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Kapitel 1


„Ciao, Benno! Ich bin jetzt weg!“
Ich faltete meine Schürze zusammen und winkte meinem Chef noch einmal bevor ich hinaus auf die zugeschneite Straße trat.
Sofort erfasste mich eine eiskalte Windböe und ich drückte mein Gesicht tiefer in den Schal. Dass es im Winter in New York auch immer so kalt sein musste! Zum Glück hatte ich mir erst neulich eine Mütze gekauft, die mich wenigstens etwas vor den Schneewehen schützte.
Der Winter war einfach nicht meine Jahreszeit! In meiner Heimat war es nie so kalt! Obwohl ich darauf gefasst war, als ich vor zwei Jahren in die USA auswanderte, überrumpelte mich der Winter immer wieder. Ich war einfach zu sehr die Sonne Italiens gewöhnt.
Weiter über meine ehemalige Heimat nachdenkend, zog ich vermummt durch die fast leeren Straßen. Wenn selbst die Einheimischen bei dieser Kälte ihre Häuser nicht verließen, warum musste ich dann den langen Weg auf mich nehmen? Nur um den ganzen Abend gelangweilt in Benno's Pizzeria die wenigen Gäste zu bedienen, die sich trotz des vielen Schnees vor die Tür getraut hatten. Ich – obwohl ich erst ein paar Mal überhaupt in meinem Leben Schnee gesehen hatte.
Zu dieser Zeit vermisste ich den Strand, die Sonne und die ständige Hitze auf Sizilien noch mehr als sonst. Und trotzdem wollte ich nicht wieder zurück. Nach dem Tod meines kleinen Bruders hatte ich den Rest meiner Familie verlassen und geschworen, nie wieder zurück zu kommen. Dieses Kapitel meines Lebens war für immer vorbei und ich hatten in den Staaten ein vollkommen neues angefangen – nur von der Pizza hatte ich mich nicht trennen können.
Endlich in meiner kleinen Wohnung angekommen, zog ich mir die nasse Kleidung aus und ließ mir sofort ein heißes Bad ein. Ich hasste den Winter! Und erst recht hasste ich Weihnachten! In wenigen Wochen war es schon wieder so weit und ich würde wieder bis Abends in der Pizzeria arbeiten um mich dann in meine Wohnung zurückzuziehen und früh schlafen zu gehen. Was machte man denn schon an Weihnachten, wenn alle mit ihren Familien feierten und man selbst allein war.
Früher war dies – neben den Geburtstagen – immer mein Lieblingstag im Jahr. Es kam immer die gesamte Familie und man feierte erst gemeinsam Weihnachten und dann wenige Tage später Silvester. Das war die einzige Zeit, wo wirklich alle da waren und niemand über Geschäfte redete.
Doch daran wollte ich jetzt nicht denken! Ich tat es sowieso schon zu oft während der Arbeit, dann musste ich auch nicht noch danach damit weiter machen.
Eine Stunde später stieg ich vollkommen entspannt aus der Wanne und zog mir schnell Pulli und Jogginhose über. Während ich mich föhnte betrachtete ich mich im Spiegel. Viele Kunden meinten, man sähe mir die Italienerin deutlich an. Ihnen schien es zu gefallen – ich jedoch war schon lange nicht mehr auf meine typisch italienischen dunklen Augen und die ebenfalls dunklen, braunen Haare stolz. Genauer gesagt waren es in ein paar Tagen genau zwei Jahre, in denen ich nicht in den Spiegel sehen konnte ohne an Marcel zu denken. Als ich erneut sein Gesicht in meinem wieder erkannte schreckte ich vor meinem Spiegelbild zurück und verkroch mich für den Rest des Abends in meinem Bett.

