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Er starrte in die Dunkelheit hinunter. Schwarze Fluten wälzten sich vorbei. Hier und da schimmerte die Wasseroberfläche matt. Das Raunen des Wassers zog ihn zugleich an und stieß ihn ab. Ihn fröstelte. Er hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest.
Tock, tock, tock..., die Zeit lief ab. Tock, tock, tock, das Geräusch schwoll an. Warum pochte sein Herz so laut? Er lockerte den Griff.
„…nicht los!“, drang eine Stimme in seine Gedanken.
Warum nicht los? Er musste diesen Weg gehen. Er tastete nach dem Brief in seiner Brusttasche. Dieser Brief hatte sein Leben zerstört.
„Lassen Sie nicht los. Haben Sie mich gehört?“
„Was, wie, was,...“, verwirrt wandte er sich der Stimme zu. Unwillkürlich umfassten seine Hände das Geländer fester.
Tock, tock, tock klopften die Absätze auf dem Pflaster. Im Gegenlicht der entfernten Laterne näherte sich ihm eine Gestalt, umhüllt vom Licht wie von einer Aura.
„So ist es schon besser.“ Die Frau war mittlerweile zu ihm gelangt. „Warum wollen Sie sich umbringen?“ fragte sie mit tiefer warmer Stimme.
Er schaute in die Finsternis, ins Nichts. „Ich habe Schande über meine Familie gebracht“, sagte er leise nach langer Zeit.
„Wollen Sie es mir erzählen?“ Sie legte ihre Hand auf seine. Eine kleine warme Hand.
„Das würde nichts ändern“, entgegnete er.
„Versuchen Sie es.“
Achselzuckend zog er den Brief aus der Tasche und entfaltete ihn. Er hatte ihn schon so viele Male gelesen, dass er zerknittert war. Schweigend reichte er ihr den Brief.
Sie hielt den Brief ins Licht und überflog ihn.
„Ist das Ihre Tochter, die Sie sehen will?“, fragte sie ihn.
„Ich wusste nicht, dass ich noch eine uneheliche Tochter habe. Der Brief stammt von einer Freundin aus der Studentenzeit.“
„Und was ist so schlimm daran?“
„Alles. Wie soll ich es meiner Familie beibringen? Mein Vater würde es nie verstehen. Für ihn wäre die Familienehre befleckt.“
„Und für Sie?“
„Ich bin so erzogen worden.“ Er starrte in die unheimlichen Fluten hinunter. „Mein Leben lang habe ich nichts Unvernünftiges getan, aus Prinzip. Nur dieses eine Mal..“, seine Stimme brach ab.
„Haben Sie eine Frau und noch andere Kinder?“, fragte sie ihn.
„Nach der Studentenzeit habe ich meine Frau kennen gelernt. Wir haben eine Tochter, sie wird bald 17.“
„Lieben Sie die zwei?“
„Was für eine Frage!“, entgegnete er.
„Was werden die beiden dazu sagen?“
„Meine Frau wird vermutlich zu mir stehen. Aber meine Tochter verstehe ich seit einiger Zeit nicht mehr. Sie begehrt ständig auf und stellt sich gegen mich. Das hat es in meiner Jugend nicht gegeben.“
„Was glauben sie, wird Ihre Familie Sie nicht mehr lieben?“, bohrte sie weiter.
„Lieben? Um Liebe geht es nicht. Es geht um Ehre. Warum hat sie nichts gesagt? Wenn sie mir erzählt hätte, sie erwartet ein Kind, hätte ich sie selbstverständlich geheiratet!“
„Ich glaube nicht, dass sie das wollte. Sie hat sich in den vergangenen Jahren nicht ein einziges Mal gemeldet? Sie wollte keinen Unterhalt von Ihnen?“
„Nein.“
„Sehen Sie. Und jetzt bittet sie nur darum, dass Ihre Tochter Sie sehen darf. Ich finde, das war mutig, das muss man ihr hoch anrechnen, meinen Sie nicht auch?“
„So gesehen schon“, gab er zu.
Sie stellte sich neben ihn und schwieg eine Weile.
„Wenn Sie jetzt springen, nenne ich das feige“, fuhr sie fort.
„Feige?“ Er fuhr herum.
„Ja, feige. Sie laufen vor den Problemen davon, statt sich ihnen zu stellen. Glauben Sie denn, dass Ihr Tod irgendetwas lösen würde?“
„Ich weiß nicht. Es schien mir die einzige Möglichkeit“, erwiderte er gedankenverloren.
„Die Zeiten haben sich gewandelt. Heute ist ein uneheliches Kind nichts Ungewöhnliches mehr. Sicher, es ist ein Schock. Aber Sie werden sich an den Gedanken gewöhnen.“
„Mein Vater…“, warf er ein.
„Es ist Ihr Leben, nicht das Ihres Vaters. Ihre Familie sollte Ihnen wichtiger sein als Ihr Vater. Gehen Sie nach Hause zurück und sprechen Sie mit Ihrer Frau. Vielleicht erfahren Sie von Ihr Unterstützung?“
Er holte tief Luft und richtete sich auf. „Ich werde es versuchen. Ich danke Ihnen.“
Sie streichelte noch einmal seine Hand und eilte davon.
„Warten Sie“, rief er ihr hinterher. „Warten Sie doch. Ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen!“
„Mein Name ist belanglos. Nennen sie mich einfach Karma.“

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Tag der Veröffentlichung: 17.08.2009

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