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„Eliza, kommst du bitte Mal?“
Genervt stand ich auf und verliess mein Zimmer. „Was willst du, Mum?“ Ich machte mir keine Mühe, meine Gereiztheit zu verbergen. „Ach Schätzchen, musst du immer gleich so schlecht gelaunt sein? Die Schule hat gerade angerufen, wir müssen am Montag zu einem Gespräch mit dem Schulleiter. Hast du mir was zu sagen?“
Mit gerunzelter Stirn betrachtete mich meine Mutter und hob eine Augenbraue, als ich mir auf die Lippen biss und schwieg.
„Nein, ich denke nicht“, murmelte ich schliesslich nach einer halben Ewigkeit, in der ich krampfhaft überlegt hatte, ob ich es ihr sagen sollte oder nicht.
Fluchtartig verliess ich die Küche und stürmte wieder in mein Zimmer.
Fluchend trat ich gegen den Bettpfosten – und fluchte noch mehr, diesmal aufgrund der Schmerzen. Mein Blick wanderte zu meiner Tischschublade, in der sich – gut versteckt und sicher vor den Augen meiner Mutter – ein blauer Brief befand.
Darin stand nicht viel, nur dass ich in Gefahr sei, nicht ins nächste Schuljahr versetzt zu werden.
Meine Noten waren im letzten Jahr drastisch gesunken, ein Untergang der Welt für meine Mutter. Meiner Meinung übertrieb sie es masslos.
Ich würde das schon schaffen, schliesslich war ich nicht dumm – bloss unterfordert.
In den letzten Monaten hatte sich viel verändert, nicht nur meine Umwelt, sondern auch ich selbst.
Im Juni letzten Jahres waren wir umgezogen, ich und meine Mutter. Dadurch hatte ich viel verloren, meine besten Freunde, auch wenn die mir eigentlich gar nicht mal so sehr fehlten, ich bin eher Einzelgänger, meinen Vater, der sich von meiner Mutter getrennt hatte und natürlich das grosse Grundstück auf dem ich aufgewachsen war.
All das lag jetzt in mehreren 10000 Kilometer Entfernung.
An der neuen Schule wurde ich sofort als Loser abgestempelt, was mich nicht störte, da ich wie gesagt eher der Einzelgänger bin. Das, was mich wirklich nervte, war, dass die dort den Stoff durchnahmen, den ich vor drei Jahren hatte.
Manche würden jetzt vielleicht sagen, ist doch super, dann weisst du ja schon alles! Allerdings langweilte mich der Unterricht viel zu sehr, als dass ich dem Lehrer überhaupt noch zuhören würde. Meine Tests waren immer ziemlich gut, kein Wunder, wenn ich alles schon konnte, doch meine Mitarbeit im Unterricht liess natürlich zu Wünschen übrig. Die Lehrer dort dachten, ich wäre irgend so eine Rebellin, der der Unterricht am Arsch vorbei ginge. Dass sie mich einfach nur langweilten, darauf kamen die natürlich nicht. Tja, und jetzt hatte ich den Salat.
Gespräch mit dem Schulleiter! Super, darauf freute ich mich schon.
Schlecht gelaunt setzte ich mich an den Pc, stellte meine Lieblingsmusik – Hardrock und Ähnliches – so laut wie möglich, schnappte mir ein Buch und schmiss mich auf mein Bett.
Noch immer total gereizt versuchte ich mich auf die Buchstaben und Wörter zu konzentrieren, gab es allerdings schon bald auf und warf das Buch neben mich. Wütend starrte ich die Decke an, hob schliesslich die Hand und betrachtete interessiert meine Fingernägel.
Allerdings lenkte mich auch das nicht ab, also rappelte ich mich wieder auf, stellte die Musik aus und griff nach meiner Gitarre.
Leise klimperte ich darauf herum, doch auch das brachte nichts, ich musste hier raus. Kurzerhand schnappte ich mir meine schwarzen Stiefel und meine ebenfalls schwarze Jacke - zur Information von Unwissenden, Schwarz ist meine Lieblingsfarbe, und nein, ich bin definitiv KEIN Emo! - und schlüpfte durch das Fenster hinaus.
Direkt bei meinem Fenster wuchs eine grosse Eiche, deren Äste dick genug waren, um mein Körpergewicht zu tragen, und damit schon bald zu meiner ganz persönlichen Fluchtmöglich erkoren wurde, das einzig Gute an dem neuen Haus. Ohne zurückzublicken lief ich mit grossen Schritten und gesenktem Kopf durch die Strassen, Richtung Park.
Um die Zeit war zum Glück fast niemand mehr draussen, die meisten flüchteten sich in die Wärme und verschwendeten keinen Blick für die sternenklare Nacht und den wunderschönen Vollmond. Sanft tauchte er die Welt in sein gelbliches, warmes Licht, beleuchtete meinen Weg.
Ich liebte die Nacht, liebte die Stille und Ruhe, die man hier draussen hatte, mochte das Funkeln der Sterne, bei denen man herrlich ins Träumen kam. Von weit weg hörte ich das tiefe Jaulen eines einsamen Wolfes, etwas, das hier völlig normal war.
Der Park, am Tag gefüllt mit Studenten, Familien und Pärchen, lag jetzt total verlassen in der Dunkelheit. Kurz wanderte mein Blick zu dem Wald, der direkt an den Park grenzte, allerdings war mir das dann schon ein bisschen zu unheimlich und ich verzichtete auf einen Waldspaziergang bei Nacht.
Stattdessen suchte ich nach einer Parkbank in der Nähe des Ententeiches.
Träge lächelnd setzte ich mich auf eine Bank, die verborgen im Schatten einer Kiefer stand und vom Weg her nicht zu sehen war.
Gedankenverloren starrte ich das dunkle Wasser, das immer wieder von einem leichten Windhauch in Bewegung versetzt wurde, dachte an alte Kindheitstage, zu der Zeit, als noch alles normal war.

Laute Flügelschläge liessen mich aufschrecken.
Mit aufgerissenen Augen starrte ich den grossen schwarzen Vogel an, der auf der Banklehne platz genommen hatte und mich aus klugen Augen anblickte. Der Vogel schien keinerlei Angst vor mir zu haben, flog noch nicht einmal weg, als ich meine Hand hob.
Stattdessen legte er den Kopf schief und funkelte mich an, öffnete den hübschen Schnabel und liess ein melodisches „Kraah“ ertönen. Bei dem eigenartigen Ton zuckte ich leicht zusammen und zog die Hand wieder zurück. In meinem ganzen Leben war ich einem Raben noch nie so nah gewesen. Ein Rabe musste es sein, da war ich mir ziemlich sicher, schon alleine wegen der Schwärze seiner Federn. Vermutlich sogar ein Kohlrabe, die grössten der Art. Für eine normale Krähe war er zu klein.
Der Vogel hob ein Bein, ehe er mit einem Sprung näher zu mir rückte und jetzt kaum noch 60 Zentimeter von meiner Schulter entfernt war. Verdutzt blickte ich ihn an, liess meinen Augen über die glänzenden, schwarzen Federn wandern und hob schliesslich erneuert vorsichtig die Hand.
Ganz langsam, um ihn bloss nicht zu verscheuchen, näherte ich mich ihm, beobachtete jede kleinste Bewegung, genau wie er selbst es bei mir tat.
Meine Hand war nur noch fünf Zentimeter von ihm entfernt, als er plötzlich ganz wenig den Schnabel öffnete und die Flügel leicht aufplusterte.
Erschrocken hielt ich inne, wartete einen Augenblick, ehe ich die letzten Zentimeter überbrückte und ihn ganz leicht berührte. Erneuert gab der Vogel ein leises Krähen von sich, ehe er zu meiner Überraschung den Kopf an meine Finger schmiegte und sich fest gegen meine Hand drückte. Mit grossen Augen starrte ich ihn an, nicht in der Lage, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen, aus Angst ich könnte ihn doch noch vertreiben.
Seine Federn waren unglaublich weich und fühlten sich wunderbar an, ganz so, als würde man ein kleines Küken in der Hand halten.
Plötzlich hob der Rabe wieder den Kopf, starrte mich nochmal kurz an, ehe er sich flügelschlagend erhob und rasch verschwand. Überrascht sah ich ihm nach, ein bisschen enttäuscht, dass er schon weg war.
Allerdings erkannte ich ein paar Sekunden später den Grund für sein plötzliches Verschwinden. Laute Stimmen näherten sich der Bank.
Wie erstarrt blickte ich in die Richtung, wo sich der Weg befand, und woher auch die Stimmen herkamen. Bald erkannte ich, dass es Jugendliche sein mussten, die sich mal wieder auf ihren nächtlichen Streifzügen befanden, laut rum grölten und jedes Tier in 50 Meter Entfernung aufschreckten und verscheuchten.
Angst überkam mich, bei dem Gedanken, dass sie mich entdecken könnten, denn ich wusste, dass ich das perfekte Opfer sein würde.
Leise erhob ich mich von der Bank und lief rückwärts zu der Kiefer, drückte mich eng an ihren beschützenden Stamm. Die Jugendlichen kamen näher und von meiner Position aus konnte ich sie sogar sehen.

