Cover

Hallo, liebe Mondlicht-Leser!
Als ich das erste Kapitel auf bookrix gestellt habe, war ich sehr nervös, um ehrlich zu sein. Meine Freundin musste mich erst dazu überreden ;-)
Umso (positiv!) überraschter war ich, dass ich lobende Kommentare und vor allem sehr konstruktive Kritik erhalten habe. Ich versuche so gut als möglich, eure Tipps zu beherzigen und eure Kritik in den neuen Kapiteln um zu setzen (die Tochter muss nicht mehr für den Tod einspringen, und die "welcher" in allen Formen und Abwandlungen wurden auf ein für mich gerade noch erträgliches Maß reduziert :D). An dieser Stelle in riesengroßes 'Dankeschön' dafür, dass ihr so mild mit einem bookrix-Neuling wie mir seid ;D Da ich bei der ersten Fassung leider das Format wirklich

nicht ändern kann (danke nochmal an alle die versucht haben, mir hier zu helfen), findet ihr in diesem Buch auch das erste Kapitel erneut vor, diesmal aber hoffentlich richtig ;)
Des Weiteren wünsche ich Euch viel Spaß mit den weiteren Kapiteln von "Mondlicht". Im Übrigen suche ich immer wieder Namen für Charaktere! Wer also einen oder mehrere (bevorzugt werden unübliche und/oder seltene) Namen kennt, soll mir diese bitte über die Pinnwand oder auch als Nachricht zukommen lassen.
So, und jetzt möchte ich euch auch gar nicht mehr lange aufhalten ;)
Viel Vergnügen mit Raven, Siljan und co!

Eure Christina



Kapitel eins

Leise ging Raven den schmalen Pfad entlang, der durch den dichten, über ihr aufragenden Wald führte und dessen Baumkronen ihr beinahe alles Mondlicht raubten, welches sie benötigte, um sich zu Recht zu finden. Ab und zu verirrte sich jedoch ein sanfter Lichtstrahl auf den ausgetretenen Weg, was ihr ausreichte, um nicht von Jenem ab zukommen. Seit ihre Verwandlung so weit fortgeschritten war, hatten sich ohnehin einige Dinge geändert.
Nachdenklich ließ die Siebzehnjährige ihren Blick über den Boden gleiten, lauschte dabei jedoch hinter sich. Sie war sich sicher, dass Einige von ihnen bereits auf der Suche nach ihr waren. Vielleicht wusste ihr Vater schon Bescheid – das würde dann allerdings unangenehm werden. Mit einem Seufzen hob sie den Blick – und dieser blieb prompt an einem großen, grauen Stein hängen, vor dem der Weg abrupt endete. Ohne auf ihr Kleid zu achten, ließ die junge Frau sich vor dem Grabmal auf die Knie sinken und starrte es einfach nur an. Worte und Gedanken schwirrten in ihrem Kopf umher, jeder Einzelne davon zu wirr, um ihn aus zusprechen. Also schloss sie einfach die Augen und lauschte auf die Geräusche der Nacht um sich herum. Der Wind spielte leise mit den trockenen Ästen der Bäume, ließ Blätter rascheln und über den Boden tanzen. Dieses Geräusch war sehr speziell, wie ein Flüstern, und es brachte Raven jedes Mal zum lächeln. Als sie noch klein gewesen war, hatte ihre Mutter ihr immer erzählt, dass sie nur gut genug hinhören müsse, dann würden die Blätter ihr eine Geschichte erzählen. Doch so angestrengt Raven es auch immer versucht hatte – die Stimmen und Geschichten der Blätter waren ihr immer entgangen. Lächelnd hob sie die Augenlider.
