»Hans, lege Kohlen auf und schüre das Feuer im Ofen«, wies Glauber seinen Gehilfen an, während er eine Mischung aus gemeinem Kochsalz und Vitriol fein zermörserte. Das hellgrüne Pulver schüttete er in einen Kolben mit Wasser und schwenkte ihn, bis die Lösung klar aussah. Danach tränkte er einige Scheite Holzkohle mit der Flüssigkeit, legte sie auf die auflodernde Glut und verschloss die obere Öffnung des Ofens sorgfältig. Gespannt setzte er sich auf seinen Holzschemel und beobachtete das Geschehen.
Hans kniete inzwischen vor der Mittelluke des Athanor und fachte mit dem ledernen Blasebalg das Feuer an. Von seinem rot glänzenden Gesicht perlte der Schweiß. Nur das Fauchen und Schnaufen des Blasebalgs durchschnitt die Stille.
Glauber schaute gedankenverloren auf den gläsernen Rezipienten, der in einem Zuber mit Wasser stand und das Destillat auffangen sollte. Würde dieser Versuch endlich gelingen? Lange schon experimentierten sie, um den Lapis Philosophorum, den Stein der Weisen, herzustellen.
Weiße Dämpfe krochen aus dem Ofen durch den Siphon in den riesigen Kolben und waberten in seinem Inneren eine Weile hin und her, bis sie sich schließlich als farblose Flüssigkeit niederschlugen. Aus den Ritzen der Apparatur quoll ein Teil der beißenden Schwaden in die Luft und kondensierte auf den Backsteinmauern, die von den vielen Experimenten grau und stumpf geworden waren.
Als die letzten Tropfen des Destillats herabrannen, erhob sich Glauber. Mit einer Zange trennte er den Kolben ab und begutachtete die entstandene Solutio. Er nahm einen kleinen Löffel und kostete von der Lösung. »Mhm, sie schmeckt ganz lieblich und annehmlich«, stellte Glauber fest. »Hans, wir haben den Spiritus salis hergestellt!« Nun konnte er endlich die Metalle auflösen.
Glauber setzte seine Brille auf und vertiefte sich mit neuem Eifer in ein schmales ledergebundenes Büchlein des Alchemisten Michael Maier. Seine Stirn runzelte sich, während er die Geheimsprache der `Themis Aurea´ zu entziffern versuchte.
»Die Kenntnis des Arkanums soll der Schlüssel sein! Ich gebe dir das Geheimnis: d.wmml.zii.v.sgqqhka.x Öffne, wenn du kannst!«, murmelte Glauber vor sich hin. »x ist der Denarius, d.h. das wirkliche Arkanum. `SAL Antiquissimum, LAPIS, Mysterium! Cujus Nucleum in DENARIO, Harpocratice SILE.(x).´« Was hatten die Worte zu bedeuten? Er schüttelte den Kopf und nahm ein anderes Buch zur Hand. Mit dem Finger folgte er dem Text mit den alchemistischen Symbolen, die 250 Jahre zuvor Nicolas Flamel niedergeschrieben hatte.
Nach einer Weile seufzte er und meinte: »Hans, wir werden noch viele Versuche durchführen müssen. Der Weg zum Lapis bleibt rätselhaft.«
In diesem Moment schwang die Tür zum Laboratorium auf und Glaubers Frau erschien mit der jüngsten Tochter Geertruy auf dem Arm. An ihrem Rockzipfel kauerte Anna, die ältere Tochter. Der Hund der Familie sauste an ihnen vorbei in den Raum.
Helena hatte die letzten Worte ihres Mannes gehört und schimpfte: »Wir haben kein Geld, um noch irgendetwas zu kaufen! Beim Händler gibt man mir keinen Kredit mehr. Wann wirst du endlich genug Geld verdienen? Wir brauchen dringend Essen. Wovon sollen denn unsere Kinder leben?«
»Helena, ich spüre, wir sind ganz nah dran«, flehte Glauber. »Es dauert nicht mehr lange und wir haben das Opus Magnum, das große Werk, geschafft und den Lapis Philosophorum hergestellt. Mit dem Stein können wir durch Transmutation eine Universalmedizin, die Panacea, gewinnen, mit der wir alle Krankheiten heilen können. Ist das nicht wundervoll?«
»Es ist gar nicht wundervoll, dass der Wind durch die Mauerritzen pfeift und der Regen durch das Dach sickert! Wir hungern und frieren. Schau uns doch mal an! Nein, Johann, wir können nicht von Hirngespinsten leben. Wenn deine Experimente nicht glücken, sind wir ruiniert! Es tut mir leid, aber dann werden wir dich verlassen müssen.« Sie wandte sich ihrer Tochter zu. »Komm, Anna, wir gehen.«
Anna riss sich von ihrer Mutter los und rannte zu Glauber. Sie schlang ihre Ärmchen um seinen Hals. »Papa«, schluchzte sie, »ich habe so Hunger!«
Glauber stiegen die Tränen in die Augen. Er umarmte sie heftig. »Mein Schatz, ich verspreche dir, ich sorge ab jetzt dafür, dass es dir gut geht.« Anna lächelte ihn an, gab ihm einen Kuss und verschwand mit ihrer Mutter.