Mit Schrecken erkannte ich, dass es gar keine Jugendlichen waren, sondern erwachsene Männer, allesamt minimal besoffen.
Doch nicht diese Tatsache brachte mein Herz zum Rasen, sondern eher die vielen Tattoos und Narben, die sich bei jedem einzelnen sichtbar machten.
Keiner von ihnen war besonders gut aussehend, alle strahlten eine furchteinflössende Aura aus, die einem zur Flucht riet. Stocksteif trat ich noch weiter nach hinten – und mitten auf einen trockenen Ast, der sofort mit einem lauten Knacken zerbrach.
Mit Schrecken nahm ich wahr, wie die Männer anhielten und sich aufmerksam umschauten. Plötzlich wirken sie kein Bisschen mehr betrunken.
Einer der Männer, der grösste und zugleich hässlichste, machte einen Schritt in meine Richtung.
Panisch ging ich rückwärts, wollte nur noch weg von den Kerlen.
„Hey, ich glaub da vorne is' jemand!“, rief plötzlich der eine und überholte den Grössten. Mit weiten Schritten erreichte er die Bank, auf der ich eben noch gesessen hatte und legte eine Hand auf die Sitzfläche.
„Noch warm!“ Er lachte laut auf und starrte in die Schwärze. Plötzlich hob er den Kopf in die Luft und... schnupperte? Verdutzt beobachtete ich die bebenden Nasenflügel.
„Hey, ich glaub wir haben jemand zum Spielen gefunden! Hey Täubchen!“ Letzteres rief er laut in meine Richtung. Woher wusste der, dass ich weiblich war?
„Komm, Kleine, wir tun dir schon nix. Komm raus! Musst dich doch nicht verstecken! Haste' etwa Angst vor uns?“
Ein spöttisches, bösartiges Lächeln blitzte in seinem Gesicht auf, als er noch einen Schritt in meine Richtung machte. Das war genug.

Mit rasendem Herzen wirbelte ich herum und suchte mir schnellstmöglich einen Fluchtweg.
Weg, ich wollte nur noch weg hier!
Blind und mit schmerzender Lunge lief ich durch das Gestrüpp, direkt in den Wald hinein. Hinter mir hörte ich die Kerle rufen und lautes Knacken, als würde sich ein grosses Tier den Weg durch das Gebüsch bahnen. Die Typen folgten mir! Panisch erhöhte ich meine Geschwindigkeit, stolperte durch den schwarzen Wald.
Einmal fiel ich um, stolperte über eine grosse Wurzel, die ganz plötzlich vor mir auftauchte. Hastig rappelte ich mich wieder hoch, hinkte kurz und rannte schliesslich einfach weiter. Trotzdem konnte ich die Kerle noch immer hören und es schien nicht gerade so, als wären sie langsamer als ich.
Ich warf einen Blick über meine Schulter – und prallte heftig gegen etwas.
Fluchend wurde ich zu Boden geworfen. Mit klopfendem Herzen sah ich auf zwei Füsse, die direkt vor mir standen. Mit riesigen Augen sah ich nach oben, direkt in das bleiche Gesicht eines jungen Mannes, der mich neugierig anblickte.
Plötzlich hob er den Kopf und starrte auf etwas direkt hinter mir.
Sofort drehte ich den Kopf nach hinten und blickte direkt in die grimmig blitzenden Augen der Typen, die mich eben noch verfolgt hatten.
Einen Moment lang starrten sie den Typ hinter mir an, als wollten sie abwägen, ob er ein ernstzunehmender Gegner sei oder nicht, und entschieden sich, wie es schien, dagegen. Der Grösste, vermutlich auch ihr Anführer trat einen Schritt nach vorne und zeigte anklagend mit dem Finger auf mich.
„Sie gehört uns!“, zischte er mit bedrohlicher Stimme.
Zu meiner Verwirrung erklang darauf ein tiefes Lachen, das mir eine Gänsehaut verursachte.
„So, so... sie gehört also euch? Wie ich das sehe, befindet sie sich auf meinem Grund und Boden und gehört damit mir!“
Der Grosse knurrte. „Nein, sie gehört uns! Wir haben sie zuerst gesehen!“

Ich starrte ihn an und fragte mich kurz, was er wohl mit mir angestellt hätte. Ich kam mir vor wie ein Gegenstand, der auf eine Grenze gefallen war und um den man sich jetzt stritt. Oder wie eine Beute! Dieser Gedanke machte mir noch mehr Angst, als alles zuvor.
„Willst du um sie kämpfen, Gorian?“ Der Mann hinter mir hob eine seiner perfekten Augenbrauen und starrte seinen Gegner an. Überhaupt schien alles an diesem Mann perfekt zu sein, wie mir mit einem Mal auffiel. Sein Mund besass einen sinnlichen Schwung, die Nase war gerade und passte perfekt in das hübsche, männliche Gesicht.
Dunkle Augen versteckten sich im Schatten seiner zerzausten, schwarzen Haare. Schwarz schien er ebenfalls zu mögen, seine Kleidung bestand nur aus dieser Farbe.
Unter dem Shirt, ich fragte mich noch kurz, wie er es bei dieser Kälte so leich bekleidet aushielt, erkannte man die ausgeprägten Muskeln.
"Dann nimm sie eben! Ich will sie nicht, sieh sie dir doch mal an! Die Kleine ist schwach, zittert und ist kurz vor'm Heulen! Schwach! Nicht zu gebrauchen!"
Der Grosse spuckte verächtlich aus, trotzdem entging mir seinen Ärger darüber, dass er mich nun dem anderen überlassen musste, nicht.
Der Typ, der vorhin so eigenartig in der Luft rummgeschnüffelt hatte, trat einen Schritt vor, spuckte ebenfalls aus, allerdings viel weiter und damit auch dichter zu mir. Angeekelt wich ich etwas zurück. Der Typ lachte spöttisch auf, packte den anderen an der Schulter und zog ihn zurück.
"Verschwinden wir!", zischte er seinem Kumpel ins Ohr.
Der warf mir noch einen eigenartigen Blick zu, von dem ich nicht genau wusste, wie ich ihn zu deuten hatte. Eine Mischung zwischen Spott und Mitleid blitzte darin auf.
"Na dann, Kleine, viel Spass mit dem da! Glaub mir, der ist nicht so gut, wie er tut! Bald wirst du dem Teufel ins Gesicht blicken", rief er mir noch zu, ehe er sich abrupt umdrehte und mit seiner Gang in der Dunkelheit verschwand.