Kapitel 2


Am nächsten Tag hatte sich meine Laune ein bisschen gebessert, als meine neue schwarze Bluse am Morgen mit der Post kam. Ich freute mich schon richtig, sie am Abend bei der Arbeit anziehen zu können. Sie lag eng an und hatte einen relativ großen Ausschnitt, doch das war mir egal. Zum Kellnern war es noch okay.
Wenige Stunden später ging ich dann auch los um mir vor meiner Schicht noch eine leckere Pizza in der Küche zu genehmigen. Das war meine tägliche Dosis Heimat, wenn ich in der warmen Küche saß und Benno bei seinen Geschichten zuhörte, die er mir dann immer erzählte. Der 50 Jährige schien wirklich immer eine passende Story zu haben um mich aufzumuntern oder zu beruhigen.
Als ich mir dann die dunkelrote Schürze umband und in einem letzten prüfenden Blick im Spiegel feststellte, dass die neue Bluse und die schwarze, enge Jeans sehr gut dazu passten und mein Outfit von meinen schwarzen Chucks mit weinroten Schnürsenkeln abgerundet wurde. Dieser Meinung war anscheinend auch Vincenze, der staunend pfiff und sich einen Klaps auf meinen Hintern nicht verkneifen konnte – alter Weiberheld!
Ich schnappte mir meinen Block und machte mich auf den Weg, Kelly von ihrer Schicht abzulösen. Da zur Zeit nur zwei Pärchen zu Gast waren, stellte ich mich hinter die Theke und half Vincenzo beim Spülen. Er würde vor mir Schluss machen, da Benno bei diesem Wetter nicht mit vielen Gästen rechnete. Wahrscheinlich ganz zum Leid eines jungen Mädchen, das heute von dem braun gebrannten Italiener neben mir heute ausgeführt würde und von dem er jetzt schon schwärmte. In einer Woche jedoch wird sie ihm zu langweilig sein und er angelt sich eine Neue. So lief das ständig bei ihm. Auch bei mir hatte er es versucht, doch ich hatte von Beziehungen jeglicher Art im Moment genug. Zu groß waren noch die Erinnerungen.
„Melina, Bella. Wie wäre es, wenn ich meinem Date heute Abend absage und stattdessen mit dir einen gemütlichen Abend vor dem Kamin mache? Dir ist doch immer so kalt, wenn es schneit, dann könnte ich dich mal richtig schön aufwärmen.“ Schmachtend trat er näher, doch zum Glück kam gerade Benno an, der seine Bemerkung wohl gehört hatte und ihn deswegen in die Küche zitierte. Mit einem Zwinkern dankte ich ihm und machte mich auf um der gerade angekommenen Familie ihre Plätze zu weisen.
Die nächste Stunde war ich dann von den zwei kleinen Kindern abgelenkt, die begeistert von meinen dunklen Augen schienen und mich deswegen immer wieder riefen. Erst nachdem jeder einen Lolli bekommen hatte, konnte die Eltern sie überreden zu gehen und ich bekam für meine Geduld noch ein dickes Trinkgeld extra.
Es war gerade niemand im Lokal und ich setzte mich in den Aufenthaltsraum vor dem Ofen, während Benno an der Theke irgendwelche finanziellen Angelegenheiten regelte. Plötzlich kam er aufgeregt zurück und meinte, es wären Kunden gekommen um die ich mich besonders gut kümmern sollte. Sie hätten sogar extra nach einer weiblichen Bedienung gefragt, was bei mir schon eine Abneigung hervorrief, bevor ich sie überhaupt gesehen hatte. Solche Kerle waren meistens steinreich und nutzen jede Gelegenheit mir an den Hintern zu packen. Allerdings gaben sie auch das meiste Trinkgeld, weswegen ich mir jegliche spitze Bemerkungen verkneifen und besonders nett sein musste.
Also zupfte ich mir meine glatten Haare noch einmal zurecht und betrat dann mit einem fetten Grinsen den Essbereich. Es waren vier Männer, alle in schwarzen Anzügen und dunklen, perfekt gestylten Haaren. Ich hatte mit meiner Vermutung recht gehabt.
„Buongiorno Signori! Kann ich Ihnen schon etwas bringen?“
Sofort richteten sich alle Blicke auf mich und ich musste erst eine Musterung der zwei mir gegenüber sitzenden Männer ertragen, bevor sie Wein bestellten. Überfreundlich bedankte ich mich und ging – Benno eine Grimasse ziehend – zur Theke um Flasche und Gläser zu holen. Es waren, dem Aussehen nach, ebenfalls Italiener, aber wenigstens waren sie nicht mit dummen Anmachen gekommen. Aber das konnte sich ja noch schnell ändern.
Wieder grinsend brachte ich ihnen die geforderten Getränke, doch sie schienen gesittet zu sein und fingen sobald ich weg war, mit geschäftlichen Gesprächen an. Worüber sie jedoch genau redeten, konnte ich nicht herausfinden. Und außer ein paar durchbohrenden Blicken, während ich hinter der Theke stand, ließen sie mich auch in Ruhe.
Es war gerade mal 10 Uhr, da verließen sie auch schon die Pizzeria, nicht ohne mir vorher einen dicken Batzen Trinkgeld zu geben. Komische Leute. Doch Benno war so glücklich, dass er mich sogar früher weg schickte. Draußen im Schnee hatte ich mich gerade mit meinem Schal vermummt als plötzlich Vincenze vor mir auftauchte.
„Bella! Wie gut, dass ich dich noch erwische! Ich habe es mir anders überlegt mit Claire. Sie ist nicht mein Typ. Allerdings du...mia bella! Gestatte mir wenigstens dich heute Abend auszuführen. Es ist Freitag Abend und eine Frau wie du sollte dann nicht alleine in der Wohnung sitzen. Du bist 21! Komm schon! Nur tanzen! Danach bringe ich dich nach Hause und verschwinde sofort.“
Ich musste lachen, so verzweifelt wie er klang. Wahrscheinlich hatte sein Date ihn abserviert. Aber er hatte Recht. Ich war schon lange nicht mehr feiern gewesen. Also stimmte ich zu und ließ mich zu seinem Auto führen.
Zuerst fuhr er noch bei meiner Wohnung vorbei, wo ich die Jeans schnell gegen einen hellblauen Rock eintauschte und ein dunkelblaues Top mit freiem Rücken und tiefem Ausschnitt darüber zog. Vielleicht war es nicht klug, bei Vincenze so gewagte Kleider anzuziehen – aber es gab ja schließlich auch andere Männer in dem Club und der Italiener würde schon eine andere Begleitung für die Nacht finden.
Anscheinend hatte er so gute Beziehungen, dass er mich sofort an der langen Schlange vorbei lotsen konnte und wir schnell in das flackernde Licht der Disco traten. Wir bestellten uns Sangria und stießen auf Italien an. Nach den ersten drei Gläsern wurde Vincenze von einer Blondine förmlich auf die Tanzfläche gezerrt und ich blieb alleine zurück. Aber schon wenige Minuten später forderte auch mich ein gut aussehender, braun gebrannter Kerl auf. Er hieß Dominik und war ein ziemlich guter Tänzer. Doch schon nach einem Lied, fragte er, ob ich ihn nicht zu seinem Tisch begleiten wolle. Er müsse unbedingt etwas trinken.
Leicht angetrunken folgte ich ihm und stellte mich selbstsicher an den von ihm angesteuerten Tisch, zwischen zwei seiner Freunde. Bei meinem rechten Nachbar fing er an und stellte mich vor, worauf ich eine Umarmung und Küsschen auf die Wange erntete. Genau wie bei den folgenden drei Männern, alle eindeutig italienischer Abstammung.
„Und das neben dir ist schließlich Raphael.“
Ich drehte mich zu meinem anderen Nachbar und erstarrte zur Salzsäule.
Dort stand er.
Groß.
Braun gebrannt.
Muskulös.
Schwarze Haare und eisblaue Augen, die in einem starken Kontrast zueinander standen.
Nur wenige Zentimeter von mir entfernt.
Raphael.

