„Miss Jonson? Kann ich Sie kurz sprechen?“
Sofort springe ich auf und sehe Dr. Alberts angespannt entgegen. „Natürlich, Dr. Alberts. Gibt es etwas Neues?“
Der ältere Mann verzieht kurz das Gesicht, ehe er mich ohne eine Antwort in sein Büro winkt.
Diesen Raum kenne ich inzwischen in und auswendig. Das erste Mal war ich hier drin vor knapp drei Jahren und vier Monaten. Damals war mein Leben noch relativ beschaulich, einfach und angenehm. Ich war glücklich.
Doch seit diesem Tag, an dem ich das erste Mal hier rein kam, hatte sich sehr vieles verändert.
Damals erfuhr ich, dass meine Mutter eine unbekannte Krankheit hatte, der ihren Körper nach und nach altern liess und schliesslich in den Verfall zog. Die Ärzte kannten diese Art von Krankheit nicht und versuchten alles mögliche, um sie wieder auf die Beine zu stellen, doch keine der unzähligen Therapien sprach auf ihren Körper an. Vor einem knappen Jahr wurde es plötzlich besser, Emma Jonson sah wieder gesunder und kräftiger aus und konnte sogar wieder für eine Weile aus dem Bett. Doch vor ein paar Monaten verschlimmerte sich ihr Zustand drastisch und seitdem liegt sie nur noch auf ihrem Krankenzimmer und starrt leer vor sich hin.
Angefangen hat es mit plötzlichen weissen Haaren und Haarausfall. Damals dachte sie sich noch nicht viel dabei, doch als sie eines Tages plötzlich einen Schwächeanfall hatte, mit knapp 35 Jahren, wurde klar, das etwas nicht mehr stimmte.
Seitdem steckt sie fast ununterbrochen im University Hospital of Donnavan und wird von Therapie zu Therapie geschoben.
Mich selbst zerstört es schlichtweg.
Meine Mutter war immer eine sehr starke Frau.
Mit 17 Jahren wurde sie von einem unbekannten Mann schwanger, der sie allerdings damit allein liess. Meine Grosseltern waren früh gestorben, lange vor meiner Geburt, und sonstige Verwandte hatte sie nicht. Sie stand allein da, noch nicht einmal Volljährig mit einem Neugeborenen.
Damals wurde sie in ein Mutter-Kind-Heim gesteckt, doch dort fühlte sie sich nicht wohl. Sobald sie 18 Jahre alt war, zog sie wieder aus und suchte sich einen Job.
Da sie allerdings ihre Schule abbrechen musste, wegen meiner Geburt, hatte sie keinen Abschluss, was ihr die Arbeitssuche schwer machte.
Mit kurzen Übergangsjobs hielt sie uns über Wasser, schuftete sich halbtot. Erst als ich vier Jahre alt war, wurde es einfacher, da sie mich dann in den Kindergarten stecken konnte, ohne viel zahlen zu müssen. Dennoch blieben wir weiterhin knapp bei Kasse.
In der Schule wurde es noch besser, da sie dort fast gar nichts mehr zahlen musste. Dennoch konnte ich nie auf Lagerreisen mit, da sie für diese Kosten einfach nicht aufkommen konnte. Meine Schulzeit war der reinste Horror. Die Kinder mochten mich nicht, ich war von Anfang an Einzelgängerin. Das einzig gute an der Schule waren meine Noten. Durch die viele Freizeit, die ich nicht wie andere Kinder mit Besuchen bei Freunden oder sonstigen Freizeitbeschäftigungen auffüllen konnte, beschäftigte ich mich eher mit meinen Schulbüchern und arbeitete viel an meinem Allgemeinwissen.
Da meine Mutter selten vor sechs Uhr zuhause war, ging ich tagsüber oft in die Bibliothek und verbrachte die Stunden mit Lesen und Lernen.
Das allerdings brachte mir bei meinen Mitschülern noch grössere Minuspunkte ein, plötzlich wurde ich als Streber abgestempelt und bekam zum ersten Mal in meinem Leben rohe Gewalt zu spüren.
In den Pausen wurde ich herum geschubst, verprügelt und in die dreckigen Toiletten verjagt. Die Lehrer halfen mir nicht, dachten sich, ich würde masslos übertreiben. So schwieg ich und verkroch mich immer mehr in einem Schneckenhaus.
Erst später, mit 15 hatte ich mehr Glück. Ein neuer Lehrer an meiner Schule begriff, dass ich intelligenter war, als mein Klassenniveau und ich durfte eine Klasse höher. Doch da ich dort ebenfalls unterfordert war, übersprang ich bereits nach einem Semester auch diese Klasse und landete plötzlich bei den viel älteren Schülern, die sich mir gegenüber reifer und ehrlicher benahmen. Damals hatte ich erstmals echte Freunde, auf die ich mich verlassen konnte.
Doch als ich ein Jahr später meinen Abschluss in der Tasche hatte verlor ich auch diese, denn sie alle gingen Weg. Die einen machten ein Jahr Austausch, andere erfüllten sich den Traum einer Weltreise, wiederum andere begannen eine Lehre und hatten damit viel weniger Zeit, als zuvor.
Allerdings konnte ich mich nicht lange darum kümmern, denn zu diesem Zeitpunkt begann die Krankheit meiner Mutter.
„Miss Jonson? Es... es tut mir wirklich Leid Ihnen das mitteilen zu müssen... aber...“ Dr. Alberts stockende Stimme reisst mich aus meinen Gedanken.
Angespannt kralle ich meine Fingernägel in den Stoffbezug meines Sessels, in dem ich Platz genommen habe.
Dr. Alberts Stimme ist mir zu ernst. Ich weiss, das etwas nicht stimmt und warte nur noch auf den Todesstoss.
„Ihre Mutter wird sterben“, flüstert er und ich sehe ihm an, dass ihn diese Worte unheimliche Überwindung gekostet haben.
Es ist eigenartig, wenn jemand einem sagt, dass die eigenen Mutter im Sterben liegt. Im ersten Augenblick kann man es gar nicht glauben.
Der Sinn seiner Worte dringt nicht in mein Gehirn. Ich verstehe ihn einfach nicht, als würde er auf Chinesisch mit mir sprechen. „Wir haben alles versucht, aber sie ist jetzt schon über drei Jahre bei uns und ihr Körper wird immer schwächer. Ich... Miss Jonson, ich habe wirklich alles versucht, aber es ist hoffnungslos.“ Ich nicke, obwohl ich noch immer nicht verstehe, was er mir eigentlich gerade sagen will.
„Ihre Zellen lösen sich auf. Wir wissen nicht, was es auslöst, die Laborberichte sind nicht Ausschlag gebend genug. Ich vermute, in spätestens ein bis zwei Wochen wird es soweit sein.“ Dr. Alberts Stimme bricht und ich starre ihn an. Er seufzt erschöpft und fährt sich über die Stirn. Was sagt er da?
„Wie meinen Sie das?“, flüstere ich leise und blinzle heftig, weil meine Augen zu brennen beginnen.
Mit einem Schlag wird mir alles klar. Mum wird sterben. In zwei Wochen spätestens ist sie tot.
Eigentlich müsste mich jetzt unglaubliche Trauer überkommen, aber da ist nichts. Ich fühle mich unglaublich leer.
„Kann ich...“, ich verstumme, meine Kehle schnürt sich zusammen. „Kann ich zu ihr?“, versuche ich es nochmal und schaffe es diesmal, die Worte zu ende zu sprechen.
Der alte Mann mit gegenüber nickt leicht und erhebt sich.
Ohne ein weiteres Wort führt er mich aus dem Büro in den hinteren Bereich der Etage. Ich folge ihm auf wackligen Knien und bin mir noch immer nicht sicher, was ich von dem ganzen hier halten soll. 'Mum wird sterben', hallt es die ganze Zeit in meinem Kopf wieder.
Dr. Alberts schiebt die Tür mit der Nr. 301 auf und schliesst sie leise hinter mir.
Langsam sehe ich mich in dem hellen Raum um, der in den letzten Jahren ebenfalls zu einem zweiten Zuhause geworden ist, so oft, wie ich hier hergekommen bin.
Ein grosses Bett nimmt den meisten Platz ein, typisch hochgelagert mit dicken, weissen Bettbezügen. Inmitten dieser Kissen und Decken liegt die schmächtige, zerbrechliche Gestalt meiner Mutter und plötzlich spüre ich heisse Tränen, die mir über die Wangen rollen.
Ich kann sie nicht mehr aufhalten und ich will es auch gar nicht.
Zu meiner Überraschung scheint sie eine der kurzen Phasen zu haben, in denen sie mich erkennt und nicht stumpf ins Nichts starrt.
Schwach dreht sie mir den Kopf zu und ein hauchzartes Lächeln huscht über ihre eingefallenen Züge.
„Ely. Meine geliebte, süsse Ely“, flüstert sie und ich bin froh, ihre Stimme wieder einmal zu hören. Aber ihr Klang erschreckt mich zutiefst. Es klingt, als hätte sie sich wochenlang die Seele aus dem Leib geschrien. Nur der warme Klang lässt mich wissen, dass das wirklich meine Mutter ist.
Langsam trete ich näher und ziehe den Sessel näher, der immer neben ihrem Bett steht.
Ein trockenes Schluchzen dringt aus meiner Kehle und ich muss mich zusammenreissen, mich nicht völlig in ein Häufchen Elend zu verwandeln.
Mit zitternden Fingern suche ich nach ihrer Hand, die sie in den Bettdecken vergraben hat, und drücke einen zärtlichen Kuss auf die runzlige Haut.
Durch einen Tränenschleier betrachte ich das um Jahre gealterte Gesicht, meiner geliebten Mutter. Sie ist mittlerweile fast 39 Jahre alt, sieht aber aus, als wäre sie gerade gestern 85 geworden.
Die Wangen sind eingefallen, die dunkelblauen Augen, die früher so fröhlich gefunkelt haben, liegen stumpf in ihren Höhlen und lassen nur noch einen kleinen Funken ihrer Wärme durchblitzen. Ihre Nase ist ganz spitz geworden und die Lippen spröde und rissig. Aber das schlimmste ist ihre Haut.
Neben den unzähligen Altersflecken sind mit den Jahren auch bleiche Punkte aufgetaucht, die sich über die Haut ziehen und immer grösser werden.
Ihre Haut ist bleich und fahl und wenn man sie berührt, hat man das Gefühl, einen Schwamm in der Hand zu halten.
Schluchzend presse ich meine Stirn gegen ihre Hand und bekomme kein Wort raus. Dabei will ich ihr doch so viel sagen! Dass ich sie über alles liebe, zum Beispiel. Dass sie eine unglaublich starke Frau ist. Dass sie alles Glück der Welt verdient hat. Und wieder dass ich sie liebe. Diesen Satz würde ich am liebsten immer und immer wieder wiederholen, aber ich bekomme kein Wort aus meiner Kehle.
„Ach Ely, wein doch nicht“, flüstert sie leise und erwidert schwach den Druck meiner Hand. Mit tränenüberströmten Gesicht hebe ich den Kopf. „Ely, es ist gut so. Ich habe keine Kraft mehr. Weisst du, ich bin glücklich, endlich sterben zu dürfen. Ich habe viel erreicht in meinem Leben und ich habe eine wunderbare, starke Tochter aufgezogen.“ Sie hält inne und hustet trocken. Automatisch greife ich nach dem Glas Wasser, das immer gefüllt auf ihrem Nachttischchen steht und halte es ihr an die Lippen. Sie legt mühsam den Kopf in den Nacken und schluckt ein wenig von dem klaren Wasser. Ein feines Rinnsal der Flüssigkeit tropft über ihr Kinn und ich wische es sanft mit einem Tuch weg. „Ely, versprich mir, dass du immer...“, sie holt tief Luft und schliesst für einen Moment die Augen. „Versprich mir, dass du immer um das kämpfst, was du liebst. Sei stark und lebe dein Leben. Ich bitte dich darum. Und eine Bitte habe ich noch an dich.“ Wieder hält sie inne, ehe sie mit grösstem Kraftaufwand die Hand hebt und auf das Nachttischchen deutet. Verwundert wische ich mir die Tränen aus den Augen, um ein wenig klarer sehen zu können und entdecke erst jetzt einen Brief auf dem mein Name steht.
Zittrig greife ich danach und sehe dann wieder zu meiner Mutter.
„Lies ihn, bitte. Und dann erfülle mir meinen letzten Wunsch darin. Ich bitte dich darum.“ Ich nicke und erneuert übermannen mich die Tränen und verschleiern mir die Sicht.
„Ach Mama... was ist bloss aus dir geworden?“, flüstere ich mit gebrochener Stimme und presse meine Stirn in die Decke. Sie lächelt schwach und streicht mir kaum spürbar über meine Hand. „Es ist gut, Liebling. Ich habe viel gelernt durch diese Krankheit. Und ich habe auch vieles eingesehen. Du wirst es-“, ein Hustenanfall unterbricht sie und ich sehe entsetzt, wie sie Blut spuckt. Es sollte mich eigentlich nicht überraschen, ich bin das schon von ihr gewohnt, dennoch versetzt es mich jedes Mal in helle Aufregung und Angst. Panisch drücke ich auf den Rufknopf, um eine Schwester oder jemand anderen zu holen und beobachte entsetzt, wie sich ihr Körper schüttelt und sie kaum noch Luft bekommt.