Ein verächtliches Schnauben erklang hinter mir.
Plötzlich alleine mit dem grossen, muskulösen Kerl, machte er mir fast genauso viel Angst, wie die Typen zuvor. Stumm starrte ich ihn an, rührte mich keinen Millimeter weit. Er starrte mich ebenfalls an, so, als würde er auf etwas warten.
Plötzlich erklang ein Krächzen über mir.
Verdutzt hob ich den Kopf und starrte den Raben an, der direkt über mir auf einem Ast hockte und mich wieder neugierig musterte.

Als wäre der Fremde mit einem Mal aus seiner Starre erwacht, blinzelte er überrascht und blickte von mir zu dem Raben auf.
Ein Lächeln huschte über sein emotionsloses Gesicht, was seiner Schönheit keinen Abbruch tat. Nein, wenn er lächelte, fühlte es sich an, als würde die Sonne aufgehen. Verwirrt starrte ich ihn an, noch nie hatte mich jemand so sehr fasziniert und zugleich abgestossen.
Der Rabe erhob sich flügelschlagend, kreiste einmal über meinen Kopf und liess sich schliesslich auf der Schulter des Mannes nieder, wo er seinen weichen Kopf kurz gegen dessen Wange drückte.
Der Fremde grinste kurz, hob die Hand und streichelte ihm sanft über das Gefieder, ehe er mir noch einen Blick zuwarf und sich umdrehte.
"Komm mit, du bist verletzt", sagte er, ohne sich die Mühe zu machen, mir beim Sprechen in die Augen zu blicken.
Total verwirrt starrte ich den Beiden nach, die sich schnell entfernten, da der Fremde ziemlich grosse Schritte machte. Als er schon 10 Meter entfernt war, wurde ich mir der Dunkelheit des Waldes plötzlich wieder bewusst, ebenso dem dumpf pochendem Schmerz in meinem Knie, das bei meinem Sturz aufgerissen war und jetzt ziemlich blutete. Durch die ganze Aufregung hatte ich davon noch gar nichts mitbekommen. Ächzend zog ich mich an einem Baum hoch, wankte kurz und fiel wieder zu Boden. Ein leises, schmerzverzerrtes Stöhnen entkam mir, als ich hart auf dem Waldboden landete.
Schlanke, lange Finger mit perfekt geschnittenen Nägeln erschienen in meinem Sichtfeld, der Fremde war zurückgekehrt. Mit leichtem Schrecken wurde ich mir bewusst, dass ich rein gar nichts gehört hatte.
Ich wusste nicht, ob es richtzig war, diesem Mann zu vertrauen.
Trotzdem hob ich meine schmutzige Hand, griff nach seiner und liess mich hoch ziehen. Erneuert fühlten sich meine Beine fiel zu weich an, als dass ich wirklich stehen konnte, wieder wankte ich bedenklich.
Mit einem Mal drehte sich die Welt, ehe ich mich in der Luft befand, getragen von starken Armen.
"Hey! Lass mich runter...", versuchte ich mich zu widersetzen, doch seine Arme fühlten sich viel zu angenehm an, seine Wärme lullte mich ein, mein Verstand verschwand zunehmend. Verzweifelt versuchte ich zu kämpfen, wollte mich nicht einwickeln lassen.
"Lass es zu, Kleines", erklang plötzlich seine leise, tiefe Stimme an meinem Ohr. Mit einem Mal verschwand meine Gegenwehr, ein eigenartiges, mir unbekanntes, aber angenehmes Gefühl überkam mich.
Unfähig etwas dagegen zu tun, schlossen sich meine Augen und ich schlief in seinen Armen ein.


Höllische Schmerzen weckten mich auf.
Keuchend riss ich meine Augen auf, ein gequälter Schrei steckte in meiner Kehle fest.
"Ruhig, Kleines, ganz ruhig. Ich tu dir nichts, aber die Wunde muss gereinigt werden, sonst entzündet sie sich. Und das tut noch viel mehr weh, glaub mir!"
Beruhigend strich eine kühle Hand über meine Stirn, streifte meine bebenden Lippen und verharrte an meinem Hals.
Wie von weit weg, hörte ich seine Worte, verstand ihren Sinn allerdings kaum. Nur unter grösster Anstrengung konnte sie mein Hirn entziffern.
Mit leiser, ruhiger Stimme flüsterte er mir zärtliche Worte zu, ohne wirklichen Sinn, trotzdem taten sie ihre wohltuende Wirkung und lenkten mich ein bisschen von den Schmerzen ab.
Und dann waren sie plötzlich weg.
Angenehme Dunkelheit trug mich erneuert davon.