Mein Ex.

Kapitel 3


Er umarmte mich - anders als seine Freunde ließ er mich aber nicht loß.
„Stella. Come stai?“, raunte er mir sanft in mein Ohr.
Verwirrt schüttelte ich den Kopf.
„Wie hast du mich gefunden! Und was zur Hölle machst du hier? Du solltest doch in Italien sein!“
Noch immer gab er mich nicht frei. Fast als wolle er mich nie wieder los lassen.
„Ich habe dich vermisst, Stella. Du bist einfach so verschwunden. Warum bist du nicht zu mir gekommen?“
Dabei gab er mir ein bisschen Freiraum, sodass ich seinen anklagenden Blick sehen konnte.
„Du weißt genau warum ich gegangen bin. Da brauchtest du keine Erklärung! Und hör auf mich Stella zu nennen. Diese Zeiten sind vorbei!“
Ich wandte mich aus seinen Armen und wollte gehen, als sein Kommentar mich zum stutzen brachte.
„Warum? Ist dieser schmierige Macho, der gerade mit einer Anderen tanzt etwa dein Freund? Das kann doch nicht dein Ernst sein. So ein Kerl passt gar nicht zu dir.“
Wütend wirbelte ich wieder zurück.
„Aber du passt auch nicht mehr zu mir. Ich habe damit abgeschlossen und mich verändert. Du kennst mich gar nicht mehr! Also lass mich in Ruhe und mein neues Leben leben.“
Ich kippte mein volles Glas Sangria runter und stürzte auf die Tanzfläche. Dass er sich erlaubte Ansprüche auf mich zu erheben. Ich hatte ihm doch vor zwei Jahren gesagt, dass ich ihn nie wieder sehen wolle. Wieder an der Bar angekommen, ließ ich mir von einem anderen Kerl Sangria ausgeben, der sich davon wahrscheinlich mehr versprach aber ich brauchte Ablenkung.
Nachdenklich spielte ich mit dem Glas, während mein Nachbar irgendetwas langweiliges von sich gab. Meine Gedanken schweiften immer wieder zu Raphael. Er sah gut aus. Noch besser als früher. Der leichte 3-Tage-Bart stand ihm gut und ließ ihn irgendwie gefährlicher aussehen. Es ließ ihn reifer aussehen.
Seufzend bestellte ich mir einen weiteren Sangria.
Es tat trotzdem weh ihn zu sehen. Zu groß war der Schmerz der Erinnerungen, die ich mit ihm verband. Diesen Abend hatte ich mir ganz anders vorgestellt und anscheinend auch mein Gegenüber, der sich gerade mit einer müden Ausrede verabschiedete, da ich ihm ja eh nicht zuhörte. Doch sein Platz blieb nicht lange leer.
„Willst du mir jetzt ewig hinterher laufen?“
Ein raues Lachen war die einzige Antwort. Sein Blick wanderte langsam über meinen gesamten Körper und blieb an einigen Stellen etwas länger hängen. Mein Ausschnitt und der kurze Rock erfüllten ganz ihren Zweck. Leider nur bei dem falschen Mann.
„Du hast dich wirklich verändert, Stella. Aber du gefällst mir immer noch. Und ich bezweifle, dass du die alte Melina gänzlich verdrängen konntest. Irgendwo in dir schlummert noch meine Bambina.“
Lässig lehnte er an der Theke. Vollkommen selbstsicher aber dennoch nicht arrogant. Wie ein lauernder Tiger.
„Die alte Melina gibt es nicht mehr. Aber wenn du mir schon den Abend versauen musst, dann tanz wenigstens mit mir.“
Nach Hause wollte ich noch nicht und bevor noch so ein hässlicher Kerl mich ansprach und ich nach weiteren Sangria auf einmal in einem fremden Bett aufwachte...
Grinsend reichte der Italiener mir die Hand und führte mich galant auf die Tanzfläche. Dort zog er mich eng an sich und wir fingen an zu tanzen. Es war wie in alten Zeiten. Ununterbrochen spürte ich seinen lauernden Blick auf mir, wie er meinen Bewegungen folgte. Seine Hände auf meinen Hüften streichelten und dirigierten mich leicht.
Mit dem Rücken gegen seine Brust legte ich meinen Kopf in den Nacken und flüsterte in sein Ohr.
„Du musst wohl immer noch alles unter Kontrolle haben.“
Er biss mir leicht in den Hals und ich bekam eine Gänsehaut.
„Was ist, wenn ich mich nicht mehr herum kommandieren lasse? Wenn ich selbst das Kommando haben will?“
Ich löste mich aus seinem Griff und grinste herausfordernd.
„Das ist ein gefährliches Spiel, worauf du dich gerade einlassen willst.“
Das war mir bewusst. Aber ein bisschen Adrenalin konnte nicht schaden. Auch wenn der Preis für einen Verlust mein Körper war. Ich liebte es einfach zu spielen.
„Was habe ich zu verlieren? Oder hast du etwa Angst, Tigre?“
Seine Augen funkelten wild und er zog mich erneut näher um mir zuzuflüstern : „Ich habe vor nichts Angst, Micina [Kätzchen]. Das müsstest du doch wissen“
Ich lachte und drehte ihm den Rücken zu nur um langsam meinen Hintern an seiner Hose zu reiben. Seine Hände wanderten an meiner Seite hoch, doch bevor sie ihr Ziel erreichten löste ich mich wieder von ihm um grinsend den nächst besten Kerl anzutanzen. Dieser machte auch gerne mit bis ich zurück gezogen wurde und Hände meinen Körper erkundeten, während er die empfindlichen Stellen an meinem Hals liebkoste.
„Du entkommst mir nicht, Stella.“
Er drehte mich um und während wir weiter tanzten – seine Hände auf meinem Hintern und meine in seinen Haaren – näherte sich sein Mund immer weiter meinem. Kurz vor einem Kuss wandte ich jedoch den Kopf und biss ihm in den Hals. Nicht fest, doch meine Zunge verpasste ihm eine ordentliche Gänsehaut, worauf er mich nur leicht stöhnend näher zog.
„Du unterschätzt mich, Tigre.“
Geschickt entkam ich erneut seinen Armen, nur um lachend vor ihm wegzulaufen. Wie ein Tiger verfolgte er mich – nicht umsonst kam er zu seinem Spitznamen – und wandte nie seinen Blick ab. Ihm gefiel dieses Spiel. Er dachte ja auch noch, dass er gewinnen würde. Doch ich hatte einen Plan.
Verführerisch blickte ich immer wieder zurück. Er passte sich meinem Tempo an. Wollte, dass ich zu ihm komme. Darauf konnte er lange warten.
Endlich hatte ich ihn gefunden. Mein Joker sozusagen. Ich zwinkerte Raphael noch einmal zu und lief dann um die Theke herum, wo ich Vincenzo entdeckt hatte. Er lehnte dort an der Wand - mit einer anderen Frau aber von der würde ich ihn schon ablenken können. Sie waren in ein Gespräch vertieft und er hatte mich noch nicht bemerkt als bei ihm ankam. Da wurde ich plötzlich von einem sehr muskulösen Körper an die Wand gedrückt und meine Hände landeten neben meinem Kopf.
„Dachtest du wirklich ich hätte deinen Plan nicht durchschaut, mit einem Andern abzuhauen?“
Das hätte ich eigentlich wissen müssen. Schließlich wusste ich, wie er wirklich war.
Mein Gedankengang wurde jedoch plötzlich unterbrochen als sich weiche Lippen auf meine legten. Gott, ich hatte vergessen, wie gut er küssen konnte. Seine Zunge, die fordernd Einlass verlangte erinnerte mich jedoch daran. Festgenagelt zwischen Wand und harter Muskelmasse hatte ich keine Chance mich zu wehren, als seine Hand meinen Körper entlang wanderte und mein Becken noch mehr an seines presste.
Ich hatte mich auf dieses Spiel eingelassen und verloren. Aber momentan konnte ich mich nicht darüber ärgern. Zu groß war das Verlange, das er in mir weckte, allein durch seine fordernden Blicke.
„Lass uns hier verschwinden, Micina.“
Nur zu gern kam ich dieser Aufforderung nach. Es hieß ja nicht, dass ich die Vergangenheit ignorieren und wieder zu ihm zurück kommen würde. Aber ich war eine erwachsene Frau mit Bedürfnissen. Und dass er denen nachkommen und mich alles andere vergessen lassen würde, stand fest.

