Beate hatte die junge Frau, die ihr so ähnlich sah, nun schon zwei Wochen beobachtet. Von ihrem Versteck hinter der Hecke konnte sie die Eingangstür der Wohnung in dem Hochhaus gegenüber überwachen. Die Wohnung lag im dritten Obergeschoss des zehnstöckigen Hauses, außen führte in jedem Stockwerk ein Gang entlang vom Flur zu den Wohnungen.
Diese Frau war zweimal einkaufen gegangen, ansonsten blieb sie immer zu Hause. Nie klingelte jemand bei ihr. Eine ideale Voraussetzung für Beates Vorhaben. Und die Anonymität des Hochhauses würde ihr entgegenkommen. Heute musste sie ihren Plan in die Tat umsetzen. Denn sie wollte nicht mehr in der Kälte schlafen, zusammen mit besoffenen Pennern. Nein, so wollte sie nicht enden. Sie brauchte eine neue Wohnung – und eine neue Identität!
Sie zog heftig an ihrer Zigarette, warf den Kopf zurück und stieß die Luft aus.
Wenn Max, dieser Idiot, sich nicht hätte fangen lassen, wären sie jetzt in Südamerika. Aber er hatte beim Bankraub zu lang mit der Knarre gezögert im Gegensatz zu ihr, und der Bankangestellte konnte ihn überwältigen. Und nun hatte sie Angst, dass Max, dieses Weichei, ausplauderte, wer ihm geholfen hatte. Pech für sie, dass Max das ganze Geld bei sich trug. Sie konnte gerade noch flüchten. Die Pistole hatte sie in den Fluss geworfen. Und nun stand sie da, mit 50 Euro, und in ihre Wohnung traute sie sich nicht mehr. Beate nahm einen letzten Zug und schnippte die Zigarette in die Büsche. Sie betastete von außen ihre Jackentasche. Ja, der Stein war griffbereit.
Beate hastete zum Hochhaus. Sie schaute sich nach allen Seiten um, ob jemand sie beobachtete. Dann klingelte sie wahllos. Wie erhofft, wurde ihr geöffnet. Sie stieg die drei Treppen hoch und lief auf dem Gang entlang zur Tür der Frau. Cornelia Frohnert stand an der Klingel. Sie drückte. Nach einigen Sekunden öffnete Frau Frohnert.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Beate. „Ich wohne im Gang auf der anderen Seite. Könnten Sie mir 50 Euro wechseln? Ich erwarte ein Paket und habe kein Kleingeld.“
„Ja, sicher“, sagte Frau Frohnert. „Kommen Sie kurz herein, es ist so kalt.“
Das war Beate nur recht. Sie trat ein und schloss die Tür. Vorsichtig schlich sie hinter Frau Frohnert ins Wohnzimmer. Sie griff nach dem Stein in ihrer Jackentasche und holte weit aus. Mit einem leisen Seufzer brach Frau Frohnert zusammen. Beate vergewisserte sich, dass sie tot war. Unter großer Kraftanstrengung schleifte sie die Leiche ins Bad. Mit ihr würde sie sich später befassen. Beate jubelte, das hatte hervorragend geklappt, viel leichter, als sie gedacht hatte. Die Gewissensbisse, die sich meldeten, schob sie in die hinterste Ecke zurück, sie musste das nun durchziehen. Es ging um ihr Überleben. Sie konnte sich keine Gefühle leisten.
Jetzt musste sie erst einmal etwas essen. Ihr Magen knurrte unüberhörbar. Seit Tagen hatte sie nichts Gescheites mehr verzehrt. Sie lief durch das Wohnzimmer in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Eine Torte! Und sogar Schwarzwälder Kirschtorte! Ganz frisch. Lecker. Und da stand noch eine Flasche Weißwein. Sie suchte in den Schränken nach Besteck und Geschirr. Dann schnitt sie sich zwei Stücke von der Torte ab und nahm den Wein und den Kuchen mit ins Wohnzimmer. Während sie sich auf dem Sofa lümmelte, die Beine auf dem Tisch, warf sie einen Blick auf ihre Umgebung, die ihre neue Heimat werden sollte.
Besonders reich schien diese Cornelia nicht zu sein. Das Regal erinnerte sie an Ikea. Der Sessel und das Sofa sahen auch nicht teuer aus. Egal, Hauptsache ein Dach über dem Kopf. Sie lehnte sich zurück und trank einen Schluck. Sie fühlte sich herrlich entspannt.
