Prolog
Mein Name ist Dalania Desterisa del Lacchos. Ein viel zu langer Name, für eine Frau, meines Standes. Aber meine Mutter wollte es so.
Da es uns nicht zusteht, solch lange Namen zu tragen, bin ich unter dem Namen Dala Lacchos bekannt.
Ich gehöre seit dem letzten Sommer zu den Erwachsenen. Zu den Vollwertigen meines Volkes. Aber das interessiert niemanden. Weder die Wächter, die uns Diebstähle vorwerfen, noch unser König oder sein Adelvolk.
Mein Leben ist traurig, trist und hart. Jeden Tag muss man hier um sein Essen kämpfen, sein Revier wachsam verteidigen. Jeder schaut auf sich selber, Nächstenliebe kennt man hier nicht. Wie auch? Die Ehen sind unter Zwang veranlasst worden, niemand hat seinen freien Willen.
Das Einzige, was mich noch am Leben hält, ist die Hoffnung, irgendwann meine Freiheit zu erlangen. Irgendwie hier raus zu kommen. Ich weiss, dass es möglich ist. Meine Mutter hatte es vor fünf Jahren auch geschafft. Allerdings hatte sie mich hier gelassen. Das war ihr Preis, den sie bezahlen musste.
1. Kapitel
"Dala! Du faules Stück! Hilf sofort Gustav! Tagträumen kannst du später noch genug!"
Darius, der Besitzer eines Gasthofes unserer Stadt und auch mein "Herr", stand vor mir, die Hände wütend in die Seiten gestemmt. Sein Gesicht war rot angelaufen, ob vor Wut oder vor Anstrengung konnte ich nicht sagen. Vermutlich eher vor Wut...
"Nun mach schon! Beweg endlich deinen unnützen Hintern! Die Kutsche der Gräfin ist eben eingefahren und Gustav braucht bestimmt Hilfe bei den Pferden!" Er grinste dreckig. "Mit denen kannst du ja gut umgehen." Hämisch lachend lief er weiter. Ich lief leicht rot an und starrte ihm hinterher. Dieses Arschloch!
Er wusste genau, wie sehr ich Tiere mochte, und verbot mir deswegen meist den Umgang mit ihnen. Allerdings hatte er mich schon ein paar mal beim Reiten erwischt und mir jedes mal eine Strafe gegeben.
Rasch lief ich durch das grosse Tor in den Hof blickte mich nach Gustav, unserem Stallburschen um.
Eine grosse Kutsche versperrte mir allerdings den Weg.
Schnell lief ich um sie herum und trat neben Gustav, der gerade dabei war, eines der Pferde abzuzäumen und wegzuführen. Mit sicheren Handgriffen löste ich das andere Pferd und führte es in den Stall.
Als die Beiden versorgt waren und zufrieden Heu kauten, trat ich wieder hinaus und suchte nach Magdalena, der Grossmägdin. Sie war unsere höchste Magd am Hof und gab uns immer Anweisungen und Arbeit, die es zu erledigen galt.
"Tristan! Weisst du wo Magda ist?" Ein kleiner, schwarzhaariger Junge drehte sich zu ihr um.
"Vor ein paar Minuten hat sie mit Dannas geschimpft. Er hat wohl eine Schüssel kaputt gemacht. Sie ist bestimmt noch in der Küche."
Dankbar nickte ich ihm zu und lief zur Küche.
Magda stand tatsächlich mitten im Raum und beauftragte ein paar Gehilfinnen.
Kurz schweifte mein Blick über die Menge, der Diener, die herum wuselten und arbeiteten. Es herrschte Hochbetrieb.
Kein Wunder! Schliesslich stand das Fest des Wassers vor der Tür. Der Tag, an dem sechs adlige Schüler auf der Akademie der Wassergeister aufgenommen wurden.
Ich freute mich schon, denn auch ich würde es sehen können. Natürlich nicht aus der Nähe, aber trotzdem würde ich es beobachten können. Dieses Glück hatte nicht jeder meines Standes.
