Cover


Prolog




Wenn man durch eine Stadt läuft, die man noch nicht kennt, erwartet man vieles. Man möchte die Shoppingstreets finden, die guten Restaurants für kleine Portemonnaies sowie grosse kennen, möchte wissen wo der schönste Teil der Stadt ist, möchte die Bars und Diskos des Abends kennen und noch vieles mehr. Was man jedoch als normaler Mensch eher nicht kennen möchte sind die Rotlichtviertel, die dunklen, schmutzigen Gassen der Stadt will man auch nicht sehen... man verdrängt es regelrecht. Vergisst sie am liebsten. Und doch sind sie da, in jeder Stadt. Und ich, ich lebe in einem dieser Viertel. Gehöre zu diesen verdammten Menschen, zu den Frauen mit einem Nichts von einer Zukunft. Das Leben dort hinten ist kein Süssigkeitenladen, es ist hart, oft kalt, und einfach nur scheusslich. Hier in meinem Revier kennt mich niemand mehr als Helena van Dorsen, man nennt mich Hel. Hel, die Tochter Satans... was für ein Scheiss! Wäre ich seine Tochter würde ich dem Typen mal ordentlich in den Arsch treten!
Mein Leben ist jedoch wirklich die Hölle.
Jeden einzelnen Tag gibt es nur eines, Beine breit machen, Geld einsacken, Warten, wieder Beine breit machen und so weiter...
Im Winter ist hier das Leben noch schlimmer... man zittert, friert und keinen kümmerts.
Die junge Frau, die frierend am Strassenrand steht, ganz in Schwarz gekleidet, hohe schwarze Pumps trägt und lange rote Locken besitzt, das bin ich.
Verdammt,ist das kalt heute! Ich spüre schon meine Zehen nicht mehr. Und meine Finger sind ganz klamm! Aber ich muss noch warten, kann noch nicht in die schützende Wärme meiner Wohnung, die den Namen Wohnung nicht einmal wert ist.
Ein Auto hält hupend neben mir, im nächsten Moment steht ein junger Mann vor mir.
"Wie viel?", will er wissen. Mit gelangweiltem Ton antworte ich: "300, die Stunde", woraufhin er kurz das Gesicht verzieht und mich dann prüfend mustert. Sein Blick hält mir natürlich stand. Ich vermute mal, nur wegen meinem Körper und meinem Charakter, habe ich es hier, in diesem harten Geschäft geschafft zu überleben.
"Wenn du mich willst, musst du aber vorher zahlen!", raune ich ihm leise zu, wobei ich es jedoch ziemlich ernst meine. Zu oft hatte man mich betrogen, zu oft belogen.
"Wenn du nicht genügend hast, kannst du gleich wieder gehen."
Er lässt seinen Blick noch einmal kurz über meinen perfekten Körper gleiten und Gier blitzt darin auf.
Schliesslich nickt er entschlossen und holt ein schwarzes Portemonnaie aus seiner Hintertasche. Automatisch hebe ich meine Hand und nehme das Geld entgegen. Mit einem unterdrücktem Seufzen drehe ich mich um und gehe voran, in das kleine Hotel direkt hinter mir, in dem ich meine "Geschäfte" immer absolviere. Meine Arbeit mache.
Joe, der Besitzer des Hotels, nickt mir kurz zu und mustert den Kerl, der dicht hinter mir läuft und mir nicht gerade unauffällig auf den Arsch glotzt. Mich interessiert es nicht. Früher hätte es mich mit Stolz erfüllt, aber heute bin ich nur noch ein gefühlloses Ding, das jeden Tag die Beine für irgendwelche Männer breit macht.
Gefühle existieren für mich nicht mehr, sie sind damals gestorben, als man mich das erste Mal betrogen hat. Damals war ich gerade mal 7 Jahre alt, und schon zur Hure verrufen. Welch Ironie! Die Menschen waren scheinbar doch nicht so dumm, wie sie aussahen, jedenfalls hatten sie in meinem Fall recht.
Vor der Tür zu meinem "Arbeitszimmer" halte ich an und suche kurz den Schlüssel. Wärme schlägt uns entgegen, als ich die Tür öffne und eintrete, dicht hinter mir den Mann spürend, der es nun kaum noch erwarten kann. Kaum bleibe ich vor dem grossen Bett stehen, als mich auch schon sein kalter Atem im Nacken trifft. Sanfte Küsse drückt er mir auf dem Hals, bevor er mich zu sich umdreht und heiss und hungrig küsst. Kurz lasse ich es zu, stosse ihn dann aber von mir. Küssen ist bei mir verboten. Diesen Teil, diese Zärtlichkeit, ist für den Mann, dem ich irgendwann einmal meine Liebe schenken darf. Und da ich nicht mehr an die Liebe glaube, wird dieser Zeitpunkt nie kommen.
Er brummt kurz genervt, ehe er sich jedoch weiter daran macht, sich mit dem zarten Fleisch unterhalb meines Halses zu begnügen.
Seine Küsse hinterlassen eine kalte Spur auf meiner Haut, wandern immer weiter nach unten.
Gierig reisst er mir das kurze Kleid vom Leib und drängt mich auf das Bett. Stumm lasse ich es zu, dass er sich über mich stützt, seinen pochenden Unterleib gegen meinen reibt. Kurz sorge ich noch für Verhütung, auf Geschlechtskrankheiten habe ich absolut keinen Bock.
Ein harter Biss in meinen linken Nippel lässt mich leise aufschreien, mit Lust hat dies jedoch nichts zu tun.
Er ignoriert es und küsst mich weiter. Währenddessen positioniert er sich zwischen meinen gespreizten Schenkeln und dringt schliesslich mit einem harten Stoss in mich ein. Mein Blick gleitet zu der kleinen Uhr auf dem Schrank, noch 40 Minuten.
Der Mann über mir verschnellert sein Tempo, wird immer brutaler, seine Bewegungen immer hastiger. Ich spüre kurz, wie sein Glied anfängt zu zucken, er auf einen Orgasmus zurast. Schnell blende ich ihn wieder aus, täusche mit einem heftigem Stöhnen ebenfalls einen Orgasmus vor und warte darauf, dass er sich wieder aus mir zurück zieht. Tja, falsch gedacht Hel! Anstatt sich wieder aus mir zurück zu ziehen, sinkt er schwer atmend auf mich hinab, begräbt meinen zierlichen Körper unter seinem.
Natürlich ohne Rücksicht auf meine zerquetsche Lunge zu nehmen, in die ich fast keine Luft mehr bekomme.
Kraftlos versuche ich ihn von mir zu stossen, ohne Erfolg.
Meine Unterlegenheit scheint er zu mögen, er steht wohl auf Dominanz, jedenfalls spüre ich im nächsten Moment, wie sich sein erschlafftes Glied wieder aufrichtet, mich wieder gänzlich aufspiesst.
Ein schmerzhaftes Stöhnen entfährt mir, als er sich wieder anfängt zu bewegen. Sein Blick bleibt an meinen Brüsten hängen, gierig, besitzergreifend. Mit äusserster Gewalt bringe ich mich dazu, nicht meine Arme zu heben und meine Blösse vor diesem Mann zu verdecken.
Nach ein paar Minuten kommt er wieder zum Orgasmus, ergiesst sich heiss in meinem Körper, und begräbt mich zum zweiten Mal unter sich. Ich habe Angst, dass das Kondom unter der zweiten Ladung reissen könnte.
Keuchend, schwitzend liegt sein Körper auf meinem. Wieder versuche ich ihn von mir zu stossen, will ihn nicht länger in mir spüren. Etwas tief in mir wehrt sich gegen diesen Mann, ekelt sich vor ihm.
Schliesslich lässt er nach und rollt sich erschöpft von meinem Körper.
Sofort springe ich auf und sammle meine Kleider zusammen.
Kaum eine Minute später stehe ich wieder vollständig bekleidet vor dem Bett und schaue auf den Mann nieder, der immer noch vor mir, auf dem Bett liegt und leise keucht. Sein Atem geht schnell und stossweise.
"Du hast zehn Minuten Zeit, dann bist du hier raus!", sage ich noch herrisch, um ihm zu zeigen, dass ich keine einfach Hausdirne bin.
Mit mir legt man sich besser nicht an. Das weiss jeder in der Stadt und der Umgebung.
Der Kerl schnauft zur Bestätigung und ich verziehe mich für die zehn Minuten im Bad.
Tief Luft holend, lehne ich mich an die Tür, die ich geschlossen habe.
Mein Blick wandert zu dem körpergrossen Spiegel, neben der Dusche. Eine rothaarige Schönheit blickt mir müde entgegen. Ich brauche dringen etwas Schlaf! Gestern war schliesslich Samstag und da arbeite ich immer durch. Jetzt sieht man mir die ersten Zeichen der Erschöpfung an, zu meinem Pech nicht genug, um zu sagen, dass ich aufhören könnte.
Nein, die Augenringe sind nur schwach sichtbar und auch sonst sieht man mir die Müdigkeit noch nicht so fest an.
Meine Hand wandert langsam hoch und zupft mir träge eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die mir vorwitzig die Sicht versperrt hat.
Draussen höre ich leise etwas rumpeln und zucke kurz zusammen. Da ist wohl jemand umgekippt, schiesst es mir amüsiert durch den Kopf. Allerdings ist es mir egal. Soll er sich doch das Genick brechen! Nein, lieber nicht. Dann hätte ich nämlich seine Leiche am Hals.
Das würde sich nicht gut sehen lassen in meinem Ruf.
Mit einem genervten Schnauben erhebe ich mich schliesslich wieder und öffne vorsichtig die Tür.
Tatsächlich liegt der Kerl auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten. Egal. Soll der doch da liegen bleiben. In drei Minuten schiebe ich ihn einfach auf den Gang, wenn der sich nicht rührt.
Stumm warte ich und blicke auf den Freier. Er rührt sich noch immer nicht. Langsam nervös blicke ich auf die Uhr. Noch ein paar Sekunden.
Sofort springe ich erleichtert auf und packe seine Füsse. Ächzend schleppe ich den grossen Körper durch das kleine Zimmer. Draussen im Gang lasse ich ihn erleichtert fallen und will gerade die Tür wieder schliessen, als mir etwas auffällt.
Eine dunkelrote Flüssigkeit breitet sich auf seinem Shirt aus. Blut?
Panisch starre ich den Mann an. Schliesslich überwinde ich meinen Ekel und trete näher. Vorsichtig drehe ich ihn mit meinem Fuss um - und weiche geschockt zurück. In seiner Brust klafft ein kleines Loch, direkt über seinem Herz.
Ein Schuss? Eigenartig, das hätte ich doch gehört!
Ist der wirklich tot? Langsam beuge ich mich näher und lausche nach seinem Herzschlag. Nichts. "Oh mein Gott! Muss das sein? Ich will nichts mit einer Leiche zu tun haben. Und schon gar nicht mit Mord!"
Angst strömt durch meine Adern. Vielleicht sind die Mörder ja noch hier und warten, bis ich in ihre Schussbahn komme?!
Fuck!
Fluchend steige ich über den toten Kerl und renne hinunter. Joe sieht mich überrascht an. "Was ist los, Helena?" Joe ist der einzige, der mich so nennen darf.
Aber das tut jetzt nicht zur Sache, schliesslich hab ich eine Leiche oben!
"Joe, Hilfe! Der Kerl, dieser Freier von vorhin, er ist..." Meine Stimme versagt. Verzweifelt suche ich nach Worten. "Er... oh mein Gott! Joe er ist... tot!" Fluchend reisst Joe seine Augen auf und starrt mich entgeistert an. "Was?! Warum dass denn? Hast du den Kleinen etwa umgebracht?" "Nein, ich hab mich im Bad eingeschlossen. Als ich wieder zurück kam, lag er auf dem Boden. Ich dachte, er wäre ohnmächtig und hab ihn auf den Flur geschleppt. Dann fiel mir auf, dass da Blut ist und hab ihn... hab ihn umgedreht. Er wurde... erschossen, vermute ich mal." Eine Träne rinnt über meine Wange. "Gott Joe! Was soll ich denn jetzt machen?" Joe flucht leise und murmelt dann: " zuerst informieren wir mal die Bullen. Die werden schon wissen, wie's weiter geht. Verflucht, ausgerechnet in meinem Hotel!"
Ich nicke, fühle langsam, wie mein Körper ganz taub wird.
Ein Bild blitzt vor meinem inneren Auge auf:
Ich liege wimmernd in einer Ecke, Kälte vereist mir meinen Körper, unter meinen nackten Füssen spüre ich glitschiges Blut.
Trotz der Dunkelheit weiss ich, dass um mich herum Leichen liegen.
Zum Teil sind die Toten nicht einmal mehr ganz.... Direkt neben mir liegt ein abgehackter Arm.
Diese Tatsache lähmt mich.
Schritte nähern sich. "Schätzchen... du musst keine Angst haben... ich werde dir schon nichts tun! Komm zu Mama... ich werd' dich einwickeln, dir Kekse geben. Du hast bestimmt schon Hunger... komm!"
Die Stimme der Alten hörte sich verzerrt an, weit weg. Ich weiss, dass sie mich anlügt, ich weiss, dass mich da oben noch viel Schlimmeres erwartet, als hier unten, geschützt von toten Menschen.
So leise wie nur möglich taste ich auf dem Boden nach einem Körper. Meine Hände ergreifen etwas Kaltes, Glitschiges.
Ohne über Ekel nachzudenken, tauche ich meine Finger in das kalte Blut der Wunde und besudle mich damit. Ein Beben durchzieht meinen kleinen Körper. Überall liegt der Geschmack von totem Blut, Verwesung.
Er überlagert alles, umhüllt mich, erstickt mich...