Keine Sekunde später stürzt Schwester Anina, dicht gefolgt von Dr. Alberts in das Zimmer und ich ziehe mich ein wenig zurück, um ihnen Platz zu machen. Meine Hände krallen sich fest in den Brief, der in meinem Schoss zu brennen scheint.
Nach wenigen hektischen Minuten beruhigt sich Mums Körper endlich wieder und sie sackt mit geschlossenen Augen in die Kissen zurück. Dr. Alberts seufzt erleichtert und wirft mir einen traurigen Blick zu. Er leidet mit mir und ich bin unheimlich dankbar, dass ausgerechnet er meiner Mutter zugeteilt wurde. Dr. Alberts ist der gütigste Mann, den ich je kennengelernt habe. In all den Jahren hat er die Hoffnung in meine Mutter nie aufgegeben und sich immer dagegen gewehrt, wenn man die Geräte ausschalten wollte. „Alles in Ordnung?“, frage ich ihn leise und rücke wieder ein wenig näher. „Ja, sie ist nur erschöpft. Ich bin froh, dass sie einen klaren Moment hat. Ich weiss nicht, ob sie das in den nächsten Tagen nochmal haben wird und empfehle dir“, er zögert einen Moment, „dich von ihr zu verabschieden.“
Obwohl mich die Worte zutiefst verletzen nicke ich und gebe ihm stumm Recht.
Er und die Schwester verlassen das Zimmer wieder und ich starre meine Mutter an, die noch immer die Augen geschlossen hat.
Ich denke schon, dass sie eingeschlafen ist, als ich nochmal ihre leise Stimme höre.
„ Ely, fahr hin. Versprich mir das.“ Verwirrt hebe ich die Augenbrauen. „Wo hin fahren? Was meinst du Mama?“ Sie öffnet die Augen und schenkt mir einen Blick von unheimlich tiefer Liebe, der mich bis ins Mark trifft.
„Lies den Brief. Versprich es mir.“ Ich greife wieder nach ihrer Hand und murmle besänftigend: „Aber natürlich, Mama, alles was du willst. Ich werde ihn lesen. Versprochen.“
Sie nickte erleichtert und schliesst erneuert die Augen.
„Ich bin so müde, Ely... so müde“, haucht sie und ich muss einen erneuerten Schluchzer unterdrücken, der mir schwer in der Kehle stecken bleibt. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. „Ich liebe dich, Mama“, flüstere ich und drücke ihr einen Kuss auf die Wangen. „Ich werde dich immer lieben.“
Sie nickt leicht und flüstert: „ich liebe dich auch, Ely. Für immer und ewig.“
Es sollten die letzten Worte sein, die Emma Jonson jemals sagte.
Danach hat sie nochmal tief durchgeatmet und ich habe augenblicklich gewusst, dass sie gegangen ist. Das monotone Piepen des Herzgeräts gibt mir schmerzhaft Recht und ich drücke ein letztes Mal auf den Rufknopf. Dann erhebe ich mich und drücke meine Lippen auf ihre Augenlider, ehe ich mich Dr. Alberts und einem jungen Arzt, den ich nur flüchtig kenne, zuwende und ihnen zunicke.
Alberts nickt traurig und stellt das Gerät aus.
Was danach geschehen ist, weiss ich nicht mehr. Ich bin wohl zusammengebrochen. Später erwachte ich im Büro von Alberts, in eine Decke gekuschelt, den Brief fest in den Händen klammernd.
Seit Stunden schon starre ich auf den mittlerweile recht zerknitterten Brief, der auf meinem Schoss liegt. „Ely“, steht in der geschwungenen Schrift meiner Mutter drauf und ich kann nicht verhindern, dass ich immer wieder mit den Fingerspitzen über die getrocknete Tinte fahre.
Ich kann es noch immer nicht fassen, dass sie gestorben ist.
Eigentlich habe ich mich innerlich schon lange darauf vorbereitet, denn ich wusste, dass die Hoffnung einfach zu klein war, als das sie diese Krankheit überleben könnte.
Dennoch will ich es nicht wirklich begreifen. Mein Gehirn hat es noch immer nicht verinnerlicht, dass ich nie wieder ihre Stimme hören werde.
Ich fühle mich schrecklich taub. Ich zittere, als wäre mir eiskalt und gleichzeitig schwitze ich, als würde ich in der Wüste Sahara braten.
Mein Neugierde drängt mich dazu, den Brief zu öffnen, aber irgendetwas hält mich zurück. Was wohl drin steht?
Meine Hände ballen sich zu Fäuste und ich zerknülle den Brief unwillkürlich noch mehr.
Okay, Mum hat gesagt, ich soll ihn lesen. Also werde ich ihr diesen Wunsch erfüllen.
Entschlossen reisse ich den Verschluss auf und ziehe ein zerknittertes Papier heraus.
„Liebe Ely
Wenn du diesen Brief liest, werde ich schon tot sein.
Sei nicht traurig, ich bin froh, wenn es soweit ist. Weisst du, mein Schatz, ich habe viel zu lange gekämpft. Ich wusste von Anfang an, dass ich diese Krankheit nicht überleben werde, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Vielleicht hat mich das auch so lange am Leben erhalten, aber schlussendlich musste ich gehen.
Ely, es gibt vieles, was du nicht weisst. Angefangen bei deinem Vater. Er war ein wunderbarer Mann. Ich habe mich sofort in diese dunkelbraune Augen verliebt, genauso, wie jedes andere Mädchen um ihn herum. Er war der unangefochtene Schulschwarm, Traum aller Mädchen. Tja, und ich hab es geschafft, ihn zu bekommen.
Weisst du, Liebling, ich habe deinen Vater sehr geliebt, aber ich gehörte nicht in seine Welt. Er war schon damals Sohn reicher Eltern und sehr verwöhnt. Und dennoch habe ich ihm wohl gefallen und er wollte mich sogar heiraten. Oh, wir waren jung und verliebt – und sehr naiv. Er dachte, er könne mich heiraten und mit mir glücklich werden, aber sein Vater wollte das natürlich nicht. Jon hat sich damals sehr über seine Familie aufgeregt, aber ich habe ihm bald klar gemacht, dass es das beste ist, wenn ich wieder verschwinde.
Er hatte eine Verlobte, Eliza. Sie wurde von seinen Eltern ausgesucht und war die perfekte Partie für ihn. Gebildet, reich, höflich und zurückhaltend. Ich mochte sie eigentlich, aber ich hasste sie auch, denn sie nahm mir meinen Mann.
Da ich in ihrer Familie nie willkommen geheissen wurde, verliess ich ihn. Damals wusste ich noch nicht, dass ich schwanger war und wollte mir meine eigene Existenz aufbauen. Meine eigene Welt lag in Scherben, ich hatte nichts mehr zu verlieren. Aber dann bist du gekommen. Ach mein Liebling, du warst der einzige Grund, der mich jahrelang am Leben erhalten hat. Ohne dich wäre ich längst unter der harten Arbeit zerbrochen.
Ich habe mir vor langer Zeit geschworen, dass du niemals in diese Welt der Intrigen und der Macht gerätst, aber wenn ich sterbe, will ich, dass du eine Familie hast. Jon wird dich nicht verstossen, mein Kind. Er ist zwar ein verwöhnter Junge, aber er hat ein gutes Herz. Nun, ich hoffe, dass seine Eltern dieses Herz nie zerstört haben. Aber ich glaube fest daran, dass du in ihm eine Familie oder wenigstens eine anständige Zukunft findest. Ich habe ihm vor ein paar Tagen einen Brief geschickt, in dem ich deine Ankunft angekündigt habe. Ich bitte dich von ganzem Herzen, mein Schatz, fahr zu ihm. Er wird wissen, wer du bist. Sollte er allerdings nicht mehr der alte Jon sein, den ich lieben gelernt habe, dann nimm bitte Kontakt auf mit Albertus Lovegail. Er ist ein alter Freund von mir und schuldet mir noch einen grossen Gefallen. Sollte er dich wegschicken, erinnere ihn an die Sache mit Lilly. Er wird wissen, um was es geht und es sich nochmal überlegen.
Nun, das ist alles, was ich für dich tun kann.
Ach nein, ich vergass, unter der Spüle, hinten im Glaskasten, findest du ein wenig Geld. Ich habe es über die Jahre gespart und übergebe es jetzt dir. Vererben kann ich dir nichts, ausser meine Kette. Ich habe sie schon lange nicht mehr getragen, du wirst sie in meinem Schmuckkästchen finden. Sie bedeutet mir sehr viel.
Jetzt ist wohl alles gesagt, Ely. Vergiss nie, wer du bist und sei immer stark. Du bist klug und hübsch, nutze dies zu deinem Vorteil, meine Kleine. Ich glaube fest an dich!
Und es tut mir Leid, dass ich dich in dieser Welt allein zurück gelassen habe. Aber ich werde dennoch immer bei dir sein, und sei es in deinem Herzen.
Ich liebe dich, mein Schatz.
In Liebe,
deine Mutter
Emma Jonson.
Darunter befindet sich noch die Adresse eines Jon Admirrels.
Matt lasse ich mich in den alten, zerknautschten Sessel fallen, den Mum so liebte.
Okay, das sind ein paar Neuigkeiten, die ich erst mal verdauen muss.
Geld unter der Spüle, gut dann wäre mal dieses Problem für die nächsten Tage gelöst.
Ich werfe den Briefumschlag auf den Boden und beobachte resigniert, wie ein kleines, rechteckiges Papier heraus gleitet.
Was ist das denn? Neugierig hebe ich es hoch und starre auf ein Zugticket nach Dravelton, einer grossen Stadt, die mehrere Stunden entfernt liegt. Es ist noch bis Montag gültig, das sind zwei Tage.
Nein, einen, korrigiere ich mich mit einem Blick auf die Uhr. Es ist halb zwei Uhr in der Früh.
Okay, was habe ich sonst noch erfahren?
Meine Mutter hat sich anscheinend in einen reichen Mann verliebt. Der mein Vater ist. Und sie hat ihn verlassen, nicht umgekehrt.
Ich verstehe, warum sie mir das nie gesagt hat; ich wäre unglaublich wütend auf sie gewesen, weil ich gedacht hätte, sie wolle mir meinen Vater vorenthalten. Jetzt aber verstehe ich ihre Gründe.
Er weiss, dass ich komme. Er erwartet meine Ankunft. Das ist schlecht.
Gleich darauf schüttle ich heftig den Kopf. Ach was, ich sollte kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich dort nicht auftauche! Schliesslich hat sich mein „Vater“ all die Jahre auch nicht die Mühe gemacht, uns aufzusuchen und seine Tochter kennenzulernen. Also bin ich ihm wohl sowieso egal.
Gut, was noch?
Ach ja, sollte ich nicht mehr weiter wissen, würde ich mich auf die Suche nach diesem... wie hiess der nochmal?
Suchend werfe ich einen Blick auf den Brief. Albertus Lovegail! Sollte ich Hilfe brauchen, werde ich diesen Kerl suchen und sie mir von ihm holen.
Okay, genug gegrübelt. Mein Bett wartet.
Sam Klamotten lasse ich mich in die weichen Kissen fallen und schliesse erschöpft die Augen.
Und plötzlich ist es vorbei mit meiner Gelassenheit.
Mum ist tot. Ich bin allein. Mum ist tot. Wie schon heute Mittag hallt dieser eine Satz immer wieder in meinem Kopf wieder und nimmt mein gesamtes Denken ein. Es fällt mir unheimlich schwer, an etwas anderes zu denken, als an ihre leblose Gestalt, die so unheimlich zerbrechlich in den Kissen gelegen hat. Sie ist tot. Weg. Hat mich verlassen. Allein gelassen in dieser kalten, grossen Welt.
Obwohl ich 20 Jahre alt bin, fühle ich mich gerade wie ein Kleinkind.
Es ist, als hätte ich meinen allerliebsten Teddybären verloren. Oder eben meine Mutter. Mum.
Eine einzelne Träne rollt über meine Wangen und ich kneife so fest ich kann die Augen zusammen. Ich hasse es zu weinen. Ich hasse Tränen. Ich hasse diese Schwäche, die ich damit zeige.
Aber plötzlich kann ich sie nicht mehr zurückhalten. All die Jahre habe ich die Trauer zurück gedrängt, unterdrückt wie der Drang zu Niesen.
Aber jetzt geht das nicht mehr.
Die Tränen rollen nur noch, wie schon am Mittag. Ich kann nicht mehr aufhören herzzerreissend zu Schluchzen und den Rotz wieder hochzuziehen.
Noch nie in meinem Leben habe ich so heftig geheult, noch nie in meinem Leben habe ich mich so sehr dem Schmerz hingegeben.
Ich klammere mich an das Kissen meiner Mutter, versuche einen Hauch ihres geliebten Dufts zu erahnen und presse mein Gesicht fest in das weiche Material. Da ist nichts mehr. Ihr Geruch ist schon lange weg.