Kapitel 4


Ich befand mich in einer Gasse, umgeben von hohen Mauern und dichtem Nebel. Es war kein Geräusch zu hören und der Himmel war pechschwarz. Langsam ging ich an den stinkenden Mülltonnen vorbei und konnte nach einigen Metern endlich einen kleinen Lichtstrahl erkennen. Beim Näherkommen erkannte ich eine alte Straßenlaterne mit flackerndem Licht. Die perfekte Gruselfilm Szene. Fehlte nur noch der Vergewaltiger oder Mörder, der jetzt plötzlich auftaucht und mich verfolgt.
Ich trat auf die breite Straße und sah mich um. Ich befand mich in Corleone - der Hauptstadt Siziliens und meiner ehemaligen Heimat. Doch es sah anders aus, als in meiner Erinnerung. Alle Fenster waren eingeschlagen und aus vielen Häusern stieg Rauch auf. Zerstörte und zum Teil verbrannte Autos säumten die Straße und überall lagen Trümmer. Beunruhigt ging ich weiter, grübelnd was hier passiert sein könnte. Ich dachte an meine Familie. Ob ihnen etwas passiert war? In dieser Stadt war eindeutig gekämpft worden, doch ich sah keine Menschenseele. Alles war verlassen. Ich bog um die nächste Ecke als ich zwei Männer im Schein einer Laterne stehen sah, wo sie sich unterhielten.
Der eine war gebaut wie ein Schrank, während der andere kleiner und jünger aussah. Ich kam näher als sich ihre Körperhaltung änderte. Sie schienen sich zu streiten, doch ich konnte keine Gesichter erkennen. Plötzlich fingen sie an miteinander zu kämpfen, wobei der jüngere deutlich unterlegen war. Ich lief auf sie zu um zu helfen als der Schrank seinen Gegner auf den Boden beförderte, wo dieser stöhnend liegen blieb. Inzwischen war ich nah genug bei ihnen und wollte den Großen schon anschreien, warum er sich mit kleineren anlegte als mir das Gesicht des Anderen auffiel.
„Marcel! Hey, Arschgesicht! Lass sofort meinen kleinen Bruder in Ruhe oder du bekommst es mit mir zu tun!“
Doch keiner der beiden reagierte. Dabei stand ich nur wenige Meter von ihnen entfernt.
„Halt dich gefälligst aus der Sache raus, Kleiner! Du gefährdest nur meine Mission und das lasse ich nicht zu!“
Der Schrank griff an seinen Gürtel und beförderte eine Glock mit Schalldämpfer hervor. Dieser Bastard! Ich lief so schnell ich konnte, doch bevor ich sie erreichte hatte fiel schon der Schuss.
„Marcel! Nein!“
Der Killer war plötzlich verschwunden und ich kniete mich neben meinen sterbenden Bruder.
„Hey, Kleiner. Sieh mich an. Du musst durchhalten. “
Aus seiner Wunde in der Brust trat schnell Blut aus und bildete eine große Lache auf seiner Kleidung und auf dem Boden.
„Melina...es tut mir Leid..ich wollte....beschützen...“
Er hustete und spuckte Blut. Verdammt! Verzweifelt sah ich mich auf der Straße um, doch Niemand war zu sehen.
„Killer...versuchen...“
Wieder musste er husten und ich merkte wie er immer schwächer wurde.
„Marcel. Du musst bei mir bleiben!“
Er lächelte schwach und brachte ein: „Liebe...dich..“ hervor, bis alle Kraft aus ihm wich und er tot in meinen Armen lag.
„Marcel! Nein!!!“
Mir kamen die Tränen. Ich wiegte seinen Oberkörper in meinen Armen. Klammerte mich verzweifelt an ihn. Das konnte alles nicht wahr sein! Er war doch mein kleiner Bruder. Derjenige, der mich am Besten verstanden hatte. Mich immer aufgemuntert und motiviert hatte, wenn ich zweifelte. Eigentlich hätte es doch anders herum sein müssen. Ich war älter. Ich hätte ihn beschützen müssen! Meine Tränen tropften auf sein regloses Gesicht. Ich hatte ihn verloren.