Noch bevor ich ganz wach war, wusste ich, dass mich jemand beobachtete.
Langsam öffnete ich meine Augen, sah mich suchend in dem Raum um, entdeckte allerdings niemand.
Mit gerunzelter Stirn setzte ich mich auf und betrachtete meine Umgebung genauer.
Ich lag in einem grossen Doppelbett mit dunkelroten Bezügen, direkt neben dem Bett befand sich ein kleiner Tisch, auf dem eine Vase mit frischen Waldblumen stand. Ausserdem entdeckte ich noch einen Schrank und ein Regal, vollgefüllt mit Büchern.
Fasziniert setzte ich mich auf, befreite mich von der Decke, die ich im Schlaf fest um mich gewickelt hatte und rappelte mich hoch.
Ein leichter Schwindel überkam mich, liess mich innehalten. Wankend stüzte ich mich an dem Bettpfosten ab, bis das Schwindelgefühl verschwand. Vorsichtig wagte ich einen Schritt und als dieser tadellos klappte, noch einen weitern.
So lief ich langsam zu dem Regal, an dem ich mich erstmal erschöpft abstüzte. Mein Körper war von einer eigenartigen Schwere bedeckt, die mich fast alle Kraft kostete. Erst nach mehrmaligen, tiefen Atemzügen, ging es wieder und die Schwere verschwand langsam wieder.
Neugierig betrachtete ich die Bücher, die sich direkt vor mir auf Augenhöhe befanden und versuchte die Titel zu entziffern. Zu meiner Verwunderung waren diese nämlich in alter Schrift geschrieben, allerdings nicht in normaler alten Schrift, denn die könnte ich ohne Probleme lesen.
Nein, die Schrift war anders. Uralt vermutlich. Zögernd griff ich nach einem dicken Buch, mit ausgebleichtem, grünem Einband, der sich unter meinen Fingern spröde und trocken anfühlte, wie Papier, das kurz vor dem Zerfall war.
Fasziniert drehte und wendete ich das Buch, ehe ich es mit ein bisschen Überwindung meiner Schamgefühle, schliesslich war diese Buch nicht in meinem Besitz und vermutlich von unvorstellbar hochem Wert, aufschlug.
Leere Seiten befanden sich darin.
Kein Wort war darin zu sehen. Verwirrt blätterte ich durch das gesammte Buch. Nichts!
"Was tust du da?" Schneidend durchbrach seine Stimme die Stille.
Erschrocken fuhr ich zusammen, das Buch glitt mir fast aus den Händen. Gerade noch so erwischte ich es wieder und klammerte mich daran fest. Mit eingezogenem Kopf drehte ich mich langsam um - und fuhr gleich nochmal zusammen. Direkt vor mir befand sich seine breite Brust, kaum zehn Zentimter von mir enfernt. Erschrocken wich ich einen Schritt zurück und drückte das Buch, wie zum Schutz, an mein Herz.
"Ich... ich... es tut mir leid, aber...", stotternd suchte ich nach einer anständigen Entschuldigung, räusperte mich mehrmals, ehe ich leise murmelte: " 'tschuldige, kommt nicht mehr wieder vor." Hastig stellte ich das Buch wieder zurück und wagte einen vorsichtig einen Blick in sein Gesicht.
Entgegen meiner Erwartung schien er nicht wütend zu sein, nein, er lächelte sogar leicht. Verunsichert erwiderte ich das Lächeln, immer noch den Kopf eingezogen und auf einen Wutanfall wartend.
Stattdessen legte er mir seine Hand auf meine Schulter, die andere hob sanft mein Kinn an, damit ich ihm in die Augen blicken musste. Total verunsichert starrte ich in die fast schwarzen Augen, biss mir immer wieder heftig auf die Unterlippe und ballte meine zitternden Hände zu Fäusten.
"Was hast du in dem Buch gesehen?", fragte er mit einem eigenartigen Unterton.
"N-nichts?", stotterte ich und blinzelte leicht.
Seine perfekte Schönheit verwirrte mich ziemlich.
Der Fremde blickte mir stirnrunzelnd in die Augen, als würde er nach der Lüge darin suchen, doch er fand nichts. Ich sagte schliesslich die Wahrheit!
"Nichts? Bist du dir sicher? Du hast gar nichts gelesen?"
Trotzig verzog ich meine Lippen. "Wie denn auch, wenn die Seiten doch alle leer sind! Was bitteschön soll ich deiner Meinung nach gelesen haben?"
Der Schwarzhaarige verzog das Gesicht, überlegte und zuckte schliesslich bloss mit der Schulter.
"Ist egal. Wie geht es deinem Bein?"
Verwundert starrte ich ihn an, denn die Wunde hatte ich total vergessen. Verdutzt senkte ich den Kopf und blickte auf meine Beine. Erst jetzt fiel mir auf, dass das rechte Hosenbein aufgeschlitzt worden war und mein Körper total verdreckt war. Eingetrocknetes Blut klebte an meinem Bein, aber von einer Wunde war nichts zu sehen. Mit grossen Augen starrte ich die feine Narbe an, die ich bei genauerem Hinsehen entdeckte.
"Was...?" Keuchend holte ich Luft.
"Wie lange habe ich geschlafen?", traute ich mich irgendwann zu fragen und blickte den Fremden verunsichert an.
"Eine Nacht, mehr nicht."
Ungläubig hob ich eine Augenbraue.
"Eine Nacht?! Das kann nicht sein! Sieh dir doch meine Wunde an! Da ist nämlich keine mehr! Nur noch eine Narbe!"
Dieser Gegenspruch verwirrte mein träges Hirn total, immer wieder starrte ich auf die feine Narbe auf meinem Knie.
"Ich habe dir etwas gegeben, damit die Heilung schneller vorangeht. Bei dir hat es scheinbar ziemlich gut gewirkt, wie man sieht. Eigenartig, dass du so sehr darauf reagierst." Letzeres murmelte er eher zu sich selbst.
Noch immer starrte er mich an, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.
"Lass die Dinge, so wie sie sind, Kleines. Komm jetzt, du hast bestimmt Hunger!"
Wie zur Bestätigung seiner Worte, knurrte mein Magen in dem Augenblick drauflos. Schamesröte schoss in meine Wangen, peinlich berührt senkte ich den Blick und nickte zaghaft.
Sofort drehte er sich um und lief aus dem Zimmer.
Verdutzt sah ich ihm nach, ehe ich ihm hastig folgte.
Der Mann, dessen Namen ich noch immer nicht kannte, führte mich durch einen hellen Flur, dessen Boden mit altem, dunklen Holz verkleidet war und ziemlich knarrte. Eine lange Wendeltreppe, aus einem eigenartigen rötlichen Holz, führte hinab in ein hübsch eingerichtetes, lichtdurchflutetes Wohnzimmer, in dem sich auch ein kleiner Tisch und eine Couch befanden.
"Setz dich."
Der Fremde verschwand durch eine Tür und liess mich stehen.
Neugierig sah ich mir das Zimmer genauer an und entdeckte, nebst der Couch und dem Tisch, ein paar wunderschöne Gemälde an der Wand.
Das Bild eines schwarzen Rabens, umgeben von Wind und Sonne, gefiel mir am besten. Direkt daneben hing ein sehr altes Bild von einer wunderschönen, jungen Frau, die mich an jemanden erinnerte, allerdings konnte ich nicht sagen, an wen.
Hinter mir knarrte der Boden, als der Mann wieder hineinkam, mit einer Schüssel Nudeln und Tomatensauce.
"Gefällt es dir?", fragte er, ohne mir auch nur einen Blick zu zuwerfen. Ich nickte gedankenverloren. Erst als er mich anschaute und fragend eine Augenbraue hob, wurde mir bewusst, dass er mein Nicken gar nicht gesehen hatte.
"Ja, die Bilder sind hübsch. Aber das hier", ich zeigte auf den Raben, "gefällt mir mit Âbstand am besten."
Stolz blitzte in seinen dunklen Augen auf, als er das Bild kurz betrachtete.
"Ja, es ist mir sehr gut gelungen, muss ich zugeben...", murmelte er leise. "Du...du hast das gemalt?!" Überrascht blickte ich ihn an, meine Augen gliten zu den langen, schlanken Fingern und sofort verstand ich. Natürlich, wie könnte er auch nicht mit diesen Fingern malen?
Er nickte ganz leicht und setzte sich auf einen Stuhl. "Komm, das Essen wird kalt."
Ich warf dem Gemälde noch einen letzten Blick zu, ehe ich mich ihm gegenüber hinsetzte und auf meinen dampfenden Teller starrte. Ein himmlischer Duft kam mir entgegen, der in meinen Magen schmerzhaftes Geknurre verursachte.
Als ich nach der Gabel griff, wurde mir bewusst, dass meine Hände von dem Sturz total verdreckt waren.
"Äh.. kann ich noch kurz meine Hände waschen?", fragte ich zögernd.
"Klar, zur Tür hinaus, links, die erste Tür", mrumelte er kauend.
Hastig stand ich auf und suchte die Tür.
Das Bad war nicht besonders gross, wirkte allerdings ziemlich gemütlich. Eine grosse Badewanne nahm fast den ganzen Platz ein.
Ich erledigte noch kurz mein Geschäft, wusch die Hände gründlich ab und stolperte wieder zurück.
Sofort machte ich mich über das Essen her, stopfte so viel wie möglich in mich hinein, bis ich das Gefühl hatte, gleich zu platzen.
Kochen konnte er wirklich gut, selten hatte ich so gute Nudeln gegessen. Um erhlich zu sein, noch nie.
"Sa' mal, wie heischt'n du eigntli'?", fragte ich mit vollem Mund. Er hob den Blick, starrte einen Moment lang auf meine Hamsterbacken und brach in schallendes Gelächter aus.
Gekränkt kaute ich weiter und schluckte die Pampe schnell runter. "Hey!" Empört hob ich meine Gabel und an der noch eine Nudel hing, die jetzt durch den Raum spickte und direkt in seinem Teller landete. "Ups", flüsterte ich und unterdrückte ein gehässiges Grinsen.
"Rave", hauchte er und blickte mir direkt in die Augen. Mit seiner Hand schnappte er sich zielsicher die Nudel von mir, hob sie hoch und steckte sie sich in den Mund. Wie gelähmt folgte ich den Bewegungen seiner Hand und musste ein Keuchen unterdrücken, als seine Zunge hinausschlüpfte und er sich geniesserisch die Lippen ableckte.
"Hm... lecker!", grinste er und zwinkerte mir zu.
Verdattert blinzelte ich ihn an. Hatte er mir gerade zugezwinkert?
Und dann erreichte die Information seines Namens endlich meine Gehirngänge. "Rave...", flüsterte ich leise, es hörte sich geradezu verzückt an. Rave grinste schief und erhob sich.
"Richtig. Fertig?", fragte er und deutete auf meinen leeren Teller.
"Äh.. klar... danke. Das Essen war wirklich lecker!" Röte zierte meine Wangen, als ich mich ebenfalls erhob und nach der Schüssel mit dem kleinen Rest Nudeln griff.
Zögernd folge ich ihm in die kleine Küche, in der ich mich sofort pudelwohl fühlte. Der Raum war nicht gross, aber auch nicht eng und klein. Die eine Wand bestand vollständig aus grossen Fenstern, durch welche man einen herrlichen Blick in den Wald hatte.
Tatsächlich befand sich das Haus mitten im Wald, wie mir mit einem Mal auffiel.
Direkt unter der Fensterfront befand sich ein Gasherd mit grosser Arbeitsplatte, beides tief schwarz.
Doch das beste an dem Raum war die Ablage, die mitten in dem Raum stand, wie eine Insel. Das Material der Platte bestand aus einem eigenartigen Stein, der ziemlich dunkel glänzte, trotzdem erkannte man dort, wo die Sonne darauf traf, einen rötlich braunen Schimmer.
Alles hier drin wirkte sauber und ordentlich, gleichzeitig unglaublich einladend, so, als wäre man zuhause in seinen eigenen vier Wänden.
Rave grinste leicht, als er meinen bewundernden Blick sah und verliess die Küche wieder.
"Komm, Kleines, wir müssen noch ein paar Dinge besprechen", rief er mir über die Schulter zu und setzte sich auf die Couch. Auffordernd klopfte er neben sich.
Mein Blick glitt wie automatisch zu dem Gemälde des Raben und mit einem Mal fiel mir der schwarze Kohlrabe wieder ein.
"Wo ist eigentlich der Rabe hin?", fragte ich neugierig und setzte mich neben Rave. Dieser schien plötzlich ein bisschen nervös zu werden, vermutlich wegen meiner Frage, denn nur aufgrund meiner Nähe wurde der doch bestimmt nicht nervös.
"Er... äh... draussen, ich lasse ihn am Tag draussen, nur nachts kommt er rein, wenn er will." Mir fiel auf, dass er mir beim Sprechen nicht in die Augen schaute, sondern unruhig die Hände in seinem Shirt verkrallte.
Um ihn zu beruhigen erwiderte ich bloss ein leises: "achso..." und wartete darauf, dass er mit dem eigentlichen Gespräch begann.
Froh, das Thema wechseln zu können blickte er mir wieder in die Augen, was meinem Gehirn nicht sonderlich half.
"Also Kleines, erstmal solltest du wissen, dass die Typen, vor denen du geflüchtet bist, ziemlich grausam sind. Gorian und seine bescheurten Schosshündchen lieben es unschulidge Menschen zu quälen. Ich bin ehrlich gesagt verdammt froh, dass ich dich rechtzeitig gefunden habe, sonst hätten die sonst was mit dir angestellt."
