Bertelsen verließ sein Büro pünktlich um 17-30 Uhr, wie jeden Tag. Er machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Wenn er in diesem Tempo lief, blieben ihm an der Haltestelle noch genau drei Minuten, bis der Bus eintraf.
Plötzlich erhielt er einen Stoß von hinten. Er stolperte, hielt krampfhaft seinen Hut fest.
„Entschuldigung, ich habe sie nicht gesehen“, keuchte eine junge Frau. „Sie müssen mir helfen, bitte! Machen Sie einfach mit.“ Daraufhin legte sie ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn.
Völlig verblüfft ließ Bertelsen seine Aktentasche fallen und umarmte die Frau.
Sekunden später rannten zwei Leute vorbei. Sie nahmen keine Notiz von dem eng umschlungenen Pärchen. An der Kreuzung diskutierten sie kurz, dann trennten sie sich. Jeder hetzte in eine andere Richtung weiter.
Die Frau beendete den Kuss. „Sie haben mir das Leben gerettet. Das werde ich Ihnen nie vergessen. Sie können mich jetzt übrigens loslassen.“
„Verzeihung“, stammelte Bertelsen und zog hastig seine Hände zurück.
„Wenn Sie einmal Hilfe brauchen, ich arbeite in der Bar `Sunshine´“, sprach die Frau und eilte davon.
Bertelsen räusperte sich, lockerte seine Krawatte, griff nach der Aktentasche und tappte wie in Trance zur Bushalte-stelle. Als er um die Ecke bog, stand der Bus schon da. Bertelsen rannte die letzten Meter. Mit der Hand hielt er den Hut auf dem Kopf fest.
Der Busfahrer begrüßte ihn wie üblich und schaute ihn neugierig an: “Was haben Sie denn gemacht?“
„Wieso? Was ist denn?“ Bertelsen schaute den Busfahrer verwirrt an.
„Na, Sie sehen etwas … na ja, zerzaust aus.“
Bertelsen errötete. Auf dem Weg zu seinem Platz zog er seine Krawatte fest und setzte den Hut korrekt auf.
Während der Fahrt zog er seine Zeitung aus der Aktentasche und fing an zu lesen. Als er den Artikel das dritte Mal gelesen hatte, ohne etwas zu verstehen, gab er es auf. Sein Blick schweifte aus dem Fenster. Die Häuser zogen vorbei, aber er sah nichts. In Gedanken durchlebte er immer wieder die Szene.
Doch dann schob sich das Bild einer anderen Frau darüber. Bertelsen wachte abrupt aus seinen Träumen auf und griff verärgert zu der Zeitung.
Auf dem Weg von der Bushaltestelle nach Hause fing er nochmals an zu träumen.
Im Wohnzimmer setzte er sich erst einmal in den Ohrensessel. Er dachte an die Frau. Noch keine Frau hatte ihn so geküsst. Seine Finger befühlten seine Lippen. Lippenstiftreste klebten daran. Der Kuss war so süß gewesen…. Sehnsucht stieg in ihm auf. Gefühle, die er nie gekannt hatte. In Gedanken küsste er die Frau wieder und immer wieder. Er malte sich aus, wie sie sich verabredeten. Wie sie auf ihn zu lief, wie sie ihn mit verheißungsvollen Augen anblickte. Und wie sie sich an ihn drängte. Ein warmes Gefühl machte sich in ihm breit.
Erneut verdrängte das Bild der anderen Frau seine Träume– das Bild der Frau, die sein Leben bestimmte.
Erschrocken schaute er auf seine Uhr. Er lag zwanzig Minuten hinter dem Zeitplan. Sie legte Wert auf pünktliche Mahlzeiten. Verdrossen stand er auf und ging in die Küche.
Dabei geriet er wieder ins Träumen. Wie sie wohl hieß? Sabrina oder Anja? Katja wäre auch ein schöner Name. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie seine Frau wäre. Wie er nach Hause käme. Er würde die Tür aufschließen und sie würde schon auf ihn warten, gekleidet in ein durchsichtiges
Nachthemd….
Er seufzte. Ob er morgen einfach einmal in der Bar vorbeischauen sollte? Sie würde sich bestimmt an ihn erinnern. Sie hatte ihn ausdrücklich aufgefordert zu kommen, wenn er Hilfe brauchte. Und er hatte ihre Hilfe so nötig….
Wieder glitt das andere Bild in seine Träume – eine herrische ältere Frau mit schwammigen Gesichtszügen.
Widerwillig bereitete er das Abendessen. Mittendrin hörte er wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Er verkrampfte sich unwillkürlich und schnitt sich in den Finger.
„Hallo, Sohni, ich bin da. Ist das Abendessen fertig?“, hörte er die verhasste Stimme seiner Mutter.
Er starrte auf das aus dem Finger tropfende Blut. Das Rot dehnte sich aus, bis er alles durch einen roten Schleier wahrnahm. Entschlossen griff er in die Besteckschublade und nahm ein großes Messer heraus. Dann schlich er zum Flur und holte weit aus.
Tag der Veröffentlichung: 17.08.2009
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