"Helena, kommst du? Die Bullen sind gleich da!"
Joe reisst mich mit seiner Stimme sofort wieder aus diesem Bild.
Allerdings kann er die Erinnerung nicht einfach zum verschwinden bringen. Die Bilder geistern in meinen Gedanken herum. Es fühlt sich so an, als würde eine eiskalte, eiserne Hand, mein Herz zerquetschen. Langsam, schmerzhaft.
Keuchend hole ich Luft und unterdrücke den Würgereiz, der mich überkommt. Ohne Erfolg.
Panisch spüre ich, wir mir mein Essen wieder hochkommt und stürme auf die Hoteltoilette.
Würgend schliesse ich das Klo in eine Umarmung.
"Igitt!" Keuchend rapple ich mich wieder hoch und spüle mir den Mund mit Leitungswasser aus.
An der Toilettentür klopft es plötzlich, erschrocken schaue ich auf und rufe: "ja?"
"Alles in Ordnung Kleines?" Joe hört sich leicht besorgt an.
"Ja, ja... ich werd's schon überleben..."
Vorsichtig wage ich einen Blick in den Spiegel und schrecke heftig zusammen. Oh mein Gott!
Ich sehe scheisse aus, aber so was von!
Meine Haut ist kreidebleich, meine Lippen schimmern leicht bläulich, meine Augen sehen stumpf aus. Wo ist die leuchtende Schönheit hin?
Weg, antwortet eine traurige Stimme, tief in meinem Innern. Schon vor 14 Jahren verschwunden. Als SIE kamen.
Eine winzige Träne flüchtet über meine Wange. Ich bemerke es gar nicht.
Zitternd wasche ich meine Hände mit heissem Wasser ab, trockne sie kurz an einem Handtuch und verlasse leicht taumelnd das schmutzige Klo.
Wie von weit weg höre ich die Sirenen der Polizei, im nächsten Augenblick blitzen draussen Blaulichter auf. Keine zwei Sekunden später wird die Tür heftig aufgestossen, ich zucke erschrocken zusammen.
Vier grosse, bullige Männer in Uniform, allesamt eine Waffe in der Hand, betreten das Hotel und blicken sich suchend um. Der grösste, ein schwarzhaariger Polizist mit grauen, blitzenden Augen und leichtem Dreitragebart, erblickt Joe und kommt sofort auf uns zu.
"Chief Capster! Ich hätte nicht erwartet, dass sie dich schicken." Joe hebt verwundert eine Augenbraue und schüttelt dem Mann die Hand. Capster nickt mit ausdrucksloser Miene und blickt kurz in meine Richtung. Augenblicklich ducke ich mich ein bisschen, mache mich klein.
"Ist sie das?", fragt der Bulle und nickt abschätzig in meine Richtung. Normalerweise würde mir diese Geste nichts ausmachen, ich bin es gewohnt so angesehen zu werden, doch dieser Mann weckt eigenartige Gefühle in mir. Ich will nicht, dass er mich als Strassennutte ansieht, will, dass er in mir die normale, schöne Frau sieht, die ich eigentlich wäre, ohne das ganze drumherum.
Joe nickt leicht und wirft mir einen besorgten Blick zu. "Alles klar, Kleines?", fragt er leise und mustert mich. Ich nicke leicht und starre den Bullen ausdruckslos an.
"Jack, kümmere dich bitte um die Dame!" Bei dem Ton, mit dem er das letzte Wort sagt, kriecht ein kalter Schauer über meine Wirbelsäule. Mit einem Mal fühle ich mich mehr den je wie Abschaum. Ich bekomme nicht mehr richtig mit, wie einer der Polizisten mich mit festem Griff packt und aus dem Hotel zerrt. Wie in Trance taumle ich ihm hinterher, folge ihm zu dem blauen Streifenwagen, auf dem noch immer das Blaulicht rotiert.
Jack, ich glaube mich daran zu erinnern, dass der Bulle ihn so genannt hat, öffnet schwungvoll die hintere Tür des Wagens und schiebt mich hinein. Eine Sekunde später hat er den Wagen umrundet und sitzt neben mir. Ausdruckslos starre ich den dunklen Stoff an, mit dem die Kopfstütze des Beifahrersitzes gepolstert ist.
"Wie ist dein Name?", fragt der Bulle mich mit beruhigendem Tonfall.
"Hel", flüstere ich nach einer Ewigkeit, in der der Bulle geduldig schweigt.
"Gut, Hel. Kannst du mir erzählen, was passiert ist? Lass dir Zeit."
Der blonde Mann mustert mich genau, registriert jede kleinste Bewegung von mir.
Wieder bleibt es eine ganze Weile lang still, ich versuche krampfhaft mich zu konzentrieren. Die Uhr auf dem Armaturenbrett des Autos springt von 18.36 Uhr auf 18.37 Uhr.
Stockend beginne ich zu erzählen, wie der Mann mit seinem Auto vor mir anhielt und mir das Geld in die Hand drückte.
Mit Entsetzen registriert ich in dem Moment, dass derselbe Wagen fünf Meter entfernt von dem Streifenwagen steht. Diese Erkenntnis bringt mich total aus dem Konzept. Erneuert muss ich mich sammeln.
Zum zweiten Mal beginne ich stockend zu erzählen und diesmal schaffe ich es.
Mit der Zeit werde ich immer schneller, meine Stimme ist monoton und total emotionslos. Die Stelle mit dem Beine breit machen lasse ich aus, ich erwähne nur leise, dass er zu den Brutalen gehörte.
Schweigend hört mir der blonde Polizist zu, nickt hin und wieder abwesend.
Endlich erreiche ich das Ende meiner Erzählung, bei der Stelle, als die vier Polizisten hereinkamen.
Emotionslos starre ich erneuert auf den Stoff der Sitze und schlucke schwer.
Jack betrachtet mich nochmal, ziemlich intensiv. Mir ist es egal. Ich habe nichts zu verbergen. Schon lange nicht mehr.
Mit einem Mal bemerke ich das leichte Zittern in meinen Gliedern, spüre, wie sich meine Muskeln immer wieder heftig verkrampfen. Abwesend hole ich tief Luft, um mich etwas zu beruhigen, aber tief in mir drin weiss ich, dass es nicht klappen wird.
"Hel? Es tut mir leid, aber wir müssen dich mitnehmen, auf's Revier. Du musst deine Version nochmal erzählen und uns genaue Angaben geben."
Mein Herz setzt kurz aus, als er das Wort "Version" sagt. Für mich spricht das alles aus, was ich befürchtet habe. Er glaubt mir nicht. Kein Wort glaubt er mir.
"Schaffst du das?"
Resigniert nicke ich und lehne meinen zitternden Körper gegen die kalten Polster. Das Zittern nimmt immer mehr zu, steigert sich mehr und mehr und macht sich lautstark bemerkbar, da meine Zähne mittlerweile aufeinander klappern.
Tatsächlich ist es draussen mittlerweile noch kälter geworden, aber es ist nicht diese Kälte die mich zum Zittern bringt, an die habe ich mich längst gewöhnt. Nein, es ist eine Kälte, die tief aus meinem Innern kommt.
Eine schwache, kaum greifbare Erinnerung schiesst durch meine Gedanken. Ich weiss, dass ich diese Kälte kenne, kann allerdings nicht sagen, woher.
Es raschelt, als Jack seine Jacke auszieht und sie mir ohne ein Wort auf den Schoss legt. Ich bekomme es nicht mit, will es auch nicht.
Meine Hände verkrampfen sich in meinem Kleid, suchen verzweifelt nach Halt.
Jack seufzt und starrt aus dem Fenster.
Nach einer halben Ewigkeit öffnet sich die Tür des Hotels und der grosse Bulle kommt heraus. Mit grossen Schritten tritt er zu dem Streifenwagen, umrundet ihn und öffnet die Fahrertür.
"Okay, wir können los. Die Leute von der Untersuchung kommen in zehn Minuten. Daniel und Gerry warten in der Zeit und kommen später nach." Jack brummt etwas zur Bestätigung seiner Worte. Capster, der Bulle, knallt mit einem Ruck die Tür zu und wirft einen Blick nach hinten. Mit gerunzelter Stirn betrachtet er die Jacke seines Kollegen, die noch immer unberührt auf meinen Beinen liegt. Mittlerweile verströmt sie eine angenehme Wärme und das Zittern lässt ein bisschen nach, trotzdem schaffe ich es nicht, mich darin einzuwickeln.
Mit einem sanften Ruck erwacht der Wagen zum Leben und Capster wendet ihn geschickt.
Schweigend fahren wir durch die Stadt. Die Nacht kommt langsam auf, die Kälte vertreibt die Menschen von den Strassen.
Sehnsüchtig werfe ich einen Blick in ein kleines Café, in welches man durch eine Glasfront rein sehen kann.
Die Menschen sitzen lachend in kleinen Kreisen, unterhalten sich angeregt, albern herum, geniessen die Wärme. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre nie auf dieser Welt gelandet. Ich wünsche mir, meine Mutter wäre an ihren Drogen erstickt. Oder mein Vater hätte sie nie bestiegen.
Dann wäre es ihnen vermutlich auch besser ergangen, ohne mich im Schlepptau.
Aber was soll man machen? Ich bin nun mal auf diese Welt gekommen und muss mein Leben so hinnehmen, wie es eben ist. Hart und kalt. Brutal und abstossend.
Jack legt eine Hand auf meinen Arm, drückt leicht zu und zieht so meine Aufmerksamkeit auf sich.
"Wir sind da", murmelt er und schaut mir nur ganz kurz in die Augen, als hätte er Angst vor dem, was er dort vielleicht erblicken würde. Ich nicke bloss stumm und starre ins Nichts hinaus.
Meine Gedanken schweifen wieder zurück, zu der Leiche des Fremden. Ein kalter Schauer rieselt über meinen Rücken, hinterlässt eine unangenehme Gänsehaut. Mit einem Mal fängt das Zittern wieder an. Erneuert verkrallen sich meine Hände in meinem Kleid.
Die Tür auf meiner Seite wird plötzlich mit einem Ruck aufgezogen und der grosse Bulle beugt sich finster blickend zu mir runter.
"Verlassen Sie bitte den Wagen, Miss!", knurrt er schlecht gelaunt und ich zucke zusammen, obwohl ich die Worte nicht wirklich verstanden habe. Langsam sickern sie in mein Gehirn, aber der Sinn der Worte bleibt mir noch eine Weile verborgen. Erst als der Bulle mich hart packt und aus dem Wagen zerrt, begreife ich allmählich, was er will.
Jack's Jacke fällt zu Boden, aber weder ich, noch der wütende Bulle bemerken es.
Plötzlich kommt ein eigenartiges Gefühl in mir hoch, ich fühle mich mit einem Mal total leicht und unbeschwert. Mein Blick wandert zu der Hand, die meinen Arm noch immer fest umgriffen hält. Fehlt nur noch, dass er mir die Hände hinter den Rücken dreht und mich mit Handschellen fesselt, schiesst es mir belustigt durch den Kopf.
Ein hysterisches Kichern gluckst durch meine Kehle und bricht laut zwischen meinen Lippen hervor. Ein Schnauben ertönt dicht hinter mir, ehe ich noch fester gepackt werde und Chief Capster mich rücksichtslos ins Revier schiebt.
Meine hohen Pumps bleiben irgendwo hängen, ich stolpere und werde brutal aus dem Gleichgewicht geworfen.
Reflexartig reisse ich mich los, um mich aufzufangen, doch im nächsten Augenblick liege ich in starken Armen, die mich an eine harte Brust drücken.
Capster seufzt leise und schiebt mich grob von sich. Ein Blick auf seine gequälte Miene lässt das Hochgefühl schlagartig verschwinden. Erneuert wünsche ich mir, keine Prostituierte zu sein, sondern eine normale Frau. Mit gesenktem Kopf schleiche ich ihm hinterher, wie ein geprügelter Hund.
Das Revier ist relativ gross, allerdings wirkt es zu dieser Stunde schon recht leer und kalt. Die Räume sind in einem schlichten Weiss gestrichen, was dem ganzen einen ziemlich isolierten Eindruck verleiht. Fast so, als würde man sich in einem Krankenhaus befinden oder einer psychiatrischen Klinik. Der Gedanke macht mir Angst.
Capster führt mich durch zwei lange Gänge, die nur von grellen Neonröhren beleuchtet werden. Ausserdem ist es hier drin fast so kalt, wie draussen, weshalb ich erneuert zittere und friere, diesmal allerdings wirklich aufgrund der Temperatur.
Vor einer eisernen Tür hält er an und greift nach dem Schlüsselbund, der an seinem Pistolenhalfter festgemacht ist. Mit geschickten Griffen schliesst er die Tür auf und schiebt mich in den kahlen Raum.
"Es kommt gleich jemand. Setzen Sie sich einfach schon", brummt Capster und wirft die Tür wieder ins Schloss.
Obwohl ich weiss, dass es nicht nötig ist, versuche ich die Tür aus einem Impuls heraus zu öffnen. Erfolglos, natürlich.
Resigniert blicke ich mich in dem kleinen Raum um, der nur von einer schwachen, nackten Glühbirne erhellt wird, deren Licht immer wieder kurz flackert. Ich hoffe, dass sie den Geist nicht aufgibt, solange ich hier drin alleine bin.
Ein Holztisch nimmt den meisten Platz ein, rundherum ein paar alte Stühle. Zögernd setze ich mich auf einen der Stühle, um meine Beine ein bisschen zu entlasten.
Mein Blick wandert zu der rechten Wand, die vollständig von einem Spiegel bedeckt wird.
Obwohl ich keine Ahnung habe von Polizeirevieren und Ähnlichem, weiss ich, dass sie mich durch den Spiegel beobachten können. Es ist mehr ein Gefühl, als etwas, das ich mit Sicherheit weiss.
Stumm vor mich hin starrend warte ich.
Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht. Zehn Minuten? Nur drei? Vielleicht auch eine ganze halbe Stunde?
Nach einer Ewigkeit nähern sich endlich Schritte auf dem Gang, ein paar Sekunden später verstummen sie direkt vor der Tür, ein Schlüssel klimpert.
Ich höre, wie derjenige den Schlüssel im Schloss dreht, höre die Tür aufgehen.
Es ist mir egal. Ich bleibe mit dem Rücken zu der Tür sitzen, wende mich nicht um, um zu sehen, wer herein gekommen ist. Schweigend starre ich an die kahle Wand mir gegenüber.
Ein leises Räuspern erklingt.
Anspannung macht sich in mir breit, trotzdem reagiere ich nicht. Die Person räuspert sich nochmal, diesmal lauter.
Ich reagiere nicht.
"Ähm... Miss? Hel..?", fragt eine etwas unsichere Stimme, eindeutig ein Mann.
Die Worte kommen mir fremd vor, als wären sie nicht in meiner Sprache gesprochen worden. Trotzdem habe ich das Gefühl, langsam eine Reaktion zeigen zu müssen. Langsam drehe ich mich um und mustere den kleinen Mann, der mich aus grossen Augen anstarrt.
Durch die langen, langweiligen Tage in meinem Nuttenleben habe ich mir die Beobachtung angewöhnt.
Automatisch habe ich mit der Zeit angefangen, meine Kunden und Rivalinnen zu analysieren. Diese antrainierte Gabe hilft mir ungemein, denn sofort bemerke ich, dass die Nervosität nur zum Teil echt ist.
Menschen fangen unter Druck, in Angstsituationen und bei Stress an zu schwitzen. Manche weniger, manche mehr. Aber alle ein bisschen, und meist wird dies bei den Händen am deutlichsten.
Der Mann verknotet die Hände zwar nervös, doch das Ausbleiben von Schweiss verrät ihn. Ausserdem weiss ich durch seine Statur, dass er mit ziemlicher Sicherheit zu den Menschen gehört, die unter Stress schnell ins Schwitzen kommen.
Ich nicke ihm leicht zu und starre ihn an.
Augen waren ebenfalls ein sehr interessantes Thema bei meinen Beobachtungen gewesen. Wenn man jemand anstarrt, wird derjenige nervös.
Diese Wirkung lässt erst nach, wenn man den Augenkontakt bricht. Allerdings mache ich keinerlei Anstalten diesen Kontakt zu dem Mann zu unterbrechen. Ich spüre, wie sich die Atmosphäre ändert. Jetzt ist er endlich wirklich nervös.
Um dies zu überspielen, tritt der Mann näher und zieht einen Stuhl zu sich, um sich zu setzen. Sofort fällt mir der grosse Abstand auf, den er zwischen uns zu bringen versucht.
Ein kaltes Lächeln huscht über meine Züge.
Mein Blick wandert kurz du dem Spiegel, ehe ich, auf sein Bitten hin, langsam erneuert die Geschichte mit dem Freier erzähle.
Ich beobachte den Fremden und präge mir seine Bewegungen genau ein. Als ich bei der Stelle mit der brutalen Art des Verstorbenen ankomme, huscht seine Zunge aus dem kleinen Mund und fährt blitzschnell über die Lippen. Seine Pupillen vergrössern sich fast unmerklich. Aber nur fast.
Ich beschreibe die Szene, in der ich den Mann umgedreht habe und seinen Tod feststellte und zu meiner Verwunderung runzelt der Mann ganz leicht die Stirn.
Ansonsten lässt er sich nichts anmerken, hört nur zu. Ich beende die Geschichte wieder bei der Stelle, als die Bullen reinkamen und verfalle in Schweigen.
"Das äh... war also Ihre Version der Geschichte. Ich danke Ihnen für die Zeit, die Sie sich genommen haben..."
Deutlich kann ich den Schweiss auf seiner Stirn sehen, als er sich erhebt und zu der Tür trippelt. Schwerfällig hält er an und dreht sich mir nochmal zu.
"In ein paar Minuten wird ein Mann zu Ihnen geschickt. Er wird Sie... äh.. zu einem Raum bringen... Wir müssen Sie leider noch hier behalten, bis wir Ihre Geschichte überprüft haben." Damit verschwindet er fluchtartig und lässt mich zurück.
Wieder wandert mein Blick zu dem Spiegel.
Zu gerne hätte ich gewusst, wer sich alles dahinter befindet.

☼☼☼



Mit kalter Miene sass sie da.
Die Hure. Die wunderschöne Hure.
"Hey Capster, starrst du sie schon wieder an? Ich sag dir, die Kleine verbirgt was!"
Daniel nickte Max, seinem Partner, leicht zu, ohne die junge Frau aus den Augen zu lassen.
Sie wusste, dass sie hinter dem Spiegel standen und sie sahen. Sie wusste es.
Diese Tatsache machte den Polizisten nicht stutzig, in jedem noch so schlechten Bullenkrimi wurde dieser Trick gezeigt.
Nur ihr Verhalten, das verwirrte ihn.
Vorhin, im Auto hatte sie noch total zerbrechlich auf ihn gewirkt.
Jetzt, mit dieser kalten Miene, wirkte sie wie der ausgebildete Profikiller.
Jack hatte ihm erzählt, dass sie es fast nicht geschafft hätte, das genaue Vorgehen zu schildern, sie wäre den Tränen nahe gewesen, hatte er behauptet. Und jetzt? Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken hatte sie Migger alles erzählt. Da waren keine Tränen, nicht einmal das kleinste Zögern hatte er gesehen. Daniel war sofort klar, dass die Kleine eine ausgesprochen gute Schauspielerin war.
Allerdings stellte sich ihm die Frage, wo sie die Wahrheit sagte und welches Verhalten das echte war: die zerbrechliche Frau, oder die kalte Killerin?
Frustriert rieb sich Daniel über das Kinn, musterte die Hure nochmal genau und speicherte jedes Detail in seinem Gehirn ab.
Irgendwie kam sie ihm merkwürdig bekannt vor, doch konnte er nicht sagen, woher. Vielleicht hatte er sie mal auf einem Streifzug gesehen.
"Max, finde alles über die Kleine raus. Such in jedem Rattenloch! Bis morgen will ich einen Bericht über ihr ganzes Leben sehen!"
Max verdrehte genervt die Augen. "Man, Danny! Muss das sein? Warum muss ich das machen? Warum kann sich nicht der Neue dahintersetzen?"
Daniel warf dem Neuling, einem schmächtigen Burschen ohne viel Rückgrat, einen Blick zu und schüttelte entschlossen den Kopf.
"Nein, du bist der Beste! Auf deine Fähigkeiten kann ich mich hundertprozentig verlassen, ausserdem will ich bis Morgen ein paar Anhaltspunkte zu ihr haben. Ich glaube kaum, dass Rick das schafft. Er hat keine Ahnung von Recherchen. Ausserdem kommt sie vom Strich, was das ganze noch schwieriger und komplizierter macht. Und jetzt los, mach dich an die Arbeit!"
Max grummelte wütend und warf Rick, dem Neuling, einen anklagenden Blick zu.
"Aber da du ja so versessen darauf bist, ihn in die Kunst des Recherchierens einzuführen, schlage ich vor, du nimmst ihn mit und zeigst es ihm gleich."
Daniel schenkte seinem Kumpel ein schiefes, spöttisches Lächeln.
Max hätte jetzt liebend gerne einen auf stur gemacht, doch er hatte den Unterton aus seinen Worten gehört und wusste, dass dies keine Bitte war, sondern ein Befehl.
"Schon okay, alles klar. Komm Kleiner!", fügte er an Rick gewandt hinzu, der ihn wütend an blitzte. Trotzdem erhob er sich und verschwand zusammen mit dem idiotischen Bullen.
Endlich war Daniel alleine. Unbewegt starrte er die Frau hinter der Scheibe an, die sich noch immer nicht gross gerührt hatte und an die Wand starrte. Mit einem leisen Seufzer gab er es auf und erhob sich.
Langsam schloss er die Tür auf, dachte nach, wohin er sie jetzt stecken konnte.
Er wollte sie nicht in eine Zelle stecken, das kam ihm geschmacklos vor. Sollte er sie in seinem Büro einschliessen?
Hel - was für ein Name! - blickte nur kurz kalt zu ihm auf und starrte sogleich wieder auf die kahle Wand.
Nein, er würde sie in die Zelle stecken. Niemals würde er sich von ihrer Schönheit blenden lassen.
Er packte ihren zierlichen Arm und zerrte sie aus dem Stuhl.
"Geht's auch ein bisschen netter?", fauchte sie ihn an und riss ihren Arm los.
Ohne eine Antwort zu geben, griff Daniel erneuert nach ihrem Arm und hielt sie mit stählernem Griff fest.
Auch wenn es ihm widerstrebte, brachte er sie zu der grössten Zelle, die neben einem Bett und der Toilette noch einen Schreibtisch besass. Mit gerunzelter Stirn betrachtete Hel die Gitterstäbe und den dahinter liegenden Raum.
"Morgen kannst du vielleicht schon wieder raus."
Daniel schnaubte genervt, als sie bloss eine Augenbraue hob und ihn wütend an blitzte.
Ohne ein weiteres Wort schob er sie in die Zelle und verschloss sie hinter ihr.

☼☼☼



Super.
Die Heizung hier drin sollte auch mal wieder angesehen werden. Sie funktioniert nämlich nicht!
Wütend starre ich den weissen Kasten an, der mit der Wand verbunden ist und kaum Wärme abgibt. In der Zelle ist es verdammt kalt, allerdings bin ich es gewöhnt und kann froh sein, jetzt nicht draussen zu stehen.
Misstrauisch betrachte ich den Raum, der durch die kahlen Betonwände und die alte Toilette aussieht, wie aus einem schlechten Film. Das Bett sieht verdammt unbequem aus, aber auch das bin ich gewöhnt. Trotzdem macht es mich unfassbar wütend, dass ich hier jetzt festsitze, unschuldig. Verdammt, und das nur wegen diesem Kerl! Musste der sich ausgerechnet bei mir erschiessen lassen?
Mit einem resignierten Seufzer setze ich mich auf die harte Matratze, die irgendwie müffelt, und mustere die alte, abgewetzte Wolldecke darauf. Angeekelt verziehe ich das Gesicht. Die Matratze ist nur mit einem alten, billigen Bezug bezogen, auf dem in der Mitte ein grosser Fleck prangt. Was das mal war, will ich lieber nicht genauer wissen.
Vorsichtig wälze ich mich nach hinten und lehne mich an die Wand an. Als es immer kälter wird und ich das Klappern meiner Zähne registriere, wickle ich mich halbherzig in die Decke ein und versuche nur noch so flach wie möglich zu atmen.
Irgendwann lasse ich alle Ekelgefühle verschwinden, wickle mich fest in die Decke und versinke in einem unruhigen Schlaf.

Ein Schlüssel, der im Schloss gedreht wird, weckt mich auf.
Stöhnend versuche ich mich gerade aufzurichten, denn mein Rücken schmerzt höllisch. Fluchend strample ich mich aus der Decke und drücke den Rücken durch, bis es knackst. Erschöpft sinke ich an die Wand zurück und warte, bis die Zellentür sich endlich öffnet.
Ein breitschultriger Bulle mit hässlicher Narbe im Gesicht und mürrischem Gesichtsausdruck, betritt schliesslich den kleinen Raum, einen Teller in der Hand.
"Ich wünsch Ihnen auch einen wunderschönen guten Morgen", murmle ich frustriert und werfe einen Blick auf den Teller, den der Bulle nicht gerade leise auf den Tisch knallt.
Ohne mich eines Blickes zu würdigen verschwindet er wieder.
Mit schmerzenden Gliedern rapple ich mich hoch und setze mich mit dem Teller auf das Bett.
Ein Stück Brot mit etwas Butter bestrichen und Himbeermarmelade - welch Luxus! - stellt sich als mein Frühstück heraus. Misstrauisch nehme ich einen winzigen Bissen, worauf hin mein Magen sich sofort schmerzhaft zusammenzieht und laut los knurrt.
Kaum eine Minute später ist das Brot vollständig in meinem gierigen Bauch verschwunden. Allerdings habe ich noch immer Hunger und verziehe genervt das Gesicht.
"Ich will hier raus", murmle ich leise und starre an die gegenüber liegende Wand.