"Dala! Was stehst du hier so faul herum? Hast du zu wenig Arbeit?" Magda riss sie erbarmungslos aus ihren Gedanken. "Komm! Die Köchinnen können deine Hilfe brauchen!"
Magda packte mich unsanft am Arm und zog mich durch das Gebäude, bis zur Küche. Zur zweiten Küche, um genau zu sein. Der Gasthof war riesig und besass auch zwei Küchen, sowie zwei Entrees. Dadurch war er auch bekannt und beliebt bei Blaublütern.
Kaum eine Minute später sass ich an einem der Tische und half Kartoffel schneiden. Eine mühsame Arbeit, da die Messer stumpf sind.
Am Abend dieses Tages sank ich erschöpft auf mein Bett und schlief sofort ein. Allerdings nicht gerade gut. Es war kein erholsamer Schlaf. Albträume suchten mich heim, eigenartige Bilder der Feier.
2. Kapitel
Schwitzend und keuchend erwachte ich schliesslich in den frühen Morgenstunden.
Es war so weit. Heute würde wieder etwas Ruhe einkehren. Endlich.
Angewidert zog ich mein Nachthemd aus, das ganz nass und feucht von der Nacht geworden war.
Seufzend warf ich es in den Korb, in dem die dreckige Wäsche lag. Ich würde wohl bald wieder an den Fluss runter, um zu waschen.
Schnell zog ich mir ein leichtes Kleid an und lief zu dem grossen Wasserbecken im Ecken meines Raumes. Eiskaltes Wasser spiegelte mein Gesicht wieder. Feucht hing mir eine schwarze Locke ins Gesicht. Hastig schob ich sie zur Seite und beugte mich hinab, bis mein Gesicht dicht über dem Wasser schwebte. Mit beiden Händen begann ich mein Gesicht gründlich zu waschen und versuchte die beissende Kälte zu ignorieren.
Danach lief ich zum Fenster und öffnete es weit. Kalte Morgenluft wehte mir entgegen und verursachte eine Gänsehaut auf meinem Leib. Rasch entfernte ich mich wieder und zog eine Arbeitsschürze über.
Von Draussen kamen schon die ersten Geräusche der Arbeit, jemand schrie laut Befehle, vermutlich Darius.
Schnell lief ich hinunter, denn in ein paar Minuten würde sowieso jemand kommen und mich holen.
Geschickt wich ich Magda aus, die gerade müde aus ihrem Zimmer gewankt kam und schlecht gelaunt aussah. Magda und schlecht gelaunt war nie gut.
Nur darauf achtend, dass sie mich nicht sah, bemerkte ich nicht, dass eine Tür neben mir geöffnet wurde und jemand heraus trat.
Im nächsten Moment knallte ich gegen eine festen Körper und wurde aus dem Gleichgewicht gerissen. Mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht sass ich einen Wimpernschlag später auf dem harten Boden und stöhnte leise auf.
"Verfluchte Scheisse!", brummte ich wütend. Erschrocken hob ich die Hände vor den Mund, als mir bewusst wurde, dass ich gerade tatsächlich geflucht hatte.
Mit vor Scham geröteten Wangen, versuchte ich, mich wieder hinzustellen, allerdings zitterten meine Beine plötzlich bedenklich.
"Geht es dir gut?", fragte eine männliche Stimme, die irgendwie arrogant klang.
"Nichts passiert, alles in Ordnung." Hastig versuchte ich mich in den Griff zu bekommen und starrte auf die breite Brust, die sich dicht vor mir befand. Man, hatte der Kerl Muskeln! Immer noch etwas verwirrt hob ich den Blick und schaute in das Gesicht des Mannes, mit dem ich gerade zusammen geprallt war.