Schweißgebadet schreckte ich hoch.
Es dauerte eine Weile bis ich realisierte, dass ich nur geträumt hatte. Doch Marcel war auch in Wirklichkeit tot. Er wurde von diesem dreckigen Auftragskiller umgebracht. Ich hatte es gesehen. Und wie in meinem Traum war ich zu spät gekommen.
Mir kamen erneut die Tränen. Neben mir regte sich Raphael. Verstört stand ich auf und schloss mich ins Bad ein. Ich wollte nicht, dass er mich so sah. Er würde es nicht verstehen, dass ich mir die Schuld an dem Tod meines kleinen Bruder gab. Dabei hätte ich doch einfach pünktlich sein müssen. Wir wollten uns vor dem Café treffen und dann gemeinsam Eis essen, während er von der Schule erzählt. Doch ich war zu spät. Ich hatte mich nicht aus dem Bett aufraffen können. Raphaels Bett. Es war meine Schuld! Ich hätte ihn vor dem Bastard beschützen können.
Schluchzend sackte ich auf dem Boden zusammen und schlief erst viel später erschöpft ein.

Sonnenstrahlen weckten mich. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es erst acht Uhr waren. Doch einschlafen wollte ich nicht mehr. Ich wusch mir das Gesicht und putzte mir die Zähne. Mit neuen Klamotten schlich ich mich schließlich aus meiner Wohnung. Ein Spaziergang in der Kälte würde mich hoffentlich auf andere Gedanken bringen.
Eine Stunde später betrat ich ein kleines Café und bestellte mir ein Frühstück. Ich wollte nicht zurück. Zu groß war die Wahrscheinlichkeit, dass Raphael noch da war. Und er war der letzte, dem ich jetzt begegnen wollte. Seine Spezialität war es, in dem Verhalten anderer Leute zu lesen. Jeder schien ein offenes Buch für ihn zu sein.
Satt und beruhigt machte ich mich schließlich gegen 10 Uhr auf den Weg zur Arbeit. Bei Benno angekommen zog ich mich um und startete, froh über die Ablenkung, meine Arbeitsschicht.
Es hatte aufgehört zu Schneien und die Sonne schien, weswegen wieder mehr Gäste kamen und ich gemeinsam mit Vincenze kellnerte. Über den Abend sprachen wir kaum. Ihm schien es wohl peinlich zu sein, mit einer Anderen verschwunden zu sein. Erst nach vielen Versicherungen, hatte ich ihn überzeugt, dass das für mich nicht schlimm war.
„Wie ich gesehen habe, hast du die Disco ja selbst mit einem anderen Kerl verlassen. Er war auch Italiener, nicht wahr? Dann habe ich ja vielleicht doch noch eine Chance bei dir.“
Kopfschüttelnd ging ich zu den neuen Gästen. War ja klar, dass so etwas kommen musste.
Punkt 3 trat ich aus der Pizzeria heraus und überlegte gerade, ob ich nicht in einem der Sky-Restaurants essen sollte, da lief ich von der Sonne geblendet gegen jemanden .
„Oh....Entschul...Was machst du denn schon wieder hier?!“
Vor mir stand ein grinsender Raphael.
„Ich wollte dich auf ein Mittagessen einladen. Schließlich hast du bis gerade gearbeitet und bist sicher hungrig.“
„Hab eben schon gegessen. Und ich muss jetzt weg. Ciao“
Ich stapfte an ihm vorbei. Da rief er mir hinterher: „Ich hab uns einen Tisch im Terrace in the Sky bestellt.“
Dieser Mistkerl. Woher wusste er, dass ich die Aussicht dort so mochte?
„Warum sollte ich mit dir dahin gehen?“
Ich drehte mich nicht um, damit er mein Gesicht nicht sah. Da ertönte seine Stimme plötzlich direkt hinter mir.
„Weil ich weiß, wie sehr du auf hohen Gebäuden die Aussicht genießt und weil ich mit dir reden muss. Außerdem bezahle ich auch, also was hast du zu verlieren?“
Er benutzte extra meine Wortwahl vom Abend davor. Doch es half. Ich musste ihm ja nicht zuhören oder antworten.
„Aber nur dieses eine Mal. Danach fährst du dahin zurück, wo du her kommst und lässt mich endlich in Frieden.“
Dazu sagte er nichts, sondern öffnete mir grinsend die Beifahrertür des schwarzen Audi, neben dem wir standen, und wir fuhren los.