Zwar machte mir das Gesagte gewisse Angst, doch die kleine Anspielung auf meine Schwäche provozierte mich ziemlich.
"Wenn du nicht im Weg gewesen wärst, hätten sie mich nie eingeholt!", log ich. Natürlich stimmte das nicht im Geringsten, kurz vor dem Zusammenprall mit ihm war mir die Luft schon fast ausgegangen.
"Natürlich wärst du das", erwiderte Rave mit spöttischem Unterton. Wütend blitzte ich ihn an und wandte mein Gesicht von ihm ab. Aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, dass er mich für schwach hielt.
Rave lachte leise, dann spürte ich sanft seine langen Finger an meinem Kinn. "Hey, Kleines... jetzt sei doch nicht gleich beleidigt. Du hast dich gut gehalten, aber du wärst ihnen niemals entkommen." Vorsichtig drehte er meinen Kopf in seine Richtung und zwang mich, ihm in die Augen zu blicken.
Erschrocken holte ich Luft.
Seine Augen waren blau! Deutlich sah ich das Bild von ihm vor einer Stunde, da waren seine Augen noch dunkel gewesen und niemals von einem solch intensiven Blau. Rave schaute mich verwundert an, ehe er kurz blinzelte, als wolle er die Farbe vertreiben.
"Ich... meine Augen.. sie verändern hin und wieder ihre Farbe...", murmelte er leise. Ich runzelte werwirrt die Stirn. Meine Augen wechselten auch oft von dunkelgrau zu grün, aber so intensiv wie bei ihm? Nie.
"Wer sind Gorian und seine Gang denn? Ich hab' noch nie von ihnen gehört", lenkte ich ab. Rave schloss kurz die Augen, ehe er mich anschaute und zu überlegen schien.
"Ich kenne Gorian schon lange...", begann er schliesslich zögerlich, suchte nach einem anständigen Satz, denn die Geschichte war ziemlich kompliziert.
"Um genau zu sein, kenne ich ihn seit meiner Geburt. Er ist ein Jahre älter als ich, seine Eltern waren früher mit meinen eng befreundet. So kam es eben, dass wir zu Freunden wurden und den Tag meist miteinander verbrachten. Wir waren wirklich beste Freunde, verstanden uns ohne Worte. Aber dann passierte etwas. Bis heute kann ich nicht genau sagen, was es war, aber Gorian wurde immer grober. Mit einem Mal tauchten mir fremde, harte Züge bei ihm auf. Er wollte mittlerweile nicht mehr nur rumhängen, sondern kleinere Kinder in der Schule verprügeln, die ihn "provozierten". " Er verzog gequält das Gesicht. "Er sah in jeder Handbewegung eine Bedrohung gegen seine Macht. So tauchte der Zwang auf, andere in ihre Schranken zu weisen, wenn sie ihn "bedrohten" ", er verdrehte die Augen, " und mit der Zeit schlossen sich ihm andere an, sene Gang entstand. Damals waren wir gerade mal zehn Jahre alt, mit acht fingen die leichten Störungen bei ihm an. Anfangs machte ich noch mit, allerdings nur, um ihn nicht ganz zu verlieren. Ich liebte ihn, wie einen Bruder, den ich nie hatte. Doch als er auch anfing Mädchen zu bedrohen, die ihm nicht auf den Schoss gekrabbelt kamen, wurde es mir langsam zu viel. Er wurde älter, breiter, muskulöser, befand sich immer öfter im Fitnesszentner. Unsere Freundschaft interessierte ihn längst nicht mehr. Und dann kam eine Neue in unsere Klasse, wir waren damals fünfzehn. Sie war total anders, als die anderen Mädchen. Trug eine dicke Hornbrille, zugeknöpfte Kleider, die langen Haare trug sie immer geflochten", er lächelte leicht bei der Erinnerung und Neid blitzte ganz kurz in meinem Herzen auf. Wütend vertrieb ich das Gefühl. "Was ist passiert?", fragte ich leise und beobachtete ihn genau.
"Na ja, sie war die typische Streberin, Aussenseiterin eben. Hinter der Hornbrille und den Zöpfchen befand sich allerdings eine wirkliche Schönheit, was nicht nur ich, sondern auch fast alle anderen schnell bemerkten. Die Mädchen beneideten sie, machten sie aufs heftigste fertig, für ihre Klugheit, ihre Intelligenz, ihre liebliche, leicht naive Art und für ihre Schönheit. Die Jungs wollten sie flachlegen, Wetten waren im Umlauf, wer es als Erster schaffte, ihre Schüchternheit zu beseitigen, ebenso ihre Hemmungen. Auch Gorian wollte sie. Er wollte alles, was Brüste hatte und keinen Schwanz zwischen den Beinen trug und dazu gehörte sie eben auch. Natürlich wehrte sie sich ziemlich gegen ihn, aber Gorian verstand sie nicht, wurde immer brutaler ihr gegenüber. Als er sie wieder einmal fertig machte, begann ich zum ersten Mal einzugreiffen. Ich ging dazwischen.
Dadurch gewann ich zwar ihre Freundschaft, aber gleichzeitig verlor ich Gorian ganz. Ich schaffte es, hinter ihre Maske zu sehen, bemerkte, dass da viel mehr war, als eine hübsche Streberin. Wir wurden ziemlich gute Freunden, abends konnte ich sie überreden, mit mir um die Häuser zu ziehen, manchmal gingen wir auch Tanzen. Obwohl sie sich anfangs dagegen wehrte, machte es ihr sichtlich Spass. Eines Tages liefen wir gerade abends zurück, ich wollte sie nachhause bringen. Doch dann trafen wir auf Gorian und seine Kumpels. Sie waren zu acht, wir zu zweit." Raves Blick wurde leer, seine Miene ausdruckslos, als hätte er eine Maske übergezogen.
"Ich versuchte sie zu schützen, doch irgendwie schafften sie es, mich festzuhalten. Sie... sie vergewaltigten sie direkt vor meinen Augen. Fünf Stück, jeder wollte sich an ihr Austoben. Nur weil ich mich so sehr wehrte kamen die letzten drei nicht zu ihrem Zug. Gorian schlug ihr hart ins Gesicht, spuckte sie an, halbohnmächtig lag sie auf der Strasse. Mit einem Stein schlug mich Gorian zuletzt zu Boden, ehe sie verschwanden. Als ich wieder bei Bewusstsein war, brachte ich Lily, so hiess sie, in die Notaufnahme. Sie üebrlebte es knapp, trug allerdings innere Blutungen, eine Gehirnerschütterung und einen gewaltigen Schock davon. Ab dem Tag an sprach sie nicht mehr, es war, als hätte man ihr die Zunge rausgeschnitten." Zu meinem Schrecken bemerkte ich eine Träne, die über sein ausdrucksloses Gesicht lief. Am liebsten hätte ich sie zärtlich weggewischt, traute mich allerdings nicht.
"Drei Monate später drückte sie mir einen Zettel in die Hand, sie sei schwanger. Ich wusste, dass sie niemals mit einem anderen Mann geschlafen hatte, einer der fünf Arschlöcher hatte sie geschwängert. Drei Monate darauf brachte sie sich um, direkt nach der Diagnose einer Fehlgeburt. Das Kind war in ihrem Bauch gestorben. Sie hinterliess mir einen Abschiedsbrief, in dem sie mir erklärte, dass sie es nicht mehr aushielt. Sie gestand mir ihre Liebe und wünschte mir viel Glück in meiner Zukunft. Zuerst war ich geschockt, dann am Boden zerstört, ass nichts mehr, verkroch mich in meinem Zimmer. Und dann kam die Wut und der Hass. An dem Tag schwor ich mir, das Leben dieser Hunde zur Hölle zu machen." Seine Stimme zitterte. Ich hielt es nicht mehr aus und griff vorsichtig nach seiner Hand. entgegen meiner Ertwartung klammerte er sich regelrecht daran fest.
"Irgendwann wurde mir das alles zu dumm, ich konnte nicht mehr, hatte keine Kraft mehr. Also zog ich mich zurück, verkroch mich in diesem Haus, abgeschnitten von der Aussenwelt. Hier fand ich auch Atratus."
Ein schwaches Lächeln huschte über seine Züge. "Der Rabe hatte sich verletzt und lag hilflos mit gebrochenem Flügel im Wald. Ich nahm ihn mit und pflegte ihn, bis er wieder fliegen konnte. Und zu meiner Überraschung ist er nicht davon geflogen, sondern lebt seither bei mir." Erstaunt betrachtete ich das Gemälde des Vogels. Der Arme!
"Hast du die Narben bei Gorian gesehen?", fragte er trocken und musterte mich von der Seite. Zögerlich nickte ich.
"Das war ich."
Ein kalter Schauer rieselte über meine Haut. "Du? Aber... wie?" Eigentlich wollte ich es gar nicht genauer wissen, trotzdem trieb mich die Neugierde zu fragen.
Zu meinem Glück schüttelte Rave seinen Kopf leicht.
"Nein, das sind grausame Dinge, die ich zwar nie bereuen würde, er hat jede einzelne Narbe verdient, trotzdem ist es unmenschlich."
Ich nickte leicht. "Verstehe."
War es das gewesen, was Gorian gemeint hatte, als sie abgehauen waren? Dass Rave der Teufel sei und er den Guten nur vorspielte? War das hier vielleicht seine Maske? Nein!
Energisch verscheuchte ich die schlechten Gedanken. Nein, so war er nicht. Er hatte mich gerettet und was auch immer er Gorian alles angetan hatte, er hatte es verdient!
"Der Punkt allerdings ist, dass du da draussen nicht mehr sicher bist. Gorian weiss jetzt von dir, ich habe seinen Blick gesehen, du bist sein neues Opfer."
Ich erinnerte mich noch gut an diese Augen, die mich so angeschaut hatten, als wäre ich die Beute. Zitternd zog ich die Knie an und umschlang sie mit meinen Armen.
"Und was soll ich jetzt deiner Meinung nach tun?", fragte ich Rave leise.
"Bei mir bleiben, abwarten."
Ich dachte darüber nach.
"Dann muss ich aber meiner Mutter Bescheid geben, sie ist so schon ziemlich mies gelaunt."
Fragend hob Rave die Augenbraue. "Ach, das ist kompliziert. Hat mit der Schule zutun." Er nickte leicht und betrachtete mich.
"Willst du sie anrufen, oder zu ihr?", fragte er schliesslich. Wieder dachte ich nach. Würde ich jetzt nachhause gehen, würde sie mich niemals gehen lassen.
"Nein, ich will sie anrufen. Hast du ein Handy? Meins hab ich zuhause gelassen."
Rave nickte und warf mir ein schwarzes, altmodisches Handy zu. Ich zog leicht amüsiert eine Augenbraue hoch, sagte allerdings nichts.
Ungeduldig wartete ich, bis meine Mutter abnahm.
"Familie Drajas, wer spricht?"
Meine Mutter hörte sich gestresst an, ich wusste sofort, dass ich zu einem schlechten Zeitpunkt angerufen hatte.
"Hey Mum", sagte ich dennoch, betont fröhlich.
"Eliza! Herr Gott nochmal, wo steckst du zum Teufel?"
Ich musste grinsen. Nur meine Mutter schaffte es, Gott und Teufel in einem Satz zu erwähnen.
"Ich bin bei einer Freundin", Freund wäre sehr schlecht gewesen, über Männer wollte sie immer alles wissen.
"Ach Schätzchen, und da kannst du dich nicht mal melden? Du bist in der Nacht einfach verschwunden! Weisst du eigentlich, was für einen Schock du mir da zugemutet hast?"
Mein schlechtes Gewissen hielt sich ziemlich in Grenzen. Trotzdem sagte ich so bittend wie möglich: "tut mir Leid, Mum, aber ich hab mein Handy vergessen. Was ich dich eigentlich fragen wollte, kann ich für ein paar Tage bei ihr bleiben? Ihr geht es ziemlich schlecht, Liebeskummer und so... und ihre Eltern trennen sich gerade."
Ich wollte eigentlich noch sagen, die "Freundin" hätte sich auch noch das Bein oder was auch immer gebrochen, fand das dann allerdng ein bisschen zu übertieben und hoffte, dass die Gründe reichten.
Mum hatte ein riesiges Herz, mir persönlich zu riesig. Ihre Fürsorglichkeit war übermässig. Und erdrückend.
Trotzdem hoffte ich, dass diese Charaktereigenschaft, die ich normalerweise nicht mochte, sie jetzt zu einem Ja bewegte.
Meine Mutter zögerte, sagte allerdings nach ein paar Sekunden zu und seufzte müde.
"Aber bis Montag bist du wieder hier! Vergiss nicht, wir haben einen Termin."
Ich seufzte leise, schickte ihr einen Luftkuss durchs Telefon, was mir Gelächter von Rave einbrachte, und legte auf.
Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete ich den kichernden jungen Mann neben mir. Als es mir zu blöd wurde, warf ich ihm das Handy an den Kopf. Na ja, jedenfalls sollte es diesen treffen.
Mit einer blitzschnellen Bewegung fing er das Handy auf und grinste mich spöttisch an.
"War das etwa schon alles, Kleines?"
Mit einer Mischung aus Belustigung, Empörung und verletztem Stolz, schnappte ich nach dem Kissen, das neben mir lag und schmiss es dem Handy hinterher.
Rave schnappte sich ebenfalls eins und bald endete das Ganze in einer unerbittlichen Kissenschlacht.