Heute glaubte sie selbstverständlich nicht mehr an diese Märchen. Doch es war eine schöne Erinnerung an ihre Mutter, die vor drei Jahren so plötzlich verstorben war, und jetzt hier unter der kalten, harten Erde begraben lag. Krampfhaft schluckte die junge Frau und strich sich eine ihrer mittlerweile beinahe hüftlangen dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht, wo der sanfte Luftzug sie hinbefördert hatte. Auch ihre Haarfarbe, das dunkle, satte Braun, bei dem man sich nie sicher war, ob es nicht doch Schwarz war, war ein Erbe ihrer Mutter. Von ihrem Vater hingegen hatte sie so gut wie gar nichts an sich. Seine Haare waren hell, die Augen dagegen dunkel, während sie hingegen bei Raven in ein strahlendes Tannengrün gefärbt waren. „My Lady? Wir suchen Euch bereits seit Stunden! Euer Vater ist sehr besorgt um Euch.“ Erschrocken zuckte Raven bei Lucans Stimme zusammen, fasste sich jedoch rasch wieder. „Das wäre nicht nötig gewesen. Mein Vater weiß, dass ich das Anwesen nicht ohne sein Mitwissen verlasse. Ich wollte nur nachdenken. Alleine.“ Der Anführer der Wächter, welche hier stationiert waren, nickte zwar, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. „Gibt es noch etwas?“
„Euer Vater wünscht, Euch augenblicklich zu sehen. Er möchte Euch unter vier Augen sprechen.“
Missbilligend runzelte Raven die Stirn, erhob sich jedoch anmutig vom harten Waldboden und versuchte so gut als möglich, den Schmutz von dem Satin ihres dunkelroten Kleides zu wischen. „Ich komme sofort, Lucan. Du kannst gehen.“
Als der Krieger noch immer nicht ging, seufzte Raven leicht gereizt. „Lady, ich habe den Befehl, Euch zu Eurem Vater zu bringen…“ Wut flammte in ihr auf, wie so oft in letzter Zeit, und ließ sie mit trotzig vor der Brust verschränkten Armen stehen bleiben. Lucan blickte leicht irritiert drein. „MyLady?“
Die Dunkelhaarige schüttelte bloß den Kopf und blieb genau dort stehen, wo sie war. „Ich gehe alleine zurück oder gar nicht.“ Ihr Vater war, seit dem Tod ihrer Mutter, unglaublich beschützerisch geworden. Für sie alltägliche Situationen befand er für unheimlich risikoreich. Sie hatte tatsächlich dafür kämpfen müssen, ohne Begleitung in den Garten gehen zu dürfen!
In letzter Zeit jedoch war die herzerweichende Besorgnis um sie, wegen der Raven ihm bisher immer verziehen hatte, stark geschwunden, dafür blieb und verstärkte sich das Herrische, weswegen er oft mit seiner Tochter aneinander geriet. Manchmal machte es sie beinahe verrückt, ständig beobachtet zu werden. So auch jetzt. Unbehaglich schüttelte Lucan den Kopf. „Ich soll Euch zu ihm begleiten. Egal, wie“, meinte der gut zwei Meter große Mann unsicher, doch Raven antwortete nur mit einem kühlen Lächeln. „Möchtest du mich etwa hinter dir herschleifen? Mich über deine Schulter werfen und tragen?“ Nachdenklich blickte Lucan auf Raven hinab, so nachdenklich, dass sie sich schon fragte, ob er diese Möglichkeiten nicht wirklich in Betracht zog. Dann jedoch schüttelte er erneut verneinend den Kopf. „Natürlich nicht.“ Kurz hielt er inne, dann meinte er mit einem Seufzen: „ Nun gut. Ich warte am Waldrand. Aber beeilt Euch!“ Abrupt wandte er sich um und verschwand zwischen den dicken Baumstämmen ins für ihre Augen undurchdringliche Zwielicht des Waldes. Erleichtert legte die Siebzehnjährige den Kopf in den Nacken und atmete mit geschlossenen Augen tief ein. Sie hoffte innbrünstig, dass Lucan tatsächlich auf sie warten, und nicht schnurstracks zu ihrem Vater laufen würde, um ihm von ihrem Ungehorsam zu berichten. In letzter Zeit hegte er ohnehin großen Groll für sie, da Raven des Öfteren nicht seinen Anweisungen und „Bitten“ nachkam. Ja, sie war nicht mehr die perfekte Tochter, für die er sie bisher gehalten hatte. Hätte sie gekonnt, wäre sie eventuell wieder zu ihrem früheren Verhalten zurück gekehrt, doch der Duft der Freiheit war wie ein Gift, das sich langsam in ihrem Körper ausbreitete und dazu zwang, sich immer mehr davon zu nehmen. Als Raven die Luft wieder aus ihren Lungen entweichen ließ, drang plötzlich das Geräusch eines brechenden Zweiges an ihr Ohr. Ruckartig fuhr sie herum, um sich einem ihr unbekannten jungen Mann gegenüber zu finden. Als er ihr zulächelte, entblößte er ein Paar ungewöhnlich langer Fänge. Einer der Krieger also. Während der Fremde sich leicht vor ihr verbeugte, runzelte Raven unwillkürlich die Stirn. Etwas an ihm war….falsch. Sein leicht überheblicher Gesichtsausdruck wies darauf hin, dass er sie nicht unbedingt ernst nahm, und die Gesten, welche eigentlich dazu bestimmt waren, Ehrerbietung aus zu drücken, wirkten bei ihm einzig wie Hohn und Spott. Als seine Augen erneut auf ihre trafen, standen eben diese Emotionen darin. Kühl nickte die Siebzehnjährige ihm zu. Bei den schlechten Lichtverhältnissen heute Nacht konnte sie nicht viel mehr von ihm ausmachen, als dass seine Augen dunkel zu sein schienen, genau wie sein leicht gelocktes Haar. Nicht, dass es sie sonderlich interessieren würde.