Erschrocken hielt ich die Luft an, denn vor mir stand ohne Zweifel ein Blaublütiger. "Verzeiht, Herr! Ich weiss nicht wo meine Gedanken waren. Ich entschuldige mich für meine Unachtsamkeit", murmelte ich hastig und verbeugte mich leicht. Schnell huschte ich an ihm vorbei und rannte fast hinaus auf den Hof. Kalte Luft strömte in meine Lungen und holte mich wieder zurück auf den Boden. Dankbar blieb ich stehen und versuchte mich zu orientieren. Gustav stand mitten auf dem Hof und trug zwei voll gefüllte Wassereimer. Als er mich bemerkte, blieb er stehen und stellte die Eimer auf den Boden. Lachend winkte er mir zu. "Auch schon auf den Beinen? Komm! Ich kann deine Hilfe brauchen! Dalan ist wieder mal total nervös", murmelte er mir noch mit gerunzelter Stirn zu. Sofort lief ich zu den Ställen. Dalan war eines der Pferde, die Gustav letztes Jahr gekauft hatte. Dalan stammte von einem fernen Land, dessen Namen ich noch nicht einmal kannte. Er war oft nervös und verängstigt und liess nur wenig Menschen an sich heran. Glücklicherweise gehörte ich zu denjenigen, die ihn ohne Probleme berühren durften.
Dalan benahm sich tatsächlich ziemlich nervös. Ständig tänzelte er in seiner Box und drückte mit dem Kopf gegen die Tür. Ärgerlich schnaubte er und trat mit den Hinterhufen gegen die Wand.
"Hey Grosser! Wenn du so weiter machst, verletzt du dich nur ernsthaft. Hör schon auf, komm! Ich bring dich nach draussen, da kannst du dich für eine Stunde austoben."
Eine halbe Stunde später sass ich endlich am Küchentisch und konnte etwas Essen.
Gemächlich beobachtete ich die Menschen um mich herum, versuchte herauszufinden, was sie dachten, was in ihren Köpfen vor sich ging. Aber so einfach war das gar nicht, denn die Meisten hatten die selbe, kühle, geschäftliche Miene aufgesetzt. Manche sahen auch gestresst oder wütend aus.
Plötzlich knallte die Tür auf und jemand stampfte wütend hinein. Magda. Ohne Zweifel. Sofort senkte ich den Kopf und versuchte mich unsichtbar zu machen. Ich hatte keine Lust, darauf, dass sie mich bemerkte und raus zur Arbeit schickte. Schliesslich wollte ich wenigstens heute mal wieder richtig Essen! Magda sah mich jedoch gar nicht.
"Die Gräfin hat Hunger! Macht euer bestes Mahl! Los! An die Arbeit! In zehn Minuten will ich eine anständige Vorspeise sehen!"
Zehn Minuten! Stöhnend fingen die Köchinnen an, zu arbeiten. Die Meisten hatten gerade ebenfalls gegessen und liessen ihre Mahlzeit stehen, um ein perfektes Mahl für die Gräfin und ihren Sohn zu bereiten. Allerdings waren sie heute nur zu dritt. Wie sollten sie da etwas anständiges hinbekommen? Seufzend stand ich auf und fing an, ihnen zu helfen. Das machte ich hin und wieder, wenn zu wenig Köchinnen da waren. Dankbar lächelte mich Amelie an, eine der jüngsten Köchinnen am Hof.
"Na, hast du schon den Sohn der Gräfin gesehen? Der soll Daphne nach ein ziemlich attraktiver Mann sein!" Aus Gründen, die ich nicht erkannte, erschien sofort das Bild des Blaublütigen vor meinem inneren Auge. Verwirrt blinzelte ich und schüttelte den Kopf, um das Bild wieder los zu werden.
Amelie seufzte verträumt. "Er soll wunderschöne graue Augen haben. Und das schönste schwarze Haar, das ein Mann nur besitzen kann. Und seine Figur soll umwerfend sein! Er soll Muskeln haben, wie kein Anderer! Und das charmanteste Lächeln aller Zeiten.." Nein, das konnte nicht der Kerl von vorhin gewesen sein. denn der hatte wohl kaum charmant gelächelt! Der gehörte eher zu den Arroganten. Zu der typischen blaublütigen Art von Mann.