Kapitel 5


Wie erwartet, hatte Raphael es geschafft, einen der hart umkämpften Tische am Rand zu ergattern und ich verlor mich sofort in der wunderschönen Aussicht. Wir saßen schweigend voreinander und sahen auf die Stadt herunter. Die Menschen, die über die Straße liefen, schienen so klein und unbedeutend, dass ich sogar leicht melancholisch wurde. Wie gerne wäre ich einer von ihnen. Ganz normal. Nichts bedeutendes.
Ein Seufzer entfuhr mir, worauf mein Gegenüber seine Hand sanft auf meine legte.
„Stella...Bitte komm mit mir zurück.“
Wütend zog ich meine Hand weg und wollte schon aufstehen, doch er zog mich bestimmt wieder auf meinen Stuhl.
„Du brauchst dir keine Mühe machen. Ich habe mich entschieden und ich bleibe dabei! Und wenn es das war, was du mit mir bereden wolltest, dann verzichte ich lieber auf das Essen.“
Wo ich gerade davon sprach, kam auch ein Kellner mit einem Teller Spaghetti mit extra viel Parmesan. Mein Lieblingsgericht – auch wenn es für eine geborene Italienerin sehr klischeehaft wirkte. Misstrauisch sah ich meinen Ex an und dann das Essen und entschied mich, dass es zu schade wäre, wenn so etwas weggeworfen würde.
„Glaub ja nicht, dass ich wegen dir hier bleibe!“
Er lachte und fuhr sich durch die dunklen Haare.
„Tu mir einfach den Gefallen und hör mir zu. Seitdem du weggelaufen bist, hat sich viel verändert.Dein Vater...wir dachten alle, dass auch du getötet wurdest. Wir hatten schließlich keine Spuren von dir und trotzdem ließ er immer weiter nach dir suchen. Währenddessen ertränkte er seinen Kummer in Alkohol. Und als dann deine Mutter krank wurde..“
Ich verschluckte mich an meinen Nudeln, sodass er mir auf den Rücken klopfen musste, damit ich nicht erstickte.
„Was ist mit meiner Mutter?!“
„Nichts...sie ist nicht gestorben. Das war es nicht, was ich dir sagen wollte..“ Er setzte sich wieder hin und seufzte.
Irgendetwas verschwieg er mir. Und diese Ahnung verdarb mir den Appetit, sodass ich die Gabel weg legte und ihn funkelnd ansah.
„Erzähl schon! Was ist passiert?“
„Sie hat..Depressionen..und..“ er sah mich prüfend an, doch ich versteckte meine aufwallenden Gefühle hinter meinem Pokerface.
„Na ja..sie sitzt den ganzen Tag in ihrem Sessel auf der Terrasse und guckt aufs Meer hinaus. Sie isst und schläft nur, wenn dein Vater sie förmlich dazu zwingt. Aber..Im Moment kann er das nur noch schlecht. Er hat in den letzten zwei Jahren so viel getrunken, dass seine Leber nicht mehr richtig funktioniert. Er wartet auf eine Organspende aber das kann dauern, bei Alkoholikern. Und er will auch nicht aufhören zu trinken..Er sitzt die meiste Zeit betrunken in seinem Arbeitszimmer. Sogar das Geschäft ist ihm egal. Er...hat seine Position weitergegeben...an mich.“
Wieder dieser Blick, doch ich war unfähig zu reagieren. Was hatte ich nur getan?! Als ich Italien verlassen hatte, war ich zu fixiert auf meine Probleme und meine Schmerzen gewesen um lange genug an meine Eltern zu denken. Natürlich wusste ich, dass ich ihnen damit weh tat, doch ich hätte nie mit so einer schlimmen Reaktion gerechnet. Ich hatte es ja auch nicht so dargestellt, dass ich gestorben war. Ich hatte doch sogar einen Abschiedsbrief geschrieben!
„Wie kamt ihr darauf, dass ich tot bin?“ Meine Stimme war fast nur ein Flüstern, doch er hatte mich verstanden.
„Dein Zimmerfenster war aufgebrochen und alles war zerstört, als ob ein Kampf stattgefunden hätte. Wir fanden auch ein bisschen Blut, was zwar nicht deines war, aber wir dachten, du hättest es geschafft, deinen Angreifer zu verletzen bevor er dich verschleppt hat. Doch selbst die Fingerabdrücke halfen uns nicht weiter..“
„Ihr dachtet ich sei entführt worden?!“
„Zuerst. Aber vor kurzem haben meine Leute dich dann hier gefunden und da wurde mir klar, dass du nicht verschleppt wurdest, sondern irgendwer nur den Anschein erwecken wollte, damit wir dich nicht suchen.“
„Aber...wer sollte das gewesen sein? Als ich mein Zimmer verließ war alles noch ganz und ich hatte einen Brief an meine Eltern auf mein Bett gelegt, worin alles erklärt war..“
„Diesen Brief haben wir nie gefunden...Aber wahrscheinlich hat dieser Mistkerl ihn mitgenommen...Hast du darin irgendwie angedeutet, wohin du gehen wolltest?“
Ich musste kurz überlegen, doch mir fiel nichts ein. Schließlich hatte ich erst am Flughafen entschieden, wohin ich gehen wollte.
„Warum willst du das denn wissen? Glaubst du, derjenige sucht mich auch? Bist du deswegen hier?“
„Stella..Die Fingerabdrücke...wir wissen, wem sie gehören.“
„Hä? Du hast doch eben gesagt, dass ihr sie in keiner Datenbank gefunden habt?!“
Er strich sich erneut durch die Haare und sah mich verzweifelt an.
„Ich sagte, dass sie uns nicht weiter geholfen haben. Wir hatten sie in der Datenbank...Jedoch bei einem ungelösten Mordfall...“
Irgendetwas verheimlicht er mir doch!
Wütend setzte ich mich gerade hin. „Was ist es, was du mir nicht erzählen willst? Na los! Sag schon!“
„Die Fingerabdrücke...sie gehörten zu dem Mörder von... Marcel.“
Was?!