Trotzdem presse ich meine Nase noch fester hinein und wünsche mir, darin zu ersticken.
Allerdings wehrt sich mein Körper heftig dagegen und ich lasse schliesslich wieder ein wenig lockerer, um zu Atem zu kommen.
Ich fühle mich so allein. So schrecklich einsam.
Mit weichen Knien stehe ich irgendwann auf und lasse mich in der dunkelsten Ecke des kleinen Zimmers auf den Boden sinken.
Das Gesicht fest im Kissen vergraben weine ich mich in einen unruhigen Schlaf.
Am nächsten Morgen habe ich meine Entscheidung getroffen und packe meine Koffer. Plötzlich habe ich es eilig, die kleine Wohnung zu verlassen und dieses Leben hinter mir zu lassen.
Hastig öffne ich den Schrank unter der Spüle und finde darunter tatsächlich ein Umschlag mit mehreren Noten. Im Schnelldurchlauf errechne ich ganze 1485 Euro zusammen und bin über diese Summe ganz schön überrascht. Für einen normal verdienenden Menschen hört sich das nach wenig an, aber ich bin schon mit weit aus weniger in einem Monat ausgekommen.
Schnell packe ich das Geld in meine Reisetasche ebenso wie den Brief und das Ticket.
Dann rufe ich im Krankenhaus an um mich von Dr. Alberts zu verabschieden, der sich immer rührend um mich gekümmert hat. Nachdem ich auch noch die Sache mit der Beerdigung meiner Mutter geregelt habe, packe ich meinen Koffer und die Tasche und verlasse mein Zuhause.
Der Zug rattert jetzt schon seit Stunden durch eine ständig wechselnde Landschaft.
Die Fahrt dauert im gesamten 6 Stunden und vierzig Minuten. Also eine halbe Ewigkeit.
Ich versuche krampfhaft ein wenig Schlaf zu bekommen, doch jedes Mal wenn ich meine Augen schliesse erscheint das leblose Gesicht meiner Mutter vor meinem inneren Auge. Ausserdem schmerzt mein Rücken durch die unbequeme Nacht und ich bekomme einfach keine annehmbare Position hin, in der ich normal schlafen kann.
Irgendwann gebe ich es auf und suche meine alte und vollkommen zerfledderte Version von Alice im Wunderland hervor. Ich weiss nicht warum, aber ich liebe dieses Buch. Vielleicht weil es mich jedes al erfolgreich in eine andere Welt entführt, eine Welt voller Magie und Fantasie.
In dieser Welt kann ich alles vergessen und bin nicht weiter Ely Jonson, die arme Tochter, einer verstorbenen Frau.
Schon bald versinke ich in den Buchstaben und fiebere mit Alice dem Kampf gegen den Jabberwocky entgegen.
Erst die Stimme des Schaffners bringt mich wieder zurück, als er mein Ticket sehen will. Ich verdrehe innerlich die Augen, denn der Mann kam schon ganz am Anfang der Fahrt und verlangte dasselbe. Stumm zeige ich es ihm und er verschwindet endlich wieder.
Sofort wende ich mich wieder dem Buch zu, doch irgendwie kann ich mich plötzlich nicht mehr konzentrieren.
Mein Magen schwirrt und fühlt sich an, als würde ich in freiem Fall in ein tiefes Loch fallen.
Meine Hände zittern unruhig und krallen sich in das Buch. Nervös tippe ich mit dem Daumen einen unregelmässigen Takt und starre aus dem Fenster, ohne etwas von der vorbeiziehenden Landschaft wahrzunehmen.
In ein paar Stunden werde ich meinem Vater gegenüber treten.
Dass ich jemals diesen Gedanken denken würde, habe ich geahnt. Mein Vater war immer ein Tabuthema für mich und meine Mutter. Ich habe ihn schon längst als feigen Hund abgetan und in eine meiner untersten Schubladen verschlossen. Jahrelang dachte ich, er hätte meine Mutter und mich einfach zurückgelassen, weil er Angst vor der Verantwortung hatte. Heute weiss ich es besser. Aber überraschender weise kann ich damit viel schlechter umgehen, als mit der vorigen Version. Es war okay für mich. Mein Vater existierte schlichtweg nicht in meinem Leben. Er war nur der Samenspender, mehr nicht.
Aber jetzt spielt er plötzlich eine grosse Rolle. Ständig frage ich mich, wie er wohl sein wird. Mama hat ihn in ihrem Herz als liebenswerten Mann beschrieben. Ob er das wohl noch immer ist? Wird er mich überhaupt akzeptieren? Was, wenn er mich einfach wegschickt? Was, wenn er nichts von mir wissen will?
Und wer hätte gedacht, dass dieser Gedanke mir tatsächlich Angst machen würde? Ich auf jeden Fall niemals. Nervös werfe ich einen Blick auf meine alte Uhr und seufze tief. In einer knappen halben Stunde komme ich am Hauptbahnhof von Dravelton an. Dort werde ich mir ein Taxi nehmen und zu der Adresse fahren, die unten auf dem Brief steht.
Aufregung macht sich in mir breit und ich fühle mich vollkommen erschlagen.
Am liebsten würde ich jetzt einfach nur noch in ein weiches Bett fallen und alles vergessen.
Aber so einfach ist das leider nicht.
Schliesslich wird es Zeit, meine Sachen wieder einzuräumen, da der Zug langsam im Bahnhof einfährt.
Der Bahnhof wimmelt nur so vor Leuten und ich habe meine liebe Mühe, den Ausgang zu finden. Schliesslich verlasse ich die Bahnhofshalle erleichtert und bin froh, als ich direkt davor, auf der linken Seite, mehrere wartende Taxis entdecke.
Hastig laufe ich auf das erste zu und der Fahrer hilft mir mit meinem Gepäck. Danach gebe ich ihm die Adresse und setze mich hinten rein.
Allerdings scheint der Mann nicht wirklich zu wissen, was das für eine Adresse sein soll.
„Miss, diese Adresse gibt es nicht. Oder schon, aber das ist nur ein altes, verlassenes Mehrfamilienhaus. Da lebt schon lange niemand mehr! Da muss sich jemand ein Scherz mit Ihnen erlaubt haben, Miss“, erklärt er mir und ich fühle plötzlich Tränen der Verzweiflung über meine Wangen fliessen. Scheisse! Was soll ich denn jetzt machen? „Miss? Oh bitte, ich wollte Sie nicht zum Weinen bringen! Es tut mir Leid! Wo kann ich Sie sonst hin fahren?“ Er betrachtet mich besorgt und mitleidig. Entsetzt über meine Gefühlsduselei reisse ich mich zusammen und wische die Tränen rabiat weg. „Ich... können Sie mich bei einem sauberen, aber nicht zu teuren Hotel absetzen, bitte?“ Er nickt erleichtert und fährt sofort los.
Okay Ely, mal überlegen. Du wirst morgen ein Internetcafé suchen und die Adresse von diesem Jon Admirrels finden. Danach wirst du ihn besuchen. Und wenn das nichts wird, wirst du Albertus Lovegail suchen. Und sollte das auch nichts werden, siehst du weiter.
Durch diesen Vorsatz beruhigt werfe ich endlich einen Blick aus dem Fenster und bewundere die Stadt. Es ist eine typische Grossstadt, mit Wolkenkratzern und riesigen Bürokomplexen. Aber dazwischen funkelt immer wieder der Charme einer alten Stadt hervor, die sie mal gewesen war.
Früher war das hier nur ein grosses Dorf, in dem die reicheren Bauern gelebt haben. Erst vor etwa 200 Jahren wurde das Dorf ausgebaut und immer grösser. Dennoch hat die Stadt wohl nie den Bauerncharme verloren, denn immer wieder entdecke ich zwischen den modernen Gebäuden ältere, prachtvolle Bauernhäuser.
Der Fahrer setzt mich vor einem schlichten Haus ab, über dessen Tür in grossen Lettern das Wort „Silcene“ prangt. Das erste E ist kaputt und flackert nur noch hin und wieder kraftlos. Dennoch scheint es nicht ganz so schäbig zu sein, wie es auf den ersten Blick wirkt.
Der Fahrer bringt mir mein Gepäck bis vor die Tür und verabschiedet sich dann von mir, als ich ihm sein Geld in die Hand gedrückt habe.
„Ich wünsche Ihnen viel Glück, Miss! Und melden Sie, dass Sie von Perry kommen, dann werden Sie gut aufgenommen! Ach und richten Sie bitte Mrs. Dackelson einen lieben Gruss aus, ja? Guten Abend, Miss!“ Er schenkt mir ein breites Lächeln und ich lächle zum ersten Mal seit Tagen einen Menschen an. „Ich danke Ihnen, Sir!“
Dann ist er verschwunden und ich stehe alleine vor dem kleinen Hotel.
Erschöpft schiebe ich die Tür auf und ziehe mein Gepäck hinter mir rein.
Ein kleiner Raum, der recht altmodisch wirkt, empfängt mich.
Ein grosser Tisch soll wohl so etwas wie eine Rezeption darstellen, denn dahinter entdecke ich eine ältere Dame, die mir misstrauisch entgegen blickt. Ich fühle mich ein wenig unwohl und denke schon darüber nach, wieder zu gehen, als sie mich auch schon anspricht. „Kann ich etwas für Sie tun?“, fragt sie fordernd und mustert mich mit Argusaugen. Ich nicke zögerlich. „Ja... ich... ich brauche ein Zimmer, Madam“, stottere ich und sie winkt mich näher. „Ach und, ich soll einer gewissen Mrs. Dackelson einen lieben Gruss ausrichten. Parry schickt mich.“
Sofort blüht das Gesicht der Dame auf, als hätte jemand einen Lichtschalter umgelegt. „Oh, Schätzchen, ich danke dir! Gut, dann komm mal mit, Mädchen. Ich werde dich in das schönste Zimmer führen, das es hier gibt!“, ruft sie begeistert aus und ich erschrecke mich fast ein wenig über ihre freudige Art.
„Komm, Liebes!“ Sie eilt an mir vorbei, auf eine breite, alte Treppe zu und ich greife nach meinen Koffern und versuche ihr so schnell, wie möglich zu folgen. An der Treppe hält sie inne und sieht plötzlich, was mich so aufhält. „Ach, Mädchen! Lass doch das Gepäck stehen! Lodry!“, ruft sie laut und keine Sekunde später erscheint ein junger, schmächtiger Mann, der mir einen schleichenden Blick zuwirft. „Ja, Mrs. Dackelson?“, fragt er und seine Stimme hört sich eigenartig schnarrend an. „Bring das Gepäck dieser jungen Dame bitte aufs Nebelzimmer!“ Er nickt und packt meine Sachen, um sie an mir vorbei die Treppe hochzuschleppen. „Nebelzimmer?“, frage ich nur erstaunt und folge Mrs. Dackelson ebenfalls die Treppe hinauf. „Oh ja, du wirst gleich verstehen, warum es so heisst!“
Die Treppe verjüngt sich oben und endet in einem schmalen Gang, der von unzähligen wunderschönen Bildern gesäumt ist. Die Zimmer haben keine Nummern, sondern Namen.
So laufe ich an einem „Zimmer der Liebe“ vorbei, gefolgt von einem Raum namens „Wasserhimmel“.
Ausserdem gibt es noch „Morgenröte“, „Nachtstern“ und das „Zimmer des Lebens“. Am Endes des Gangs führt eine weitere Treppe noch weiter hinauf, die wir ebenso besteigen müssen.
Durch die viel Jahre des Nichtstuens ist meine Kondition nicht mehr die beste, und dementsprechend komme ich oben ziemlich erschöpft an und mein Atem geht stossweise. „Ach, daran wirst du dich gewöhnen, Kindchen! Komm, ich zeig dir dein Zimmer!“ Mrs. Dackelson schenkt mir ein strahlendes Lächeln, das eigenartig in ihrem Gesicht wirkt.
Sie trippelt auf die letzte Tür zu, neben der das Schild mit dem Namen „Nebelzimmer“ prangt und ich folge ihr neugierig. Die Tür wird von innen aufgerissen und Lodry kommt mit einem eigenartigen Lächeln wieder heraus. Er schiebt sich dicht an mir vorbei und mustert mich intensiv. Ein kalter Schauer jagt über mein Rücken, aber als ich endlich das Zimmer betrete, ist dies sofort wieder vergessen.
„Wow“, hauche ich verzückt und drehe mich mit grossen Augen um meine Achse.
Dieses Zimmer ist einfach nur wunderschön!
Die Wände sind ganz eigenartig bemalt, als würden sie aus Rauch und Nebel bestehen. Alles ist in einem harmonischen Grau gehalten, aber es wirkt nicht kühl, sondern warm und einladend.
Der Raum wird von einem riesigen Himmelbett dominiert, dessen Bezüge ebenfalls in einem hellen Grau gehalten sind und das weich und einladend wirkt. Begeistert werfe ich mich hinein und bewundere die Decke, die mir einen sturmverhangenen Himmel zeigt. Der Mond leuchtet hinter einer Wolke hell hervor und gibt mir das wohliges Gefühl beschützt zu werden.