Anscheinend war er ein neuer Krieger, denn Raven hatte ihn hier noch nie gesehen. Und sie kannte jeden Einzelnen aus der Wache.
„Eine schöne Nacht, MyLady. Ich wurde geschickt, um Euch zu Eurem Vater zu geleiten.“ Verwirrt blinzelte sie und trat einen Schritt zurück. Er war ihr unheimlich, auch wenn das unsinnig war. Diese Leute waren hier, um sie zu beschützen, und jeder Einzelne von ihnen musste sich einer Prüfung unterziehen, um sicher zu gehen, dass kein Feind hier her gelangte. Dennoch machte er sie nervös. Abneigung sprach aus jeder seiner Bewegungen. „Das ist nicht nötig. Lucan war bereits hier. Ich wollte gerade aufbrechen.“ Verächtlich schnaubte ihr Gegenüber, woraufhin Raven ihn ungläubig anstarrte. Noch nie hatte jemand ihr seine Abneigung so deutlich, und dazu noch grundlos, gezeigt. „Eurem Vater war klar, dass Lucan Euch alleine gehen lassen würde. Deshalb bin ich hier. Ich soll Euch zu ihm bringen. Folgt mir.“ Er wandte sich ab und ging los, den Weg, den sie gekommen war, wieder zurück. Als er merkte, dass sie ihm nicht folgte, drehte er sich nach der Siebzehnjährigen um und seufzte. Selbst das klang unglaublich überheblich. Idiot.
„Entweder Ihr folgt mir jetzt freiwillig, oder ich werde Euch zurückschleifen. Entscheidet Euch.“ Wütend funkelte Raven den Krieger an, machte aber keinerlei Anstalten, seiner Anweisungen nach zukommen. Verärgert knurrend trat ihr Gegenüber auf sie zu und wollte sie am Arm packen, doch die junge Frau wich seinem Griff aus und fauchte ihn wutentbrannt an. „Lass’ deine Finger von mir!“ In Anbetracht der Tatsache, dass ihre Fänge erst seit Kurzem anfingen, sich wie für einen Vampirin üblich zu entwickeln, war ihre Drohgebärde wahrscheinlich nicht so Angst einflößend, wie Raven es gerne gehabt hätte, doch immerhin verharrte der Andere. „Lasst das Theater. Ihr werdet erwartet.“ Sie reagierte nicht. Stattdessen wandte sie sich demonstrativ von ihm ab – wahrscheinlich die falsche Reaktion, wie sie kurz darauf feststellte, denn plötzlich stand der Andere nur wenige Zentimeter vor ihr und hielt sie an den Handgelenken fest. „Ihr werdet jetzt augenblicklich zu Eurer Unterkunft zurückkehren!“ Sein drohendes Knurren jagte Raven Angst ein, doch sie bemühte sich redlich, diesen Umstand nicht allzu deutlich zu machen. Aus der Nähe konnte sie nun die Farbe seiner Augen erkennen – ein beinahe hypnotisierendes Blau, das sie an den Lapislazuli erinnerte, der den schmalen Ring aus Gold schmückte, welchen sie von ihrer Mutter einst geschenkt bekommen hatte. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, starrten die beiden sich an; es war ein Kräftemessen, nicht mehr. Zwar musste sie zu ihm aufblicken, da der Krieger sie um gut zwei Köpfe überragte, dennoch hielt sie seinem stechenden Blick stand. Sie würde nicht nachgeben. Wütende Blitze schienen aus seinen Augen zu schießen, doch Raven war sicher, dass auch sie nicht unbedingt handzahm dreinsah. Irgendwann schien es ihrem Gegenüber jedoch zu dumm zu werden, mit ihr zu verhandeln. Kurzerhand packte er sie an der Taille und warf sie sich über die Schulter. Fassungslos erstarrte Raven einen Augenblick lang, dann wehrte sie sich heftig, versuchte, sich aus seinem Griff zu winden. „Hör auf damit!“, fuhr der junge Krieger sie an, als sie es beinahe geschafft hätte, ihm zu entwischen, doch die Siebzehnjährige blieb hartnäckig. Und anscheinend gelang ihr Vorhaben; sie brachte ihn dermaßen aus dem Konzept, dass er stolperte und sie loslassen musste, um nicht zu fallen. Innerhalb eines Sekundenbruchteiles hatte sie einige Meter zwischen sich und den Wächter gebracht. „Tu. Das. Nie. Wieder!