"Nein, dem bin ich noch nicht begegnet."
"Hach.... wie gerne würde ich ihn sehen... und dann würde er sich in mich verlieben und mich mitnehmen...." Amelie versank in ihren Tagträumen und seufzte verzückt. Ich lächelte und arbeitete schweigend weiter. Ja, traumhafte Vorstellung... andererseits - ich wollte ja wohl rein gar nicht an einen Mann gebunden sein! Männer waren niemals so, wie in Amelie's Träumen. Das gab es einfach nicht.
"Herrschaften! Arbeitet mal anständig! Ihr werdet nicht fürs Träumen bezahlt! Ist die Vorspeise schon bereit? Nein?" Magda stampfte wütend durch die Küche und packte eine Köchin am Arm. Grob zerrte sie sie vor ihr Gesicht und blickte ihr finster in die Augen. "Wie lange soll es denn noch dauern?" Wütend stiess sie sie von sich und begutachtete jeden mit einem giftigen Blick. An mir blieb sie hängen. Ein kurzes Zögern liess ihren Blick sanfter werden, ehe sie sich zischend umdrehte und wieder hinaus rauschte.
"Puuh! Diese Hexe sollte selber mal kochen! Dann bemerkt sie vielleicht mal, wie viel Arbeit in einer guten Mahlzeit steckt." Resigniert stiess Amelie ihren Atem aus und seufzte herzerweichend lange.
Ich arbeitete bloss schweigend weiter und beeilte mich noch etwas mehr.
"Na also! Es geht ja doch! Warum denn nicht gleich so?" Magda überprüfte aufs Genauste unsere Kochkünste und probierte hin und wieder.
"Also, wer bringt die Speisen rauf?" Abwartend blickte sie jede Köchin kurz an. "Nein, wartet! Ich weiss, wer geht! Dala! Du hast ja jetzt sowieso nichts mehr zu tun! Also los! Geh, und bring die Speisen rauf!" Erschrocken blickte ich Magda an. Diese Hexe! Als hätte ich nichts Besseres zu tun! Sie wusste genau, wie sehr ich diese Menschen hasste, die dort oben im grossen Speisesaal ungeduldig warteten.
Seufzend nickte ich und trug drei voll gefüllte Tabletts hoch. Ein junger Diener half mir und drückte die grosse Tür auf. Mit gesenktem Kopf, wie es sich für eine meiner Rasse gehörte, trat ich ein und stellte das erste Tablett so leise wie möglich auf den grossen Tisch, an dem die Blaublütigen immer speisten. Immer noch mit gesenktem Kopf trat ich um den Tisch herum und schenkte jedem Wein ein.
Plötzlich fasste eine Hand von hinten an meinen Po und drückte leicht zu. Erschrocken zuckte ich zusammen und sah hoch - direkt in graue Augen, die spöttisch auf mein Décolleté blickten. Wütend zog ich die Augenbrauen zusammen und schlug nach seiner Hand. "Da ist aber jemand gar nicht ladylike. Das gehört sich nicht für eine Dame, nach einem Mann zu schlagen."
"Ach ja? Also gehört es sich für einen Eures Standes, nach meinem Körper zu greifen, als wäre er in Eurem Besitz?" Wütend blitzte ich ihn an. Er lachte leise und leckte sich anzüglich über die vollen Lippen. "Und wie sich das gehört, holde Maid!" Mit hochrotem Kopf wandte ich mich ab und rauschte aus dem Saal. Wütend knallte ich die Tür hinter mir zu und lief wieder hinunter, in die Küche.
