„Es geschah in einer Vollmondnacht. Ich war endlich eingeschlafen, als ich spürte, dass es ganz hell im Zimmer geworden war. Ich öffnete die Augen und sah eine durchsichtige Gestalt mit Schwingen auf dem Rücken in einer gold-gelb strahlenden Aura. Es war also soweit. Ein wenig Bedauern fühlte ich, dass ich so früh sterben sollte. Doch viel mehr erfüllte mich Freude, Vorfreude auf das Paradies im Himmel, das auf mich wartete.
Die Erscheinung hüllte mich in ihre Aura ein. Ein Kribbeln durchzog meinen Körper. Ich schaute auf meine Hände, meine Arme, die Konturen verschwammen allmählich. Und dann – erwachte ich fröstelnd auf einem Operationstisch. Grelles Licht stach mir in die Augen. Eine ganz in schwarz gekleidete Gestalt zog gerade eine Spritze aus meinem Arm.
„Wo bin ich hier? Ist das der Himmel?“, fragte ich, noch ein wenig benommen. Doch die Gestalt schien nichts gehört zu haben, sie deutete nur auf eine Tür. Ich stand auf, ein kleiner Schwindelanfall erfasste mich. Nackt wie ich war, tapste ich durch den kahlen weißen Saal zu dieser Tür hin.
Im nächsten Zimmer erwarteten mich weiße Kleider und Schuhe. Eine blecherne Stimme aus einem Lautsprecher befahl mir, die Montur anzuziehen und mich dann in Zimmer 19 zu melden. Vor Kälte zitternd schlüpfte ich schnell hinein. Ich schaute auf meine Brust, dort prangte nun eine Nummer: 203546. Verwirrt dachte ich, der Himmel muss sehr bevölkert sein, wenn sie sogar Nummern vergeben.
Ich lief zu Zimmer 19. Arbeitszuweisung stand auf dem Schild an der Tür. Seit wann musste man im Himmel arbeiten? Wo waren die Wolken, auf denen Engel auf einer Lyra spielten? Wo fanden die Feste mit üppigen Speisen und Tränken statt?
Erzürnt trat ich durch die Tür. Eine weitere Gestalt in Schwarz übergab mir einen elektronischen Plan und meine Identifikationskarte. Mit monotoner Stimme sprach sie: „Dein Schlafsaal ist in Block E, dritter Stock, Zimmer 312. Zur Arbeit meldest du dich ab morgen im Gebäude P.“
„Und wenn ich nicht arbeiten will?“, entgegnete ich trotzig. Doch der Schwarze ging nicht darauf ein. Ich stapfte wütend zur Tür hinaus und lief zu meinem Block. Unterwegs begegnete ich niemandem. Vorsichtig betrat ich den Schlafsaal. Auch hier hielt sich kein Mensch auf. Etwa fünfzig Betten standen dicht nebeneinander an der Wand, nur getrennt durch Nachttische. Alles war in weiß gehalten. Weitere Möbel existierten nicht. Sehr spartanisch, dachte ich. Ich ging die Reihen entlang. Die Bettstellen unterschieden sich in keiner Weise. Überall lag das Bettzeug auf die gleiche Art zurückgeschlagen, auf jedem Nachttisch befand sich eine Dose mit Tabletten. Für morgens eine rote und eine gelbe, für abends zwei weiße und eine grüne. „Wo, zum Teufel, bin ich hier?“, schrie ich in den Raum hinein. Natürlich erhielt ich keine Antwort.
Am Fußende von jedem Bett befand sich eine sechsstellige Nummer. Ich suchte mein Bett, Nummer 203546, und ließ mich hineinfallen. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich so dalag, schließlich öffnete sich die Tür und meine Zimmergefährten betraten den Raum, alle in weiß gekleidet. Außer dem Trappeln der vielen Füße herrschte eine gespenstische Stille. In allen Gesichtern erblickte ich den gleichen lächelnden, ja verzückten Ausdruck. War ich unter einem Haufen Irrer gelandet?
Abends weigerte ich mich, die Tabletten einzunehmen, auch wenn eine Lautsprecherstimme uns daran erinnerte, nur so würden wir die Glückseligkeit erlangen.