„Oh, Mrs. Dackelson! Dieses Zimmer ist wunderschön! Ich danke Ihnen.“ Die ältere Dame schenkt mir ein leises Lächeln und wirft einen eigenartigen Blick, den ich nicht deuten kann, in den Raum. „Ja, ich mochte dieses Zimmer schon immer“, flüstert sie leise und wirkt, als wäre sie weit weg in ihren Gedanken.
Ein trauriger Ausdruck huscht über ihre Züge, aber ich traue mich nicht, nachzubohren.
„Ach, bevor ich es vergesse! Hast du Hunger? Ich habe heute zwar nur eine Suppe gemacht, aber die Leute sagen immer, es sei die beste Suppe ganz Draveltons! Es wird dir bestimmt schmecken, Kindchen!“
Wie auf's Stichwort meldet sich mein Magen mit einem lauten Knurren und ich stehe lachend wieder auf.
„Ja, Mrs. Dackelson! Es wäre mir eine Ehre, von Ihrer köstlichen Suppe zu kosten.“ Sie lächelt freudig und trippelt zur Tür. „Gut, komm in zehn Minuten runter! Bis später, Kind.“ Damit ist sie auch schon wieder verschwunden und ich lasse mich wieder in die Kissen fallen.
Ich fühle mich glücklich und einfach nur gut.
Erstaunt nehme ich diese Gefühle wahr und bin froh, für ein paar Minuten nicht von der grenzenlosen Trauer über den Verlust meiner Mutter übermannt zu werden.
Beschwingt mache ich mich ein wenig frisch und laufe dann nach exakt zehn Minuten wieder nach unten. Dort erwartet mich schon ein junges Mädchen, das mich freundlich anlächelt. Ich erwidere das Lächeln und folge ihr.
„Die Lady wartet schon auf Sie“, murmelt sie und ich bin ein wenig erstaunt, dass sie Mrs. Dackelson als Lady bezeichnet. Nun, mag ja sein, dass sie eine Lady ist, aber dass man einen solchen Titel heutzutage noch benutzt?
Allerdings wischt der köstliche Duft, der mir entgegen schwebt, all diese Gedanke zur Seite und ich laufe wie ferngesteuert in die Küche.
Mrs. Dackelson sieht mir lächelnd entgegen und rührt in einem grossen Topf. „Sie ist gleich fertig, Mädchen. Lauf doch schon mal ins Esszimmer! Die Madam erwartet dich schon!“ Sie zwinkert mir verschwörerisch zu und ich verstehe so langsam kein Wort mehr. Wer ist denn jetzt die Madam?
Die Frage beantwortet sich, als ich das Esszimmer betrete und sogleich von einem paar kühler, eisblauer Augen gemustert werde.
Eine Frau, deren Alter ich unmöglich benennen kann, sitzt am Kopfende des Tisches, die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet, mit geradem Rücken und einem Blick, der einem durch und durch geht.
„Du bist also das Mädchen, das uns Parry schickt“, sagt sie leise, aber mit messerscharfer Stimme. Ich nicke bloss, kann kein Wort sagen. Meine Kehle ist wie zugeschnürt.
„Nun denn, setz dich, Kind.“ Ich bin ein wenig überrascht, diesen Kosenamen aus ihrem Mund zu hören. Zu Mrs. Dackelson passt das eher, aber zu dieser eleganten, kühlen Frau? Nein, definitiv nicht.
Eingeschüchtert setze ich mich auf den Stuhl, der mir am nächsten ist und betrachte stumm meine Hände, die ich auf meinen Schoss gelegt habe.
Ich fühle mich plötzlich winzig klein, ein wirklich eigenartiges Gefühl.
„Erzähl mir, woher du kommst“, fordert mich die Frau auf und mustert mich mit unbewegtem Gesicht. Ich kann unmöglich sagen, was sie von mir hält.
Unsicher streiche ich meine Kleider flach und suche nach den richtigen Worten. „Ich... meine Mutter... meine Mutter ist gestorben“, flüstere ich und meine Stimme bricht. Wieder übermannt mich die Trauer und ich kann nur mit Mühe die Tränen unterdrücken, die mir sofort in die Augen geschossen sind.
„Und was suchst du jetzt in Dravelton?“, fragt die Frau, ohne einen Ton des Mitleids verlauten zu lassen. Auf der einen Seite bin ich ihr dafür dankbar, auf der anderen Seite finde ich es ein wenig unverschämt, mich so auszufragen. Ihr das ins Gesicht zu sagen, würde ich mich aber nie trauen.
„Ich...ich suche...“ Ich verstumme. Soll ich ihr wirklich sagen, dass ich nach meinem Vater suche? Dass ich einen Brief meiner Mutter bekommen habe und jetzt meine mir unbekannte Familie suche?
Ich zögere noch einen Moment, ehe ich mit fester Stimme erwidere: „Ich suche meinen Vater.“ Die Frau zieht eine der geschwungenen, säuberlich gezupften Augenbrauen hoch und mustert mich erneuert intensiv.
„Und wer ist dein Vater?“ Wieder zögere ich, aber dann frage ich mich, was ich schon zu verlieren habe, wenn ich es ihr sage. „Jon Admirrels heisst er. Er soll hier irgendwo leben.“
Die Augen der Frau weiten sich überrascht, aber kaum eine Sekunde später hat sie sich schon wieder unter Kontrolle und starrt mich bloss ausdruckslos an. „Admirrels, so so... Ich wusste gar nicht, dass er eine Tochter hat? Ich dachte, sein dummer Bengel reicht ihm?“ Verunsichert senke ich den Kopf und zucke die Achseln. Was soll ich denn darauf auch schon erwidern? Ich kenne Jon Admirrels nicht. Weder ihn, noch seinen Bengel, wie die Frau ihn genannt hat. Im selben Moment dringt die Bedeutung ihrer Worte in mein Gehirn ein und ich schnappe nach Luft. Das bedeutet, er hat einen Sohn. Ich habe einen Bruder.
Nein, stopp; Halbbruder.
Plötzlich verspüre ich grosse Angst, Jon Admirrels aufzusuchen. Ich will nicht in seine perfekte Familie platzen. Ich habe viel zu viele Bücher gelesen, in denen solche Kinder abgewiesen werden, gerade in diesen reichen Familien ist das üblich. Oh Gott, was wenn er mich auch sofort abweist? Dieser Gedanke macht mir unglaublich Angst.
„Was wirst du tun, wenn er dich nicht aufnimmt?“, unterbricht die Frau meine Gedanken und ich hebe rasch den Kopf. „Ich... ich werde nach Albertus Lovegail suchen.“
Erneuert sieht sie mich erstaunt an, und wieder hat sie sich sofort wieder im Griff. „Lovegail? Dieser alte Spinner?“ Sie runzelt die Stirn ein wenig. „Was hast du mit dem zu schaffen?“, fordert sie zu wissen. „Er schuldet... meiner Mutter einen Gefallen.“
Sie nickt und schweigt nachdenklich.
Im selben Augenblick kommt Mrs. Dackelson herein geschwirrt und stellt je ein Tablett vor mich und eins vor die Frau. Neugierig hebe ich die Kuppel, die über mein Teller gestellt ist, und atme den köstlichen Geruch der Suppe ein, der mir sofort entgegen schwabt.
Sofort ist die elegante Frau mir gegenüber vergessen, mein Magen fordert lautstark seine Belohnung.
Hungrig mache ich mich über das leckere Gebräu her und lasse erst von meinem Teller ab, als ich jeden Tropfen herausbekommen habe.
„Sieh nur, Donna! Das nenn ich mal einen gesunden Appetit!“ Mrs. Dackelson mustert erfreut meinen leeren Teller. Die Frau, die dann wohl Donna heissen muss, wirft mir nur einen abschätzenden Blick zu. Ich glaube, sie hält nicht besonders viel von mir.
„Sieht aber nicht gerade so aus, als ob das etwas normales bei ihr wäre. Sie ist viel zu dünn.“ Empört sehe ich zu Donna und ziehe die Augenbrauen hoch. Ich bin nicht dünn! Ich bin normal! Sie soll sich mal selbst im Spiegel ansehen, dann weiss sie, was dünn ist!
Wütend will ich schon eine Hasstirade loswerden, als ich Mrs. Dackelsons Blick bemerke. Sie schüttelt ganz leicht den Kopf und verdreht die Augen in Richtung Donna. Dann grinst sie mich verschwörerisch an und ich lasse es lieber und nicke ihr leicht zu.
„Nun denn, ich habe genug gegessen. Ich werde mich jetzt in mein Büro zurückziehen und wünsche nicht gestört zu werden.“ Donna erhebt sich und nickt uns mit hoheitsvoller Mine zu. Tja, jetzt verstehe ich langsam, warum sie „die Lady“ genannt wird und nicht einfach nur Donna.
Kaum ist sie verschwunden bricht Mrs. Dackelson in lautes Gelächter aus und ich sehe sie erstaunt an. Mein Gott, ist das wirklich die Frau, die mich damals so misstrauisch angesehen hat, als ich das Hotel betreten habe? Kaum zu glauben.
Lachend steht sie auf und sammelt die leeren Teller und das Besteck ein. „Oh Gott, dieses Gesicht, das sie da wieder gemacht hat! Unsere Lady ist einfach zu köstlich!“ Erneuert bricht sie in mädchenhaftes Gekicher aus, was wohl Lodry angelockt hat. „Was ist denn hier los?“ Er mustert uns verwirrt und ich schüttle bloss grinsend den Kopf. „Donna hat mal wieder die hoheitsvolle Lady raus hängen lassen“, kichert Mrs. Dackelson und Lodry grinst verstehend. „Ach so. Sie wollte wohl unseren Gast besonders königlich empfangen!“
„Ja, aber sie hat ihr Verhör meisterhaft hinter sich gebracht!“ Sie zwinkert mir zu. „Ich glaub, Donna mag dich.“ Was? Das hat sie aber in keinster Weise gezeigt!
„Ich weiss, unsere Donna ist sehr... speziell. Aber man merkt es, wenn sie jemanden respektiert. Und das hast du irgendwie geschafft. Du musst bei ihr also keine Angst haben. Weisst du, unsere Madam ist eigentlich sehr nett, aber sie versteckt ihre gute Seite einfach zu gerne.“
„Oh, wenn Sie das sagen, Mrs. Dackelson.“ Ich lächle schüchtern und räume meine Sachen ebenfall ab. „Ach Kindchen, nenn mich bitte Mary. Mrs. Dackelson sagt nur Parry zu mir, und der auch nur, weil er mich gern damit aufzieht.“ Sie grinst und wischt den Tisch mit einem Lappen sauber.
Plötzlich verspüre ich den Drang herzhaft zu gähnen und merke erst jetzt, wie müde ich eigentlich bin.
„Ich werd' mich jetzt auch zurückziehen. Ich bin müde! Gute Nacht, euch beiden!“ Ich werfe Mary und Lodry ein Lächeln und verlasse die Küche.
Oben in meinem Zimmer ziehe ich mich hastig um und liege kaum fünf Minuten später in meinem Bett.
Normalerweise würde ich jetzt wohl noch lange wachliegen und über den Tag nachdenken, ber mein Körper fordert seinen Tribut und wenig später bin ich auch schon in einem unruhigen Schlaf versunken.
Der nächste Morgen ist eigenartig.
Ich wache in einem fremden Bett auf und sehe direkt in einen wolkenverhangenen Sturmhimmel.
Orientierungslos drehe ich mich auf die Seite und entdecke meinen Koffer, den ich am letzten Abend neben das Bett gelegt habe.
Dann nehme ich blinzelnd die Nebelwände wahr und erinnere mich langsam. Mum ist tot. Ich bin in Dravelton. Im Hotel Silcene. Heute werde ich meinen Vater suchen.
„Puuh...“ Ich grummle verschlafen und vergrabe mich tiefer in der weichen Decke.
Im nächsten Augenblick klopft es leise an der Zimmertür. „Ja?“, murmle ich und hebe meinen Kopf. Die Tür geht einen Spalt breit auf. „Ely? Bist du schon wach?“ Mary streckt den Kopf herein und grinst, als sie mich entdeckt. „Was gibt's Mary?“ „Oh, ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich ein Frühstück bereit gemacht habe und falls du Lust hast, kannst du jetzt runter kommen und dir den Bauch vollschlagen.“ Ich nicke und lasse mich wieder ins Kissen fallen. „Gib mir fünf Minuten, dann bin ich da.“ Sie nickt und verschwindet wieder.