Ich fühlte mich einsam.
Unten konnte ich Rave lachen hören, der gerade mit dem Raben rumalberte und ihn mit Brot fütterte.
Durch das Fenster konnte ich ihn beobachten.
Doch genau dieses Bild, das sich dort zeigte, tat mir weh. Diese innige Vertrautheit, mit der Tier und Mensch untereinander umgingen, dieses glückliche Lächeln auf Raves Gesicht.
Nie hatte ein Mensch in meiner Gegenwart so gestrahlt.
Nicht einmal meine Eltern.
Am liebsten hätte ich mich zu ihnen gesetzt, doch ich hatte das Gefühl, in etwas einzudringen, ein Band, das ich verletzen könnte.
Schwachsinn, ich weiss, Rave hatte mich sogar noch gefragt, ob ich zu ihnen kommen wolle.
Doch ich hatte Nein gesagt und mich in dem Zimmer verzogen, in dem ich aufgewacht war. Vermutlich sein Zimmer.
Atratus, wenn ich mich recht erinnerte hatte ihn Rave so genannt, flatterte aufgeregt um den Kopf des Schwarzhaarigen und schnappte nach dem Stück Brot in dessen Hand.
Rave zog es lachend immer wieder aus seiner Reichweite.
Immer wieder erklang ein empörtes Krähen.
Das Bild verletzte mich auf eigenartige Weise, Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln. Hastig blinzelte ich und blickte mich nach einer Beschäftigung um.
Wie schon am Morgen zog mich das Bücherregal magisch an.
Leise, als hätte ich Angst, ertappt zu werden, was ja in gewisser Weise auch so war, stand ich auf und tapste zu dem Regal.
Wieder betrachtete ich die eigenartigen Titel, doch da ich sowieso keinen verstand, hob ich schliesslich die Hand und schnappte mir mit geschlossenen Händen einfach eines.
Als ich die Augen wieder aufschlug, war ich erstaunt.
Das Buch war klein, nicht mal so gross, wie meine Handfläche, doch nicht das erstaunte mich, nein, viel mehr die Tatsache, dass ich mir sicher war, dass es zuvor nicht in dem Regal gestanden hatte.
Ausserdem war noch nicht einmal eine Lücke entstanden, dort, wo das Buch vielleicht zuvor gestanden wäre.
Mit gerunzelter Stirn betrachtete ich es genauer, ehe ich es vorsichtig aufschlug.
Das Papier fühlte sich noch älter an, als bei dem grünen Buch vom Morgen, ausserdem schien es... warm zu sein. Verdutzt strich ich über das warme Papier.
Es war, als wäre das Buch eine Stunde lang auf einer Heizung gelegen.
Und ausserdem pochte es. Verwirrt starrte ich das Büchlein an. Meine Fingerkuppen spürten ein stetes Pochen, genau in der Mitte des Buches. Ganz so... als hätte es seinen eigenen Herzschlag!
Erschrocken über diesen Gedanken liess ich das Buch fallen.
Mit einem unnatürlichen Laut traf es auf dem Holzboden auf und als würde ein Wind durch das geschlossene Fenster wehen, begannen die Seiten plötzlich zu flattern! Mit einem erschrockenen Schrei trat ich einen Schritt zurück, beobachtete das Buch, das wie von Geisterhand umgeblättert wurde.
Und dann blieb es plötzlich stehen.
Offen lag es da.
Die Neugierde besiegte meine Angst, weshalb ich das Buch zögerlich aufhob.
Fast hätte ich es wieder fallen gelassen, denn die Wärme war verschwunden. Ebenso wie das Pochen.
Buchstaben tanzten vor meinen Augen auf den aufgeschlagenen zwei Seiten, ich konnte die Wörter irgendwie nicht richtig erfassen und lesen.
Angestrengt starrte ich die schwarzen Lettern an, versuchte zu verstehen, was dort stand.
Automatisch wusste ich, dass es in meiner Sprache verfasst war, aber der Sinn der Wörter wollte mir nicht ins Hirn.