☼☼☼



"Danny, eben ist ein Notfall reingekommen. Auf der Backstreet in der Nähe vom Starbucks wurde eine junge Frau angefahren. Fahrerflucht."
Daniel nickte sofort und erhob sich aus seinem Stuhl. Den ganzen Morgen schon sass er an dämlichen Dokumenten und Daten über verschiedene Gesetzverstösse. Allerdings kam er kaum zu etwas Anständigem. Noch dazu huschte die ganze Zeit die Hure in seinem Kopf herum, was ihn in eine aggressive Stimmung versetzte.
Die Abwechslung war ihm also nur willkommen.
"Gut, wir nehmen nur einen Wagen. Kennst du den Weg, Max?"
Max nickte sofort und hastete aus dem Büro. Daniel wollte ihm gerade hinter her, als sein Blick auf Rick landete.
"Willst du mitkommen? Du musst zwar im Wagen bleiben, aber immerhin siehst du dann was."
Rick nickte sofort begeistert, sprang auf und hastete ihm glücklich hinter her.
Mit grossen Schritten liefen sie zu dem Polizeiwagen, in dem Max schon sass und setzten sich zu ihm.
Kaum waren die Türen geschlossen, fuhr Max auch schon wie ein Vollidiot los. Das Blaulicht rotierte auf dem Dach, die Sirene liessen sie noch aus.
"Wer hat angerufen?"
"Anonym. Irgend ein Passant, der das ganze mit bekommen hat. Er hat auch gleich noch einen Krankenwagen gerufen, weil der Kerl sie anscheinend ziemlich heftig erwischt hat. Sie war zu dem Zeitpunkt ohnmächtig."
"Gut. Ich hoffe, wir kriegen das Arschloch." Er zögerte kurz. "Wusste der Kerl, dass es mit Sicherheit ein Mann war, oder sagte er das einfach so daher?"
Max zuckte mit den Achseln. "Keine Ahnung, aber meist sind es ja eher Männer, die Fahrerflucht begehen, als Frauen."
Daniel nickte abwesend. Das stimmte, allerdings gab es auch dort Ausnahmen.
Hier in diesem Viertel gab es solche Fälle oft. Die Leute liefen einfach über die Strassen, achteten nicht besonders auf die Autos, ebenso umgekehrt. Daniel konnte bloss hoffen, dass es die Frau wenigstens überlebte.
"Okay, wir sind gleich da, da vorne muss es sein."
Am Ende der Strasse hatte sich eine Menschenmenge gesammelt, die allesamt mehr oder weniger besorgt und neugierig aussah.
"Verdammte Zivilisten!", fluchte Max, als er das Auto ziemlich weit weg parkieren musste, wegen den Leuten. Daniel war schon aus dem Auto, hörte nur noch, wie Max Rick irgendwelche Befehle erteilte.
Die Menge teilte sich sofort, als sie ihn erblickten, einige wollten ihn sofort ansprechen.
Die junge Frau hatte es tatsächlich schlimm erwischt. Ihr linkes Bein war vollkommen blutüberströmt, die Jeans in Fetzen. Ihr rechter Arm lag leicht verdreht da, vermutlich ein Bruch. Sie war ohnmächtig, ihr Glück. Jemand hatte sie in Seitenlage gebracht und eine Jacke halbherzig über ihren Körper gelegt. Unter ihrem Kopf lag ebenfalls ein Kleidungsstück.
Er beugte sich neben sie, hörte den Puls ab und drehte die Hand wieder in Normallage. Die Frau blieb bewusstlos, allerdings wimmerte sie jedes mal, wenn er sie berührte.
Im nächsten Moment hörte er die Sirenen des Krankenwagens und die Menge teilte sich hastig.
Kaum stand der grosse Wagen, als auch schon die Sanitäter raus sprangen und sich um die Frau kümmerten.
Daniel erhob sich und blickte sich in der Menge um.
"Okay, wer hat uns gerufen? Sie bleiben Anonym, keine Angst. Wir brauchen bloss ein paar Angaben zu dem Unfall."
Ein junger Mann kam zögernd auf ihn zu, wischte sich immer wieder nervös über die Stirn.
"Äh, das war ich, Sir", stotterte er leise und blieb in ein Meter Entfernung stehen.
"Gut, kommen Sie bitte kurz mit?"
Daniel führte ihn von der Menge weg.
"Können Sie mir das Geschehen bitte genau schildern?"
"Äh... ja, kann ich. Ich hab gesehen, wie die Frau über die Strasse wollte, sie hat sich noch umgedreht und irgendetwas gesehen. Im nächsten Moment kam das Auto an gerast, sie hätte sich niemals retten können. Na ja, das Auto erfasste sie und... ich weiss nicht. Es war so schrecklich! Sie spickte bestimmt fünf Meter in die Luft! Und der Typ ist einfach weiter gerast. Das Kennzeichen von seinem Wagen konnte ich leider nicht sehen, dazu war er zu schnell und ich zu aufgeregt. Die Frau ist sofort bewusstlos geworden, also hab ich den Krankenwagen und Sie angerufen. Äh... das war's auch schon." Nervös holte der junge Mann Luft und traute sich nicht, Daniel anzusehen. Dieser nickte leicht.
"Okay, beschreiben Sie mir bitte das Auto."
"Ich weiss es nicht mehr so genau... ich glaube er war ziemlich dunkel. Schwarz oder dunkelblau. Ich weiss nicht, welche Marke, aber es war so ein langer Wagen, so ein hässlicher, langgezogener. Und ich glaube, der Fahrer war männlich. Für eine Frau war der zu breit."
Erneuert nickte Daniel und dachte angestrengt nach.
Das waren verdammt wenig Anhaltspunkte. Damit konnten sie kaum etwas anfangen. Das würde bloss Anzeige gegen Unbekannt geben.
Trotzdem bedankte er sich bei ihm und lief wieder zu den Sanitätern, die gerade losfahren wollten.
"Alles in Ordnung?"
Ein junger Mann nickte leicht und schon fuhren sie davon.
Daniel würde sich später um sie kümmern müssen. Jetzt mussten sie zuerst die Menge auflösen und beruhigen und dann zurück ins Revier.

☼☼☼



Scheisse! Ich will hier raus! Ich habe Hunger! Und Durst! Was habe ich denn bloss angestellt? Konnte dieses verdammte Arschloch nicht wo anders verrecken?! Ich bin unschuldig, Herrgott nochmal!
Und mir sind die Füsse schon drei Mal eingeschlafen! Drei Mal! Ich meine, Hallo?! Das ist nicht normal!
Nachdem ich endlos lange an die Wand gestarrt habe, bin ich irgendwann aufgestanden und wie ein gestörter Tiger hin und her gelaufen.
Aber weil das auch nicht gerade besonders interessant war, habe ich mich wieder auf mein Bett gesetzt und dann hat dieses scheiss Ameisengekribbel angefangen!
Oh, habe ich schon erwähnt, dass ich Hunger habe? Vermutlich schon. Aber Hey, ich wollte es nur nochmal sagen, so zur Erinnerung.
Und ach ja, wenn ich Hunger habe, werde ich verdammt aggressiv! Merkt man eventuell schon ein bisschen.
Das Drehen des Schlüssels im Schloss reisst mich aus meinen stumpfsinnigen Gedanken.
„Wer auch immer gerade rein will, ich hoffe, er hat was zu Essen dabei! Sonst morde ich wirklich noch!“, grummle ich ziemlich angepisst und warte, bis sich die Tür endlich öffnet.
Der Kerl von vorhin betritt mein neues Zuhause, mit einem Teller in der Hand. Sofort zieht sich mein Magen erwartungsfroh – und verdammt schmerzhaft – zusammen und knurrt laut los. Der Bulle schenkt mir einen abschätzigen Blick, ehe er sich wieder unsichtbar macht und mit dem leeren Teller verschwindet.
„Ich habe auch Durst!“, rufe ich ihm noch hinterher, bezweifle allerdings, dass er mich noch gehört hat.
Grummelnd erhebe ich mich und schnappe mir den Teller, der voll gefüllt ist mit dampfenden Kartoffeln. Noch im Laufen schaufle ich mir die ersten in den Mund und stelle den leeren Teller knappe vier Minuten später wieder auf den Tisch. Okay, vielleicht sollte man noch eine Minute dazurechnen, weil ich mindestens drei Mal fast erstickt wäre. Aber schlussendlich ist alles in meinem Magen gelandet, und nur der Endeffekt zählt, oder?
Frustriert will ich mich gerade auf die harte Matratze schmeissen, als der Schlüssel erneuert gedreht wird und wieder der Bulle reinkommt. Diesmal würdigt er mich keines Blickes, sondern knallt bloss ein grosses Glas Wasser auf den Tisch, wobei die klare Flüssigkeit darin bedenklich schwankt und fast überschwappt.
Kaum ist der Mann wieder verschwunden, als ich auch schon zu dem Glas haste und es hastig in meine ausgetrocknete Kehle stürze.
Ich verschlucke mich, pruste los, stürze die nächsten Schlucke hinterher. Erleichtert stelle ich das Glas wieder auf den Tisch und verfluche den Typ, dass er nicht noch ein Glas gebracht hat.
Mein Blick wandert zu dem verrosteten Waschbecken neben der alten Toilette in der Ecke. Zögernd tapse ich zu dem dreckigen Becken und versuche den Hahn aufzudrehen. Mit einiges an Kraftaufwand schaffe ich es endlich, allerdings kommt kein Wasser heraus, sondern irgendeine rostbraune Brühe, die echt eklig stinkt.
Angewidert starre ich das Zeug an und drehe den Hahn wieder zu.
Okay, muss ich eben wieder warten, bis der Bulle wieder kommt. Allerdings würde ich dann gleich eine Literflasche anordnen, damit ich hier nicht noch verrecke.
Immer noch durstig schlurfe ich wieder zu dem Bett und lege mich schliesslich hin. Der alte, modernde Geruch der Matratze steigt mir sofort in die Nase und zwingt mich zu flachen Atemzügen.
Allerdings verursacht das bei mir das Gefühl, nicht genug Sauerstoff in die Lunge zu bekommen, sodass ich mich bald hoch rapple und einfach teilnahmslos an der Wand lehne und an die Decke starre.

Ich habe Angst.
So unglaubliche, alles verzehrende Angst.
Sie haben mich eingesperrt, im Keller. Es ist kalt, eisig kalt. Mein Körper zittert unkontrolliert, ich habe Schmerzen, kann mich kaum bewegen. Und doch bin ich froh, dass ich hier unten bin - weg von der Alten.
Hier habe ich meine Ruhe, muss keine Angst haben, Opfer ihrer Langeweile zu werden.
Nein, hier bin ich für ein paar Stunden, oder auch Tage, geschützt.
Zitternd hebe ich die Hand und streiche mir eine verfilzte Strähne aus den Augen. Ich kann in der Dunkelheit fast nichts sehen, aber ich weiss, dass meine Hände mit Blut beschmutzt sind. Meinem Blut.
Stumpfsinnig starre ich ins Nichts, warte, bis sich etwas ändert. Aber nichts passiert.
Ich habe keine Ahnung, ob es Nacht oder Tag ist. Mein Körpergefühl kann es mir längst nicht mehr sagen. Konnte es fast noch nie. Zu sehr hat mir ein Rhythmus dazu gefehlt in den letzten Jahren des Grauens.
Von weit weit weg höre ich einen Schrei. Grell, panikverzerrt, schmerzvoll.
Ich weiss, wer es ist.
Billy hat sich wieder einmal gewehrt.
Er gibt wohl nie auf.
Dumm, so dumm! Jeder hier weiss, dass es keinen Ausweg gibt. Nur er will es nicht akzeptieren. Er hofft noch immer, dass ihn irgendwann seine Eltern holen.
Wie naiv!
Die Alte hinterlässt niemals Zeugen. Seine Eltern sind tot!
Wie meine auch.
Ein Bild erscheint in meinem Kopf; ein lachendes Pärchen mit einem Kleinkind in den Armen. Beide lachen glücklich in die Kamera, die perfekte Familie eben.
Es war so schön, die Freiheit, das Leben.
Bis sie kam. Ich weiss nicht, warum ich hier bin. Manche von den älteren Kinder sagen, ihre Eltern hätten Schulden bei ihr gehabt, oder nicht auf ihre Drohungen reagiert.
Meine Eltern hatten keine Geldnot, da bin ich mir sicher. Und doch zweifle ich manchmal daran. Meine Mutter hatte manchmal Tendenzen dazu, ihr Leid in eigenartigen Pillen zu ersticken, die sie komisch machten. Aber es ist sowieso zu spät. Sie sind tot. Kalt, verrottet in der Erde. Vielleicht - nein, mit ziemlicher Sicherheit! - noch nicht einmal auf einem Friedhof.
Die Alte macht sich nie mehr Arbeit, als nötig.
Wieder durchdringt ein grauen verzerrter Schrei die Stille.
Oh Billy, du tust mir leid. Ich weiss nicht, was sie mit ihm anstellt, aber es muss grauenvoll sein. Billy ist stark und zugleich unglaublich zerbrechlich. Bei ihm wendet sie besondere Methoden an, sie weiss genau, wie sie ihn zum Schreien bringt.
Es gibt nur ein einziges Kind, das sie hier nicht zum Schreien bringt. Und das sitzt gerade in einem dunklen Keller, zitternd vor Kälte, und trägt den Namen Helena van Dorsen.
Ich spüre ihre Ankunft, bevor ich sie höre. Ihre Präsens ist so unglaublich stark, allgegenwärtig, alles einnehmend.
Das Schlurfen ihrer augelatschten Stiefel lässt mich noch heftiger zittern. Ich bin erwacht aus meinem tranceartigen Zustand.
Ein Teil meines Kopfes bedauert, dass sie mir diesmal nur so wenig Zeit alleine gegeben hat.
Ihr Griff ist eisern, als sie mich rücksichtslos auf die Beine zerrt.
Ihr Gesicht liegt im Dunkeln, und ich bin Gott dafür dankbar. Diese Frau ist so abartig hässlich, dass es einem in den Augen schmerzt, sie anzuschauen. Und sie weiss das. Nur zu oft zwingt sie ihre Opfer dazu, in ihren schlimmsten Qualen nur ihr Gesicht anschauen zu dürfen. Damit sie nicht vergessen, wer ihnen das antut, sagt sie immer.
Ich hoffe, dass es heute schnell vorbei ist. Warum ich nicht hoffe, dass sie es heute weniger schmerzvoll macht? Das tat ich anfangs. Doch nach Jahren der Qualen gibt man diese Hoffnung auf. Auch ich habe sie aufgegeben, aber meinen Willen, den habe ich nie aufgegeben. Sie kann meinen Körper brechen, tausend Male kann sie das tun. Aber meine Seele? Nein. Die ist gut geschützt, tief in den letzten lebenden Winkeln meines Herzens vergraben.
Das glühende Eisen brennt sich in meine Haut, der Schmerz durchschiesst alles und doch nichts. Teilnahmslos lasse ich es über mich ergehen.
Längst habe ich gelernt, dass es so am schnellsten geht.
In diesem Moment tiefster Qualen muss man sich seine eigene Welt schaffen und dort hinein flüchten. Doch man darf sich nicht darin verlieren, sonst wird man verrückt.
Wie Mandy. Die hat es nicht ausgehalten und hat sich in ihrer Welt eingeschlossen. Jetzt ist sie verrückt.
Manchmal denke ich darüber nach, ihr es gleichzutun, doch dann hätte ich das Gefühl, aufzugeben. Und dann hätte sie meinen Willen doch noch gebrochen. Und das darf ich nicht zulassen.
Die Peitsche mit den Eisennieten, so spitz, wie Messer, gräbt sich in mein Fleisch. Wieder blendet der Schmerz für ein paar Sekunden alles aus.
Mit meiner letzten Konzentration erschaffe ich ein Tor zu meiner eigenen Welt, entfliehe meinem gequälten Körper.



☼☼☼



"Okay, zeig mal, was du raus gefunden hast."
Max schob seinem Kumpel ein paar Dokumente und Notizen rüber.
"Über die Kleine gibt es fast nichts, kein Wunder. Prostituierte haben fast nie ein aufgezeichnetes Leben. Allerdings kam etwas sehr Interessantes raus. Ich hab in meiner Verzweiflung auch bei den Fällen von entführten Kindern und ähnlichen Fällen gesucht. Und sieh dir das mal an!"
Er schob Daniel ein verpixeltes Bild zu, auf dem ein ungefähr 6jähriges Mädchen abgelichtet war. Sie lächelte mit schönstem Zahnspangenlächeln in die Kamera.
Ausserdem war dieses Mädchen mit 99,99% Hel. Sie hatte sich verändert, ohne Zweifel. Aber die Grundzüge waren noch immer da; die vollen Lippen, die dunkelgrünen Augen, die rote Mähne, die damals allerdings noch heller war.
"Wer ist das Mädchen?"
Max zog ein Dokument aus dem Stapel auf dem eine Vermisstmeldung gezeigt wurde.
"Helena van Dorsen. Der Name passt. Vermisst am 6. Juni 1998. Da war sie sieben Jahre alt. Ihre Eltern sind ebenfalls verschwunden. Man hat nie mehr etwas von ihnen gesehen und da man auch keine Spuren fand, legte man den Fall als unaufgeklärt zur Seite. Aber ich würde sagen, wir haben das Mädchen soeben gefunden. Wenigstens etwas. Die Frage ist bloss, wie die Kleine zur Nutte wurde. Und wer sie entführt hat. Oh, und das hier hab ich auch noch gefunden." Er zog einen Notizzettel hervor.
"Ihre Mutter musste massive Drogenprobleme gehabt haben. Sie wurde mehrmals erwischt, jedes Mal mit einer nicht kleinen Dosis verschiedenster Drogen im Blut. Partypillen hat man scheinbar auch schon bei ihr gefunden. Und ihr Vater muss ein äusserst gewaltsamer Mann gewesen sein. Bei den damaligen Verhörungen der Nachbarn bezeugten diese, dass man immer wieder sein Gebrüll gehört hätte und die Tochter oft mit blauen Flecken und einem Veilchen rausging. Auch die Mutter hat man hin und wieder so gesehen. Die Leute glaubten, er hätte seine Familie ermordet und sich selbst gerichtet."
Daniel seufzte resigniert. Mein Gott, was für eine Kindheit musste diese Frau durchmachen?! Er selbst kam zwar auch nicht gerade aus den besten Verhältnissen, ein Grund, warum er zum Polizist wurde, aber trotzdem war dies bei Weitem nicht so schlimm, wie ihre Geschichte. Wer hatte sie damals entführt? Was war passiert?
"Wo wurde sie entführt?"
"Irgend so ein Kaff in der Nähe von Harrisburg, Pannsylvenia. Sie lebten recht weit aussen, am Stadtrand und waren berühmt und berüchtigt. Die Kleine war Einzelgängerin, mochte die anderen nicht besonders. Mehr konnte ich nicht raus finden."
Nun gut, über ihre Herkunft wussten sie jetzt etwas. Aber der Rest fehlte.
"Ich muss wohl mit ihr sprechen!"