Alles verschwamm vor mir und drehte sich.
Dieser Mistkerl ist in der Nacht bei mir aufgetaucht?!
Warum bin ich nicht dort geblieben?!
Ich hätte ihn töten können.
Hätte meine Bruder rächen können!
Aber was wollte er von mir?
Wollte er mich etwa auch töten?!
Aber warum?
Weil ich ihn gesehen hatte?
Oder hatte ich etwas anderes gesehen?

Die Fragen schossen durch meinen Kopf und ich bekam nichts von meiner Außenwelt mit.

Marcel...
Ich war Schuld an seinem Tod...

Etwas traf mich an der Wange und riss mich aus meiner Trance heraus.
Ich blickte auf einen besorgt aussehenden Raphael, der mich an den Schultern gepackt hatte und mich durchschüttelte. Wahrscheinlich war auch er es gewesen, der mir eine Ohrfeige verpasst hatte.
Langsam legte ich meine Hand auf meine brennende Wange.
Ich war viel zu verwirrt.

Was hatte das zu bedeuten?

Kapitel 6


Raphael verfrachtete mich in sein Auto und fuhr los, doch ich bekam es nur nebenbei mit. Zu viele Gedanken schwirrten durch meinen Kopf und ich hatte das Gefühl, er würde gleich platzen. Stöhnend zog ich die Beine an meinen Körper und umarmte sie. Die Kopfschmerzen wurden immer schlimmer und mit ihnen kamen auch die Erinnerungen an meinen Bruder.
Meine Sicht verschwamm, doch ich starrte weiterhin nur aus dem Fenster.
Was hatte ich nur getan, dass jemand meinen Bruder umbrachte und dann das gleiche bei mir versuchte?
Doch so sehr ich darüber nachdachte, mir fiel nichts besonderes ein.

Wir hielten und jemand öffnete die Tür um mich herauszuheben. Ich ließ alles geschehen und machte mir noch nicht einmal die Mühe nachzusehen, wo ich war und wer mich wegtrug. Ich schloss einfach die Augen und ignorierte den Rest.

Ich wachte in einem riesigen Bett auf und sofort fingen die Schmerzen wieder an in meinem Kopf zu pochen. Stöhnend schloss ich die Augen und versteckte mich unter der Decke, als ein raues Lachen ertönte.
Verwirrt blinzelte ich unter der Decke hervor und entdeckte einen halb nackten Raphael neben mir. Erst dann fiel mir auf, dass ich gar nicht in meinem Bett lag und erinnerte mich an meinen Zusammenbruch und dessen Grund. Sofort wurden meine Kopfschmerzen schlimmer und ich versteckte mich wieder unter der Decke.
Doch nicht lange, da wurde ich darunter hervorgezogen und von zwei muskulösen Armen an einen warmen Körper gezogen.
„Nicht wieder weinen, Kätzchen. Ich verspreche dir, dass er dir nichts tun wird.“
Ich drehte mich zu ihm um und sah ihn wütend an.
„Ich habe keine Angst vor diesem Arsch! Ich mache mir nur Vorwürfe, dass ich an diesem Abend nicht dort geblieben bin und meinen Bruder gerächt habe!“
Er strich mir die Haare aus dem Gesicht.
„Er ist wahrscheinlich mitten in der Nacht gekommen, wenn du geschlafen hättest. Wärst du nicht weggelaufen, wärst du jetzt auch tot.“
Ich wand mich aus seinen Armen und sprang aus dem Bett, wodurch meine Kopfschmerzen allerdings so stark wurden, dass ich stöhnend auf dem Boden zusammensank.
Sofort war Raphael bei mir und hob mich wieder hoch.
„Was ist los, Princessa?! Hast du Kopfschmerzen?“
Als Antwort nickte ich nur, doch selbst diese kleine Bewegung wurde sofort mit einem noch stärkeren Pochen bestraft.
Er brachte mir eine Aspirin und verließ dann das Zimmer um etwas zu Essen und Trinken für mich zu holen, wodurch ich etwas Zeit zum Nachdenken hatte.
Wer war dieser Auftragskiller? Wer schickte ihn? Und vor Allem, Warum??
Doch ich kam zu keiner plausiblen Antwort.