Was für ein Arschloch! Nein, was für ein arrogantes Arschloch! Mit brodelndem Blut rannte ich durch die Küche, hinaus, in den Stall. Plötzlich stahl sich eine Träne über meine Wange und schon folgten ihr die Nächsten. Bald war mein Gesicht nass und salzig. Mit verschleiertem Blick rannte ich weiter, zu Dalan.
Mit einem beruhigenden Schnauben begrüsste er mich und drückte seinen grossen Kopf gegen meinen. Ich gab ihm einen zärtlichen Kuss und liess mich dann in das saubere Stroh sinken. Schluchzend blieb ich liegen, wünschte sehnlichst zu sterben. Ich wollte nur noch weg, raus aus diesem Loch.
Ein lauter Ton liess mich aufschrecken. Sofort war ich auf den Beinen, denn ich wusste genau, was dieser Ton bedeutete. Das Fest begann. Schnell öffnete ich die Box von Dalan und führte den Hengst hinaus. Die Kutsche der Gräfin und ihres Sohnes stand schon bereit und eben trat die Gräfin aus der Tür. Dicht hinter ihr lief ihr Sohn, das arrogante Arschloch ohne Manieren.
Ohne die Zwei auch nur eines Blickes zu würdigen, schwang ich mich auf den breiten Rücken des Tieres und schnalzte leise. "Los, Dalan! Auf geht's!" Sofort setzte er sich in Bewegung und lief in schnellem Trab durch das Tor des Gasthofes. Darius würde sich nicht aufregen, er war mit anderem beschäftigt und Gustav würde auch nie etwas sagen, das wusste ich gut genug. Schnell lenkte ich den grauen Hengst auf die Waldstrasse und verschwand nach kurzer Zeit mit ihm im Wald. Ein dünner Weg führte uns zum Stadtrand, verborgen von Laub. Danach ging es wieder auf der Strasse weiter, die mittlerweile breiter und ebener geworden war. Niemand war hier draussen noch auf den Strassen, alle waren in der Stadt. Laut hallten Dalans Hufe auf dem Boden wider. Jeder wird uns hören können, dachte ich. Schnell lenkte ich den Hengst ins weiche Gras und dämpfte somit die lauten Geräusche. Ich führte ihn an der Stadtmauer herum, bis wir zu einer verfallenen Treppe kam, die einst zu dem Theater der Stadt gehört hatte, von dem mittlerweile nur noch Ruinen übrig waren. Leise glitt ich von Dalans Rücken und setzte vorsichtig einen Fuss auf die unterste Stufe. Meine Ohren waren auf jedes noch so kleine Geräusch fixiert, das von einem Wächter kommen könnte, denn die Stadtmauer wurde in regelmässigen Abständen überwacht. Doch kein Laut war zu hören. Niemand schien dort hinten zu sein. Schnell setzte ich einen Schritt vor den anderen und erreichte bald die obere Breite der Mauer. Hastig duckte ich mich und schaute über sie hinweg, nach unten. Niemand war zu sehen. Ein Geräusch von hinten liess mich zusammenfahren. Dalan bewegte sich unruhig und blickte mich aus grossen Augen an.
"Dalan! Sei still! Geh zurück zum Stall, ich werde dich nicht mehr brauchen." Dalan schnaubte und lief davon, als hätte er mich genau verstanden. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, bevor ich über die Mauer kletterte und mich auf der anderen Seite wieder hinuntergleiten liess. Leise rannte ich zu einer Gasse und lauschte mit pochendem Herzen. Die Stadt war verbotene Zone, hier lebten nur Leute von Adel. In meinem Leben war ich erst einmal in der Stadt gewesen, und das war, als ich etwas gestohlen hatte und zwei Wochen in den Kerkern des Schlosses verbracht hatte. Eigentlich sollte ich gar nicht mehr leben, aber Duncan, einer der Dorfältesten und vermutlich auch wirklich der Älteste aus dem Dorf, hatte ein gutes Wort für mich eingelegt und mich somit wieder aus den Kerkern geholt. Warum er dies getan hatte, wusste ich bis heute nicht.