☼☼☼



Zitternd schlinge die Arme fester um meine Knie. Die Träume sind wieder da. Ich habe sie fast vergessen. Aber jetzt sind sie wieder da, mit voller Wucht zurück gekehrt.
Ich habe unglaublich kalt, obwohl ich die Decke trotz meinem Ekel fest um meinen zitternden Körper geschlungen habe.
Aber es nützt nichts. Die Kälte kommt von innen. Ich hasse diese Kälte. Man kann sie nicht vertreiben.
Immer wieder frage ich mich, was für Albträume das sind. Ich habe noch nie einen Horrorfilm geschaut, aber ich vermute schwer, dass meine Träume ungefähr gleich unheimlich sind.
Es ist schrecklich, weil sie so unglaublich real

sind.
Sie machen mir unglaublich Angst, denn jedes Mal, wenn ich erwache spüre ich den Nachhall der Schmerzen aus den Träumen.
In meinen Gedanken versunken bemerke ich nicht, dass sich die Tür öffnet und der grosse Bulle meine Zelle betritt.
Capster starrt mich eine Weile aufmerksam an, aber ich bemerke es nicht, bin weit, weit weg in meiner eignen Welt. Dort, wo es keine Kälte gibt. Nur Wärme und Liebe. Die zwei Gefühle, die ich nie kennen gelernt habe.
Capster räuspert sich verhalten und tritt direkt vor mich. Erschrocken hebe ich den Kopf und starre direkt in diese dunklen Augen, die fast schwarz wirken, aber eigentlich grau sind. Ich versinke regelrecht darin. Es ist wie die Rettung nach der trostlosen Kälte, wenn ich in diese Augen blicke.
Ich kann zu meiner Überraschung nichts mehr von der Kälte erkennen, die am Tag zuvor noch darin geherrscht hat. Doch genau das macht mich misstrauisch. Was ist passiert?
Ich schüttle das fesselnde Gefühl seiner Augen ab und entziehe mich seinem Bann.
"Hel. Ich muss mit dir sprechen. Aber nicht hier. Komm mit!" Mir fällt nicht einmal auf, dass er zum Du übergegangen ist.
Er hält mir seine Hand entgegen, und obwohl ich nur zu gerne die Wärme seiner Haut, die Nähe, genossen hätte, rapple ich mich ohne seine Hilfe auf.
Doch mein Körper macht mir einen Strich durch die Rechnung. Durch das verkrampfte Sitzen, seitdem ich erwacht bin, sind meine Beine eigenartig weich und unsicher geworden. Ich schwanke und knicke fast ein - wenn Capster mich nicht im letzten Augenblick packen würde.
Obwohl es mir widerstrebt, schenke ich ihm ein winziges, dankbares Lächeln und klammere mich an ihm fest, darauf achtend, dass ich nur seine Uniform berühre und bloss nicht seine nackte Haut. Irgendetwas sagt mir, dass ich das nicht überleben würde.
Capster führt mich aus der Zelle, erstaunlich vorsichtig und mitfühlend. Wir betreten ein grosses, geräumiges Büro, dessen Tisch leergeräumt ist, mit Ausnahme eines grossen Fotorahmens, dessen Bild ich allerdings nicht sehen kann.
Ob wohl seine Frau darauf abgebildet ist? Ist er verheiratet? Hat er womöglich Kinder?
Verwundert und auch wütend schüttle ich die stechenden Gedanken ab. Was erlaube ich mir, mir solche Fragen zu stellen? Dieser Mann ist ein Bulle! Ein verdammt heisser Bulle.
Ohne es zu wollen seufze ich leise und lasse mich dankbar auf den Stuhl gleiten, den er mir zurechtrückt.
"Danke", murmle ich leise und schliesse kurz die Augen, als sein Duft mich umhüllt und mir den Atem raubt. Mein Gott, wie kann ein Mann nur so gut riechen?! Und das ist ziemlich sicher nicht nur Parfüm!
Capster setzt sich auf seinen Sessel und schaut mich nachdenklich an. Will er mich wieder verhören? Kann ich endlich hier raus?
"Hel. Ich würde gerne ein bisschen mehr über dich wissen."
Scheisse. Ich hasse es über meine Vergangenheit zu sprechen. Meine Vergangenheit ist schier unglaublich. Die meisten Bilder habe ich längst verdrängt. Ich weiss noch, dass ich mit ungefähr sieben Jahren weg musste von meinen Eltern. Den Grund kenne ich nicht mehr, habe ich wohl vergessen. Da war eine alte Frau, bei der ich lebte, und sie hatte Diener. Aber alles andere ist irgendwie weg. Ich weiss, dass die Zeit damals mit viel Schrecken und Qualen verbunden war.
Ich kann mich an fast nichts mehr erinnern. Erst mit ungefähr 18 Jahren werden die Bilder meiner Vergangenheit wieder etwas klarer. Ich weiss noch, dass ich damals hierhergekommen bin, ich hab einen Job gesucht.
Da gab es diesen gut aussehenden Mann. Triffer oder so ähnlich hiess er.
Er hat mir den Himmel versprochen, jeden einzelnen verdammten Stern hat er mir versprochen. Er hat mir Geschenke gemacht, mich in teure Restaurants ausgeführt. Und eines Tages wollte er auch etwas als Gegenleistung. Meinen Körper. Ich habe mich gewehrt, aber schlussendlich vergewaltigte er mich trotzdem. Jedes Mal, wenn ich an diese schreckliche Nacht denke, spüre ich den höllischen Schmerz zwischen meinen Beinen wieder.
Er hat mir Drohungen gemacht, wenn ich nicht alles mache, was er will, dann würde er mich verkaufen oder zu seinen Orgien mitnehmen. Ich lernte die anderen Mädchen kennen, die mir erzählten, was bei diesen Orgien passierte. Die Angst davor brachte mich dazu, alles zu tun, was er von mir verlangte. Ich war schön, ich war gut. Es sprach sich schnell herum, dass mein Boss eine Neue hat. Ich wurde begehrt von all diesen Männern, aber ich wollte es nicht. Doch ich musste da durch. Es gab keinen Ausweg. Ich wusste von Mädchen, die versucht hatten, zu fliehen. Sie alle waren übel zugerichtet worden oder gar nicht mehr zurückgekommen. Mein Boss war kein gütiger Mann, er kannte das Wort "Verzeihen" nicht. Und er ging über Leichen.
Ein Mann verliebte sich in mich, wollte mich mit sich nehmen. Doch mein Boss hatte Angst, mich zu verlieren. Er wusste, dass ich noch lange die Beste in seinem Geschäft bleiben würde, ich war seine grösste Geldquelle.
Also versetzte er mich in ein neues Viertel. Ich sah den Mann nie wieder.
Damals war ich ziemlich traurig darüber, denn er war der Erste, der nicht nur Rein-Raus-Sex wollte, sondern auch mal kuscheln oder einfach nur reden. Ich mochte die Stunden mit ihm, es waren bei weitem die angenehmsten meines Lebens.
Im neuen Viertel ging es viel härter zu, jeder trug eine Schusswaffe bei sich oder zumindest ein Messer. Oft wurde ich bedroht und auch schon angegriffen. Aber ich lernte, mich selbst zu verteidigen und überlebte es immer.
Doch eines Tages kam eine Gang aus einem anderen Stadtteil und erschoss fast alle in Führungspositionen dieses "Berufes". Auch mein Boss kam darunter. Ich dachte, jetzt wäre ich endlich frei, doch die Kerle wollten mich. Sie wussten, dass ich viel Geld einbrachte. Also arbeitete ich fortan für sie. Doch jetzt hatte ich mehr Freiheiten, ausserdem bekam ich mein eigenes "Revier".
Ich mag diese Erinnerungen nicht. Sie sind scheusslich.
Und doch erzähle ich Capster alles, was ich noch weiss. Wild durcheinander erkläre ich ihm mein Leben.
Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass mir jemand wirklich

zuhört.
Hin und wieder höre ich das Kratzen seines Bleistifts, wenn er eine Notiz festhält. Er selber bleibt stumm.
Erst als ich eine volle Minute lang geschwiegen habe, hebt er den Kopf und mustert mich aus unergründlichen Augen.
Meine Finger verkrallen sich in den Stuhllehnen. Dieser Blick geht mir durch und durch. Er berührt etwas, tief in mir drin. Ein längst vergessener Teil meiner Seele.
"Hel."
Seine Stimme ist so unglaublich zärtlich, dass mein Körper vor Aufregung summt.
Ich traue mich nicht, ihm in die Augen zu sehen, aus Angst, darin zu ertrinken. Und aus Angst, er könnte meine Sehnsucht nach seinen starken Armen sehen.
"Hel, was ist in den Jahren passiert, von denen du mir nichts erzählt hast?" Wieder diese zärtliche Stimme. Mein Gott, will der mich umbringen?
"Ich... ich weiss es nicht", flüstere ich nach langer Zeit. Meine Stimme klingt rau, brüchig und fremd.
"Wie, du weisst es nicht? Du musst dich doch an etwas erinnern!"
Ich kann die Verwirrung, die in der Luft liegt, fast greifen. Aber beantworten kann ich sie nicht.
"Ich weiss es eben nicht. Da ist nichts", krächze ich leise. Eine Spur von Verzweiflung kann ich in den Worten nicht verbergen.
Ich bin froh, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann. Ich will diese Erinnerungen nicht in meinem Kopf haben. Ich weiss nicht, was damals alles passiert ist, aber schon alleine diese Träume, die mit ziemlicher Sicherheit etwas damit zu tun haben, reichen mir vollkommen.
Nein, ich will keine Bilder davon mit mir herum tragen.
"Du kannst dich an nichts erinnern? Wirklich an gar nichts?"
Ein Zittern durchfährt meinen Körper. Bedächtig schüttle ich den Kopf.
"Nein, da ist nur Kälte, Schmerzen und Qualen. Aber keine Bilder. Ich weiss nichts mehr davon."
Mein Hals fühlt sich trocken an, ich schlucke mehrmals schmerzhaft und trocken.
Ohne ein Wort schiebt mir Capster ein Glas mit Wasser zu. Sofort schütte ich es in meine ausgetrocknete Kehle und verschlucke mich heftig.
Capster springt auf und klopft mir mit besorgter Miene auf den Rücken.
"Geht es?"
Tränen schiessen mir in die Augen, aber ich nicke dennoch.
Ich ertrage seine Nähe nicht. Seine Wärme, sein Duft, der mich jetzt umhüllt, es macht mich alles total verwirrt in meinem Kopf.
"Ich muss dich wieder zurück bringen...", murmelt er mehr zu sich selbst.
Sofort zucke ich zusammen. Nein, nicht wieder zurück in diese Zelle! Sie erinnert mich dunkel an etwas...
Er bemerkt es und mustert mich mit gerunzelter Stirn.
"Nun gut, ich werde sehen, was wir machen können. Vielleicht können wir dich im Aufenthaltsraum unten unterbringen. Dort gibt es ein Sofa und es ist wärmer als hier. Der Fernseher sollte auch noch funktionieren." Ich schenke ihm einen dankbaren Blick.
"Ich muss unbedingt mit Doc reden..."
Capster wirft mir einen Blick zu, ehe er mich wieder am Arm nimmt, diesmal bedeutend sanfter, und hinaus bringt.
Wir laufen an der Tür zu den Zellen vorbei, was mir einen erleichterten Seufzer entlockt, weiter zu einer Treppe, die nach unten führt.
Vorsichtig, ich trage immer noch meine mörderisch hohen Schuhe, führt Capster mich nach unten und hält vor einer Tür.
Das Licht flackert kurz, das typische Zeichen für eine Neonröhre. Grell scheint das Licht in meine Augen und ich brauche ein paar Sekunden, um mich daran zu gewöhnen.
Das Zimmer ist nicht besonders gross, der meiste Platz wird von einem riesigen schwarzen Sofa eingenommen. Ein grosser Plasmafernseher thront an der Wand. Ausserdem scheint es hier normale Toiletten zu geben, denn es führen zwei Türen hinaus, auf der jeweils ein Männchen und ein Fräulein draufgeklebt wurde.
"Ich muss dich auch hier einschliessen, aber es ist bedeutend angenehmer, als in der Zelle. Der Fernseher funktioniert, du kannst schauen was du willst. Ich schicke in einer Stunde Bully vorbei, dass ist der Typ, der dir schon das Essen vorbei gebracht hat."
Ich nicke dankbar und lasse mich auf das weiche, bequeme Sofa sinken. Capster wirft mir noch eine Decke zu, die er aus einem Schrank genommen hat, und verschwindet wieder.
Sofort schalte ich den Fernseher ein und suche nach einem Nachrichtensender.
Es läuft nur das Wetter, wo man gerade diskutiert, ob es wieder so ein langer und harter Winter wird, wie im letzten Jahr.
Ich habe in meinem Leben nur ganz selten in einen Fernseher geschaut, wenn doch, dann meist Fussball im Hotel bei Joe.
Aber erst jetzt wird mir bewusst, wie viele Sender es überhaupt gibt. Auf einer Kindersendung zeigen sie einen eigenartigen Kurzfilm von einem Schwamm, einem hässlichen Seestern und einem noch hässlicheren Tintenfisch. Irritiert schalte ich weiter und finde irgendwann eine ziemlich dämliche, aber lustige Show.
Nach nur wenigen Minuten übermannt mich die Müdigkeit und ich versinke in einem erholsamen Schlaf.

☼☼☼


"Doktor Tryer? Ich muss mit Ihnen sprechen, es ist wichtig."
Der ältere Mann am Ende der Leitung murmelte: "nun gut, mein Junge! Ich habe gerade Pause, willst du nicht schnell rüber kommen?"
Daniel sagte sofort zu und schnappte sich seine Jacke.
"Ich bin bei Doc!", rief er Mac noch zu, ehe er auch schon aus der Tür gerauscht war und zu seinem Privatwagen lief.
Zehn Minuten später erreichte er die Praxis von Dr. Thomm Tryer, der sich schon seit langem auf die Psychologie der Menschen konzentrierte.
Der alte Mann mit den schlohweissen Haaren und dem gutmütigen Gesicht erwartete ihn schon und begrüsste ihn wie ein verloren geglaubter Sohn.
"Nun, was gibt es?", fragte er nach einer Weile.
Danny erzählte ihm von Hel.
"Kann es wirklich passieren, dass ein Mensch mehrere Jahre einfach vergisst? Das geht doch nicht!"
Thomm sah Daniel eine Weile schweigend an, bevor er leicht nickte.
"Ja. Das menschliche Gehirn ist ein sehr kompliziertes Gerät. Wenn ein Mensch zu viel durchmacht, etwas erlebt, das er nicht erträgt, kann es sein, dass das Gehirn diese Szene aus dem Kopf löscht. Es kommt eher selten vor, und nur dann, wenn es wirklich etwas überaus mächtiges ist, kann es passieren. Manche Menschen ertragen es auch gar nicht und werden verrückt. Viele meiner ehemaligen Patienten haben solche Dinge erlebt.
Das Gehirn hat einen Selbstschutz, der in solchen Fällen aktiviert wird.
Aber es kommt auch vor, dass ein Ereignis diese Bilder und Erinnerungen wieder zum Leben erweckt. Das ist das Schlimmste, denn die betroffene Person sieht sich plötzlich mit Dingen konfrontiert, die es nicht geben sollte.
Man muss sehr aufpassen, denn wenn dies passiert, kann die Person jegliche Kontrolle über den eigenen Körper verlieren. Man muss solche Dinge langsam aufarbeiten, Schritt für Schritt. Und man braucht Hilfe. Es muss nicht unbedingt ein Psychiater sein, aber die betroffenen Menschen müssen jemanden haben, an den sie sich klammern können, wenn es ihnen zu viel wird. Deshalb kann ich dir nur raten, deiner Helena ein guter Freund zu werden, an den sie sich wenden kann. Die Kleine ist eher eine Einzelgängerin, was bei ihrer Lebensart auch nicht gerade abnormal ist. Du magst sie, stimmt's?"
Vollkommen überrascht hob Daniel den Blick. "Wie meinst du das?"
Der alte Mann zwinkerte ihm zu. "Danny, ich kenne dich schon lange. Du kannst mir nichts vormachen. Ich würde sie gerne mal kennenlernen! Solche Menschen sind immer sehr faszinierend." In seinen Augen leuchtete das typische Interesse eines Psychologen auf, der gerade einen eigenartigen Fall entdeckt hat. Danny musste grinsen.
"Sie hat viel durchgemacht. Aber in erster Linie geht es mir darum, diesen Mord aufzulösen. Sie kann gut die Mörderin sein. Das Fenster war nur auf Kipp, nur ein Scharfschütze hätte es geschafft, den Kerl da durch zu treffen." Eigentlich durfte er solche Informationen nicht weiter geben, aber er vertraute Thomm voll und ganz.
"Wie könnte sie sich wieder erinnern?"
Thomm nickte bedächtig und dachte nach.
"Das ist ganz unterschiedlich. Bei einer Vergewaltigung kann es nur ein Film sein, bei dem der Sex ein bisschen härter als normal ist. Oder ein Mann, der dem Täter ähnlich sieht. Es ist immer unterschiedlich. Jeder Mensch verbindet unterbewusst verschiedene Dinge mit den Szenen. Aber ich denke, es ist besser so, wenn Helena diese Bilder vergessen hat. Ich weiss nicht, ob sie damit klarkäme.
Es sind immerhin etwa 11 Jahre ausgelöscht. Da muss etwas ziemlich hartes passiert sein. Ich vermute unmenschliche Dinge müssen da die Hand im Spiel gehabt haben. Manche Menschen haben keine Angst vor dem Grauen, manche lieben den Schmerz anderer Menschen. Manche handeln auch im Glauben, etwas Gutes zu tun."
Danny nickte. Sein Kopf schwirrte von den ganzen Informationen. Nie hätte er gedacht, dass es solche Dinge geben würde. Einfach mal 11 Jahre seines Lebens zu vergessen, das war für ihn unvorstellbar!
Ausserdem bedeutete das für ihn, dass Hel keine Kindheit hatte. Das hiess auch, dass sie anders dachte, als normale Menschen.
Diese ganzen Gedanken machten ihm Angst und zugleich wuchs sein Respekt vor dieser Frau immer mehr. Ein Entschluss reifte tief in seinem Herzen. Er musste sie schützen. Sie durfte nie wieder solche Dinge erleben!