Eine Stunde später hatte ich geduscht, gegessen und die Kopfschmerzen waren auch verschwunden. Nun saß ich wieder auf dem weichen Bett, nur mit einem Pullover von Raphael bekleidet, und starrte die Wand an.
„Komm schon, Princessa. Hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Es war gut so und fertig! Komm wieder mit nach Italien, dann geht es deinen Eltern sicherlich auch wieder besser!“
Mein Kopf ruckte in seine Richtung. Er hatte sich auf dem Sofa gegenüber dem Bett breit gemacht und beobachtete mich.
„Ich kann nicht wieder zurück. Ich habe mit meinem alten Leben abgeschlossen und ein neues angefangen!“
„Du kannst aber auch nicht einfach deine Eltern verleugnen und sie in dem Glauben lassen, du wärst tot!“
„Dann erzähl du es ihnen, wenn du wieder zurück bist! Am Besten, du fliegst noch heute!“
„Wie soll ich das denn deiner Mutter sagen, wenn sie nichts mehr mitbekommt?! Und dein Vater würde auch nur denken, dass es eine Einbildung vom vielen Alkohol sei!“
Ich drückte meine Beine noch ein Stückchen näher an meinen Körper und legte meinen Kopf darauf ab. Ich konnte nicht wieder zurück. Alles würde mich an Marcel erinnern und die Schuld würde mich innerlich zerfressen.
„Ich kann nicht...“
Mir kamen wieder die Tränen und ich versuchte sie zu verstecken, doch Raphael hatte es schon gemerkt und nahm mich in den Arm, wodurch sie noch stärker aus meinen Augen quollen.
„Schhh...du schaffst das schon, Princessa! Hör auf dir ständig die Schuld für seinen Tod zu geben!“
„Aber wäre ich nicht länger liegen geblieben-“
„Hätte dieses Drecksschwein euch beide erschossen!“
„Du hast doch keine Ahnung!“
Ich wollte mich von ihm los machen, doch er ließ es nicht zu.
„Hasst du mich deswegen? Weil ich dich damals überredet habe, noch etwas liegen zu bleiben?“
Ich wandte meinen Kopf ab, doch das schien ihm Antwort genug. Schnaubend stand er auf und sah mich kopfschüttelnd an.
„Also ich für meinen Teil, bin froh, dass ich dir damit das Leben gerettet habe!“
„Aber ich hätte ihn beschützen können! Ich hätte ihn retten können!“
„Nein! Der Kerl ist ein Profi und selbst für dich eine Nummer zu groß! Er hätte dich zuerst erschossen, bevor du ihn überhaupt bemerkt hättest! Und deinen Bruder hätte er dann auch nicht verschont!“
Mein Gesicht war inzwischen überströmt von Tränen und ich rollte mich schluchzend zusammen.
„Er war doch mein kleiner Bruder. Ich hatte ihm versprochen, ihn immer zu beschützen!“
Die Matratze senkte sich neben mir und er strich mir sanft über den Rücken.
„Er war sich der Gefahr bewusst, als er der Familia beigetreten ist und es war klar, dass du ihn nicht vor allem beschützen konntest! Dafür warst du zu jung und zu unerfahren.“
„Warum musste er auch überhaupt aktives Mitglied werden?“
„Weil er so werden wollte wie seine Vorbilder – dein Vater und du. Er wollte euch unterstützen. Vor Allem dich, wenn du den Posten deines Vaters eingenommen hättest!“
„Aber er war doch erst 15...“
„Und du 17 als du zum offiziellen Nachfolger des Paten der sizilianischen Mafia ernannt wurdest!“
Ich blickte verwirrt zu ihm auf.
„Was hat das denn damit zu tun?“
„Marcel war alt genug. Ich habe noch früher als er angefangen. Aber du warst es damals nicht! Und deswegen wollte dein Bruder dich unterstützen!“
„Ich wurde auch mein ganzes Leben darauf hin vorbereitet! Mein Vater hat schon immer mit mir übers Geschäft geredet und mich nie weggeschickt, wie meinen Bruder! Er hat mir das Kämpfen und Schießen beigebracht! Ich war bereit dafür!“
„Nein. Du hast immer stark getan, aber ich habe doch gemerkt, wie schlecht du nachts geschlafen hast, wenn du jemanden umbringen oder dabei zusehen musstest! Du hast geschrien und wild um dich geschlagen!“
Überrascht sah ich ihn an.
„Du hast es mitbekommen..?“
„Natürlich! Ich hatte damals das Zimmer neben dir und am Anfang bin ich jedes Mal zu dir gelaufen um dich zu beruhigen.“
„Mein Vater hatte dich damals zu uns geholt, damit es nicht immer so lange dauerte, bis er mit dir übers Geschäft reden konnte, nicht wahr?“
„Ja und du warst erst ein paar Wochen offiziell dabei. Die Träume haben sich zwar nach einem Monat gelegt, aber du hattest trotzdem noch Probleme damit. Man konnte es dir ansehen.“
„Ich war das nun mal noch nicht so lange gewohnt wie du. Du warst ja schon Don, als ich anfing.“
„Aber auch später hat es dich mitgenommen. Du hast es nicht gezeigt, aber dein Bruder hat es trotzdem bemerkt.“
„Dann bin ich also auch noch Schuld daran, dass er überhaupt erst Mitglied wurde...“
Er nahm mein Gesicht in die Hand und sah mir tief in die Augen.
„Nein. Das war seine Entscheidung. Und auch, an seinem Tod bist du nicht Schuld. Aber wenn du dich weiter so egoistisch verhältst wie im Moment, dann wirst du Schuld an dem Tod deiner Eltern sein! Also hör auf dich in Selbstmitleid zu baden und beweg' deinen Arsch gefälligst nach Italien! Räche deinen Bruder und nimm das Erbe deines Vaters an – an meiner Seite.“

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Tag der Veröffentlichung: 18.05.2011

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