Als Beate gesättigt war, inspizierte sie die Wohnung genauer. Sie war klein, nur Schlafzimmer, Wohnzimmer und Küche. Ebenso winzig war der Balkon. Mehr als ein Stuhl und ein Tisch hatte nicht Platz. Beate lief zum Badezimmer und ließ sich ein Bad ein. Über die Leiche legte sie eine Decke. Im Schlafzimmer wühlte sie im Kleiderschrank, sie benötigte dringend neue Klamotten. Drei Wochen immer in demselben Zeug, ohne sich waschen zu können! Langsam klebte alles an ihr. Sie stöberte in den Anziehsachen und entschied sich für ein blaues Kleid. Schließlich holte sie den Wein und die neuen Sachen ins Bad. Sie schlüpfte aus ihren Kleidern, stieg in die Badewanne und streckte sich wohlig in dem heißen Badewasser aus. Mit geschlossenen Augen schlürfte sie genießerisch den Wein. Jetzt fehlten nur noch Musik und Kerzenschein.
Nach einer halben Stunde stieg sie seufzend aus dem Bad. Fast wäre sie gestolpert. Der Wein fing an zu wirken. Sie zog das Kleid über, es schlotterte etwas um ihre Figur. Diese Cornelia war molliger als sie gewesen. Beate schwankte ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Im Nu war sie eingeschlafen.
Drrrrrrr. Drrrrrrrrr. Verwirrt schlug Beate die Augen auf. Drrrrrrrrrrr. Wieso klingelte es? Sie drehte sich auf die andere Seite und wollte weiterschlafen. Drrrrrrrrrrrrrr. Es hörte nicht auf. Sie taumelte zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Sie war völlig benebelt von dem vielen Wein.
„Alles Gute zum Geburtstag, meine Liebe“, sagte die ältere Frau, die davor stand.
Beate erschrak und stieß die Tür zu. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und atmete heftig. Wer war die Frau? Was sollte sie jetzt tun? Merkte die nicht, dass sie nicht Cornelia war? Sie war wieder vollständig nüchtern.
Es hämmerte an die Tür. „Willst du mich nicht hereinbitten? Ich friere mir hier draußen noch was ab!“
Beate öffnete die Tür ein zweites Mal.
„Na endlich.“ Die Frau trat ein. Eine penetrant süße Duftwolke begleitete sie.
„Lass mich dich anschauen. Wie lange haben wir uns nicht gesehen? 15 Jahre? Oder sind es schon 20? Egal. Viel zu lange jedenfalls. Du hast dich ganz schön verändert. Aber es ist nett, dass du dich endlich überwunden und mich eingeladen hast.“
Beate musterte die Frau heimlich. Sie musste an die Siebzig sein. Ihre dunkelbraunen Haare waren sicher gefärbt. Denn um die Augen und den Mund verliefen viele kleine und große Fältchen. Gekleidet war sie mit einem Pelzmantel und einer Pelzmütze. Ob der Pelz echt war?
Die Frau schnüffelte ein wenig: „Kindchen, du hast getrunken! Hast du schon Besuch gehabt? Nimm mir mal den Mantel ab.“ Sie schlüpfte aus dem Mantel und hielt ihn Beate hin. Beate schaute sich hektisch nach einer Garderobe um. Endlich warf sie den Mantel und Pelzmütze über einen Haken und eilte der Frau nach, die sich inzwischen ins Wohnzimmer begeben hatte.
„So, in dieser winzigen Wohnung lebst du jetzt.“
„Ich kann mir eben nicht mehr leisten, aber es gefällt mir hier“, entgegnete Beate. Wer war diese entsetzliche Person nur? So langsam ging sie ihr auf die Nerven. Sie musste diese Frau so schnell wie möglich wieder loswerden.
„Deine Eltern haben dir wohl nicht viel hinterlassen. Oder hast du schon das Erbe aufgebraucht? Vielleicht hast du mich deswegen eingeladen, weil du meine einzige Verwandte bist und auf mein Geld spekulierst? Na? Meine liebe Nichte, ich habe nicht vor, so früh zu sterben! Außerdem habe ich alles dem Tierschutzverein vermacht.“
„Aber Tante, an das Erbe habe ich gar nicht gedacht!“, säuselte Beate. Wenn diese Frau etwas zu vererben hatte, war das eine einmalige Chance. Sie musste sie umgarnen.