Und dann, mit einem Schlag ging mir ein Licht auf.
Ich verstand plötzlich jedes einzelne Wort.
Langsam begann ich Satz für Satz zu lesen, wobei mein Herz mit jedem Wort aufgeregter pumpte.

Wenn des Raben schwarze Flügel sich in den Himmel erheben,
Wenn des gebrochenen Herzens Risse wieder geheilet werden,
Wenn des Mädchens Einsamkeit ein Ende findet,
Wenn des Himmels graue Wolken von goldner Schönheit vertrieben werden,
Wenn des Engels Kraft erwacht,
Wenn alles ein Ende findet,
Dann ist deine Zeit gekommen.

Mutig sei das Mädchen mit der Himmelskraft,
Ehrgeizig ihre Einstellung,
Versponnen ihr Lebensweg,
Mit reiner Schönheit beschenkt,
Besitzerin der Seele selbst,
Das Herz von reiner Liebe erfüllt.



Verwirrt starrte ich das Gedicht an. Wer zum Teufel wurde da angesprochen? Welches Mädchen meinten die? Vorsichtig blätterte ich die Seite um und fand zu meiner Überraschung noch mehr Text.

In einer regen-erfüllten Nacht, mitten im Juli, genau zu der Stunde des göttlichen Blitzes, zu diesem Zeitpunkt wird eine Seele die Welt betreten, eine Seele von reinster Schönheit und verborgener Güte. Mit jedem Atemzug wird sich des Kindes Schönheit und Liebe zeigen, doch soll sie gut verborgen werden, denn nur so kann das Mädchen geschützt und geborgen aufwachsen.
Schmerzen werden sie prägen, verändern und stärken.
Auf den Namen von Gottes Schwur soll sie hören.
Auf der Flucht wird sie sein, vor dem Bösen selbst.
Doch wird sie auf einen Freund treffen, auf einen Geliebten.
Die Gaben Gottes sind ihr Geschenk, sieben Tage nach ihrer Flucht soll sie diese empfangen. Das Kind der Engel muss lernen, damit umzugehen, muss lernen, zu lieben und zu vergeben.
Erst wenn sie dies erreicht hat, kann sie in den Krieg ziehen. Erst dann kann sich ihre wahre Gestalt in voller Pracht zeigen.