Daniel verabschiedete sich kurz darauf von Thomm und fuhr wieder zurück.
Automatisch lief er zu der Tür, die zu dem Kellerraum führte, in dem Hel jetzt war.
Leise öffnete er die Tür und schob sich in den Raum.
Der Fernseher lief noch, aber Hel lag, eingemumelt in die Decke, tief schlafend da.
Er schaltete den Bildschirm aus und setzte sich auch die Sofakante.
Plötzlich überkam ihn ein tiefes Gefühl der Zärtlichkeit und Liebe für diese Frau. Jetzt, tief in ihren Träumen versunken, sah sie seltsam unschuldig, ja, fast schon kindlich aus. Zögernd hob er die Hand und strich hauchzart über ihre Wangen.
Hel murmelte etwas im Schlaf und schmiegte sich an seine Haut. Daniel erschauerte. Es fühlte sich richtig an.
Aber er durfte sich nicht auf sie einlassen.
Vermutlich war sie die Mörderin des Unbekannten gewesen.
Resigniert dachte er an den Mord, den sie noch nicht aufklären konnten.
Der Mann war nicht vermisst, schien keine Identität zu besitzen. Nichts. Er hatte Max nochmal auf die Suche nach Anhaltspunkten geschickt, morgen würde die Autopsie ankommen.
Hel zog seine Aufmerksamkeit auf sich, als sie leise seufzte und sich dann auf die andere Seite wälzte. Sie schmatzte leise im Schlaf und murmelte etwas. Danny betrachtete ihren Rücken, ehe er sich leise erhob.
„Nein, tu's nicht, Billy! Sie wird dich wieder benutzen! Nicht!“
Überrascht drehte sich Danny wieder um und starrte die schlafende Frau verwirrt an.
„Hel?“, fragte er leise und beugte sich über sie.
Ihr Gesicht war schmerzverzerrt, die Augen hatte sie fest zusammengekniffen.
Plötzlich schmiss sie sich auf die andere Seite und stöhnte schmerzerfüllt auf.
„Billy! Lass sie. Ich halte es schon aus. Geh zu Mandy. Rette sie...“ Wieder ein schmerzerfülltes Stöhnen. Ihre Hände ballten sich zu Fäuste, sie begann zu zittern.
Besorgt setzte sich Danny wieder neben sie und strich ihr behutsam über die Haare. „Hel... beruhige dich... wach auf, Hel!“
Hel murmelte wieder etwas, ehe sie sich fest an ihn schmiegte und ihre Hände in seine Hose krallte. Verdutzt betrachtete Danny ihr Gesicht, dass sich wieder entspannt hatte.
„Lass mich nicht alleine...“, murmelte sie leise und runzelte die Stirn.
Daniel überlegte angestrengt, was er tun sollte. Er könnte sich neben sie legen – das Sofa war genug breit für zwei – aber dann würde sie morgen vermutlich ausrasten. Schliesslich war er so etwas wie ihr Feind.
Oder er könnte sie jetzt einfach alleine lassen – und würde dann die ganze Nacht wach liegen und grübeln. Ausserdem würden ihn schlimmste Schuldgefühle quälen, weil er sie einfach alleine gelassen hatte.
Nein. Entschlossen schob er sich neben Hel, hielt allerdings vorsichtshalber genug Abstand zu ihr.
„Billy, rette sie... Alte kommt... nimm sie mit... Kelly wird helfen... lass mich hier...“
Erneuert wälzte sie sich herum, ihr Gesicht war wieder verzogen. Gequält betrachtete Danny ihre elende Gestalt. Vorsichtig hob er die Hand und strich über ihre Schulter. Hel keuchte unter Schmerzen und biss sich fest auf die Lippen. Daniel sah mit Entsetzen den Blutstropfen, der sich darauf hin löste.
Vollkommen verwirrt packte er sie an den Schulter und zog sie mit einem Ruck in seine Arme.
Sofort beruhigte sich Hel wieder und murmelte nur noch ganz leise vor sich hin. Fest und angenehm schmiegte sie sich an ihn, presste ihren zierlichen Körper an seine Muskeln.
Warm und angenehm fühlte es sich an.
Verwirrt starrte Daniel in die Dunkelheit, hin und hergerissen, ob er sie wieder loslassen sollte und verschwinden würde, oder ob er hier bleiben würde und mit ihr in seinen Armen schlafen sollte.
Doch sein Körper übernahm die Entscheidung schliesslich, als er in einem tiefen Schlaf versank.


☼☼☼



Ich habe das Gefühl wieder im Leib meiner Mutter zu sein. Warm und geborgen fühlte es sich an.
Glücklich schmiege ich mich enger an die Wärmequelle und döse vor mich hin.
Ein angenehmer, herber Geruch sticht mir immer wieder in die Nase und verursacht ein angenehmes Kribbeln in meiner Magengegend.
Hm... so will ich immer schlafen!
Ein leises Brummeln erklingt und der warme Gegenstand direkt unter ihrer Wange vibriert angenehm.
Plötzlich bin ich hellwach.
Nicht wegen dem Gebrumme, nein, etwas Hartes drückt sich an mein Bein. Überhaupt bewegt sich der Gegenstand, der mir als Kopfkissen dient.
Was zum Teufel ist das?
Verwirrt reisse ich meine Augen auf und starre direkt auf blauen Stoff. Verdutzt blinzle ich und versuche mehr zu erkennen. Erst jetzt merke ich, dass ich von zwei starken Armen umschlungen bin und ein schweres Bein über meinen eigenen liegt.
Wer ist das?!
Vorsichtig hebe ich den Kopf und starre direkt in das schlafende Gesicht von Capster.
Oh mein Gott! Das ist ein Polizist! Ein Bulle liegt in meinem Bett und hält mich fest umschlungen! Und seine Morgenlatte drückt sich gegen meinen Oberschenkel.
Echt jetzt? Verdutzt hebe ich die Decke, die nur noch halb über uns liegt, und starre auf die grosse Beule. Tatsächlich.
Hm... mit dem Ding kann der bestimmt fast jede Frau zur glücklichsten auf der ganzen Welt machen.
Capster grummelt und seine linke Hand greift fest nach meinem Arm. Erschrocken halte ich die Luft an und warte stocksteif ab.
Er grummelt erneuert, ehe er sein Gesicht in meinen Haaren vergräbt.
Ich vermute, dass der Bulle bald aufwachen wird, schliesslich sollen Polizisten nicht gerade den tiefsten Schlaf haben.
Ich denke gerade darüber nach, ob ich mich ganz vorsichtig aus seinen Armen winden soll, doch in dem Moment schlingt er die noch viel fester um mich und presst mich an seinen stahlharten Körper. Keuchend schnappe ich nach Luft, mein Gesicht liegt an seiner Brust, meine Nase ist tief in dem rauen Stoff seiner Uniform vergraben. Ich bekomme keine Luft!
Panisch versuche ich mich zu lösen, ohne dass er aufwacht, doch als er leise etwas murmelt lasse ich es, kneife die Augen zu und tue so, als würde ich friedlich schlafen.
Capster murmelt erneuert etwas, ehe er sich etwas von mir löst.
Vorsichtig hole ich tief Luft und versuche so entspannt wie möglich auszusehen.
„Scheisse!“ Der Bulle löst sich mit einem Ruck von mir, der mich irgendwie verletzt, und springt hastig auf. Ich tue so, als würde mich das nicht gross stören, sondern drehe mich mit einem friedlichen Lächeln, das sich eher wie eine Grimasse anfühlt, auf die andere Seite.
„Verdammte Scheisse! Ich hab doch tatsächlich die ganze Nacht bei ihr verbracht!“ Ist das wirklich so schlimm? Ich spüre einen Stich in meiner Brust, als er weiter flucht und dann leise verschwindet.
Langsam öffne ich meine Augen und starre auf die Lehne des Sofas.
Ich bin gerade daran mich zu verlieben.
Mit einem Schlag wird mir diese Tatsache schmerzhaft bewusst.
Und ich werde ihn nie bekommen.
Ich bin eine Nutte. Eine Hure vom Strich. Wer kann schon ein solches Weib lieben?
Eine einsame Träne löst sich aus meinem Augenwinkel und rollt über meine Wange.

☼☼☼



Daniel fluchte.
Dieser Frau tat ihm nicht gut! Er musste wieder mehr auf Abstand gehen! Aber es hatte sich so verdammt richtig angefühlt, sie in seinen Armen zu halten!Verzweifelt fuhr er sich übers Gesicht und betrachtete die Beule in seiner Uniform. Shit!
Da er keine Lust hatte, auf dämliche Kommentare seiner Kollegen, verdeckte er die Beule so gut es ging und verschwand im Klo.
Er liess seinen Faust über seine Härte fliegen und brachte sich damit schnell über die Klippe, trotzdem blieb ihm ein schaler Geschmack im Mund übrig.
Daniel gehörte nicht zu den Männern, die oft mit einer Morgenlatte aufwachte, da seine Träume eher trist, trüb und von Mord gespickt sind. Da waren erotische Fantasien nicht vorhanden und dementsprechend auf keine Morgenlatten.
Trotzdem wusste er instinktiv, dass er diese Nacht, an ihren Körper geschmiegt, heftige, erotische Träume hatte. Flüchtige Bilder von ihm, über ihr, unter ihr, sie leidenschaftlich und hart nehmend, dann wieder ganz langsam, zärtlich und voller Liebe.
Daniel stöhnte verzweifelt auf, denn seinem Kumpel schienen die Erinnerungen an die Träume ziemlich zu gefallen.
Hastig dachte er an Tiefkühltruhen, stinkender Fisch, weiche Brüste... volle, sinnliche Lippen...
„Scheisse! Verdammte Scheisse!“ Daniel hieb fluchend mit dem Fuss in die Wand und schlug kraftlos dagegen. Sein Kopf sank auf seine Brust, seine Augen schlossen sich verzweifelt.
Sie hatte ihn.
Seit Jahren blockte er alle Frauen ab, machte einen auf kühl und undurchschaubar. Und ausgerechnet eine Strassennutte musste diese Mauer zum Zerbrechen bringen!
„Hey Kumpel!“ Max trat neben ihn und hieb ihm freundschaftlich auf die Schulter. Daniel zuckte erschrocken zusammen und kniff die Augen fester zu.
„Was ist?“, knurrte er brüsk und beachtete ihn nicht weiter.
„Die Autopsie – alles in Ordnung bei dir?“ Max Stimme hörte sich scheisse besorgt an! Daniel wollte jetzt bloss keine dummen Sprüche hören, also drehte er sich mit steinernem Gesicht um, nickte knapp und verschwand in seinem Büro.
„Ich... äh... bring sie dir dann später noch vorbei...“ Max Worte verhalten, verwirrt starrte er seinem langjährigen Freund hinterher.
„Hat dich wohl ganz schön erwischt, die Kleine, was?“, murmelte er und ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht.
Max war gestern Abend noch nach unten gegangen, da er ganz vergessen hatte, dass die Kleine ja jetzt da unten einquartiert wurde.
Eng umschlungen hatte er die Beiden entdeckt, beide mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen. Max dachte wehmütig darüber nach, dass sein Freund schon seit längerem viel zu wenig lachte.
Er wünschte ihm von ganzem Herzen, dass er in ihr endlich etwas Festes gefunden hatte.

Daniel schloss sich in seinem Büro ein und hoffte, dass Max ihn an diesem Tag nicht mehr belästigen würde.
Auch sonst sollte ihm heute keiner zu Nahe kommen, dem sein Leben lieb war.
Entschlossen machte er sich an die Arbeit und öffnete alles über den Fell des toten Freiers.
Es machte ihn schier verzweifelt, dass sie nichts fanden und hoffte, dass es bei der Autopsie endlich ein paar Hinweise finden würde.
Er hasste nichts so sehr, wie einen Fall ungeklärt zur Seite legen zu müssen – vor allem einen Mord.
Doch auch nach mehrmaligen Durchlesen der Daten und Stichpunkte, wurde er nicht schlauer.
Okay, das Fenster war offen, allerdings nur einen Spaltbreit. Ein Scharfschütze hätte es geschafft, ein einfacher Ganove wohl kaum.
Kurzentschlossen suchte er nach allen Scharfschützen, die oft als Auftragskiller gearbeitet hatten oder wegen ähnlichen Fällen gesessen hatten.
Doch keiner schien zu passen.
Maxter Berraha sass in Amerika fest, da er dort das letzte Mal gemordet hatte. Sein Prozess lief auf Hochtouren, doch jeder der ein bisschen Grips im Hirn hatte, wusste, dass ihm der Tod bervorstand.
Lakka Hernallas sass im örtlichen Gefängnis.
Trafelia Magnola hatte ihre sieben Jahre Haft abgesessen und sich ziemlich geändert. Sie hatte schon lange vor ihrer Freilassung jeglichen Umgang mit der Waffe abgeschworen. Mittlerweile hatte sie eine Familie und arbeitete in verschiedenen Hilfeorganisationen, also schloss sie ebenfalls aus.
Und dann war da noch Daper.
Der Kerl war ziemlich schräg, doch da er nach seinem Gefängnisaufenthalt ebenfalls jeglichen Umgang mit der Waffe abgeschworen hatte und Gerüchten zu Folge zu einem besoffenen Wrack mutiert war, beschloss Daniel ihn ebenfalls zu streichen. Trotzdem nahm er sich vor, ihn in den nächsten Tagen mal unter die Lupe zu nehmen.
Doch kaum schloss er die Suche als mehr oder weniger erfolglos ab, geisterten grüne Augen durch sein dummes, schwanzgesteuertes Hirn und lenkten ihn von jeglichen Überlegungen ab.
„Ach, verdammt!“ Fluchend sprang Daniel auf, genau in dem Moment, als es an der Bürotür klopfte.
Verdutzt hielt Daniel inne, ehe er zu der Tür lief und den Rollo auseinanderzerrte. Max grinste ihm verschmitzt entgegen.
„Ich hab dir den Autopsiebericht gebracht!“, rief er dumpf durch das Glas und hielt ein grosses Couvert hoch.
Daniel entriegelte die Tür und liess seinen dummen Kollegen ein.
„Ausserdem ist noch der Bericht von der Spurensicherung dabei. Die Kugel wurde untersucht. Da, lies es durch!“ Max schmiss sich in den Sessel, der in der Ecke von Daniels Büro stand und starrte
Löcher in die Luft, während Daniel das Couvert aufriss und zu lesen begann.
Nichts Neues, wie er nach wenigen Sekunden feststellte. Enttäuscht warf er die Blätter auf seinen Schreibtisch und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Das einzig Gute war die Tatsache, dass der Kerl schnell gestorben war. Die Kugel hatte in ihrem direkten Weg sofort die Aorta durchtrennt und das Herz punktgenau in die Lungenarterie getroffen.
Damit war der Unbekannte innerhalb wenigen Sekunden tot.
Die Kugel selbst stammte mit grosser Sicherheit von einer MSG90.
Max schob Daniel noch ein weiteres Papier zu, das er gar nicht gesehen hatte. Es war eine Liste der Besitzer dieser Waffe in der örtlichen Umgebung.
Daniel überflog die Namen, erkannte allerdings keinen. Trotzdem, beschloss er auch diese näher zu untersuchen. „Kopie?“, fragte er Max, ohne ihn anzuschauen. „Ja, bitte. Ich werd' mir die Liste später ebenfalls nochmal ansehen. Da kann ich 'ne Kopie brauchen und muss nicht gleich wieder zu dir rennen.“
Daniel erhob sich und machte sich eine Kopie von allen Blättern. „Gut. Das wär's. Du kannst wieder gehen. Und... danke.“
Max sprang auf, schnappte sich das Couvert und das Original aller Unterlagen und verliess pfeifend das Büro.
Daniel sah ihm kopfschüttelnd hinterher und schloss hinter ihm die Tür wieder zu.
Gut, damit würde er arbeiten können. Es war nicht viel, aber er erhoffte sich durch die Liste endlich etwas zu finden.
Plötzlich klopfte es erneuert an der Tür und Daniel zuckte verdutzt zusammen. „Ja?“, knurrte er und öffnete Max die Tür, als der Einlass begehrte.
„Ich wollte nur erwähnen, dass du vielleicht mal nach unserer Gefangenen schauen solltest. Die Kleine ist seit heute Morgen alleine.“ Damit verschwand er auch schon wieder, unschuldig grinsend.
Daniel zog ertappt den Kopf ein. Max wusste, dass er die Nacht bei ihr verbracht hatte? Scheisse.
Trotzdem schloss er sofort die Tür hinter sich und hastete zu Kellertreppe. Max hatte dennoch Recht! Sie war jetzt schon seit Stunden alleine und schliesslich immer noch ihre Gefangene.


☼☼☼



Ich langweile mich hier noch zu Tode!
Der Fernseher bringt, trotz meiner winzigen Erfahrung mit dem Teil, nur Schrott und ödes Zeug.
Ein schlechter Horrorfilm hier, eine dumme Komödie da, eine Kindertvshow dort und dann noch irgendwelche Musiksender und Erotikszenen. Paah! Und deswegen sind so viele Leute heutzutage kaum noch loszueisen von dem Ding? Echt unbegreiflich!
Näher kommende Schritte reissen mich schliesslich aus meinem Gestarre auf die Flimmerkiste.
Capster? Sofort spüre ich den winzigen Hoffnungsschimmer in meinem Herzen und erwürge das pochende Dinge in Gedanken gerade erbarmungslos, als die Tür aufgeht.
Tatsächlich. Capster steht in der Tür, breit, gross, muskulös und unglaublich sexy.
Mein Mund wird plötzlich staubtrocken und etwas in mir beginnt erst zu stolpern, dann loszurasen. Oh, mein Herz, das wird es dann wohl sein.
„Alles in Ordnung, Helena?“
Ich zucke bei dem Klang meines Namens zusammen. Helena. So wie er es ausspricht hört sich das an, wie geschmolzene Schokolade, die er sich auf der Zunge zergehen lässt. Himmlisch sexy und verführerisch.
Als er sich räuspert, bemerke ich erst, dass ich viel zu lange geschwiegen habe und ihm eine Antwort schulde.
„Ähm... ja, danke. Alles gut.“
Capster setzt sich in Bewegung, nähert sich mir mit langsamen Schritten, lässt mich keine Sekunde lang aus den Augen.
„Wirklich?“ Ist seine Stimme irgendwie heiser geworden? Sie hört sich jedenfalls plötzlich viel rauer an und herrlich kratzig.
„Ja“, antworte ich leise und schnappe leise nach Luft, als er sich zu mir hinunter beugt.
„Gut, das bedeutet dann auch, dass du nichts brauchst, oder?“ Er hört sich lauernd an, wie eine Raubkatze, die sich gerade bereit macht, für den tödlichen Sprung auf die Beute. Und die Beute bin dann ja wohl ich.
Meine Augen gleiten automatisch tiefer, hängen an den sinnlichen Lippen fest. Lasziv gleitet seine Zunge aus seinem Mund und leckt sich langsam über die Lippen. Ich reisse meine Augen auf und verspüre den unwiderstehlichen Drang, die Arme um seinen Hals zu schlingen und von diesen köstlichen Lippen zu kosten.
Doch Capster kommt mir zuvor, indem er seine köstlichen Lippen einfach auf meine presst.
Alles explodiert, verschwindet in einer Nebelwolke aus Nichts. Nur noch diese weichen Lippen und der Besitzer zählen.
Der anfangs noch sanfte Kuss wird rasend schnell zu einem Waldbrand, der mich bei lebendigen Leibe zu rösten scheint.
Der erste Kontakt mit seiner Zunge ist schliesslich der letzte Auslöser, um mein Hirn aus meinem Kopf zu pusten.
Adieu, Verstand.
Meine Hände reissen an den Knöpfen seiner Uniform, versuchen nichts kaputt zu machen, und gleichzeitig so schnell wie möglich die Beute zu erfassen. Seine unglaublich weiche Haut.
Er hingegen hält sich nicht mit solchen Dingen auf und reisst mir das Kleid, das ich noch immer trage, einfach über den Kopf.
Dann sinkt er auf meinen halbnackten Körper, presst mich in die Tiefen des Sofas und verschlingt meinen Körper mit seinem Mund.
Ich stöhne verzückt auf, als sich seine Lippen um meine Brustwarze schliessen und gierig daran saugen.
Stahlhart drückt sich sein Schwanz gegen mein nackter Oberschenkel.
Genau in diesem Augenblick macht es in meinem Kopf „Klick“ und ich begreife, was wir hier gerade tun.
Schmerzlich denke ich daran, dass er es danach bereuen wird.
Mit allergrösstem Aufwand überwinde ich mich dazu, ihn kraftvoll von mir zu stossen, obwohl es mich innerlich zerreisst.
Ich will ihn so sehr!
Aber er ist tabu. Nein. Er wird es bereuen.
„Was?“ Capster scheint langsam auch wieder zu sich zu kommen und starrt mich aus riesigen Augen an.
„Scheisse!“
Ich schliesse resigniert meine Augen und lasse mich einfach nach hinten fallen. Wenige Sekunden später höre ich die Tür laut ins Schloss fallen und der Schlüssel klimpern, als Capster mich wieder einschliesst.
Ich lasse es einfach. Bleibe liegen und starre an die graue Betondecke über mir.
Die Lust ist verflogen, dennoch habe ich noch immer das Gefühl, seine brennenden Hände auf meinem Körper zu spüren, seine weichen, alles verzerrenden Lippen, die mich verschlingen.
Oh scheisse, Hel! Was hast du da bloss wieder angestellt?
Verzweifelt gleite ich in einen Dämmerzustand, in dem ich nochmal das gerade Erlebte durchlebe.
Plötzlich durchdringt ein scharfer Geruch die Luft und sticht mir in die Nase.
Rauch? Verwirrt blinzle ich und stütze mich auf meinen Ellbogen ab.
Ein dumpfes Poltern erklingt direkt über mir und mein Blick zuckt nach oben. Was ist da los?
„Feuer!“ Jemand brüllt das Wort laut durch die Räume über mir und sofort klingeln meine Alarmglocken. Entsetzt springe ich auf und haste zu der Tür, doch der Gedanke, der mir eben wie ein Gedankenblitz durch mein Hirn geisterte, bewahrheitet sich in Form eines Albtraums.
Abgeschlossen.
Ich bin eingeschlossen und irgendwo da draussen brennt es. Vermutlich ganz in meiner Nähe, dem Geruch nach zu urteilen und den Geräuschen.
Panik brodelt in mir hoch und ich beginne wie von Sinnen an der Türklinke zu rütteln und zu zerren.
Schliesslich werfe ich mich in meiner Verzweiflung mehrmals gegen die Tür und beginne nach Hilfe zu schreien. Doch da draussen scheint es gerade höllisch laut zu sein, niemand hört mich. Und wenn doch, dann ignoriert mich derjenige gerade eiskalt.
Das zum Thema; „Die Polizei, dein Freund und Retter in der Not“!
Der Rauch nimmt zu, meine Augen beginnen zu brennen, ich nehme war, dass sich das Licht im Raum grau verfärbt.
Meine Kehle brennt, als ich erneuert zu einem panischen Hilfeschrei ansetze, doch im nächsten Augenblick wird die Tür aufgestossen und eine riesige Rauchwolke raubt mir die Sicht.
Grobe Hände packen mich, jemand dreht mir schmerzhaft die Arme auf den Rücken.
Ich will gerade ein „Danke“ japsen, als mir ein Tuch auf die Lippen gepresst wird. Erschrocken schnappe ich nach Luft und schmecke den stechend süssen Geruch von Chloroform.
Im nächsten Augenblick versagen meine Beine ihren Dienst und eine traumlose Ohnmacht überkommt mich.