Mühsam rapple ich mich aus dem Bett und ziehe mich an. Ich fühle mich nicht besonders ausgeschlafen und bin dementsprechend langsam unterwegs. Erst knappe zehn Minuten später bin ich wieder vorzeigbar und laufe die Treppe hinunter in die Küche. „Oh, du bist gerade perfekt! Ich hab Eier gemacht und Toast, magst du das mal raus bringen?“ Mary drückt mir eine Schale mit duftendem Toast in die Hand und quetscht sich mit einem beladenen Tablett an mir vorbei. Hungrig folge ich ihr und bleibe überrascht stehen, als ich nebst Lodry auch noch einen anderen jungen Mann entdecke, der Lodry erstaunlich ähnlich sieht, aber um einiges sympathischer wirkt. „Oh. Es gibt dich also doppelt?“ Ich werfe Lodry einen erstaunten Blick zu und setze mich wieder auf den Stuhl von gestern Abend. Er nickt kauend. „Jap, das ist mein Bruder Ben. Eigentlich ist er fast nie hier, aber jetzt muss er hier für ein paar Tage aushelfen. Pass aber auf vor ihm“, Lodry beugt sich verschwörerisch näher zu mir, „er ist nicht so nett, wie er aussieht!“ Er grinst und zwinkert mir zu. „Na, ich werd's mir merken, Lodry.“ Ich werfe Ben einen neugierigen Blick zu, kann allerdings nicht sagen, was an Lodrys Worten dran ist. Ben hebt den Kopf und mustert mich intensiv. Dann grinst er schief, zwinkert anzüglich und plötzlich verstehe ich, was Lodry gemeint hat.
Im nächsten Augenblick ertönt hinter mir ein schmerzvolles Stöhnen und Donna betritt mit jämmerlicher Miene den Raum. „Oh, diese Kopfschmerzen bringen mich noch um!“ Sie hält sich dramatisch die Schläfe und blitzt jeden böse an, der es wagt, zu grinsen. „Hast du gestern wieder mal zu tief ins Glas geschaut?“, zieht Ben sie lachend auf und hält die Hände schützend vor sein Gesicht, als Donna ein Stück Toast aus der Schale schnappt und es nach ihm wirft. Erstaunlich treffsicher landet es direkt in seinem Teller. „Nicht getroffen, Schnaps gesoffen!“ Zu meiner Überraschung grinst Donna tatsächlich und nickt leicht. „Wohl war, Kleiner. Ich sollte wirklich weniger trinken. Aber es schmeckt so gut!“ Sie verzieht das Gesicht und setzt sich auf ihren Platz am Kopfende des Tisches. Im nächsten Moment huscht auch schon Mary an mir vorbei und stellt mir im Lauf ein volles Glas Kakao neben den Teller. Bei Donna hält sie inne und legt ihr eine Tablette, vermutlich Aspirin, in die Hand. „Nimm das, dann geht's dir besser.“ Donna wirft die Tablette dankbar ein und schüttelt sich. „Das ist echt eklig!“
Ben lacht auf und Lodry grinst schadenfroh. „Selbst Schuld.“
„Guten Morgen“, ertönt die schüchterne Stimme des Mädchens, das mich gestern in die Küche gebracht hat. Ich lächle sie über den Rand meiner Tasse Kakao an und erwidere den Gruss.
„Oh, Bella, könntest du später bitte noch schnell bei Mrs. Ladrasse vorbeischauen? Sie hat mich heute morgen schon fünf mal angerufen und nach dir gefragt.“
Das Mädchen, Bella, verdreht sanft lächelnd die Augen und setzt sich an den Tisch. „Das war ja klar. Was sie wohl jetzt wieder will? Ich werd nachher rüber gehen, versprochen, Mary.“ Mary nickt ihr dankbar zu und verschwindet schon wieder in der Küche.
Wenige Sekunden später erscheint sie auch schon wieder, mit einem grossen Korb voller frischer Croissants. „Hm, das duftet herrlich, Mary!“, schmeichelt Ben und schenkt der älteren Dame ein jungenhaftes Lächeln. „Vergiss es, Ben! Du hast mir heute morgen schon drei Stück gemoppst! Du kriegst keine mehr, ausser es bleiben welche übrig!“ Das Gesicht von Ben verzieht sich gespielt beleidigt und er senkt fast schon traurig den Kopf.
Einen Augenblick später scheint er das duftende Gebäck schon wieder vergessen zu haben und macht sich hungrig über sein Toast her.
Auch ich gebe dem Drängen meines Magens nach und nehme mir eines der warmen Croissants.
Das Frühstück erweist sich als äusserst lecker und ich fühle mich so satt, wie selten zuvor, als ich den leergeputzten Teller von mir schiebe und zufrieden meine Tasse Kakao leertrinke.
„Hat es dir geschmeckt, Kleines?“ Mary grinst mich verschmitzt an und ich nicke lebhaft. „Oh ja, Sie sind wirklich die beste Köchin weit und breit! Ich habe noch nie so gute Croissants gegessen!“, lobe ich ehrlich und Mary lächelt mich breit an. „Danke, Mädchen. Das hör ich gern!“
„Lob sie bloss nicht zu viel, sonst wirst du sie nie wieder los und sie stopft dich nur so voll mit Essen! Und dann siehst du bald aus, wie eine fette Bratgans, die bald gemästet wird!“, kichert Ben und ich starre ihn verdutzt an. „Ich werd's mir merken“, murmle ich. „Ach, das sagst du doch nur, damit du weiterhin von Mary versorgt wirst, du Bengel!“, ruft Bella erstaunlich frech Ben zu, der sie daraufhin anzüglich angrinst und zwinkert. „Aber ja doch, meine Süsse. Aber das muss Ely ja nicht wissen!“ Ich verdrehe synchron mit Bella die Augen und erhebe mich schliesslich, um meine Sachen abzuräumen, Sofort springt Mary ebenfalls auf und will mir zur Hand gehen. „Mary, setzen Sie sich doch wieder, ich schaff das schon!“, versuche ich sie abzuwimmeln, denn die Gute hat sich erst gerade an ihr Frühstück gesetzt, während wir anderen schon längst damit begonnen haben.
Doch erst als Lodry mir zustimmte, liess sie zu, dass ich mein dreckiges Geschirr abräumte. „Und was hast du heute vor, Mädchen?“, fragt sie mich, als ich fertig bin und mich wieder an den Tisch setze. „Oh, ich werde heute nach meinem... Vater suchen.“ Das Wort kommt mir nur schwer über die Lippen, so ungewohnt ist es.
„Apropos suchen, gibt es hier in der Nähe ein Internetcafé?“ Mary schüttelt ratlos den Kopf, genauso wie alle anderen auch. Nur Ben scheint etwas zu wissen. „Na ja, es gibt schon eins, aber das ist am anderen Ende von Dravelton. Da brauchst du ein Auto, ohne kommst du da unmöglich hin. Soll ich dir ein Taxi rufen?“ Im Begriff genau das zu tun, erhebt er sich schon, als Mary plötzlich dazwischen funkt. „Ach was! Wir haben hier schliesslich auch einen Computer, den wirst du benutzen können, ohne Probleme. Du musst doch nicht extra dein Geld für ein Taxi ausgeben, wenn wir ebenso einen PC stehen haben! Keine Widerrede, Mädel!“, unterbricht sie mich, als ich schon den Mund öffnen will um dankend abzulehnen. Um ehrlich zu sein frage ich mich langsam, ob diese Freundlichkeit im Preis für das Zimmer inbegriffen ist. Es ist wirklich seltsam, dass ich hier einfach so, wie eine alte Bekannte, aufgenommen werde. Okay, mit Ausnahme von Donna, die mich jawohl kaum herzlich willkommen geheissen hat. Jedenfalls hab ich davon nichts gespürt.
Dennoch nicke ich Mary schliesslich dankbar zu und folge ihr, als sie mich mit einer Geste dazu auffordert.
„Komm mit, ich bring dich schnell in mein Büro, da kannst du an meine Kiste.“
Ihr Computer ist zwar nicht gerade schnell, läuft aber nach ganzen fünfzehn Minuten einwandfrei - und gratis.
Sofort suche ich nach Jon Admirrels und finde ihn nach wenigen Minuten, samt Telefonnummer und Adresse.
Hastig kritzle ich mir die Strasse und Hausnummer auf einen Fetzen Papier und gebe nach ein paar Minuten noch den Namen Albertus Lovegail in die Suchmaschine ein.
Ihn zu finden ist deutlich schwerer, denn es gibt ganze drei Stück davon in der Stadt. Kurzerhand schreibe ich alle Adressen auf und fahre dann den Computer wieder runter.
„Und, hast du was gefunden?“ Neugierig sehen mich sechs Augenpaare an, das siebte hängt desinteressiert an seinem Toast. Donna, wohlgemerkt.
Ich nicke und hebe mit einer unsicheren Bewegung den Zettel in die Luft. Ich fühle mich plötzlich total aufgeregt und nervös. „Ich ruf mal Parry an, vielleicht kann er dich sofort fahren.“ Mary erhebt sich und verschwindet. Ich seufze leise und stütze meinen Kopf in meine Hände. Was wenn er mich nicht will? Was wenn dieser Lovegail ebenfalls nichts wird? Was soll ich dann tun? Wohin soll ich? Zurück nach Donnavan? Nein, niemals! In diese Stadt will ich nie wieder.
Allein der Gedanke an das Grab meiner Mutter schmerzt unglaublich heftig in meiner Brust und nur mit Mühe kann ich die Tränen, die mir in die Augen schiessen, unterdrücken.
Du wirst nicht heulen, du wirst nicht heulen, wiederhole ich immer und immer wieder, wie ein Mantra.
Frustriert starre ich auf das Glas Orangensaft von Lodry und beobachte die winzigen Stückchen Fruchtfleisch, die darin herum schweben.
In dem Augenblick wünsche ich mir, nie geboren worden zu sein.
Ich frage mich plötzlich, was ich eigentlich wert bin. Wenn ich sterbe, wer wird dann noch um mich trauern? Niemand. Klingt traurig – und unheimlich selbstbemitleidend.
Ich hasse Selbstmitleid. Das ist so... erbärmlich. Schwach. Unwürdig.
„Okay, Parry hat in einer halben Stunde Zeit, er holt dich unten an der Kreuzung ab. Ist das in Ordnung, Kind?“ Mary mustert mich mit mütterlicher Besorgnis und ich nicke abwesend. Gut, das mit dem Taxi wäre geklärt.
„Ja, das ist super“, murmle ich schliesslich leise, obwohl sich Mary längst wieder abgewandt hat und in der Küche verschwunden ist.
Langsam drehe ich mich um und laufe hoch in mein Zimmer.
Nun gut, ich sollte mich vielleicht noch anständig anziehen. Mein Blick gleitet an mir runter und ich muss unwillkürlich grinsen. Ich trage einen viel zu grossen Pullover, den meine Mutter schon geliebt hat und der uralt ist. Dazu meine längst ausgewaschene Jeans, die ich schon seit Jahren habe und voll mit Löchern ist. Aber sie passt mir eben perfekt.
Obwohl ich grosse Lust dazu hätte, genau in diesen Klamotten meinem Vater gegenüberzutreten, ziehe ich beides aus und schlüpfe stattdessen in ein schlichtes, schwarzes Kleid, das sich perfekt an meinen Körper schmiegt und jede Kurve genau richtig betont. Mein Blick gleitet kurz zu meinen hohen Pumps, aber schliesslich entscheide ich mich für eine etwas bequemere Art. Ich will mir schliesslich nicht den Hals brechen.
Nachdem ich mit meiner Kleiderwahl zufrieden bin, mache ich mir ein wenig die Haare und schminke mich dezent – nicht aus Eitelkeit, sondern um die Spuren der letzten Nacht zu überdecken.
Danach ist es auch schon an der Zeit und ich laufe schnell die Treppe runter, wo mir auch schon Bella entgegen lächelt.
„Hast du alles?“, fragt sie und hört sich ein wenig an, wie meine Mutter, wenn sie besorgt war. Ich muss grinsen und denke rasch nach – als es mir auch schon einfällt. „Oh, ich hab den Zettel vergessen!“ Hastig rase ich die Treppen wieder hoch und schnappe mir den Papierfetzen, auf dem die Adressen von Jon Admirrels und den Lovegails draufsteht.
Bella zeigt mir rasch den Weg zu besagter Kreuzung, an der Parry warten soll und schon bin ich auf dem Weg in ein neues Leben. Oder so ähnlich.
Das Haus ist riesig.
Ach, was sag ich da Haus? Die Villa! Oder noch eher, das Schloss? Okay, übertreiben wir es nicht. Es ist eine grosse Villa, Schluss aus!
Die Auffahrt ist bestimmt einen halben Kilometer lang und umgeben von meilenweiten Wiesen, die auf den Millimeter perfekt getrimmt sind. Mit gerunzelter Stirn starre ich das Anwesen an, in dem mein Vater und sein Sohn – äh, mein Halbbruder leben.
Plötzlich fällt mir etwas ein. Wenn mein Vater einen Sohn hat, dann hat er bestimmt auch eine Ehefrau! Oh Gott, was wenn ich da in eine perfekte, kleine Familie platze?
Mit einem Mal bereue ich es unheimlich, mich auf den Weg hier her gemacht zu haben. „Parry, können wir wieder zurück? Ich glaub, ich will das nicht“, bettle ich, doch mein Fahrer schüttelt rabiat den Kopf. „Nein, Ely! Bring es hinter dich, wenn er dich vertreibt weisst du wenigstens, woran du bist. Wenn wir jetzt zurückfahren, wird es dich dein Leben lang verfolgen und du wirst dich immer fragen, ob du damals nicht den grössten Fehler deines Lebens begangen hast!“ Punkt genau, als er endet hält er in dem grossen Innenhof, der offen vor der Villa liegt und nur so strotzt vor Perfektion. Ein grosser Brunnen befindet sich in der Mitte, mit kitschigen Engelchen. Igitt.