“, fauchte sie empört, doch ehe sie sich versah, wurde sie erneut am Handgelenk gepackt und weiter gezerrt. Mittlerweile waren sie nur noch ungefähr 200 Meter vom Waldrand entfernt, doch wegen den dicht stehenden Bäumen musste der Krieger des Öfteren einen Umweg machen, so dass sich ihre Ankunft dort verzögern würde. Eisern versuchte Raven, die Umklammerung seiner Hand an ihrem Arm zu lösen, doch er gab nicht einen Millimeter nach. „Du tust mir weh!“
Mit einem eindeutig genervten Stöhnen blieb der Andere stehen und wandte sich ihr erneut zu. „Hört endlich mit diesem pubertären Getue auf. Das ist ja nicht aus zuhalten! Noch schlimmer, als ich es mir vorgestellt hätte. Entweder, Ihr geht jetzt zivilisiert neben mir her zurück zu Eurer Behausung, oder ich muss Euch weiter mit mir mitziehen. Also?“ Seine kalten Augen ließen Raven zusammenzucken. Sie wusste nicht warum, aber dieser Vampir hatte sie von Anfang an nicht gemocht. Und nun hatte sie ihm wahrscheinlich noch einen weiteren Grund dazu gegeben. Nicht, dass es sie störte. Es war nur so seltsam, dass er sie ohne Grund dermaßen ablehnte. In seinen Augen stand beinahe schon Hass. Ravens Stimme wurde kalt, während sie zu ihm aufsah. „Ich lasse mich von Euch nicht bevormunden. Ich werde alleine gehen, und sollte so etwas noch einmal vorfallen, könnt Ihr Euch auf etwas gefasst machen, das schwöre ich Euch bei meinem Namen!“ Mit kühler Miene stapfte sie alleine weiter. Es war noch nie vorgekommen, dass sie einen der Krieger auf dem Anwesen förmlich anredete, doch dieser hier war ihr zutiefst unsympathisch. Und mit ihrem Vater würde sie heute auch noch ein Wörtchen reden, selbst, wenn das mit einer Strafe für sie endete. Eines wusste sie auf jeden Fall: Sie würde diesem Neuen das Leben hier zur Hölle machen.


Kapitel 2

„Dein Verhalten in letzter Zeit ist inakzeptabel!“
Den Blick starr auf den verfliesten Boden gerichtet, stand Raven mittlerweile seit langen zehn Minuten hier und ließ eine Schimpftirade ihres wütenden Vaters über sich ergehen. Und langsam wurde es schwer, ihm nicht einfach eine passende Antwort an den Kopf zu werfen.
„Du verschwindest einfach, ohne mir Bescheid zu geben, weigerst dich, auf meine Anweisung hin zurück zu kommen und hinderst die Krieger daran, meine Befehle aus zuführen. Was ist bloß los mit dir? Willst du mich so dringend blamieren?“
Seine Finger trafen in einem nervtötenden Stakkato auf die aus Holz gefertigte Lehne des Sitzmöbels, von welchem aus er sie wütend anfunkelte.
„Und sieh’ mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“, fuhr der Vampir sie zornig an; der Rhythmus des Trommelns wurde schneller.
Raven versuchte sich zu sammeln, ehe sie den Blick zu dem wutverzerrten Gesicht ihres Vaters hob.
Es war wirklich nicht leicht.
Besonders, weil dieser verfluchte, arrogante Krieger nicht einmal einen Meter von ihr entfernt stand. Sie konnte sein Gesicht zwar nicht sehen, doch das selbstgefällige Grinsen darauf nahm sie nur zu genau wahr. Sie hatte ein Gespür für solche Dinge.
„Du bleibst im Haus, bis du dir dessen bewusst bist, was du mit deinem rücksichtlosen Verhalten auslöst.“
Die Siebzehnjährige konnte ein ironisches Lächeln nicht verhindern. „Seit wann darf ich aus dem Haus hinaus?“
Ihr Vater schnappte nach Luft. „Hüte deine Zunge, Raven!“ Jene schnaubte jedoch bloß verächtlich.