☼☼☼



Das Feuer kam plötzlich.
Daniel war vollkommen durcheinander auf die Männertoilette geflüchtet und hatte versucht, wieder einen klaren Kopf zu bekommen und seine Latte loszuwerden.
Doch genau in dem Moment, als er sich gerade in einer Kabine eingeschlossen hatte und sich mit seiner Faust Abhilfe schaffen wollte, rief jemand laut „Feuer“ durch die Gegend.
Als langjähriger Bulle reagierte sein Körper total instinktiv und er verliess fast schon reflexartig und im Eiltempo die Toilette.
Wäre er nicht gestolpert, wäre er wohl mit heruntergelassener Hose los gerannt.
Das Feuer wurde zu Daniels Entsetzen direkt im Hinterhof des Reviers entzündet, ganz in der Nähe von Hels Aufenthaltsorts.
Von einer verzweifelten Panik gepackt war er sofort zu ihrem Raum geeilt, doch zu seiner Verwunderung stand die Tür sperrangelweit offen.Seine Kumpels hatten mittlerweile das Feuer unter Kontrolle bekommen, doch durch den ganzen Rauch sah er erst mal nichts. Trotzdem wusste er auch schon so, dass sie weg war.
Weg.
Das Wort brach über ihn ein, wie ein dunkler, todbringender Fluch.
Eine Träne rann über seine Wangen, vollkommen aufgelöst liess er sich auf das Sofa sinken, auf welchem sie noch vor wenigen Stunden gesessen hatte.
Auf dem er über sie hergefallen war.
Die Bestürzung, dass sie jetzt weg war, abgehauen, geflohen, zerrte ihn in ein tiefes Loch.
Erst die quäkende Stimme aus dem Fernseher brachte ihn wieder zurück. Mittlerweile hatte sich der Rauch wieder etwas zurückgezogen und er konnte klar auf die laufende Kiste schauen.
Moment mal.
Hel hätte den Fernseher doch nicht laufen gelassen!
Das Adrenalin schoss durch seine Adern, als er aufsprang und sich aufmerksam umsah.
Suchend glitten seine Augen über jedes Detail im Raum und blieben schliesslich an einem Tropfen durchsichtiger Flüssigkeit auf dem Boden, direkt vor der Tür, hängen.
Es könnte Wasser sein, Speichel - oder etwas ganz anderes.
Alarmiert hastete er zu der Stelle und kniete sich hin. Prüfend betrachtete er den Tropfen, der auf dem Betonboden lag und leicht glänzte.
Er fuhr mit dem Finger darüber und schnupperte daran. Sofort roch er den süsslichen Geruch von Chloroform.
Sein Körper war gegen das Mittel immun, trotzdem spürte er sofort den leichten Schwindel.
Gut, hiermit stand für ihn zu 100% fest, dass Hel nicht abgehauen war. Nein, hier war etwas anderes passiert.
Ein Gefühl, das ihn äusserst selten überkam, stieg in ihm hoch; Angst.
Doch zu seiner Verwunderung war es nicht die Angst, um das eigene Wohl, sondern die Angst, um diese eigenartige Frau.

☼☼☼



Ich habe das Gefühl, sterben zu müssen, es aber dennoch nicht zu können.
Es ist, als würde mich etwas am seidenen Faden am Leben erhalten.
Doch diese Schmerzen! Ich will sterben. Will, dass der Faden reisst und mich gehen lässt.
Obwohl ich meine Augen nicht öffnen kann, habe ich das Gefühl, alles würde auf mich einstürzen, der Raum würde sich zusammen ziehen und mich in einen riesigen Strudel ziehen.
Bilder stürzen auf mich ein.
Bilder, Sinneseindrücke, Schmerzen. So grauenvolle, panikerfüllende Schmerzen.
Jemand schreit. So laut, dass meine Ohren schmerzen. Aber der Schmerz ist winzig, im Gegensatz zu dem Rest.
Ich liege in Feuer, werde bei lebendigem Leib verbrannt.
Und zugleich bekomme ich keine Luft mehr, spüre, wie eiskaltes Wasser in meine Haut sticht und mir alles vereist.
Der Schrei wird lauter und lauter, wird verzehrter und schmerzerfüllter.
Verzweifelt bettle ich um Ruhe, bettle darum, dass die Schmerzen verschwinden.
Doch stattdessen fühle ich, wie mir ein Schwall eiskaltes Wasser über das Gesicht geworfen wird und habe ich die Kontrolle über meinen Körper wieder.
Keuchend reisse ich meine Augen auf, schnappe gierig nach Luft.
„So so... meine kleine Helena ist also wieder zuhause. Ich habe dich vermisst, Schätzchen. So fürchterlich vermisst. Hast du mich auch vermisst?“
Diese Stimme.
So vertraut. So schrecklich vertraut.
Alles in mir spannt sich an, alle Härchen auf meinem gesamten Körper stellen sich auf.
Eiskalte Schauer lassen mich erzittern.
„Antworte, meine Süsse. Hast du mich vermisst?“
Meine Augen erfassen die Steindecke direkt über mir. Ich weiss nicht wo ich bin.
Es ist nicht das alte Haus.
Aber es ist dieselbe Frau, die dort gerade auf mich zu trippelt.
Instinktiv versuche ich zurückzuweichen, doch eiskalte Ketten schliessen sich fest um meine Gelenke und halten mich an Ort und Stelle.
Das eiskalte Grauen überkommt mich.
„Nein“, entkommt es mir nur gehaucht. Meine Kehle schmerzt, es brennt alles.
„Wie bitte?“ Der Schatten kommt immer näher, jetzt erkenne ich sie schemenhaft. Verzweifelt schüttle ich den Kopf und stöhne schmerzerfüllt auf, als etwas meinen Schädel zu spalten scheint.
„Nein!“ Diesmal schreie ich das Wort laut und habe das Gefühl, mein Kopf explodiert.
„Nun, dann muss ich dich wohl bestrafen“, säuselt die Hexe, und erinnert an eine Mutter, die ihr Kind für einen Streich mit Schokoladenentzug bestrafen will.
Doch das hier wird keine Strafe in der Art sein, das weiss ich schon viel zu lange.
„Dana? Was denkst du? Wie soll ich sie bestrafen?“
Zu meinem Entsetzen erklingt die dünne Kinderstimme eines kleinen Mädchens.
„Eisen!“, murmelt sie undeutlich und irgendwie orientierungslos.
Ich kenne das Gefühl.
In diesem Alter weiss man noch nicht so genau, was hier geschieht, weiss nicht, wie man damit umgehen soll. Die meisten Kinder akzeptieren es früh, geben auf. Die Seele zerbricht, die Gefühle werden stumpf.
Ich selbst habe alles verdrängt, als ich hier raus gekommen bin. Und doch bin ich jetzt wieder hier gelandet. Gefesselt und kurz vor den grauenvollsten Schmerzen, durch das glühende Eisen, stehend.
„Du hast meine Süsse gehört. Das Eisen wird deine Strafe sein, geniesse es!“
Innerlich lache ich frustriert auf, doch nach aussen wirke ich schon wie abgestorben. Stumpf starre ich an die Decke, bloss um ihren Anblick nicht ertragen zu müssen.
Dennoch kann ich einen winzigen Blick nicht verhindern und bin erschrocken über das Ergebnis. Sie ist gealtert.
Früher war sie zwar schon alt und runzlig, doch ihre Hässlichkeit übertrumpfte dies immer. Jetzt sieht man das Alter fast mehr, als ihr eigentliches Aussehen.
Ihre Gesicht ist runzlig geworden, die Haut ledrig.
Ihre boshaften Augen verschwinden mehr denn je in ihren Höhlen, die hohen Wangen wirken eingefallen.
Überhaupt hat sie mehr denn je Ähnlichkeiten mit einem lebenden Skelett.
„Du hast abgenommen“, murmle ich abwesend und starre weiter vor mich hin.
„Kein Wunder! Ich bin fast gestorben, vor Sorge um dich! Schätzchen, du hast mir das Leben echt schwer gemacht! Es hat eine Ewigkeit gebraucht, bis dich mein Mario endlich gefunden hat! Du hast dich gut versteckt. In einem Nuttenviertel! Das hätte ich auch nicht gedacht! Aber, wie die Mutter, so die Tochter, nicht wahr?“
Ein gequälter Laut entkommt mir, als ich an meine dumme, naive Mutter denke.
Der Alkohol hat ihr auch nichts gebracht.
Ohne das Zeug hätte sie sich vielleicht noch wehren können, aber so? Sie hatte eben keine Chance. Weder gegen meinen gewalttätigen Vater, noch gegen die Alte und ihre Leute.
Ich hatte es ja auch nie.
Nur durch diesen einen Zufall konnte ich da raus.
Die Erinnerungen überkommen mich wieder und wieder, spielen sich in einer Endlosschleife in meinem Gehirn ab.
Es ist alles wieder da. Grauenhaft, furchterregend und schmerzvoll. Jetzt verstehe ich auch, warum mich der Anblick des toten Freiers so aus der Bahn geworfen hat.
Man müsste denken, ich wäre durch dieses Leben bei der Alten daran gewöhnt, mit solchen Dingen umzugehen.
Doch es ist genau das Gegenteil passiert. Den Mann, tot, erschossen, direkt im Nebenraum, wenige Meter neben mir, ihn so zu sehen, dieses Wissen zu haben, genau das hat mich so umgeworfen.
Feuer in ein paar Meter Entfernung knistert und wird grösser.
Hitze sticht in meine Haut.
Panische Angst zieht alles in mir zusammen. Ich weiss was jetzt kommt.
In Erwartung des grauenhaften Schmerz, der gleich kommt, wappne ich mich, versuche Zugang in meine andere Welt zu bekommen.
Doch als die Alte das glühende Eisen auf meinen Bauch presst, ist noch tausendmal schmerzvoller, als in meinen Erinnerungen. Wie von weit weg höre ich einen lauten, durchdringenden Schrei, merke gar nicht, dass ich es bin, die da schreit.
Mein Gehirn versucht panisch die Eindrücke zu verarbeiten, doch wie schon früher, kommt es nicht mehr mit.
Ich stürze in ein Delirium, bestehen aus Schmerz und trostlose Dunkelheit.
Das Eisen entfernt sich, doch der Schmerz nimmt immer mehr zu, verätzt meine Haut, meine Seele.
Wieder spüre ich das Eisen, erneuert überrollt mich eine riesige Welle Schmerz.
Die Ohnmacht rückt näher, doch bevor ich mich in ihr verlieren kann, löst die Alte das Eisen wieder, erhält mich auf grauenhafte Weise bei Bewusstsein.
Panisch suche ich nach dem Teil meines Gehirns, in dem sich meine Fantasie, meine Welt befindet.
Und plötzlich ist alles weg.
Der Schmerz, die Gedanken, alles ist verschwunden.


☼☼☼



Daniel ging ruhelos hin und her.
Seine Gedanken rasten.
Immer wieder und wieder überdachte er alles, was er über Helenas Vergangenheit wusste.
Alles verzerrende Panik raste durch seine Adern, er wusste, dass er sich beeilen musste, ahnte, dass Hels Leben am seidenen Faden hing.
Er wusste, dass ihr altes Leben, vor der Zeit als Hure, daran Schuld war.
Mit grossen Schritten raste er hinauf in den Videoüberwachungsraum.
Hastig suchte er nach dem Schlüssel, versuchte ihn so schnell wie nur möglich ins Schloss zu schieben, was erst nach fünf fahrigen Versuchen funktionierte.
Kaum war die Tür offen, als er auch schon vor den 12 Fernseher stand, auf denen sich vielleicht die Antwort verbergen könnte. So schnell, wie möglich suchte er den Fernseher, der den nördlichen Teil des Reviers und den Hinterhof überwachte.
Es war der letzte.
Mit schweissnassen Fingern suchte er nach der Taste, mit der er das Video zurückspulen konnte.
Endlich fand er ihn und drückte hastig darauf.
Sein Blick glitt zu der Uhr über ihm und er überrechnete, wann das Feuer in etwa ausgebrochen war.
Wie in weiter Ferne nahm er wahr, dass sich die Tür öffnete und jemand neben ihn trat.
„Daniel, was tust du da? Wir können das erst später gemeinsam durchsehen, es bringt noch nichts, jetzt schon nach dem Brandstifter zu suchen!“
Max bedachte seinen Freund mit einem verwirrten Blick. Daniel reagierte nicht.
Er starrte wie gebannt auf den Bildschirm, drückte hin und wieder auf einen Knopf, spulte etwas zurück, spielte es wieder ab.
„Da!“, schrie er plötzlich unnatürlich laut.
Es war kurz vor dem Zeitpunkt, als das Feuer ausbrach.
Man sah ein kurzes Flimmern, ehe die Tor des Hinterhofs aufgingen und ein Lieferwagen hineinfuhr.
Zwei Männer stiegen aus, hielten sich allerdings immer so, dass man ihre Gesicht nicht erkennen konnte.
Sie beide hasteten auf die Tür zu, die ins Revier führte. Der eine trug eine grosse Kiste bei sich, die er jetzt mühsam dem anderen hinterher schleppte.
Die zwei verschwanden im toten Winkel der Kamera und Daniel fluchte leise, wartete jedoch ungeduldig ab.
Max starrte ihn verwirrt an. Daniel wirkte unkonzentriert, als würde etwas nicht stimmen. Seine Augen waren riesig, glänzten stumpf.
„Was ist los, Daniel? Es kann doch nicht sein, dass dich ein dummes Feuer so in Rage bringt!“
Daniel fuhr sich hastig über seine schweissbedeckte Stirn und bemerkte zum ersten Mal, dass Max neben ihm stand.
„Sie ist weg“, flüsterte er mit krächzender Stimme. Max runzelte die Stirn. „Wer ist weg, Daniel?“
Doch dieser reagierte nicht mehr, starrte wieder wie gebannt auf den Bildschirm. Und plötzlich begriff Max.
„Helena. Ist sie etwa geflohen?“ War das etwa ein abgekartetes Spiel der Kleinen?
„Nein!“, schrie Daniel fiel zu laut und Max schreckte zusammen.
„Entführt! Chloroform.“, murmelte er und hörte sich vollkommen hysterisch an. Max runzelte die Stirn. Chloroform? „Wo hast du Chloroform gefunden.“
„Vor ihrem Zimmer. Der Fernseher, er lief. Das passt nicht“, hauchte Daniel und beobachtete, wie sich auf dem Bildschirm zum ersten Mal etwas veränderte. Eine winzige Veränderung in der Luft war zu sehen. Dann wurde es stärker und man erkannte Rauch, der aufstieg.
Immer mehr und mehr, er verdeckte mittlerweile fast die ganze Sicht der Kamera.
Daniels Augen rissen sich panisch auf, er versuchte etwas zu erkennen.
Wie gebannt starrte er auf die Rauchwolken und dachte fieberhaft nach.
Der Lieferwagen. Er musste das Kennzeichen herausfinden und ihn zurückverfolgen.
Er musste sie finden. Musste sie retten.
„Daniel! Schau mal! Da kommt wer durch den Rauch!“, Max beugte sich neben Daniel und starrte konzentriert auf die Silhouette im Rauch. Es waren zwei Menschen. Und sie trugen etwas zwischen sich. Einen Sack? Nein, es sah anders aus. Der Rauch lichtete sich für einen ganz kurzen Moment und beide Männer erkannten ohne Zweifel Hels Haare. Sie hing bewusstlos zwischen den beiden Männern.
Die beiden schienen die Hintertür zu öffnen und warfen den leblosen Körper hinein. Kurz darauf erkannte man, wie der Wagen gewendet wurde und durch das Tor davon raste.
Daniel schlug fluchend auf die Tischplatte.
„Beruhige dich, wir finden sie.“ Max schob den aufgelösten Bullen zur Seite und machte sich an de Gerät zu schaffen.
Er spulte wieder zurück, bis zu dem Augenblick, als der Rauch sich lichtete und man Hel erkennen konnte.
Dann drückte er auf eine andere Taste und das Bild begann sich in Slowmotion zu bewegen. Sie beobachteten durch den Rauch, wie die Männer um den Wagen liefen, wendeten und davon fuhren.
Daniel atmete schneller und schien kurz vor einer Panikattacke zu stehen.
Max warf einen flüchtig Blick auf seinen Kollegen und murmelte: „Daniel. Reiss dich zusammen. Ich brauch dich jetzt, und zwar nicht als verliebter, unberechenbarer Volltrottel, sondern als Polizist. Atme tief ein und aus und reiss dich zusammen. Wenn du das nicht für mich tun kannst, dann tus für Hel!“
Daniel blinzelte hektisch und versuchte den Sinn seiner Worte zu verstehen.
Dann kapierte er endlich und atmete tief durch. Sofort beruhigte sich sein Körper wieder ein bisschen.
Er konzentrierte sich und spürte, wie sein Körper sich entspannte und er langsam wieder zu dem Polizisten wurde, zu dem man ihn ausgebildet hatte.
Konzentriert sich und drückte auf die Wiederholungstaste, um nochmal zurück zu gelangen. Max atmete erleichtert aus und übergab ihm die Kontrolle.
Daniel beobachtete das Geschehen und drückte genau dann auf Stopp, als der Wagen kurz vor der dem Tor angelangt war.
„Ich muss mehr ran kommen. Max, hol Fletcher!“ Max nickte, sprang auf und verschwand eilig.
Fletcher war das absolute Ass, wenn es um Computer ging. Nur er würde es schaffen, das Bild zu vergrössern und zu verschärfen.
Ausserdem würde er auch gleich das Nummernschild verfolgen können. Daniel konnte das natürlich auch, brauchte allerdings meist mehr Zeit.
Wenige Minuten später ertönten hastige Schritte und Fletcher stürzte mit Max in dem Raum. Ohne ein Wort schob er Daniel beiseite und machte sich ans Werk.
„Okay, ich muss das Bild zuerst vergrössern. Ob ich es schräfer bekomme, stellt sich danach heraus.“
Aus seiner Hosentasche holte er sein IPhone und ein Kabel, das er an den Bildschirm anschloss.
Kurz darauf hatte er sich per IPhone eine eigene Tastatur geschaffen, auf die er jetzt wie wild einhackte.
Im nächsten Augenblick wurde das Bild grösser, zoomt den Wagen mehr heran, bis sie ungefähr auf Kennzeichenhöhe waren.
Doch durch den Rauch war das Bild ziemlich unscharf.
Wenige Sekunden später veränderte sich allerdings auch das und es wurde schärfer.
Fletcher fluchte und versuchte es nochmal, mit wenig Erfolg. „Sorry Jungs, mehr bekomm ich nicht hin. Könnt ihr da was erkennen?“
Daniel und Max schoben sich wieder näher und starrten konzentriert auf den Bildschirm.
„Das erste ist ein X. Und das daneben könnte ein F sein... Danach eine 5. Oder ist das eine 8?“ Max schüttelte den Kopf und murmelte: „Das ist eine 3. Danach kommt eine 5. Fletcher kannst du das aufschreiben und die Nummer zurückverfolgen?“
Fletcher nickte hastig und tippte etwas auf sein Handy.
„Okay, ich hab's gleich.“ Er wartete ungeduldig.
„So, der Wagen ist Eigentum einer Dandellia Kofflos.“
Er nannte eine Adresse, die etwa eine halbe Stunde vom Revier entfernt war.
„Gut! Such die Adresse und zeig mir das Haus!“ Daniel sprang auf und trat neben seinen Kollegen.
Wenige Sekunden später zeigte sich auf dem Handy eine weite Fläche, auf der ein einsames, aber ziemlich grosses Steinhaus stand.
„Okay, ich muss dahin. Das ist unsere einzige Chance. Max, du kommst mit. Fletcher, du musst uns per Funk begleiten und Verstärkung anordnen, wenn etwas schief geht.“
Normalerweise würde er zuerst mit seinem Vorgesetzten sprechen, doch die Angst um Hel liess ihn ohne zu Zögern handeln.
Max rannte ihm hinterher, als sie zu Daniels Polizeiwagen rannten.
„Bist du dir sicher, dass wir niemanden noch mitnehmen?“ Max zweifelte ein bisschen an der Denkkraft seines Freunds, doch auch er machte sich Sorgen um die junge Frau.
„Ist mir egal. Ich muss Hel retten.“ Daniel startete den Wagen und fuhr in halsbrecherischem Tempo los. Wenige Sekunden später erklang die Sirene.
Kaum waren sie aus der Stadt, schalteten sie den durchdringenden Ton wieder aus, denn sie wollten den Überraschungseffekt nutzen.
Obwohl er als Polizist immer auf die Regeln achtete, drückte er jetzt das Gaspedal durch und raste in halsbrecherischem Tempo über die Schnellstrasse.
Nach knappen 25 Minuten wurde er nervös, denn noch immer entdeckte er die Ausfahrt zu dem Haus nicht.
Was, wenn sie sich verfahren hatten? Was, wenn er falsch abgebogen war? Nein, unmöglich!
So viel Pech durfte er einfach nicht haben!
Er raste weiter und starrte auf die linke Seite, wo die Ausfahrt liegen müsste.
„Da! Ich glaub, das ist sie!“ Max zeigte auf eine kaum sichtbare Veränderung in der Strasse und Daniel ging vom Gaspedal.
Tatsächlich schien sich in der Landschaft etwas verändert zu haben und wenn man genau hinsah, erkannte man verblasste Reifenspuren,
Sofort wendete er den Wagen und fuhr die Strasse hinauf.
Fünf Minuten später sahen in der Ferne das Steinhaus.
Daniel fuhr den Wagen hinter ein Gebüsch und stieg zusammen mit Max aus.