Schritte rissen mich aus meinen Gedanken und liessen mich noch kleiner zusammenkauern. Lautes Gelächter ertönte. Dann eine Stimme. "Gott, ihr Gesicht war zu köstlich! Das hättet ihr sehen müssen! Sie ist richtig zusammengefahren, als ich sie gekniffen habe und dann haben ihre Augen, diese wunderschönen Seen, wütend geblitzt. Man, was für ein Anblick das war!" Die Stimme kam mir seltsam bekannt vor. Kannte ich diesen Mann nicht? Nein, das konnte nicht sein. Doch! Das war der Sohn der Gräfin! Und er redete.... über mich? Nein, das wäre ja die Höhe! Die Stimme des Mannes wurde lauter, jetzt mischte sich jedoch noch eine zweite Männliche dazu. "Und dann? Was hat sie getan?" Aufregung war in seiner Stimme zu hören. "Sie hat mich angefaucht wie eine Wildkatze und ist rausgerannt", lachte dieses Arschloch. "Aber ich werde diesen Anblick nie mehr vergessen. Sie war so wunderschön, mit ihren hübschen roten Wangen die vor Scham regelrecht geglüht haben... " Was? Dieser Kerl fand mich schön? Nein, dann musste er jemand anderen gemeint haben. Ich wusste, ich war nicht hässlich, aber wunderschön war ich bestimmt nicht! Die Schritte waren vorbei und sie sprachen auch nicht mehr. Kaum waren die Geräusche ganz verstummt, huschte ich weiter.
Die Gassen waren eng, die Häuser hoch und herrschaftlich. Doch ich beachtete es kaum, lauschte nur konzentriert und lief weiter, bis ich am Rande des Stadtzentrums angelangt war.
Laute Stimmen hallten mir entgegen, Menschen strömten an mir vorbei, ignorierten mich jedoch glücklicherweise gänzlich. Schnell überquerte ich den Platz und lief die Engelsgasse hoch, eine der berühmtesten Gassen unserer Stadt.
Kutschen rasten an mir vorbei, Frauen in langen Seidenröcken liefen schnatternd hinterher, Männer in schwarzen Fräcken fluchten leise, hin und wieder quietschte jemand auf, wenn eine der Kutschen fast umkippte, Diener wuselten herum und befolgten die Befehle ihrer Herren. Alles war in Bewegung. Staunend betrachtete ich alles, prallte jedoch plötzlich gegen einen kleinen stämmigen Mann, der wütend anfing zu schimpfen. "Verdammtes Pack! Geh mir aus dem Weg, unnütze Magd!" Verdutzt trat ich zur Seite und liess ihn vorbei. Fluchend lief er an mir vorbei und verschwand in einer Gasse.
Kopfschüttelnd lief ich weiter, achtete jetzt jedoch mehr auf den Weg.
Nach weiteren zehn Minuten, erreichte ich endlich den grossen Garten der Stadt. Der Garten gehörte zu dem Schloss, war jedoch immer offen für das Volk. Schnell schlüpfte ich durch das Tor und rannte über die grosse Wiese. Bäume zäumten das weite, grüne Feld, das immer wilder und farbiger wurde. Tausend verschiedene Blumen verschönerten das traumhafte Bild. Aber das wohl Schönste hier, war die grosse, alte Trauerweide, die zu dieser Jahreszeit mit unzähligen weissen Blüten bestückt war. Sie funkelte strahlend weiss und erstreckte ihre langen Arme über eine riesige Fläche. Flink kletterte ich den Stamm hinauf und suchte mir einen geeigneten Platz, denn der Baum lag auf dem höchsten Punkt des Gartens und man konnte perfekt über das Arsenal des Schlosses und den grossen Wasserfall schauen. Bei dem Wasserfall würden die alljährlichen Wahlen der neuen Schüler stattfinden. Darauf freute ich mich schon. Die Wahlen waren immer etwas besonderes, denn das Wasser wählte die Schüler selbst. Alle Blaublütigen, die unter 25 Jahren waren, versammelten sich dann beim Wasserfall und tranken einen Schluck des Wassers. Bei den Auserwählten geschah immer etwas Aussergewöhnliches. Bei einem hatte der Wasserfall angefangen golden zu glänzen, bei einem anderen waren hunderte Fische aus dem Wasser gesprungen.