„Ich soll meine Zunge hüten? Du hältst mir hier eine grundlose Strafpredigt! Dich interessiert es Ja nicht einmal, was ich zu sagen habe!“
Eisiges Schweigen griff in dem großen Raum um sich, während Raven und ihr Vater sich gleichermaßen wütende Blicke zuwarfen.
„Nun gut. Sprich.“
Das brachte sie einen Moment lang beinahe aus der Fassung. Seit wann hörte er sich ihre Meinung an?
Rasch zwang sie sich selbst zur Ruhe. Diese Gelegenheit, für ihre Meinung nicht gestraft zu werden, durfte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.
„Ich habe genug davon, ständig beobachtet zu werden! Du kannst mich nicht mein ganzes Leben lang einsperren. Und als Lucan mir mitgeteilt hat, dass ich zurückkommen soll, bin ich augenblicklich umgekehrt.“
Krampfhaft bemühte die Siebzehnjährige sich um einen etwas umgänglicheren Ton. „Ich war im Wald, Vater. Drei Kilometer von hier entfernt. Jeder der Krieger könnte diese Entfernung in wenigen Sekunden zurücklegen! Und anstatt, dass du mir wenigstens ein wenig vertraust, schickst du gleich den Nächsten nach, um mich zurück zu holen, als wäre ich eine Gefangene, die geflohen ist. Das ist verletzend und beleidigend!“ Ravens Atem ging so heftig, als hätte sie gerade einen sehr langen Lauf hinter sich.
„Außerdem hindere ich niemanden an der Ausführung irgendwelcher Befehle. Schön, dass du mehr auf die Worte von Fremden gibst“, sie warf dem hinter ihr stehenden Krieger über die Schulter hinweg einen giftigen Blick zu, „als auf die deiner Tochter.“
Abrupt wandte sich von ihrem Vater ab und machte Anstalten, den Raum zu verlassen. Beinahe wäre sie in den neuen Krieger gelaufen, welcher keinerlei Anstalten machte, zur Seite zu treten.
„Geh’ mir aus dem Weg“, zischte die Siebzehnjährige wütend, und tatsächlich – nach ein paar Sekunden gab er den Weg frei.
Sie war dermaßen überrumpelt von dieser Reaktion, dass sie zuerst einfach stehen blieb; dann murmelte Raven jedoch ein leises „Danke“ und eilte aus dem Raum. Leider nicht schnell genug, um den Ausdruck in seinen tiefblauen Augen nicht zu erkennen – es war pure Verachtung.


Schlaftrunken blinzelte Raven, als ihr die angenehme Schwere eines Traumes entglitt, und rieb sich müde über die Augen. Kurz hielt sie inne, um die Uhrzeit zu schätzen. Zwar war ihr Instinkt in dieser Hinsicht noch nicht so genau wie er es nach ihrer vollständigen Wandlung sein würde, doch es reichte, um ungefähr zu wissen, in welcher Tageszeit sie sich befand. Verwundert stellte sie fest, dass es kurz vor Morgengrauen war, allerhöchstens eine Dreiviertelstunde, wahrscheinlicher aber eine halbe Stunde davor. Eine Uhrzeit, zu der eigentlich nur noch wenige wach waren.
Warum war sie dann aufgewacht? Üblicherweise hatte sie einen sehr tiefen Schlaf, aus welchem sie auch nicht all zu leicht aufschreckte. Einen Moment später erhielt sie die Antwort in Form eines lauten, kläglichen Schreies. Augenblicklich war Raven hellwach und erhob sich von der Matratze ihres Himmelbetts, um zum Fenster zu laufen, wobei sie unglücklich über einen ihrer Schuhe stolperte und beinahe hingefallen wäre, hätte sie sich nicht gerade noch am Fensterbrett abfangen können. Leise fluchend richtete sie sich auf und warf nur einen Blick auf die Fensterscheibe. Glücklicherweise hatte die Dämmerung noch nicht eingesetzt, daher waren die Rollläden noch nicht für den Tag geschlossen. Ihr Blick fiel auf die große Wiese vor dem Wald, in welchem sie erst gestern gewesen war, und auf die Ansammlung von Vampiren vor jenem.