☼☼☼

Ich fühle mich schwerelos.
Es ist, als wäre mein Körper leicht, wie eine Feder.
Langsam öffne ich die Augen und schaue direkt in den strahlend blauen Himmel.
Schmetterlinge flattern über mich hinweg, ein warmer Wind streicht über meinen Körper.
Langsam setze ich mich auf und sehe mich um.
Ich befinde mich auf einer riesigen Wiese, die aus tausenden Wildblumen besteht.
„Helena? Hel, wo bist du?“
Wie von weit weg höre ich die tiefe, so geliebte Stimme, die mich tief in meinem Herzen berührt.
„Daniel! Hier bin ich! Komm zu mir!“
Suchend sehe ich mich um – und dann sehe ich ihn.
Strahlend rennt er auf mich zu, reisst mich in seine starken Arme und wirbelt mich im Kreis herum.
„Oh, Hel! Ich hab dich schrecklich vermisst!“
Ich lache auf udn kuschle mich an seinen breiten Körper, fühle mich geborgen und getröstet.
„Daniel, ich liebe dich so sehr“, flüstere ich an seinem Hals und küsse sanft seine Haut.
Ein rauer, tiefer Ton entkommt seiner Kehle, er wirbelt mich herum und legt mich wieder ins Gras.
„Oh, meine Schöne... Du ahnst gar nicht, wie sehr ich dich liebe! Ich würde alles für dich tun!“
Seine Lippen senken sich auf meine, rauben mir den Atem.
Mein Herz macht einen freudigen Sprung, ich kralle mich bettelnd in seinen Armen fest, ziehe ihn noch dichter zu mir.
„Ich liebe dich... Ich liebe dich“, immer wieder flüstere ich diese drei Worte, wie ein Mantra. Und es ist die Wahrheit. Ich liebe diesen Mann.
Daniel lässt sich neben mich aufs Gras fallen und zieht mich auf seine Brust.
Sanft streichelt er über meine Wange und betrachtet mich mit einem unglaublich zärtlichen Blick, der mir durch und durch geht.
Plötzlich verändert sich etwas. Sein Blick wird gehetzt, nervös schaut er sich um. Verwirrt suche ich nach der Ursache seiner Unruhe.
„Was ist los, Daniel?“
Doch Daniel muss mir nicht antworten, stattdessen sehe ich, wie sich der Himmel rasend schnell verdunkelt und eine dunkle Macht auf uns zurast.
„Denkst du wirklich, du kannst dich in deinen naiven Träumen vor mir verstecken? Ich bin mächtiger als du, Hel, Tochter des Satans!“
Das Gesicht der Alten erscheint furchterregend riesig im Himmel, mit ihr ziehen schwarze Wolken auf.
Nasse, schwere Tropfen treffen meine Haut, im ersten Moment denke ich es regnet, doch dann begreife ich, dass das kein Wasser ist, sondern Blut.
Es regnet Blut.
Hilfesuchend sehe ich mich nach Daniel um, der zurückgewichen ist.
Er flackert, scheint durchsichtig zu werden, verschwindet immer mehr.
„Daniel! Bleib hier! Verlass mich nicht!“
Heisse Tränen fliessen über meine Wangen, doch es ändert nichts. Wenige Sekunden später ist seine Gestalt verschwunden und ich bin alleine mit dem Monster.
„Daniel! Bitte! Hilf mir!“ Die Alte kommt näher, die Dunkelheit nimmt zu, verschlingt mich, erdrückt mich.
„Nein!“
Mein Schrei ist das Letzte, was ich noch wahrnehme.

☼☼☼

Ein Schrei voller Qual erklang.
Daniel zuckte heftig zusammen. Die Härchen auf seinem Nacken stellten sich auf.
„Hel“, flüsterte Max die schmerzvolle Bestätigung seines ersten Gedankens.
Daniels Schritte beschleunigten sich automatisch. Er musste sie retten. Er musste sie da raus holen.
Inzwischen war er sich sicher, dass das hier mit der Alten zu tun hatte, die sie damals entführte.
Vollkommen angespannt rannte er los und erreichte das Haus als erster.
Er duckte sich unter dem Fenster durch und presste sich an die Wand.
Es war still. Unheimlich still.
Kein Laut, nichts durchdrang die Ruhe.
Max setzte sich neben ihn und lauschte ebenso angestrengt.
„Ich hör niemanden“, flüsterte er tonlos. Daniels Gehirn zeigte ihm schreckliche Bilder von Hel, tot, kalt auf dem Boden liegend.
Ein eiskalter Schauer raste durch seinen Körper und liess ihn erzittern.
Was wenn er zu spät kam? Was wenn sie... Nein! Das durfte nicht sein! Hel musste leben!
Entschlossen stand er auf und warf einen Blick in das Haus.
Er sah direkt in eine leere, schmutzige Küche, die aussah, als stünde sie seit Jahren leer.
Verwirrt versuchte er ein Anzeichen von Leben zu finden, doch da schien nichts zu sein.
„Versuchen wir es auf der anderen Seite!“, flüsterte Max und huschte davon.
Daniel folgte ihm und warf bei jedem Fenster einen Blick hinein, doch es sah überall gleich aus.
Schmutzig, staubig, verlassen.
Er runzelte verwirrt die Stirn.
„Das kann nicht sein! Ich hab sie gehört! Wir müssen da rein!“
Mit grossen Schritten umrundete er das Haus wieder und erreichte die Eingangstür, deren Lack vollkommen zerfressen und abgeblättert war.
Vorsichtig drückte er die Klinke runter, doch es tat sich nichts.
„Abgeschlossen!“, fluchte er.
„Still! Ich hör was.“ Max schien angestrengt zu lauschen. „Ich glaub... da kommt ein Auto. Ja, sieh nur! Da hinten kommt ein Geländewagen!“ Daniel reagierte blitzschnell und zerrte Max hinter das Haus.
„Die dürfen uns auf keinen Fall sehen!“, flüsterte er leise und lauschte angestrengt.
Das Auto schien jetzt vor dem Haus stehen zu bleiben, der Motor erstarb.
„Los, Mono wird schon ungeduldig warten!“, rief eine dumpfe Männerstimme.
Obwohl Daniel wusste, dass sie in Gefahr schwebten, konnte er sich nicht zurückhalten und linste um die Ecke.
Zwei grosse, bullige Männer liefen gerade auf ein grosses Gebüsch direkt ihnen gegenüber zu, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen.
Erst als sie das Gebüsch erreicht hatten sahen sie sich kurz um, sodass Daniel zurückweichen musste.
Daniel wartete eine Sekunde lang und schob sich wieder vor.
Der grössere von beiden zog gerade das Gebüsch zur Seite und gab den Blick frei auf ein altes Toilettenhäuschen mit typischem Herzchen.
Verdutzt runzelte er die Stirn und beobachtete, wie die beiden Männer zusammen in der Toilette verschwanden.
„Was zum Teufel machen die?“, fragte er leise, eher an sich selbst gerichtet.
Max schob sich neben ihn und zuckte die Achseln.
„Egal. Finden wir es raus!“
Max lief einfach los, direkt auf das Gebüsch zu.
Daniel warf noch einen Blick auf den Geländewagen und merkte sich die Nummer.
Max hatte inzwischen das Häuschen erreicht und die Tür aufgerissen. In der Linken hielt er seine Dienstwaffe.
„Das Ding ist leer! Wo sind die Kerle hin?“ Verwundert warf Daniel ebenfalls einen Blick hinein und musste Max zustimmen. Die Toilette war leer.
„Aber... ich hab doch mit eigenen Augen gesehen, dass sie da rein sind!“
Er umrundete das Häuschen, aber entdecken konnte er nichts.
„Warte mal! Ich glaub ich hab da was! Komm mit rein, Danny!“
Max winkte ihn zu sich und schob sich mit ihm zusammen in die enge Kabine. Es stank, die Toilette sah vollkommen verdreckt und eklig aus.
„Schau! Ich glaub, das hat einen Mechanismus drin! Halt dich fest!“
Er deutete auf den Hebel, mit dem man die Spüle betätigen konnte und zog sie mit einem Ruck runter.
Die Toilette begann zu rütteln.
Erschrocken klammerte sich Daniel an Max fest und starrte auf die Toilette.
„Was passiert hier?“
Max zuckte die Achseln und sah sich um. Das Herz-Fenster wurde dunkel und liess kein Licht mehr ein. „Ich glaub, das ist ein Aufzug! Spürst du das nicht? Wir fahren nach unten!“ Tatsächlich spürte Daniel das altbekannte Gefühl, wenn man in einem Aufzug runter oder hoch fuhr.
Er fühlte sich unwohl, der einzige Gedanke der ihn bestärkte, war Hel.
Mit einem Ruck blieb die Kabine stehen und Max schob leise die Tür auf.
Sie befanden sich in einem leeren Gang, der nur mit ein paar Fackeln beleuchtet wurde, die spärliches Licht verbreiteten. „Okay, wir müssen da durch.“
Daniel lief los und lauschte angestrengt nach einem auffälligen Geräusch. Weit weg schien er Stimmen zu hören.
„Stopp! Ich glaub, da kommt jemand!“, zischte Max plötzlich und hielt ihn am Arm fest.
Daniel lauschte und hörte tatsächlich Schritte, die direkt auf sie zuzukommen schienen.
„Scheisse! Wir müssen zurück!“
Max erwiderte nichts, sondern rannte einfach los, Daniel dicht hinter sich.
Sie erreichten den Aufzug und fuhren wieder hoch, wo sie wieder zum Haus zurück rannten und dort wieder versteckten.
„Scheisse, das ging ja gerade noch gut!“, fluchte Max leise und kniff die Augen zu. Daniel liess sich neben ihn gegen die Steinwand sinken und atmete tief durch.
Er hatte das Gefühl, die Zeit liefe ihnen langsam immer mehr davon.
Etwas sagte ihm, dass Hel da nicht mehr lebend raus kommen würde. Sie hörten, wie sich Schritte näherten und das Auto geöffnet wurde.
Daniel linste um die Ecke und beobachtete die beiden Männer, die gerade etwas aus dem Wagen holten.
Plötzlich kam ihm die rettende Idee.

☼☼☼

„Wieder unter den Lebenden, Schätzchen? Glaub mir, so einfach entkommst du mir nicht! Die Masche mit den Träumchen kenn ich schon!“
Die Alte lacht gehässig und gibt mir einen schmerzhaften Tritt in die Rippen. Ich zucke nicht einmal mehr zurück, mein Körper ist viel zu schwach.
Alles scheint sich zu drehen, mein Kopf explodiert gleich und mein Bauch fühlt sich an, als wäre er mit Säure verätzt worden.
„Nun denn, ich bin noch nicht fertig mit dir, Liebling. Dana, meine Süsse. Was schlägst du vor?“
Ein dumpfes Schluchzen kommt aus der Dunkelheit, doch ich bin schon viel zu geschwächt, um diesen Laut aufzunehmen.
„Mutter, du kannst ihr doch nicht so wehtun!“, flüstert das dünne Kinderstimmchen gebrochen.
Der Sinn ihrer Worte kommt bei mir nicht an, dennoch höre ich ihrer Stimme an, wie sehr sie gequält wird von meinem Anblick.
Ein schwaches Lächeln huscht über meine Züge. Ich wünsche mir von Herzen, dass Daniel wenigstens die Kinder vor ihr rettet.
Ich selbst werde nicht mehr lange durchhalten.
Das Eisen ist für mich jedes mal das kräftezehrendste gewesen.
Ich spüre schon, wie die Dunkelheit langsam näher kriecht und die Kälte immer mehr die Oberhand über meinen schwachen Körper gewinnt.
Die Alte schreit etwas, doch es ist mir egal. Mein Körper fühlt sich leicht an, die Schmerzen schwinden mehr und mehr.
Ich weiss, dass ich nicht mehr lange durchhalte und wünsche mir sehnlichst, noch ein letztes Mal Daniels Gesicht zu sehen.
Ein lauter Knall ertönt, reisst mich für ein paar kostbare Sekunden aus meiner Trance, doch wenige Sekunden verschlingt mich der Nebel auch schon wieder.
Mit allerletzter Kraft öffne ich nochmal meine Augen und versuche zu sehen, was dort hinten passiert.
Verschwommen nehme ich wahr, wie die Tür aufgestossen wird und zwei grosse Männer hereinstürmen. In meinem Zustand meine ich, in dem einen Mann Daniel zu erblicken, doch meine Sehkraft nimmt immer mehr ab, an den Ecken kriecht der Schatten hoch, verzerrt das Bild immer mehr und mehr.
„Oh, Daniel... ich liebe dich.“
Mein Körper schwindet, ich spüre nichts mehr.
Ich wusste gar nicht, dass sterben so schön sein kann...