„Na ja, wenn wir uns wieder verstehen, vielleicht ändere ich dann noch mein
Testament.“ Die Frau nahm auf dem Sofa Platz. „Sag mal, hast du abgenommen? Das Kleid ist dir viel zu groß. Kauf dir mal was Modisches. Hier, ich bin ja nicht so. Schenke ich dir zum Geburtstag.“ Sie öffnete ihre Handtasche und holte einen Hunderter heraus.
Beate erhaschte einen Blick auf ein dickes Bündel Geldscheine. Wow, das mussten ein paar Tausender sein. Besser den Spatz in der Hand, als … Wer weiß, vielleicht mochte die Tante sie doch nicht oder womöglich lebte sie noch zwanzig Jahre! Dann war es nichts mit dem Erbe. Nur - wie konnte sie das Geld aus der Handtasche stehlen? Sie brauchte einen Plan. Sie bedankte sich artig für den Hunderter und eilte in die Küche, um Kaffee zu kochen. Gedankenverloren öffnete sie alle Schranktüren. Wo hatte diese Cornelia Kaffee und Filtertüten? Endlich wurde sie fündig.
Neben dem Kaffeepulver stand eine Schachtel Luminal. Sie nahm die Packung in die Hand und las: Einschlafmittel. Warum befand sich dieses Medikament hier? In ihr reifte eine Idee heran. Sie griff nach den Tabletten und beförderte drei in eine Tasse. Das musste genügen. Davon würde die Tante so lange schlafen, bis sie selbst über alle Berge war, mitsamt dem ganzen Geld. Vergnügt bereitete sie den Kaffee und goss zwei Tassen ein. Die Tabletten rührte sie um, bis sie gelöst waren.
Vom Wohnzimmer hörte sie das Geschnatter der angeblichen Tante. Eine Nervensäge. Beate brachte Kaffee und Kuchen ins Wohnzimmer.
„Sag mal, wo ist denn die Toilette?“, fragte die Tante.
Beate stellte abrupt das Tablett ab, sodass der Kaffee überschwappte, und rannte zum Bad. „Entschuldige, ich muss ganz dringend“, rief sie der Frau zu.
Beate schloss das Bad von innen ab und überlegte hektisch, was sie mit der Leiche tun konnte. Die Dusche! Mühevoll schleppte sie die Leiche zur Dusche. Warum musste diese Cornelia so schwer sein! Ächzend hielt sie inne und verschnaufte. Noch ein Stück, sie drückte und schob den Körper in die Dusche. Endlich hatte sie es geschafft. Sie zog den Vorhang vor. Nun war nichts mehr zu sehen. Dann betätigte sie die Spülung und lief aus dem Bad.
Als die Tante aufstehen wollte, sagte Beate schnell: „Ich an deiner Stelle würde jetzt nicht ins Bad gehen.“ Sie beugte sich vor zu ihr und schaute sie eindringlich an, „da riecht es etwas stark!“
„Ach du gütiger Himmel. Na, ich halte es noch ein wenig aus“, meinte die Tante.
Beate fiel ein Stein vom Herzen.
Sie setzten sich hin und fingen an zu essen und zu trinken.
„Mein Gott, der Kaffee ist aber bitter. Hast du keinen Zucker?“, fragte die Tante.
Beate holte ihn. Die Vorfreude auf den unerwarteten Geldsegen beflügelte sie.
„Stell dir vor, nächste Woche gehe ich auf eine Kreuzfahrt. Nachher will ich mir entsprechende Garderobe kaufen.“ Die Frau quasselte immer weiter. Beate schaltete auf Durchzug. Sie verfolgte jede Bewegung der Frau. So, jetzt nahm sie den letzten Schluck vom Kaffee. Wann würde das Mittel wirken?
„ … hörst du mir überhaupt zu?“
Beate schreckte auf. „Entschuldige, ich habe gerade an morgen gedacht.“
„Mein Gott, bin ich müde. Ich habe erzählt, gleich kommt mein neuer Mann. Ich habe vor kurzem geheiratet. Da ich nicht wusste, wie du reagierst, habe ich ihm gesagt, er soll eine halbe Stunde später kommen. Ich wollte erst einmal mit dir allein reden und dich vorbereiten. Weißt du, er ist nämlich zehn Jahre jünger und – Polizist.
Beate lief ein eisiger Schauer über den Rücken. In diesem Augenblick läutete es an der Tür.
Tag der Veröffentlichung: 12.11.2009
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