Angestrengt kniff Raven die Augen zusammen um mehr erkennen zu können, als ihr ein erschreckter Schrei entwischte. Sie dankte dem Himmel, dass sie, nachdem sie vorhin wütend auf ihr Zimmer gerannt war, in ihrer Erschöpfung, welche sie sofort hatte einschlafen lassen noch keine Gelegenheit gehabt hatte, ihre Kleidung zu wechseln und stürmte aus ihrem Zimmer, die breiten Treppen hinab und durch die Flügeltür aus dem großen Haus. Die Dunkelhaarige warf einen prüfenden Blick zum Himmel – ihr blieben noch circa 20 Minuten. Während sie so schnell als möglich zum Ort des Geschehens lief, versuchte sie einen Sinn in dem zu erkennen, was sie gerade gesehen hatte. Ein Ring aus Kriegern hatte sich um eine Vampirin gesammelt, welche offenbar gefesselt war. Es waren wohl ihre Schreie gewesen, die Raven geweckt hatten. Und sollte deren Vermutung zutreffen, wollten sie die Frau dort festhalten, bis die Sonne aufging.
Was einen ziemlich schmerzhaften Tod für diese bedeutet hätte.
Was Raven wiederum zu verhindern suchte.
Schwer atmend trieb sie sich zu einem höheren Tempo an, als – endlich! - der Wald vor ihr in Sicht kam, und dann auch die Gruppe aus ungefähr zehn Kriegern – und der Vampirin. Als einer der Wächter auf sie aufmerksam wurde, erklang ein hörbares Raunen, und dann wurde Raven abrupt von einem der Krieger ausgebremst, welcher von einem Moment auf den anderen vor ihr aufgetaucht war.
Unsanft packte er sie am Oberarm.
„Was habt Ihr hier zu suchen?“
Die Siebzehnjährige entwand sich geschickt seinem Griff und ging einfach an ihm vorbei, als wäre er absolut unwichtig. Ein Kind, das sich einem Erwachsenen in den Weg gestellt hatte.
Wobei es sich eher genau anders herum verhielt.
„Das Selbe könnte ich euch alle fragen. Was soll das hier? Die Sonne geht in wenigen Minuten auf, und…“ Ein leises Schluchzen lenkte Ravens Aufmerksamkeit auf die am Boden kniende Vampirin. Tatsächlich waren ihr die Hände hinter dem Rücken gefesselt worden, und dunkel gefärbte Hautstellen wiesen auf grobe Behandlung oder gar Schläge hin.
„Ich glaube es nicht! Was hat das zu bedeuten?“ Sich die Krieger mit warnenden Blicken vom Leibe haltend, eilte sie auf die Vampirin zu und half ihr, auf die Beine zu kommen. Die eisernen Handschellen konnte sie ohnehin nicht öffnen. Es war viel wichtiger, dass sie außer Reichweite der Sonne war, wenn diese aufging. Was in wenigen Augenblicken der Fall sein würde.
„Aber MyLady, das ist eine Unberührbare! Und sie hat gestohlen!“, protestierte derselbe Krieger, der vorhin versucht hatte, sie auf zuhalten. Mihail, wenn sie sich recht entsann.
„Das ist nicht wahr“, flüsterte die hellhaarige Vampirin heiser und stützte sich schwer auf Raven. Sie konnte nicht viel älter sein als die Siebzehnjährige selbst, was diese gleich noch wütender stimmte.
„Dann nehme ich an, es gibt Beweise.“
Das sich nun ausbreitende, unbehagliche Schweigen, war Raven Antwort genug. Natürlich gab es keine Beweise.
„Nun, das werden wir später klären. Bringt sie ins Haus, und zwar schnell“, zischte Raven mit kaum unterdrücktem Zorn in der Stimme, da sie nun langsam oder sicher unter der Last der Anderen zusammen zu brechen drohte. Doch keiner rührte sich.
Wütend musterte Raven den Gesichtsausdruck jedes Einzelnen der allesamt überdurchschnittlich groß – und anscheinend auch überdurchschnittlich herzlos – geratenen Vampire an und fand ihre Vermutung bestätigt. „Ihr macht euch gerade unglaublich lächerlich.“ Sie wollten ihr nicht helfen, weil sie eine „Inactilia“ war, eine Unberührbare, eine Vampirin, deren Vorfahren bei den Aristokraten in Ungnade gefallen waren. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie selber oder zum Beispiel ihr Ur-Ur-Ur-Großonkel daran schuld gewesen war. Unberührbare wurden mit der Schande ihrer Vorfahren geboren.
Kopfschüttelnd stützte sie die offenbar völlig erschöpfte Fremde so, dass sie nicht zu Boden fiel. Dabei geriet sie selbst ins Schwanken, doch bevor sie noch stolpern konnte, womit sie die Andere hätte loslassen müssen, legte jemand seine Hand an ihren Rücken, und eine weitere umschloss ihren Arm mit festem Griff.