Am nächsten Morgen folgte ich den anderen in den Frühstücks-saal. Danach begegneten wir unterwegs drei anderen Zügen mit weißen Menschen. Und in der Ferne erhaschte ich einen Blick auf einen kleinen rot gekleideten Trupp.
Wir marschierten zu unserer Arbeitsstelle. Im Produktionsraum verteilte sich die Menge auf die verschiedenen Stationen. Ich blieb stehen und hatte kaum Zeit mich umzusehen, da erschallte eine Lautsprecherdurchsage: „Die Neuankömmlinge melden sich bei Station A.“ Zusammen mit drei weiteren Leuten begab ich mich dorthin. Diese drei hatten schon diesen lächelnden Ausdruck in ihrem Gesicht.
Wir wurden eingewiesen von einem Roten. Still arbeiteten alle vor sich hin. Nur das Geklapper der Maschinen hallte durch den Raum. Ich arbeitete Hand in Hand mit dem Roten, der wie die anderen mit verzückter Miene werkelte.
Als unsere Köpfe einmal sehr nah beieinander waren, flüsterte er mir zu: „Lass die Pillen weg.“ Ich schaute ihn verwundert an, aber er lächelte schon wieder vor sich hin. Hatte ich mir den Satz nur eingebildet? Stumm arbeiteten wir den ganzen Tag, nur unterbrochen von zwei Pausen.
Abends saß ich auf meinem Bett. Die Lautsprecherstimme erinnerte mich daran, wie glücklich ich sein werde, wenn ich die Tabletten einnehme. Angeekelt versteckte ich die Tabletten unter meiner Matratze.
In den nächsten Tagen erfuhr ich von meinem Arbeitskameraden nach und nach die furchtbare Wahrheit. Die Erde dient nur als Zuchtstation für diese Welt.
Es gibt an diesem Ort drei Arten von Menschen. Die meisten sind weiß gekleidet – die unterste Stufe. Wer sich bewährt und eine eingehende Befragung zur vollen Zufriedenheit besteht, steigt zu den rot gekleideten auf. Und schließlich gibt es noch die Schwarzen, die besondere Schlüsselpositionen einnehmen. Diese höchste Stufe erlangen nur wenige. Er selbst war seit sechs Jahren bei den Roten.
Wer der Herr dieser Welt ist, konnte er mir nicht mitteilen. Die Anweisungen erhielten sie immer per Lautsprecher. Er vermutete, dass diese Welt von einem Computergehirn gesteuert wird.
Auf meine Frage, wie viele Menschen bislang im Geheimen Widerstand leisteten, antwortete er - fünf. Wer sich verdächtigt macht und nicht ständig lächelt, wird abgeholt und einer Spezialbehandlung unterzogen. Danach sei er ein gebrochener Mann. Er habe es an einem Freund erlebt.
Daraufhin beschloss ich, unterwegs bei einer Station Papier und Stifte mitgehen zu lassen und meine Geschichte für einen mutigeren Nachfolger aufzuschreiben.
Denn es gibt nur drei Möglichkeiten für mich: entweder ich lebe so weiter wie mein Kumpan, in der Hoffnung, dass wir eines Tages genügend Leute sein werden, um eine Revolution anzuzetteln. Das kann Jahrzehnte dauern, das halte ich nicht durch. Ich bin nicht so stark.
Oder ich begehe Selbstmord. Ich könnte die Tablettenrationen sammeln und auf einmal nehmen. Aber kann ich sicher sein, dass ich dann wirklich tot bin, oder wartet nicht vielleicht ein noch grausameres Schicksal auf mich? Ich habe Angst.
Deshalb habe ich mich für die dritte Möglichkeit entschieden: ich nehme die Tabletten regelmäßig. Ich werde wie alle anderen ewig lächelnd umherlaufen. Wenigstens scheinen sie glücklich zu sein. Es tut mir leid.“
Nachdenklich schaute der Neue von den eng beschriebenen Seiten auf. Wie lange mochten sie schon unter der Matratze liegen? Gab es diese Leute noch? Er musste die Keimzelle der Revolution finden. Neue Hoffnung durchströmte ihn. Jetzt konnte auch er lächeln. Vorsichtig versteckte er die vergilbten Seiten wieder.
Tag der Veröffentlichung: 17.08.2009
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