„Na los, Ely! Bring es hinter dich! Soll ich hier warten?“ Ich schüttle den Kopf, nicke dann jedoch schnell. „Ja, bitte!“ Mir ist es lieber, wenn ich weiss, dass ich sofort wieder flüchten kann, sollte etwas schiefgehen.
Zögernd taste ich nach dem Hebel, um die Tür zu öffnen und werfe Parry noch einen letzten unsicheren Blick zu. Er grinst ermunternd und zeigt einen Daumen nach oben. „Du schaffst das, Ely! Ich wart hier auf dich.“ Ich nicke dankbar und überwinde mich schliesslich, die Taxitür aufzustossen.
Viel zu schnell stehe ich vor der riesigen Tür und drücke nervös auf die Klingel.
Mein Herz rast und ich spüre, wie mir die Schweisstropfen den Rücken runter laufen.
Alles in mir schreit laut: „Flucht!“ und nur mit äusserster Mühe schaffe ich es, stehen zu bleiben.
Dann ertönen gedämpfte Schritte hinter der Tür und ich zucke angespannt zusammen. Reiss dich zusammen Ely!
Die Tür wird geöffnet und ich blicke in ein paar alte, weise Augen. Der Mann vor mir ist sehr hager und mustert mich mit offenkundiger Überraschung.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragt der Mann und starrt mich intensiv an. „Ich... ich möchte gerne... ich würde gerne zu...“, stottere ich vollkommen verunsichert und schaffe es nicht, einen anständigen Satz herauszubringen. Der alte Mann lächelt gutmütig. „Möchten Sie zu dem jungen Herr?“ Was? Nein, Gott bewahre! „Oh, nein! Ich möchte zu Jon Admirrels!“, erwidere ich hastig und bin froh, dass ich endlich einen vollständigen Satz zusammen bekomme. „Wen soll ich anmelden?“, erwidert der Mann und mustert mich erneuert. Seine Stimme klingt irgendwie forsch und verunsichert mich nur noch mehr. „Ely Jonson“, flüstere ich leise. Seine Augen weiten sich für den Bruchteil einer Sekunde, doch der Mann scheint Profi genug zu sein um sich sofort wieder zu fangen. Er nickt verstehend und antwortet schliesslich: „Nun denn, Miss Jonson. Kommen Sie doch herein. Ich werde sie bei Mr. Admirrels anmelden.“ Er öffnet die Tür weiter und deutet mir mit einer entsprechenden Geste an, einzutreten. Zögernd betrete ich die riesige Eingangshalle, deren Pracht mich irgendwie erschlägt. Ich fühle mich hier drin winzig klein und unbedeutend. Noch unwohler fühle ich mich allerdings, als ich bemerke, dass der Mann verschwunden ist und ich ganz allein in dieser Halle stehe.
Es dauert eine ganze Weile, ehe sich der Mann wieder blicken lässt und mich hinter sich her winkt. Er führt mich direkt zu einer grossen Tür, die aus massivem Eichenholz zu bestehen scheint. „Er erwartet Sie, Miss. Treten Sie einfach ein.“ Ich nicke verunsichert und drücke langsam die Klinke runter.
Ich betrete augenscheinlich ein Büro, dem riesigen Schreibtisch nach zu urteilen.
Hinter dem Tisch, der den ganzen Raum dominiert, steht ein Drehstuhl mit dem Rücken zu mir. Es ist, wie in diesen typischen Szenen in einem Film, nur dass ich das jetzt gerade wirklich erlebe und nicht jeden Moment „Cut!“, schreien kann, um zu unterbrechen.
„Ely Jonson. Ely Jonson“, murmelt eine tiefe, männliche Stimme und mir schnürt es immer mehr die Kehle zu. „Ja, die bin ich“, erwidere ich mit erstaunlich kräftiger Stimme, obwohl ich mich einem Zusammenbruch nahe fühle.
Der Stuhl dreht sich und ich erstarre. Mir gegenüber sitzt ein Riese von Mann.
Sein Haar ist dunkel und perfekt geschnitten. Ein paar wenige Silbersträhnen durchziehen die dunkle Fülle, unter der mich ein paar kühle, dunkelbraune Augen durchbohren. Eine aristokratische Nase, gerade und perfekt geformt für dieses Gesicht, vervollständigt das Bild, zusammen mit einem schmalen Mund. Obwohl seine Haut unglaublich glatt ist, sieht man ihm das Alter an. Er muss ungefähr Anfang Fünfzig sein. Vielleicht ist er auch ein wenig jünger oder älter, schwer zu sagen.
In seiner Jugend muss er unglaublich gut ausgesehen haben, was er noch heute tut. Ohne Frage ist er einer der attraktivsten Männer, die ich jemals in meinem Leben gesehen habe.
„Was führt Sie zu mir, Miss Jonson?“, fragt er mit dunkler Stimme und ein eigenartiger Ton schwingt in seiner Stimme mit. Ich fühle mich unbehaglich und weiss nicht, wohin mit meinen Händen.
Jon Admirrels hat mich nicht dazu aufgefordert, Platz zu nehmen, was mich total verunsichert und noch nervöser macht. „Ich bin... äh... haben Sie keinen Brief bekommen?“, stottere ich verunsichert und beisse mir auf die Lippen. „Was für ein Brief?“, knurrt er und es hört sich für mich an, wie eine Drohung. Automatisch mache ich einen Schritt rückwärts und plötzlich scheint ihm auch aufzufallen, dass ich noch immer stehe. „Setzen Sie sich!“ Es ist keine höfliche Bitte, sondern ein Befehl. Sofort komme ich dem nach, denn um ehrlich zu sein, will ich diesen Mann niemals verärgern, Vater hin oder her.
„Don!“, brüllt er im nächsten Augenblick und ich zucke erschrocken zusammen. Keine Sekunde später kommt der Mann von vorhin herein und wirft mir nur einen kurzen Seitenblick zu. „Haben Sie die Post schon rein geholt?“, bellt Jon Admirrels und erneuert zucke ich zusammen. Don hingegen scheint diesen Ton gewohnt zu sein und nickt ruhig. „Ja, sie liegt in der obersten Schublade, wie immer, Mister.“
Jon reisst die Schublade auf und wirft ein paar Briefe auf den Schreibtisch. Erneuert zucke ich zurück und beobachte nervös, wie er die Briefe auseinander nimmt und jeden genau ansieht.
Der Letzte sieht anders aus. Das Papier wirkt ein wenig vergilbt und schmutzig. Ich erkenne selbst aus dieser Entfernung sofort die Handschrift meiner Mutter und überraschend heftig kommt die Trauer wieder in mir hoch. Hastig schlucke ich mehrmals und kralle meine Finger in die Armlehnen des Sessels.
Jon greift nach einem Ding, das für mich ein wenig aussieht, wie ein Dolch, und schlitzt den Brief auf.
Ein gefaltetes Blatt Papier rutscht heraus und Admirrels überfliegt die Worte meiner Mutter. Ich beobachte, wie die verschiedensten Gefühlsregungen über sein Gesicht huschen.
Zuerst ist da Überraschung, doch schon nach einem Wimpernschlag wechselt der Ausdruck zu Zorn, dann zu Verwirrung und schliesslich zu Schmerz.
Er senkt den Brief und starrt mich unbewegt an. Dann hebt er ihn wieder hoch und liest in ein zweites Mal durch. Und ein drittes Mal.
Und wieder werde ich seinem bohrenden Blick ausgesetzt.
„Das kann nicht sein. Das kann einfach nicht sein“, flüstert er schliesslich kaum hörbar, aber für mich donnern die Worte unerträglich laut in den Raum. Es ist schlimmer, als wenn er laut gebrüllt hätte. Viel schlimmer.
Wieder rupft er das Blatt hoch und überfliegt es erneuert. Dann starrt er mich wieder für eine gefühlte Ewigkeit an. „Mein Gott.“ Er sinkt in den Sessel und schnappt nach Luft.
Zu meiner Überraschung beginnt plötzlich Don zu sprechen.
„Jon, sie ist es. Sieh dir doch nur ihre Augen an. Und dann dieses Muttermal hier.“ Welches Muttermal? Verwirrt hebe ich den Kopf und starre den alten Mann an, der eine Hand auf die Rücklehen meines Sessels gelegt hat und Jon unbewegt anschaut. „Sie ist deine Tochter.“
Jon schüttelt verwirrt den Kopf. „Aber das kann nicht sein! Das muss ein Irrtum sein.“ Wieder wandert sein Blick zu mir und er schüttelt leicht den Kopf. „Wie alt bist du, Ely?“, fragt er mich plötzlich direkt und ich zucke leicht zusammen. „20 Jahre alt, Sir.“
Seine Augen weiten sich. „Wann wurdest du geboren?“ Automatisch erwidere ich: „am 21. Juli.“
Er zuckt zusammen, seufzt tief und lässt sich in den Sessel fallen, als hätte ihn alle Kraft verlassen.
Ich versuche einen Blick auf meinen Hals zu werfen und frage mich verwirrt, welches Muttermal Don gemeint hat. Ich kann mich nicht erinnern, je ein Muttermal an mir gesehen zu haben!
„Warum... wie... warum meldest du dich erst jetzt?“, fragt Jon und betrachtete mich aus müden Augen. „Ich wusste nicht, dass du...Sie... ähm... mein Vater sind“, erwidere ich unsicher. Oh Gott, wie spricht man einen Mann an, den man sein ganzes Leben lang verabscheut hat und der dennoch sein Vater ist? Wie spricht man seinen Vater an, wenn man ihn nach ganzen 20 Jahren zum ersten Mal sieht?
Ich senke den Kopf und starre den dunklen Boden an, auf dem kein einziger Kratzer zu entdecken ist. Warum habe ich das bloss getan? Warum habe ich nach meinem Vater gesucht?
Weil du deiner Mutter ihren letzten Wunsch erfüllen wolltest, flüstert meine innere Stimme und ich muss unwillkürlich lächeln, beim Gedanken an Mum. Ja, sie hat es so gewollt.
„Ich... du... deine Mutter hat mir geschrieben, dass du nicht mehr in der Wohnung leben kannst, wenn sie gestorben ist. Demnach stehst du jetzt ohne etwas da. Sie hat mich gebeten, dich vorläufig aufzunehmen. Das werde ich natürlich tun.“ Er nickt und es sieht aus, als würde er verzweifelt nach seiner kühlen Maske greifen, die er immer mehr und mehr im Verlauf unseres Gesprächs verloren hat. Und plötzlich sehe ich einen Hauch von dem Mann, in den sich meine Mutter verliebt hat.
„Don, bring sie bitte in eins der Gästezimmer. Ich werde mich später selbst um sie kümmern.“
Don nickt und deutet mir mit einem sanften Lächeln an, aufzustehen. Ich tue es und werfe einen letzten, unsicheren Blick auf meinen Vater, der wieder auf den Brief starrt und vollkommen verwirrt aussieht.
„Komm, mein Kind.“ Don führt mich aus dem Büro und eine Treppe hoch. Der Gang danach ist lang und hell. Rechts gibt es eine Reihe unzähliger Türen, auf der linken Seite gibt es nur ein Fenster nach dem anderen. Vorsichtig werfe ich einen Blick aus einem der Fenster und sehe direkt in einen riesigen, wunderschönen Garten. Er erinnert stark an einen verwunschenen Garten aus einem Märchen.
„Kommst du, Ely?“ Geistesabwesend bin ich stehen geblieben und habe nicht bemerkt, dass Don schon am Ende des Gangs angelangt ist. Hastig reisse ich mich von dem Anblick des Gartens los und eile dem alten Mann nach, der ein erstaunliches Tempo an den Tag legt.
„Das hier ist dein Zimmer. Ich hoffe du fühlst dich darin wohl.“ Don lächelt erneuert sanft und öffnet die Tür zum letzten Raum.
Es ist sehr kühl eingerichtet und wirkt leblos und steril. Dennoch nicke ich Don freundlich zu, obwohl ich mich hier keineswegs wohl fühle.
„Solltest du einen Wunsch haben, ruf einfach nach mir.“ Er wendet sich ab und steht bereits an der Tür, als er plötzlich innehält und nochmal zurück blickt.
„Du siehst ihr wirklich erstaunlich ähnlich. Deine Augen sind haargenau die gleichen, wie die von Emma.“ Ein trauriger Ausdruck huscht über sein altes Gesicht. „Sie kannten meine Mutter?“ Erstaunt betrachte ich ihn genauer. „Oh ja, damals war sie hier sehr bekannt.“ Er lächelt verschmitzt. „Emma war schon immer ein kleiner Wildfang. Die Dienerschaft hat sie geliebt, weil sie uns nicht wie Abschaum, sondern wie ebenbürtige Menschen behandelt hat. Das brachte ihr aber in den Augen der Herrschaften viele Minuspunkte ein, weshalb auch das... Unglück mit ihr und Jon geschah. Ich bedauere es bis heute, dass sie es nicht geschafft hat, dagegen anzukämpfen.“ Wieder blicken seine Augen traurig. „Ely, ich möchte dich um etwas bitten.“ Don hebt den Kopf und schaut mir direkt in die Augen. „Ja?“ „Sei nicht zu hart mit Jon. Die Gesellschaft hat ihn verändert und damals, als Emma verschwand, ist vieles geschehen. Er wird eine Weile brauchen, um wirklich zu realisieren, wer du bist. Vergiss nie, dass du eine Jonson bist, aber dennoch das Blut eines Admirrels in dir trägst. Diese Mischung ist einzigartig und macht aus dir einen starken Menschen. Lass nicht zu, dass sie dich vergiften.“ Verwirrt will ich nachfragen, was er damit meint, doch im nächsten Augenblick ist die Tür auch schon wieder verschlossen und ich bin allein.