„Vorsichtig.“
Raven erstarrte, als sie die Stimme erkannte, hoffte sich zu irren, dass das Schicksal ihr nur einmal gnädig sein möge….Eigentlich hätte sie von vorne herein wissen müssen, dass er es selbstverständlich doch war. Wem wollte sie etwas vormachen – Raven konnte nicht gut mit launischen Personen und Dingen, und zu unterstellen, dass das Schicksal dies nicht wäre…
Es war der neue Krieger. Natürlich. Wer auch sonst.
Er hob die fremde Vampirin nun auf seine Arme, doch auch, wenn er genau so selbstbewusst wie üblicherweise ging und sprach, so verriet ihr ein bestimmter Ausdruck in den Augen des Anderen, dass er ernsthaft besorgt um das Mädchen war. Was sie wunderte, da sie ihm so viel Gefühl gar nicht zugetraut hätte. Hmm. Wie man sich doch irren konnte.
Doch als seine tiefblauen Augen nun sie selbst fixierten, stand Spott in ihnen, der Raven unwillkürlich zusammenzucken ließ, worüber sie sich gleich anschließend innerlich selber schalt. Was kümmerte es sie, was dieser arrogante Dummkopf über sie dachte?
„Siljan, was tust du da?“, fragte ein anderer Wächter entsetzt, doch der Angesprochene ließ die mittlerweile ohnmächtig gewordene Vampirin nicht gar wieder los, sondern funkelte sein Gegenüber bloß wütend an. „Das, was ihr eigentlich tun solltet. Sie hat Recht – ihr macht euch lächerlich.“ Ach, seit wann hatte sie denn Recht?
In diesem Moment riss die Wolkendecke auseinander und offenbarte ein Stück des sich erhellenden Himmels.
„Rasch. Sie muss aus der Sonne!“
!Ihr auch, MyLady. Wenn ich Euch daran erinnern darf – Ihr habt eure Verwandlung noch nicht vervollständigt.“ Wie aus dem Nichts stand plötzlich Lucan vor Raven und hob sie so schnell hoch, dass sie nicht einmal protestieren konnte. Der Anführer des Kriegertrupps knurrte die Umstehenden bedrohlich an; sie fühlte seinen Brustkorb vibrieren.
„Das wird ein Nachspiel haben.“


„Wie geht es ihr?“, fragte Raven leise, während ihre Augen zu der Tür huschten, hinter welcher das Zimmer der Vampirin lag. Daniel nickte, offensichtlich erschöpft. Was, angesichts der Tageszeit, auch kein Wunder war. Es war den Immortalis zwar möglich, sich dem Sonnenlicht aus zu setzen ohne Schäden davon zutragen, doch eigentlich waren ihre Körper auf Schlaf eingestellt, sobald der Morgen anbrach – und nun stand die Sonne schon seit über zwei Stunden hell und strahlend am Himmel.
„Ich konnte keine schwerwiegenden Verletzungen feststellen, lediglich ein paar Kratzer und Hämatome. Da sie allerdings noch eine Interoria ist, wird Schlaf ausreichen, um sie wieder auf die Beine zu bekommen.“
Forschend sah der Immortalis auf die Dunkelhaarige herab, während er seine randlose Brille abnahm and anfing, die Gläser mit einem Tuch zu reinigen. Die Brille war ein Tick von ihm. Er sah ganz ausgezeichnet.
„Und wie sieht es bei dir aus?“ Verwirrt runzelte Raven die Stirn. „Womit?“
„Na, die Wandlung. Ich war zugegebenermaßen sehr verwundert, dich noch so an zutreffen.“ Seine Handbewegung schloss alles an ihr ein, also meinte er wohl ihren Entwicklungsstatus als Interoria.
„Wie sieht es mit den Anzeichen aus? Sehvermögen, irgendwelche Feinfühligkeiten, Launenhaftigkeit?“
Unsicher zuckte sie mit den Schultern. „Ich habe heute Rufe von der Wiese vor dem Wald gehört, und kann dort auch ganz gut Personen erkennen. Naja, was heißt Launen…“
Unbehaglich wand sie sich unter dem amüsierten Blick des Arztes. „….also ein ‚Ja’“, schmunzelte dieser und schob die Brille zurück an ihren Platz.