Und heute würden wieder solche Dinge geschehen. Die Sonne stand schon fast an ihrem höchsten Punkt, als die ersten Menschen auf das Schlossarsenal traten. Eine grosse Bühne war direkt beim Wasserfall aufgebaut worden. Auf Stühlen, die darauf standen, setzten sich die Leute nun und schauten neugierig zum Podest auf dem Duncan eine Rede halten würde. Schon bald trat der alte Mann vor die Leute und begann zu reden. Ich konnte ihn glücklicherweise gut verstehen und hörte neugierig zu.
Er sprach über die gute Jahreszeit, die Ernte, die in diesem Jahr sehr gut ausgefallen war, über die neuen Dinge der Nachbraländer und schliesslich kam er auf die Wahlen zu sprechen.
Duncan fesselte seine Zuhörer mit seiner Stimme, blickte jeden mit gütigem Blick an.
Plötzlich sah er auf, direkt zu meinem Baum. Nein, direkt zu mir! Er starrte mir doch tatsächlich direkt in die Augen!
Erschrocken machte ich mich klein, wollte nur noch unsichtbar werden.
Doch Duncan lächelte plötzlich sanft und gütig und nickte mir leicht zu. Erstaunt erwiderte ich das Lächeln etwas unsicher. Duncan verliess das Podest wieder und verschwand unter den Adligen, die auf die Wahlen warteten.
Noch immer etwas verdutzt wartete ich auf das Erscheinen des Königs, der die Wahl ansprach.
So in Gedanken bemerkte ich die zwei Soldaten nicht, die direkt zu meinem Baum liefen und zu mir hoch sahen.
"Hey, Kleine! Duncan lässt nach dir rufen, er möchte, dass du dabei bist!"
Erschrocken sah ich zu Boden, klammerte mich an den Ast fest.
Was? Warum wollte Duncan sie sehen? Oh Gott im Himmel, er würde sie doch nicht etwa verhaften, weil sie auf einen Baum des Königs geklettert war! Ängstlich starrte sie die beiden Männer an, die sie schon ungeduldig anblickten.
"Komm schon, Kleine!" Noch immer leicht panisch liess ich mich von dem Ast gleiten, landete mit einem geschmeidigen Sprung auf dem harten Boden.
"Ich... was will er von mir?", fragte ich unsicher und nervös.
"Keine Ahnung, komm einfch mit, dann weisst du's!" Grob packte der grössere mich am Arm und zerrte mich hinter sich her, direkt zu den Tribünen hinunter.
Kaum zwei Minuten später stand ich mit hochrotem Gesicht vor dem alten Mann.
"Dalania Desterisa del Lacchos! Ich hätte nie gedacht, dass ich dich nochmal hier sehen würde! Lass dich ansehen! Du bist ja eine richtige junge Dame geworden Dala! Und hübsch noch dazu!"
Vollkommen verwirrt über diese überschwängliche Begrüssen starrte ich den Mann stumm an. Eine leise Stimme in meinem Kopf fragte sich, woher er meinen ganzen Namen wusste.
In diesem Augenblick begann die Menge laut zu jubeln, der König betrat das Podest.
Noch nie hatte Dala den König leibhaftig und so nah gesehen und war erstaunt über das hohe Alter dieses Mannes.
Der König war recht klein, wirkte leicht gedunsen und seine Haut schimmerte rot und ungesund. Sein Lächeln wirkte kalt und künstlich.
Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 04.04.2012
Alle Rechte vorbehalten