☼☼☼

„Wir waren zu spät, Daniel.“
Max legte seinem Freund tröstend den Arm um die Schulter.
„Es tut mir leid.“
Er wandte sich ab und nickte einem Kollegen zu, der die alte, zeternde Frau abführen wollte und nur noch auf sein Signal gewartet hatte.
Max war enttäuscht. Auch er hatte gehofft die Kleine noch retten zu können.
Er warf einen Blick auf ihre verkümmerte Gestalt. Es schien so, als würde sie schlafen. Die Lippen waren zu einem sanften Lächeln verzogen. Nur mit äusserster Kraft widerstand er den Tränen, die in seine Augenwinkel stiegen.
Daniel hingegen hatte jegliches Schamgefühl abgelegt und schluchzte mittlerweile rein gar nicht wie ein starker, unbezwingbarer Polizist.
Er hatte sein Gesicht an der Schulter seiner Geliebten geborgen und weinte nur noch hemmungslos.
Max schüttelte bekümmert den Kopf und wandte sich von dem herzzerreissenden Bild ab, um seinen Männer Befehle zu geben.
„Hey, Max! Hilf mir mal! Die Kleine hier lässt sich nicht anfassen!“ Die hilflose Stimme eines Kollegen riss ihn aus seinen Gedanken. Max nickte geistesabwesend und lief in den dunklen Ecken, wo er seinen Kollegen vermutete.
Tatsächlich stand er über ein kleines, zitterndes Bündel gebeugt, das sich als völlig verwahrlostes Mädchen herausstellte.
Wenigstens würden er und seine Männer ein paar unschuldige Kinder retten können. Dass es hier nämlich noch weitaus mehr Kinder gab, hatten er und Daniel schon vorhin begriffen.
Es machte ihn unsagbar wütend, diese unschuldigen Kinder so zu sehen.
Er schickte den Mann weg und setzte sich neben das Mädchen.
Die Kleine schluchzte immer wieder leise in ihre schmutzigen Kleider, ihr Gesicht war vollkommen im Schatten verborgen.
Max nahm wahr, dass sie nicht besonders alt sein konnte, vielleicht 10 oder 11. Ein kalter Schauer liess seinen Körper erzittern.
So klein, so unschuldig.
Wie konnte man diesen Kindern nur solch grausame Dinge antun?!
Sein Blick wanderte zu dem Eisenstab, der mit Blut verschmiert war. Er ahnte bereits, wessen Blut es war.
Vorhin hatte er die blutigen Spuren auf Hels Körper gesehen.
Das Mädchen neben ihm schien sich endlich zu beruhigen und schluchzte nur noch hin und wieder leise auf.
„Hey, Kleine. Wir tun dir nichts. Keine Angst“, flüsterte Max leise und beugte sich ein wenig zu ihr.
Er hob die Hand und wollte ihr beruhigend über das Haar streichen, doch als sie sich sofort versteifte und zurückwich, unterliess er es und flüsterte stattdessen lieber beruhigendes, unnützes Zeug, deren Sinn nicht einmal er selbst verstand.
Sein Blick glitt wieder zurück zu seinem Freund und plötzlich packte ihn die Wut.
Nein! Helena durfte nicht sterben! Nicht so.
Von weit weg hörte er die Sirenen des herannahenden Krankenwagens und er sprang augenblicklich auf.
„Zeigt den Sanitätern den Weg! Sofort! Wir müssen alles versuchen, Helena wird nicht sterben!“, rief er laut und scheuchte seine Männer voran.
Dann trat er zu Daniel und schüttelte leicht seine Schultern.
„Daniel! Wir müssen sie hier raustragen! Sie muss so schnell wie möglich in ein Krankenhaus kommen! Komm schon, hilf mir!“
Daniel hob langsam den Kopf und starrte ihn aus leeren Augen an.
„Es ist doch schon zu spät“, flüsterte er leise und liess die Tränen einfach laufen.
Max schüttelte sich innerlich bei dem verlorenen Anblick seines Freundes, doch er liess sich nichts anmerken.
„Nein, ist es nicht! Hilf mir einfach, okay?!“
Daniel nickte abwesend und erhob sich schwerfällig.
Fünf Männer mit einer Trage stürmten den Raum und schubsten die Polizisten grob aus dem Weg.
„Hier!“, rief Max ihnen zu und winkte heftig mit den Armen. Die Männer steurten sofort auf sie zu und legten die Trage neben ihr ab.
Ein grosser Mann mit rotgrüner Weste beugte sich über Hels bewegungslose Gestalt und hörte ihren Puls ab, der nur noch ganz schwach zu hören war.
Er gab seinen Männern einen Wink und hiefte Hel zusammen mit ihnen vorsichtig auf die Trage.
Ohne ein Wort zu verlieren verliessen sie im Laufschritt den Raum wieder und hasteten davon.
„Geh mit ihnen, Daniel! Du darfst sie jetzt nicht alleine lassen!“ Max schüttelte seinen Freund heftig durch. Dieser stand einfach nur herum und starrte ins Leere. Alles Leben schien aus ihm gewichen zu sein.
„Man! Daniel!“ Es klatschte.
In seiner Verzweiflung hatte er ihm eine kräftige Ohrfeige gegeben. Daniel zuckte zusammen und schüttelte leicht den Kopf.
„Hey, was sollte das denn?“ Sein Blick versuchte ihn zu erfassen, doch noch immer schien er Schwierigkeiten zu haben, überhaupt etwas zu begreifen.
Max packte ihn einfach und zerrte ihn zum Lift. „Na los, geh schon!“
Endlich begriff der bullige Mann und das Leben schien wieder ein bisschen in ihn zurückzukehren.
„Ich komme später nach!“, rief Max ihm noch zu und beobachtete, wie Daniel in den Lift stieg und hinauffuhr.
Na endlich!
Er drehte sich um und machte sich an die Arbeit.

☼☼☼

„Ihre Herzfunktion ist wieder stabil. Dennoch scheint etwas...“
„...wird doch wieder alles...“
„... warten müssen... sehen...“
Immer wieder scheint die Dunkelheit von Fetzen eigenartiger Wörter unterbrochen zu werden.
Ich spüre meinen Körper nicht. Der einzige Gedanke, der mir konstant bleibt, ist die Frage, wo ich bin.
Doch immer, wenn ich die Antwort gefunden habe, wird alles durcheinander gewirbelt und ich vergesse alles wieder.
Hin und wieder kommt es mir so vor, als würde jemand mit mir sprechen, doch die Worte erreichen mich nicht...
„...komm zurück!“, schreit jemand, doch da kriecht die Dunkelheit auch schon wieder heran und zieht mich in eine erneuerte Bewusstlosigkeit ohne jeglichen Sinn.


„... schon so lange bewusstlos... machen?“
Ich fühle mich, als würde ich träumen. Ich kann jemanden sprechen hören, verstehe den Sinn der Worte sogar wieder einigermassen, aber ich kann einfach nicht unterscheiden, ob es Wirklichkeit ist, oder nur ein Traum.
„... sie wird verurteilt... 33 Kinder gefunden... nichts dagegen unternehmen können...“
Ich kenne diese Stimme... wer ist das bloss?
„...werde nicht zulassen, dass sie davon kommt! Sie wird hinter Gitter kommen!“
Daniel?
Ist das Daniel?
Verzweifelt versuche ich mich auf seine Stimme zu konzentrieren, doch kaum bin ich mir sicher, dass es Daniel ist, der da spricht, als auch schon wieder die Dunkelheit kommt und mich erneuert wegzerrt.

„Mister Capster? Ihre Freundin muss jetzt leider in die Untersuchung. Dr. Layer wird Ihnen Bescheid geben, wenn wir fertig sind. Wir müssen Sie bitten, den Raum jetzt zu verlassen.“
Die sanfte Stimme einer unbekannten Frau zieht mich wieder aus meiner Bewusstlosigkeit.
Was hat sie da gesagt? Untersuchung? Wofür? Es geht mir doch gut! Und Daniel soll gehen? Nein!
Ich will die Augen aufmachen und Daniel daran hindern, mich alleine zu lassen. Allein der Gedanke verursacht mir Schmerzen.
„Daniel, bleib bei mir“, würde ich am liebsten laut schreien, doch kein Laut entkommt meiner Kehle. Überhaupt spüre ich nichts. Ich scheine keinen Körper mehr zu haben!
Die Angst kriecht in mir hoch und vernebelt meine Sinne von neuem.

„Wir müssen warten. Sie wird schon wieder. Das war eine anstrengende Operation, Daniel. Du kannst nicht erwarten, dass sie einfach wieder aufspringt und alles in Ordnung ist! Wir können froh sein, dass sie noch lebt.“
Ich kenne die Stimme, kann ihr allerdings kein Gesicht zuordnen.
Plötzlich wird mir bewusst, dass ich meinen Körper wieder habe. Doch als ich die Augen endlich öffnen will, gelingt es mir nicht, den richtigen Befehl an mein Gehirn zu senden. Noch immer kann ich mich nicht rühren!
Ein schwacher Hauch von Panik, vermischt mit Resignation macht sich in mir bemerkbar.
Verzweifelt lasse ich zu, dass ich erneuert weg sinke in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Heftige Kopfschmerzen reissen mich irgendwann aus meiner Ohnmacht.
Stöhnend hebe ich die Hand und greife mir an die Schläfen.
Oh Gott, bitte mach, dass dieser Schmerz aufhört!
Flatternd öffnen sich meine Lider. Sofort schliesse ich sie wieder, als ein viel zu grelles Licht mir tausend Dolche durch den Schädel schiessen lässt.
Ich versuche mich zu konzentrieren und werde mir zum ersten Mal meinem Körper bewusst.
Okay, kann ich mich bewegen?
Versuchsweise balle ich die Hände zu Fäusten und bewege meine Zehen. Okay, was geht noch? Vorsichtig hebe ich mein linkes, dann mein rechtes Bein, gefolgt von meinen Armen.
Zufrieden lasse ich mich in die weichen Kissen sinken und öffne nochmal ganz leicht die Augen. Wieder ist das Licht viel zu hell, doch nach kurzer Zeit gewöhne ich mich daran und kann mich endlich in dem Raum umsehen, in dem ich mich befinde.
Es ist alles ganz hell und weiss. Richtig steril.
Das einzig Bunte sind ein paar riesige Blumensträusse, die direkt neben meinem Bett stehen. Von wem die wohl sind?
Mit einem Schlag wird mir bewusst, dass ich mich in einem Krankenhaus befinde.
Wie bin ich hier hergekommen?
Das letzte woran ich mich erinnere...
Ein undichter Nebel verschleiert meine Erinnerungen vollkommen, nur kleine Bruchstücke blitzen dunkel auf.
Ich war... bei der Alten?
Ein eiskalter Schauer rast durch meinen Körper und ich ziehe zitternd die Decke an mein Kinn.
Sie hat mich gefunden.
Das glühende Eisen...
Der Traum mit Daniel...
Und dann?
Dann bin ich gestorben.
Jedenfalls dachte ich das. Aber wie bin ich dann hierher gekommen?
Ein leises, regelmässiges Piepen dringt an mein Ohr und erst jetzt wird mir bewusst, dass ich einen eigenartigen Druck auf den Ohren habe, der mich total schlecht hören lässt.
Langsam lässt er ab und die Geräusche um mich herum nehmen zu, das Piepen wird lauter und draussen höre ich leise Stimmen.
Schritte nähern sich, jemand bleibt vor der Tür stehen. Ich sehe, wie die Türklinke heruntergedrückt wird und jemand die Tür leise aufdrückt.
Reflexartig schliesse ich die Augen und tue so, als würde ich friedlich schlafen.
In Wahrheit allerdings lausche ich mit gespitzten Ohren den Schritten, die jetzt auf mein Bett zusteuern und dicht daneben verstummen.
„Oh Hel“, flüstert jemand mit leiser, rauer Stimme. Daniel?
„Was soll ich bloss machen... Bitte, wach endlich auf, meine Schöne.“
Meine Schöne? Was meint er denn damit?
Nur mit äusserster Willenskraft kann ich meine Augen geschlossen halten und harre still aus.
Ein Scharren erklingt, vermutlich zieht er den Stuhl neben meinem Bett näher.
Dann knarrt es leise und Daniel seufzt tief.
Hauchzart nehme ich eine Berührung an meiner Hand wahr und spüre, wie er meine Finger einzeln nach fährt.
„Bitte, Helena... komm wieder zurück. Ich liebe dich doch. Bitte...“, flüstert er mit erstickter Stimme. Er liebt mich?
„Meinst du das ernst?“, krächze ich leise und öffne meine Augen endlich.
„Hel? Hel! Du bist wach!“ Daniel springt strahlend auf und scheint kurz vor einem Jubelanfall zu stehen.
Seine Stimme ist viel zu laut und erinnert mich schmerzhaft wieder an meine Kopfschmerzen.
„Oh Gott, Daniel... leise, bitte! Ich hab Kopfschmerzen“, stöhne ich und greife mir wieder an die Stirn.
„Was? Du hast Schmerzen? Ich ruf sofort eine Krankenschwester!“
Trotz meiner Schmerzen muss ich leicht lächeln, bei seiner Überbesorgnis. Fahrig sucht er nach etwas und drückt schliesslich etwa zehnmal auf einen kleinen Knopf.
Wenige Sekunden später erklingen schnelle Schritte auf dem Gang draussen und eine gehetzt wirkende Krankenschwester stürzt herein.
„Ist etwas passiert, Mister Capster?“, ruft sie besorgt und stürmt neben ihn.
Erst durch mein erneuertes, schmerzhaftes Stöhnen wird sie auf mich aufmerksam.
Ihr gehetztes Gesicht wandelt sich in eine Mischung aus Erleichterung und Freude.
„Oh, Miss van Dorsen! Sie sind endlich aufgewacht! Oh, da wird sich Dr. Layer aber freuen!“ Sie beugt sich zu mir und tätschelt meine Hand. Erst jetzt fällt mir auf, dass dort ein Schlauch in meiner Haut verschwindet.
„Sie hat Schmerzen! Sie müssen was tun, Berta!“
Die Miene der Frau wechselt wieder zu besorgt. „Schmerzen sagst du? Miss van Dorsen, können Sie mir sagen, wo sie Schmerzen haben?“
Ich deute stumm auf meinen Kopf. Langsam habe ich das Gefühl, mein Schädel platzt gleich.
„Oh, aber natürlich. Ich bin gleich wieder da, Miss!“ Die Frau verschwindet mit schnellen, trippelnden Schritten und lässt mich wieder mit Daniel zurück, der mich nach wie vor besorgt mustert.
„Es ist schön, dich wieder unter den Lebenden zu haben“, flüstert er und hört sich plötzlich so an, als stünde er den Tränen nahe.
„Beruhige dich Daniel, ist doch nichts passiert!“, sage ich, ohne nachzudenken. Seine Miene werden starr und kalt.
In seinen Augen sehe ich die blanke Panik. „An was erinnerst du dich noch, Hel?“, fragt er leise und mit tonloser Stimme.
Wieder denke ich nach.
„Ich weiss nicht so genau... es ist alles so verschwommen. Ich weiss noch, dass es plötzlich anfing zu Rauchen, das ganze Zimmer war voll damit... ich bekam Panik und plötzlich wurde die Tür aufgestossen und jemand kam herein. Doch dann war alles so komisch und ich bin eingeschlafen... Als ich wieder erwachte, war ich in einem eigenartigen Raum und da war die Alte... Es kommt mir alles so vor, wie ein Albtraum... Ich kann mich noch an ungeheure Schmerzen erinnern und an diesen Traum...“, meine Stimme verklingt. Ja, der Traum...
„Was ist denn genau passiert?“
Daniel kneift die Augen zusammen, als hätte er Qualen.
„Hel, ich hab mir solche Sorgen gemacht! Du warst plötzlich verschwunden und zuerst dachte ich, du wärst abgehauen, doch dann wurde mir klar, dass du entführt wurdest. Ich hab mit Max und Fletchers Hilfe die Videoaufnahmen durchgeschaut und konnte so den Wagen entdecken, der dich mitnahm. Wir haben es geschafft, den Besitzer des Lieferwagens zu finden und sind zu der Adresse gefahren. Wir haben dich schreien gehört, doch das Haus war vollkommen leer.
Durch Zufall konnten wir beobachten, wie ein paar Männer durch ein Klohäuschen in einen Keller oder so ähnlich kamen und sind ihnen gefolgt.
Doch dann mussten wir wieder zurück, weil sie zurückkamen.
In meiner Verzweiflung kam mir dann die rettende Idee, die Kerle umzuhauen und sich als die auszugeben. So gelangten wir ohne Probleme in den Keller, aber wir fanden nur ein paar Kinder in Zellen. Du warst nirgends.
Ein kleiner Junger hat dann etwas von dir und der Alten erzählt und uns den Weg beschrieben, zu dem Raum, in dem du und die Frau waren. Wir sind hin, doch in dem Moment wurdest du bewusstlos... Oh Gott, Hel! Ich hatte solche Angst um dich! Ich dachte, du wärst tot... ich dachte, ich hätte dich verloren.“ Seine Stimme bricht und eine Träne fliesst über seine Wange.
Erst jetzt fällt mir auf, dass er einen ungepflegten Bart trägt und Ringe unter den Augen hat.
„Daniel, du siehst schrecklich aus“, murmele ich ohne gross nachzudenken. Langsam hebe ich die Hand und streichle ganz sanft über seine stoppelige Wangen. „Ich weiss... ich hab kein Auge mehr zugetan, seitdem du hier warst. Die Ärzte haben nicht geglaubt, dass du es schaffst, weisst du? Und ich auch nicht, wenn ich ehrlich bin“, flüstert er gebrochen und presst sein Gesicht plötzlich an meine Seite.
Ein stechender Schmerz schiesst durch meine Glieder.
„Ah!“, stöhne ich leise auf und kralle mich an ihm fest. „Daniel! Pass auf!“ Sofort weicht er erschrocken zurück und entschuldigt sich tausendmal. „Tut mir Leid, das hab ich ganz vergessen...“
In dem Augenblick geht die Tür wieder auf und die Schwester kommt herein, gefolgt von einer grossen, blonden Frau, die ein fröhliches Lächeln auf den Lippen trägt. Sie ist mir sofort sympathisch.
„Miss Van Dorsen! Willkommen zurück! Mein Name ist Dr. Amelia Layer und ich bin Ihre behandelnde Ärztin. Schwester Berta wird Ihnen etwas gegen Ihre Kopfschmerzen geben. Haben Sie sonst noch irgendwo Schmerzen, Miss Van Dorsen?“ Ich schüttle den Kopf, lasse es allerdings gleich wieder, als mein Kopf unheilvoll zu pochen beginnt.
Die Schwester legt mir tröstend eine Hand auf die Schulter und schiebt mir eine kleine Pille in den Mund.
Dann drückt sie mir noch ein Glas Wasser an die Lippen und weist mich an zu trinken.
Erst jetzt spüre ich, wie ausgetrocknet meine Kehle ist.
Obwohl mein Hals brennt und mir das Schlucken schwerfällt, trinke ich das Glas bis auf den letzten Tropfen leer.
„Kann ich noch mehr haben?“, bettle ich die ältere Frau an und wünsche mir, sie würde mir einen ganzen Eimer davon bringen.
„Aber natürlich, Schätzchen“, murmelt sie und verschwindet wieder.
Bei dem Kosewort überläuft es mich eiskalt. Die Alte hat mich immer so genannt.
Vor meinem inneren Auge ziehen unzählige Erinnerungen an die schlimmsten Phasen meines Lebens ab. Irgendwann reisst mich ein starker Schmerz im Kopf aus dieser Bildgalerie und erst jetzt wird mir bewusst, dass ich mich unwillkürlich an Daniels Hand gekrallt habe und die Lippen fest aufeinander presse, um den Schrei, der mir in der Kehle steckt, zu unterdrücken.
„Hel! Helena, beruhige dich! Es ist vorbei!“ Daniel ist aufgesprungen und presst meinen Kopf tröstend an seine Brust. Ein trockenes Schluchzen entkommt mir und nur mit äusserster Mühe schaffe ich es, die Tränen zurückzudrängen, die mir in den Augen stehen.
Nein, er hat Recht! Es ist vorbei! Hier wird mir nichts passieren. Nicht, wenn ich bei ihm bin...
Ohne es wirklich wahrzunehmen kuschle ich mich enger in die starken Arme, die mich tröstend umfassen und fühle mich zum ersten Mal seit langem geschützt und geborgen. Wieder fallen mir die drei Worte ein, die er vorhin gesagt hat, als er dachte, ich würde schlafen. Liebt er mich wirklich? Und liebt er mich wie eine Frau, oder wie eine Schwester?


Fortsetzung folgt...
Aufgrund fehlender Zeit und momentanen Internetstörungen bei mir zuhause (wo ich am meisten schreibe) geht es langsam voran. Es tut mir leid, ich danke euch für eure Geduld!

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Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 10.11.2011

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