas sagen, doch im nächsten Moment fühlte er Lippen auf seinen und hatte die Worte schon wieder vergessen. Der Kuss war ruhig, sanft. Kein Stück fordernd, sondern viel mehr versprechend. Versprechen, die man nicht mit Worten geben konnte und die man auch nicht so erwidern konnte. Aiden verstand es trotzdem – alles – und sein Magen zog sich kurz zusammen.

Ein wenig benommen löste er den Kuss und sah nach oben, blickte in diese braunen Augen, die seinen so ähnlich waren und doch ganz anders. In das Gesicht, was er blind nachzeichnen könnte. Er sah das Lächeln dort, was sofort ansteckend war, und Grund genug, nun doch aufzustehen.

Der Stuhl knarzte in gewohnter Manier. Ein vertrautes Geräusch. Genau wie die Hand, die sich um seinen Arm legte und ihn sanft ins Innere des Hauses zog. Warm. Vertraut. Seins.

 

Impressum

Texte: Seth Ratio
Bildmaterialien: http://pixabay.com/de/users/ejaugsburg/
Tag der Veröffentlichung: 02.02.2014

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