„Verwirrend“, murmle ich leise und setze mich vorsichtig auf den Rand des grossen Betts, das den Raum dominiert.
Langsam sehe ich mich in dem kahlen Raum ein. Ausser einem grossen Schrank und einem Tisch gibt es hier drin nur noch ein Fenster, das Bett und die Tür. Mehr nicht.
Unsicher erhebe ich mich wieder und trete ans Fenster. Man hat einen direkten Blick auf den Innenhof, in dem ein gelber Wagen steht mit der Aufschrift „Taxi“.
„Oh Gott, Parry! Den hab ich ja ganz vergessen!“
Eilig verlasse ich das Zimmer wieder und versuche den Weg zum Eingang zu finden. „Scheisse, das ist der falsche Gang“, fluche ich, als ich zum vierten Mal an einer grossen Büste einer traurig blickenden Frau vorbei komme.
„Hey!“, donnert plötzlich eine kalte Stimme und ich zucke unwillkürlich heftig zusammen.
Ein junger Mann, der aussieht wie die Kopie meines Vaters, eilt auf mich zu, das Gesicht wütend verzogen. „Die Diener haben hier oben nichts zu suchen!“ Etwa drei Meter von mir entfernt bleibt er abrupt stehen. „Moment mal, wer sind Sie überhaupt?“, hakt er mit verwirrtem, aber nicht minder furchteinflössendem Gesichtsausdruck nach.
„Ich... ähm... ich bin Ely Jonson“, stottere ich und mustere den Mann verdutzt. Irgendwie macht er mir ziemlich Angst.
Moment mal, Ely! Seit wann lässt du dich von einem reichen Schnösel – was er unverkennbar sein muss – so niedermachen? Das ist doch nicht deine Art! Reiss dich zusammen, und sei eine Jonson!, bringt mich meine innere Stimme wieder zur Vernunft.
„Und was haben Sie hier oben zu suchen, Ely Jonson?“
Der Mann reisst mich aus meinen Gedanken und ich brauche einen Moment, um den Sinn seiner Frage zu verstehen. „Ich habe... äh.. ich bin so etwas wie ein... Gast?“ Oh Gott, wie soll ich dem bloss klarmachen, dass ich hier her kam um meinen Vater zu sehen?
Und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Dieser Mann da ist mein Bruder.
Vollkommen zu Stein erstarrt bleibe ich stehe und betrachte meinen Halbbruder mit den Augen einer fremden Schwester. Und das bin ich ja für ihn. Nein, für ihn bin ich bloss eine Fremde mit dem Namen Ely Jonson, korrigiere ich mich selbst. „Du bist ein Gast? Von wem? Meinem Vater? Das hätte er mir gesagt. Du lügst doch!“ Verdutzt schüttle ich den Kopf. „Ihr Vater hat mich in einem der Gästezimmer einquartiert. Ich... fragen Sie doch Don, der wird es Ihnen besser erklären können, als ich!“
Irgendwie fühle ich mich bedrängt, die Tatsache, dass dieser Mann mein Bruder ist, mein Bruder, dessen Name ich noch nicht einmal kenne, verunsichert mich, macht mich geradezu nervös.
Hastig weiche ich zurück und trete die Flucht an. Parry wartet sowieso schon lange auf mich, ich muss ihm Bescheid geben.
„Tut mir Leid, ich hab keine Zeit mehr!“, rufe ich dem Mann hinter mir zu, dem ich geradeso entwischen kann, als er nach meinem Arm greift. „Hey! Bleiben Sie stehen! Sie dürfen hier nicht einfach unbefugt herumlaufen!“ Ich ignoriere ihn einfach und stolpere die Treppe runter.
Endlich finde ich mich in dem grossen Eingangssaal wieder und öffne wenige Sekunden später die riesige Eingangstür.
Mit grossen Schritten – irgendwie habe ich Angst, mein Halbbruder könnte mich einholen und aufhalten – laufe ich über den Platz und umrunde eilig den riesigen Brunnen. Mein Gott, diese Engelchen sind wirklich hässlich! Das nenn' ich mal echte Geschmacksverstauchung.
Schwungvoll reisse ich die Fahrertür auf und bin froh, als mir ein bekanntes Gesicht entgegen grinst. „Na? Wie ist dein alter Herr so?“ Ich brauche einen Moment um zu verstehen, wen er eint. Einen Vater zu haben, das ist wirklich ungewohnt.
„Na ja... er ist... ernst. Und ziemlich furchteinflössend. Er macht mich nervös.“ Verlegen zucke ich die Achseln und überlege, ob ich noch schnell mitfahren soll, um mein Gepäck zu holen.
„Sie gehen schon, Miss Jonson?“ Überrascht drehe ich mich um und blicke Don entgegen, der mir eilig entgegen kommt. „Aber ich dachte, sie bleiben bei uns? Wenigstens für ein paar Tag!“ Verwirrt nehme ich seinen Unterton wahr, der ehrliche Bestürzung wiederspiegelt. „Oh ich... ich werde nicht gehen. Oder doch, ich muss gehen, aber ich bin bald wieder da. Ich muss meine Sachen im Hotel holen.“ Warum habe ich bloss das Gefühl ihm Rechenschaft ablegen zu müssen? Ich kenne diesen Mann doch eigentlich noch nicht einmal!
Puuh, heute ist echt nicht mein Tag. Mum wüsste, was zu tun ist, schiesst es durch meinen Kopf. Ich zucke zusammen und denke darüber nach. Ja, das hätte sie wirklich.
Emma Jonson wäre viel sicherer mit der Situation umgegangen, als ich es tue.
Manchmal frage ich mich, was sie so stark gemacht hat. Schliesslich hatte sie nichts. Ausser mich. Aber schafft es eine Frau wirklich nur wegen ihrer Tochter so viel Leid und Schmerz zu ertragen und dennoch zu lächeln und niemandem seine Schwächen und Verletzlichkeit zu zeigen? War wirklich ich der Grund, dass sie es so lange geschafft hat.
Mein nicht besonders grosses Selbstvertrauen macht diesen Gedanken sogleich wieder zunichte. Aber tief in mir drin weiss ich, dass es haargenau so gewesen ist. Mum hat mich immer geliebt und beschützt. Ich war ihr Ein und Alles.
„Ich liebe dich für immer und ewig“, haucht ihre Stimme in meinem Kopf und ich muss unwillkürlich lächeln und zugleich mit aller Kraft meine Tränen zurückhalten. Das waren ihre letzten Worte. Für immer und ewig. Und ich glaube es ihr.
„Parry, fahr los. Ich muss meine Sachen holen.“ Parry nickt und ich lasse mich in den Beifahrersitz sinken. Don schenkt mir ein sanftes Lächeln, ehe er eilig davon hastet und genauso schnell wieder verschwindet, wie er aufgetaucht ist.
„Du willst also wirklich hier bleiben? Fühlst du dich hier überhaupt wohl, Ely?“ Parry klingt besorgt und ich kann seinen Blick immer wieder auf mir spüren, ignoriere ihn allerdings erfolgreich.
„Ja“, murmle ich nach einer halben Ewigkeit. „Ich habe es ihr versprochen.“ Wieder wirft er mir einen kurzen Seitenblick zu, stechend und besorgt.
„Das mag sein, Ely, aber zwing dich nicht zu etwas, das dich zerstört“, bittet Parry leise und ich sehe ihn überrascht an. „Keine Sorge, ich werd' schon das Richtige tun.“ Er grinst leicht und endlich tritt wieder der fröhliche Taxifahrer hervor, den ich kenne.
Die restliche Fahrt über textet er mich zu und erzählt mir ein wenig von Donna.
An einer roten Ampel halten wir gezwungener Massen an und ich werfe einen Blick aus dem Fenster, um die Stadt zu bewundern.
Und plötzlich fällt mir etwas auf.
Eine blonde junge Frau mit kühlen Augen, einem falschen Lächeln und geradem Gang stöckelt die Strasse runter. Auf den ersten Blick eine normale, junge Frau. Aber wenn man genau hinsieht, entdeckt man eigenartige Details, die mich persönlich verwirren.
Ihre Haut wirkt wie Porzellan. Starr und perfekt. Überhaupt wirkt einfach alles an ihr so puppenhaft perfekt. Zu perfekt.
Vermutlich war da ein ziemlich guter Chirurg am Werk. Ich denke, über die Hälfte der Stadtbewohner in diesem Viertel sind zu einem Teil unecht oder zumindest ein wenig zurechtgerückt. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Kein Wunder, hier hat schliesslich jeder Mensch massenhaft Geld. Die protzigen Villen zeigen es überdeutlich. Ich schüttle den Kopf und beobachte noch, wie die Blondine eine Luxusboutique betritt, ehe das Taxi auch schon weiter fährt.
Normalerweise hätte mich der Anblick der Frau niemals so durcheinander gebracht, aber momentan bin ich so überwältigt – nicht im positiven Sinne – von den Geschehnissen der letzten Stunden, dass ich mich lieber auf diese Dinge und unwichtige Details konzentriere, um wenigstens für ein paar Minuten alles zu vergessen.
Und dadurch fällt mir auf, dass absolut jeder in diesen Strassen so... unecht wirkt. Wie aus Kunststoff gefertigt.
Die Frauen sind allesamt gross, schlank und wunderschön. Die Haut ist blass, aber nicht bleich, die Wangen sind zart gerötet, die Lippen voll und perfekt geformt.
Die Augen faszinieren und erschrecken mich am meisten. Nirgends entdecke ich auch nur einen Funken an Wärme oder Freude. Alle blicken kühl, desinteressiert und reserviert in die Welt, die Lippen zu einem falschen Lächeln verzogen.
Es ist, als befände ich mich in einer Stadt aus Puppen.
Schaudernd wende ich mich von dem Fenster ab und konzentriere mich lieber auf die Rockmusik, die viel zu leise aus dem Autoradio dudelt und mich ein wenig besser stimmt.
Ich muss zugeben, ich habe eine ziemliche Schwäche für Musik dieser Art. Die raue Stimme des Sängers entführt mich in eine Welt voller dunkler Schönheit und einem Leben nach dem Tod. Er besingt das Wiedersehen mit seiner totgeglaubten Geliebten, die ihn als Geist besucht.
Okay, vielleicht ist es doch nicht so eine gute Idee gewesen, dem Sänger zuzuhören, denn der Text erinnert mich unwillkürlich wieder an Mum und einmal mehr stehe ich kurz davor, in Tränen auszubrechen.
Ich zwinge sie hinunter und starre auf meine Hände.
Reiss dich zusammen, Ely, flüstert meine innere Stimme.
„Wir sind da, Ely. Aussteigen!“, reisst mich plötzlich Parry aus meiner verzweifelten Versunkenheit und ich werfe ihm einen dankbaren Blick zu, den er Kopfschüttelnd und unwissend annimmt.
Hastig verlasse ich den Wagen und laufe die Treppe hoch zum Hotel Silcene. Bella öffnet die Tür und sieht mich mit einem sanften, aber herzlichen Lächeln an. „Ich wusste nicht, dass du so bald wieder hier bist!“, sagte sie schüchtern und streifte Parry mit fragendem Blick. Doch der zuckte zu meinem Glück bloss die Achseln und zwängte sich an mir und Bella vorbei. „Sag mir Bescheid, wenn du gehst. Ich fahr dich dann schnell.“ Ich nicke und sehe ihm hinterher. „Du gehst?“, ruft Bella plötzlich entsetzt auf und ich sehe sie erschrocken an. „Ähm ja... ich gehe zu meinem Vater. Deshalb bin ich nach Dravelton gefahren“, erkläre ich verunsichert. „Oh... das ist aber... schade“ stottert sie unbeholfen und runzle leicht die Stirn. Bella findet es schade, wenn ich gehe? Na, Überraschungen gibt's!
„Ich muss los... ähm... packen“, murmle ich und trete die Flucht an. Ihre offensichtliche Traurigkeit darüber, dass ich wieder gehe, verwirrt mich.
Das mit dem Packen war allerdings gar keine so schlechte Idee!
Ich mache mich sofort an die Arbeit und bin keine zehn Minuten später. Viel zu packen gab es nicht, da ich alles im Koffer gelassen habe.