Eine leise Vorahnung überkam mich. Juli, Mitte Juli! Mein Geburtstag war an einem 16 Juli. Und zwar in der Nacht. Ich wurde in einer Gewitternacht geboren.
Doch alles andere traf kaum auf mich zu. Göttlicher Blitz? So ein Blödsinn.
Und mit Schönheit und Güte war ich ebenfalls nicht gesegnet. Ausserdem bedeutet mein Name ja wohl kaum Gottes Schwur! Hallo?!
Obwohl, das mit den Schmerzen, das traf in gewisser Weise zu. Vor allem in letzter Zeit.
Doch der Rest, der war Blödsinn. Trotzdem brachte ich es nicht über mich, das Buch zu schliessen. Nein, etwas, tief in mir drin, sagte mir, dass dieses Gedicht und der Text noch wichtig sein könnten. Am besten fragte ich Rave, was für ein Buch ich da überhaupt in die Finger bekommen hatte!
Ohne weiter nachzudenken hastete ich hinunter und hinaus.
Noch immer spielten die Beiden mit dem Brot und bemerkten sie erst, als sie sich räusperte.
„Hey, Kleines, was ist los?“, fragte Rave, als er meinen verwirrten Gesichtsausdruck sah.
„Tut mir Leid, aber mir war langweilig, also nahm ich eines deiner Bücher. Und plötzlich wurde alles so eigenartig... ich... das Buch öffnete sich irgendwie von selbst – ich weiss, das hört sich total eigenartig an!“, fügte ich hastig hinzu. „Na ja, auf jeden Fall öffnete sich das Buch auf dieser Seite. Der Text ist irgendwie komisch. Ich wollte dich fragen, was für ein Buch das ist? Ich kann den Titel nicht lesen...“ Meine Stimme wurde immer leiser, denn bei der Erwähnung des Titels hatte ich automatisch auf diesen geblickt und zu meiner Verwirrung konnte ich das geschriebene Wort ohne Probleme lesen.

Wahrheit



Das Wort war noch immer total verschlungen, aber der Sinn war plötzlich klar.
"Wahrheit", flüsterte ich leise und fuhr mit dem Daumen über die gedruckten Lettern.
"Ja, das bedeutet Wahrheit. Dieses Buch gehört zu den seltensten Büchern dieser Welt. Es gibt nur eine einzige Fassung, und die hältst du gerade in der Hand." Verdutzt starrte ich das kleine Buch an. Mein Gott, das musste tatsächlich ein halbes Vermögen wert sein!
"Zeig mal her!" Ohne gross nachzudenken reichte ich ihm das Büchlein und wartete, bis er den Text gelesen hatte. "Hinten steht noch mehr!", fügte ich noch hinzu. Rave wendete die Seite und las auch den Text.
Erstaunt runzelte er die Stirn.
"Eigenartig. So ein Text hat es noch nie von sich gegeben." Auf meine frgenden Blick überlegte er kurz und begann dann zu erklären: "dieses Buch hier sagt etwas über deine Person aus. Es wählt selbst aus, wann es einer Person erscheint. Es gehört niemandem, nachdem man das Buch geschlossen hat, verschwindet es. Aber alles, was hier steht, ist die Wahrheit, nichts als die reine Wahrheit. Du... laut diesem Buch bist du etwas Besonderes. Du bist ein Kind der Engel", flüsterte er verzückt. Mit grossen Augen starrte er mich an, als würde er mich zum ersten Mal sehen.
"Das passt. Eigentlich hätte ich das schon längst bemerken müssen! Kein Mensch besitzt eine solche Schönheit!"
Verwirrt blinzelte ich.
"Moment mal! Ich... ich bin doch kein Kind der... Engel!" Das letzte Wort kam mir nur mit Mühe über die Lippen.
"Engel gibt es nicht! Verdammt, Rave! Hör auf, mir solchen Mist zu erzählen!"
"Aber Eliza, das ist kein Mist! Das Buch würde niemals lügen!"
Verrückt! Der war verrückt!
Kopfschüttelnd hob ich abwehrend die Hände und trat vorsichtig den Rückzug an.
"Das ist nicht wahr, Rave. Es gibt keine Engel. Und ich bin schon gar nicht die Tochter von einem! Meine Mum ist eine ganz normale Frau, und mein Dad ebenfalls! Und schön bin ich auch nicht. Das ist Blödsinn!"
Rave lächelte traurig.
"Spätestens in sechs Tagen wirst du es wissen."
"Warum in sechs Tagen?" Verwundert starrte ich ihn an. "Laut dem Buch bekommst du dann deine Gaben. Ich bin jetzt schon sehr gespannt, wie die aussehen werden. Und zu deinen Eltern. Schon mal darüber nachgedacht, dass sie gar nicht deine Eltern sind? Ich bin mir ziemlich sicher, dass du adoptiert bist." Mit grossen Augen starrte ich ihn an. Ich? Adoptiert? Niemals! Das konnte einfach nicht sein.
"Ich... ich muss mal telefonieren!"
Rave warf mir sein Handy zu und verschwand im Haus.
Ich spürte die Blicke des Raben auf mir, aber ich ignorierte ihn.
Hastig tippte ich die Nummer in die Tasten. "Mum?" Überrascht fragte meine Mutter, was los sei.
"Mum. Sei ehrlich. Bin ich adoptiert?"
Es wurde still am Ende der Leitung.
Ich hörte, wie meine Mutter - oder war sie das überhaupt? - einen tiefen Atemzug nahm und seufzte.
"Ich... Eliza. Woher weisst du das?" Ich konnte die Unsicherheit aus ihrer Stimme hören. Und mit ihren Worten bestätigte sie gerade, dass ich nicht ihre Tochter war. "Was...Mum! Oder darf ich dich jetzt überhaupt noch so nennen?! Du hast mich belogen! Mein ganzes Leben lang hast du mich belogen!" Wut kam in mir hoch. Auch wenn sie mich immer genervt hatte, liebte ich diese Frau doch! Und sie hatte mich belogen. Gerade sie, die mir immer beigebracht hatte, man solle nie lügen! "Oh Gott, Eliza. Es tut mir unglaublich leid. Können... kannst du nachause kommen? Ich würde dir diese Geschichte bitte nicht durchs Telefon erzählen." Ich dachte darüber nach. "Ich... warte kurz", antwortete ich knapp und hastete ins HAus zurück.
"Rave! Wo bist du?" "Hier!", kam es aus dem Wohnzimmer. Eilig lief ich zu ihm. "Ich muss meine Mutter sehen. Ich muss mit iihr sprechen. Jetzt."
Er nickte und erhob sich. "Okay, komm."
"Du... du kommst mit?" Verwundert starrte ich ihn an. Er nickte emotionslos. "Natürlich. Denkst du wirklich, ich würde dich alleine raus lassen?"
Ich schüttelte verwirrt den Kopf. "Okay, dann los!"
Ich hob das Handy und murmelte meiner Mutter zu: "ich bin in zehn Minuten zuhause." Meine Stimme hörte sich kühl und distanziert an. Ich wusste, dass ich sie damit verletzte. Aber sie hatte mich schliesslich auch verletzt!
"Tu ihr das nicht an, Eliza. Diese Frau hat dich wie ihr eigenes Kind aufgezogen. Sie ist noch immer deine Mutter, auch wenn nicht biologisch."
Rave sah mich ernst an. Ich dachte über seine Worte nach. Eigentlich hatte er Recht damit. Trotzdem hatte ich einen grossen Teil meines Vertrauens zu ihr hiemit eingebüsst.


Fortsetzung folgt...

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Bildmaterialien: Weheartit.com
Tag der Veröffentlichung: 29.09.2012

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