Glauber sank in sich zusammen. Er liebte seine Familie. Morgen musste er sich nach einer anderen Arbeit umsehen. Wehmütig schweifte sein tränenverschleierter Blick über sein Laboratorium, das in den letzten zwei Jahren seine Heimat geworden war. Sein ganzes Geld hatte er in die Einrichtung gesteckt, den gewaltigen Kamin, die vielen Tiegel und Töpfchen, die Kolben und Retorten, die Salze, Vitriole und Alaune. Etliche Pergamente und Bücher steckten in den Fächern des wurmstichigen Regals. Wertvolle Schriften, die verschlüsselt den Weg zur Bereitung des Lapis beschrieben. Nur hatte er es nicht geschafft, sie zu entziffern. Dabei wollte er nicht wie die anderen Alchemisten mit dem Lapis Gold erzeugen, das konnte nicht der höhere Sinn des Lapis sein. Ihm schwebte die Heilung von allen Gebrechen vor und die Läuterung des Menschen. Nun musste er erkennen, dass es vermessen gewesen war. Sein großes Vorbild, Paracelsus, hatte es auch nicht vermocht. Gott allein entschied über die Geschicke.
Er seufzte. Wenn er sein Laboratorium verkaufte, hätten sie vorerst etwas Geld zum Überleben.
Inzwischen räumte sein Gehilfe die verbrauchte Holzkohle aus dem erkalteten Ofen. An den Rändern hatten sich weißliche Kristalle abgesetzt. Glaubers Blick fiel auf den Hund. Der hatte sich herangeschlichen und schleckte nun die Kristalle ab. Glauber fühlte sich zu müde, ihn zu verjagen. Sein Versagen lastete schwer auf ihm. Der Hund trottete in eine Ecke und legte sich wieder hin, die Augen auf Glauber gerichtet.
»Meister, ich bin dann fertig«, sagte Hans nach einer Weile.
Glauber schreckte aus seinen Gedanken auf. Das Labor hatte sich inzwischen verdunkelt. Unbemerkt war es Abend geworden.
»Du kannst gehen, Hans. Schau dich morgen bitte nach einer neuen Stellung um. Ich werde das alles hier verkaufen müssen.«
»Aber, Meister, der Lapis!«
»Spinnereien, Hans, nichts als Spinnereien und Fantasie.«
Plötzlich jaulte der Hund in seiner dunklen Nische auf und fing an zu winseln.
»Bist du wohl still«, wies ihn Glauber zurecht.
Aber der Hund hörte nicht auf. Verärgert griff sich Glauber eine Kerze und schlurfte hin.
»Das ist doch nicht zu fassen! Jetzt sieh dir diese Bescherung an, Hans.« Gemeinsam betrachteten sie das übel riechende Häufchen, während der Hund schuldbewusst zu ihnen aufschaute. »Moment mal«, Glauber fing an zu grübeln, »der Hund hat vorhin die Holzkohle abgeleckt. Hans, wo sind die Überreste?«
Der Gehilfe wühlte im Kehricht nach den Brocken und reichte sie ihm.
»Sieh mal, da ist Materie koaguliert.« Glauber löste die Kristalle sorgfältig von der Holzkohle und zerrieb sie im Mörser. Er roch daran, befeuchtete seinen Finger und stippte ihn in das Pulver. Vorsichtig kostete er davon. Es schmeckte salzig und ein bisschen bitter. Das erinnerte ihn an etwas. Was war das nur? Er probierte noch ein wenig. Ja! Genauso schmeckte das Heilwasser, das ihn von der ungarischen Krankheit geheilt hatte. Ein Funke Hoffnung glomm in ihm auf.
»Ich vermute gar, das ist das Salz der Wiener Heilquelle.« Glaubers Miene erhellte sich. »Schnell, wir müssen das Koagulat analysieren, um sicher zu sein«.
Mit neuem Eifer machten sie sich an die Arbeit.
Einige Stunden später, es dämmerte draußen schon, jubelte Glauber. »Wir haben es geschafft, Hans.« Erschöpft, aber glücklich, ließ er sich auf seinem Schemel nieder. »Mit Gottes Hilfe können wir vielleicht überleben, wenn wir das Salz in großen Mengen herstellen und verkaufen. Denn dieses Salz hat wunderbare Qualitäten. In warmem Wasser solviert und ein Klistier davon gesetzt, purgiert es die Därme und tötet die Würmer. Ich nenne dieses Salz `Sal mirabilis Glauberi´, Glaubers Wundersalz.
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2018
Alle Rechte vorbehalten