Plötzlich wird die Tür aufgestossen und donnert an die Wand dahinter. Eine entsetzte Mary steht im Türrahmen und trippelt hastig auf mich zu. „Du gehst doch nicht wirklich, oder Schätzchen? Das war doch ein dummer Scherz von Parry, nicht wahr? Sag mir, dass das ein Scherz war“, bittet sie und starrt mich aus riesigen Augen an. Ich grinse unwillkürlich. Meine Güte, ich war gerade mal eine Nacht hier drin und schon scheinen sie mich adoptiert zu haben. „Mary, ich muss. Ich wollte meinen Vater finden und habe ihn gefunden. Er will, dass ich wenigstens für eine Weile zu ihm gehe. Ich will ihn... kennenlernen“, erkläre ich und hebe entschuldigend die Schultern. „Aber du kommst uns doch hin und wieder besuchen, nicht wahr?“ Ich nicke und lächle sie breit an. „Aber natürlich, Mary! Wenn Sie es wollen, werde ich immer wieder zurückkommen.“ „Ely, du wirst immer willkommen sein. Egal was geschieht“, verspricht sie und ich spüre ein tiefes Gefühl von Zuneigung für die ältere Dame. Sie erinnert mich eine Spur an meine Mutter.
Die Verabschiedung von Lodry und Ben verläuft ein bisschen weniger dramatisch, Donna nickt mir bloss mit einem dünnen Lächeln zu, ehe sie damit beginnt, Bella herumzukommandieren. Tja, die wird mich bestimmt nicht vermissen.
Aber der Rest? Sie alle scheinen mich zu mögen und mich... zu akzeptieren. Das ist eigenartig.
Und ich habe das Gefühl, als würde ich mich von einer Familie verabschieden. Wie verrückt. Ich kenne diese Leute seit gestern und trotzdem sind sie ein wenig wie eine Familie für mich.
Parry fährt mich anschliessend wieder zurück und zieht mich zum Abschied fest in seine Arme.
„Ely, wenn du dich hier nicht wohl fühlst, oder ein Problem hast, du kannst immer ins Hotel kommen. Mary mag dich wirklich und ich auch, Du wirst immer bei uns willkommen sein, egal was geschieht.“ Er benutzt fast die selben Worte wie schon Mary, was mich aber nicht gross wundert. „Danke Parry. Das bedeutet mir... sehr viel“, murmle ich und lächle leicht, auch wenn es sich wie eine starre Maske anfühlt. Parry nickt erleichtert und wendet sich gerade ab, als ihm wohl noch etwas einfällt. „Ach ja, das hier“, er kramt in seiner Hosentasche und reicht mir schliesslich etwas kleines, „ist meine Karte. Wenn etwas sein sollte, ruf diese Nummer an und ich komme, so schnell ich kann.“ Er zwinkert mir zu und ich stecke die Visitenkarte dankbar ein.
„Auf Wiedersehen, Ely Jonson. Ich bin sicher, du wirst uns bald besuchen kommen!“ Ich nicke heftig und spüre einen Kloss in meiner Kehle. Ich hasse Abschiede. „Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für ihre Hilfe.“
Dann wende ich mich von ihm ab, hole tief Luft und drücke auf die Klingel.
Keine Minute später lächelt mir Don breit entgegen. „Willkommen zurück, Ely.“
Es ist still.
Sehr still.
Das ganze Haus scheint wie leergefegt zu sein. Unruhig wälze ich mich von einer Seite auf die andere und versuche krampfhaft ein wenig Schlaf zu finden.
Mein Magen knurrt, ich habe das Abendessen bewusst ausgelassen, aus Angst, meinem Vater oder gar meinem Halbbruder gegenüber treten zu müssen. Lieber hungre ich noch ein wenig. Allerdings scheint mein Magen rein gar nicht zufrieden zu sein mit dieser Entscheidung und verlangt lautstark nach Nahrung.
Gequält ignoriere ich das unangenehme Gefühl und starre an die Decke. Wie alles hier drinn ist sie pompös und reich verziert mit Schnitzereien - die mit grosser Wahrscheinlichkeit handgemacht sind. Direkt über mir bildet sich ein Abbild des Sternenhimmels, aber nur ganz leicht sichtbar. Die Linien der Sternzeichen sind hauchdünn eingezeichnet, nur schwer zu entdecken und mit noch grösserer Mühe zu entziffern.
Unruhig wende ich den Blick ab und starre aus dem Fenster. Draussen ist es noch nicht ganz dunkel, aber die Dämmerung hat längst eingesetzt. Feine Wassertropfen klatschen gegen das Glas, vervielfältigen sich in jeder Sekunde rasend schnell. Bald wird aus einem leichten Nieselregen ein regelrechter Wasserfall.
Ich seufze leise und beobachte einen einzelnen Tropfen, der langsam von der Schwerkraft überwältigt wird und über die glatte Oberfläche hinunter gleitet. Unten am Rahmen des Fensters bleibt er liegen und sammelt sich zusammen mit anderen zu einer Pfütze. Der Anblick der Tropfen und das stete Prasseln des Regens beruhigt mich und macht mich endlich schläfrig.
Schon bald gleite ich in einen unruhigen Schlaf, der voller Albträume und dunkler Sehnsüchte ist.
„Ely. Ely, mein Schatz.“
„Mama! Mama, wo bist du?“ „Hier mein Engel. Hier!“
Verzweifelt wirble ich um meine Achse und suche nach Mum, doch da ist nichts. Neimand steht hinter oder neben mir. Und dennoch hallt ihre Stimme laut und hörbar wieder und ruft nach mir. „Liebling, siehst du mich denn nicht? Ich bin hier, mach die Augen auf.“ Wieder drehe ich mich um, strenge meine Augen so sehr es geht an, doch sie ist nirgendwo. „Mama, ich sehe dich nicht! Wo bist du? Mama, bitte zeig dich mir!“ Verzweifelt suche ich nach ihrem vertrauten Antlitz, doch wie zu erwarten ist sie nirgends.
„Ely, dreh dich um“, flüstert sie und ich wende mich langsam herum.
Und plötzlich steht sie vor mir. Eigenartig flimmernd und flackernd, als wäre sie ein schlechtes Bild auf einem uralten Fernseher. „Mama? Bist du das?“ Ihre Lippen verziehen sich zu einem sanften, warmen Lächeln und ich fühle die Liebe für diese Frau in meinem Herzen. „Aber ja doch, mein Schatz.“ Langsam trete ich näher und hebe die Hand. Ich möchte sie so gerne berühren, ihre Wärme spüren. Doch als ich ihren Leib erreiche und sie berühren will, verwischt ihre Gestalt wie ein Bild in der Luft. „Mama!“ Panisch wirble ich herum als sie verschwindet. „Mama, komm zurück! Bitte, Mama!“
In weiter Ferne leuchtet ein winziges, schwaches Licht auf, das langsam näher und näher kommt. „Mama?“ Vorsichtig trete ich einen Schritt auf das Licht zu, das rasend schnell grösser wird. „Was ist das?“, flüstere ich leise in die Stille und sehe dem näher kommenden Licht gebannt zu. Es sieht ein bisschen aus wie ein... Zug? Aber ja doch! Das ist ein Zug! Und er kommt rasend schnell auf mich zu. Scheisse.
Erschrocken drehe ich mich um und beginne zu rennen, aber tief in meinem Innern weiss ich, dass ich keine Chance haben, ihm zu entkommen.
Dennoch treibe ich meinen Körper an, zwinge meine Beine zur Höchstgeschwindigkeit. Ein lautes Hupen ertönt und ich werfe einen Blick zurück und starre direkt in die kalten Lichter der Lokomotive, die dicht hinter mir fährt. Im selben Augenblick erreicht sie mich und ich beginne zu schreien.
Keuchend setze ich mich auf und schreie mir die Seele aus dem Leib. Erst nach ein paar Sekunden wird mir bewusst, dass ich schreie und meine Kehle brennt. Sofort verstumme ich und lausche mit klopfendem Herze auf ein Geräusch vom Gang her. Es kommt niemand.
Erleichtert lasse ich mich wieder ins Kissen sinken und versuche einen klaren Gedanken zu fassen. Was war das? Ein Traum? Aber es hat sich so real angefühlt!
Unsicher atme ich tief durch und versuche nachzudenken, doch mein Gehirn arbeitet träge, das Denken fällt mir schwer. Immer wieder habe ich das Gefühl, von dem Zug überfahren zu werden.
Plötzlich wird mir die Kehle eng und ich bekomme keine Luft mehr. Tränen rinnen über meine Wangen, tropfen in mein T-Shirt, das ich für die Nacht angezogen haben.
Ich habe das Gefühl, die Decke fällt mir auf den Kopf und der Raum wird immer kleiner und beengender.
Hastig und nach Luft schnappend winde ich mich aus dem verschwitzen Laken und schlüpfe in meine Schuhe. Ich werfe einen Seitenblick zu Fenster; es ist dunkel, also wird es noch kühl sein. Kurzentschlossen schnappe ich mir meine Jacke und verlasse mein Zimmer.
Es ist stockdunkel und kein Laut ist zu hören. Es schlafen wohl alle.
Leise schleiche ich durch die Flure und suche nach der Treppe, die runter führt. Nach einer gefühlten Ewigkeit finde ich sie endlich und tapse leise die Stufen runter.
Mit grossen Schritten durchquere ich die Eingangshalle, öffne so leise ich kann die Eingangstür und flüchte in die tröstende Dunkelheit der Nacht.
Es regnet noch immer in Strömen; keine zwei Minuten später bin ich bis auf die Knochen durchnässt. Aber es ist mir egal. Nein, ich bin sogar froh darüber.
Noch immer spüre ich die Tränen, die mir heiss über das Gesicht laufen und sich mit dem Süsswasser des Regens vermengen.
Niemand wird sehen, dass ich weine. Gut.
Mit eiligen Schritten umrunde ich den Brunnen und verlasse so schnell wie möglich das Anwesen.
Mit gesenktem Kopf eile ich durch die Strassen und befinde mich schliesslich vor dem Tor zum Stadtpark. Eigentlich habe ich Angst im Dunkeln, aber mein Geist ist so sehr durcheinander gebracht, dass sich dieses panische Gefühl diesmal rein gar nicht einstellt. Na, mir soll's egal sein.
Erschöpft lasse ich mich auf eine klatschnasse Bank fallen und spüre die Kälte des nassen Holzes an meinem Hintern. Egal. Alles ist egal.
Ich ziehe die Knie an und umschlinge sie mit meinen Armen, rolle mich zu einer kleinen Kugel zusammen und lasse meine Gedanken schweifen. Der Regen prasselt auf mich nieder, unheimlich stark, aber keineswegs unangenehm. Im Gegenteil. Ich habe fast das Gefühl, als würde er mich trösten, als würden die Wassertropfen mich wie tausende kleine, sanfte Hände streicheln. Irgendwann schliesse ich meine Augen und drifte davon.
Vogelgezwitscher weckt mich.
Stöhnend rapple ich mich auf und verziehe das Gesicht, als ich den Schmerz in meinem Rücken vernehme, aufgrund der schlechten Schlafposition auf der harten Bank.
Es ist noch nicht richtig hell, die Dämmerung hat aber schon länger eingesetzt und die Vögel zwitschern munter ihre Guten-Morgen-Lieder, die voller Farbe und Glück sind, mir aber momentan nur Kopfschmerzen zubereiten.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht erhebe ich mich und schlendere – gut, ich geb's zu; humpelte – durch den Park zurück in die Stadt.
Es regnet noch immer, aber nur leicht. Allerdings macht mir das kaum etwas aus, ich bin so oder so bis auf die Knochen durchnässt.
Die Strassen ausserhalb des Parks sind schon wieder gefüllt mir grossen, schlanken Puppen und energisch wirkenden Geschäftsmännern, allesamt im Anzug.
Mein Gott, gibt hier etwa eine Kleiderordnung? Die Frauen tragen alle ein Kleid. Ich sehe keine einzige, die eine Jeans trägt. Das Verwirrt mein überfordertes Gehirn, das sowieso schon mit all den Sinneseindrücken der letzten Tagen zu kämpfen hat.
Da sich die Kopfschmerzen ebenfalls verschlimmern bleibe ich für einen Moment stehen und beobachte die Masse um mich herum. Und wieder fällt mir ein Detail auf, das mir normalerweise vollkommen unwichtig vorgekommen wäre.
Die Regentropfen scheinen von der Haut der Frauen hier abgewiesen zu werden. Ebenso wie von den Haaren. Keine Frau trägt einen Regenschirm, nur die Männer haben welche. Und bei jeder Frau wirkt es so, als wären die Haare vollkommen unberührt von der Nässe des Regens. Seltsam. Verwirrt beobachte ich eine brünette Frau, die ganz in meiner Nähe steht und bei der ich das Phänomen aus nächste Nähe beobachten kann.
Die Regentropfen werden wahrhaftig von ihrer Haut und ihrem Haar abgewiesen! Einzig und allein die Kleidung weist ein wenig Nässe auf, ansonsten wirkt sie so trocken, wie an einem sonnigen Tag ohne Wolke. Das ist wirklich... gruselig.
Fortsetzung folgt...
Ich danke jedem von euch für die vielen Herzen!
Leider komme ich momentan fast nicht dazu, jedem persönlich zu danken und muss das jetzt auf diesem Weg tun. Danke an alle! ♥
Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Bildmaterialien: Allw Rechte liegen bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2013
Alle Rechte vorbehalten