„Irgendwelche ungewöhnlichen Ausprägungen des Gebisses?“
„Meine Eckzähne sind ein wenig länger geworden, aber ansonsten….“
„Wie bitte? Lass mich mal sehen.“ Leicht genervt öffnete Raven ihren Mund und seufzte ungeduldig, als Daniel leicht an ihren kurzen Fängen herumtastete. Kopfschüttelnd richtete er sich wieder auf.
„Sehr ungewöhnlich. Ich müsste mich allerdings auch sehr täuschen, wenn die Wandlung nicht noch in dieser Woche einsetzen würde.“
Forschend blickte er ihr in die Augen. „Gibt es Anzeichen von Blutdurst?“
Angewidert schüttelte Raven den Kopf. „Bei Gott, nein!“ Ja, vielleicht klang das etwas seltsam aus dem Mund einer fast- Vampirin, aber auf junge Vampire wirkte Blut nicht verlockend, sondern abstoßend. So auch auf die Siebzehnjährige.
„Nun gut. Sollte sich innerhalb von sieben Tagen nichts getan haben, dann ruft mich an. Bestell’ deinem Vater Grüße von mir.“ Mit einem freundlichen Lächeln verabschiedete Daniel sich von Raven und ging mit schnellen, leichten Schritten den verdunkelten Gang entlang zur Treppe, die ins Erdgeschoß führte. Somit war sie nun alleine. Einen Moment lang überlegte Raven, ob sie nach der jungen Vampirin sehen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Daniel hatte gemeint, dass sie viel Ruhe und Schlaf brauchte.
Gerade als sie zurück zu ihrem Zimmer gehen wollte – die späte Uhrzeit setzte auch der Siebzehnjährigen zu -, da wurde die Tür des Gästezimmers leise aufgezogen und eine große Gestalt huschte mit geschmeidigen Bewegungen auf den Gang. Als sie sich umwandte, erstarrte sie – beziehungsweise er.
Siljan.
Kurz sahen sie sich reglos an, ehe der Krieger sich unbehaglich räusperte und sein Blick sich plötzlich verfinsterte. Raven sah, wie sich seine Lippen teilten, als er zu einer Erklärung ansetzte, dann jedoch stockte. Offensichtlich fiel ihm nichts Passendes ein, also knurrte er etwas Unverständliches und ging dann, ohne ein erkennbares Wort von sich gegeben zu haben. Raven rollte mit den Augen und machte sich auf den Weg zurück zu ihren Räumlichkeiten. Männer.

Als die Dunkelhaarige am Abend erwachte, fühlte sie sich überraschend ausgeruht. Ein Blick aus dem Fenster sagte ihr, dass es erst kurz nach Sonnenuntergang war. Genüsslich streckte sie sich und fiel dann seufzend auf ihre Matratze zurück. Eigentlich müsste sie sich jetzt schon ankleiden, um pünktlich zu sein; heute war Montag, also der erste Unterrichtstag nach dem Wochenende.
Wie alle noch nicht vollständig gewandelten Vampire hatte sie fünf Tage in der Woche Unterricht – durch den gehobenen Gesellschaftsstatus ihres Vaters jedoch Privatunterricht. Bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr war sie mit anderem Vampirnachwuchs zusammen in eine recht große Schule hier in der Nähe gegangen, doch dann lag ihrem Vater plötzlich sehr viel daran, sie von der Außenwelt fern zuhalten, also hatte er Privatlehrer engagiert. Den Tag, an dem er ihr erzählt hatte, dass sie von nun an nicht mehr mit ihren Freunden gemeinsam in die Schule gehen würde, hatten aus Erzählungen vieler einige Vasen nicht überlebt. Ein kleines Lächeln spielte um Ravens Lippen, als sie an diese Geschichte dachte. Ihr Vater war unheimlich zornig auf sie gewesen, aber zumindest hatte sie selbst sich nach diesem Wutausbruch besser gefühlt.
Der Himmel färbte sich nun in einem intensiven Tiefblau und Raven seufzte erneut. Sie musste jetzt wirklich aufstehen, sonst würde sie wieder zu spät dran sein. Ihr Vater hasste es, wenn sie das Frühstück verpasste. Früher war sie deswegen immer regelrecht aus dem Bett geschnellt, doch mittlerweile kam es ihr selbst bereits so vor, als würde sie ihn unterbewusst ständig provozieren. Wobei, vielleicht auch nicht all zu unterbewusst. Sie hatte einfach keine Angst mehr vor ihm.
Sie konnte sich gerade einfach nicht dazu aufraffen, aus dem Bett auf zustehen, also griff sie stattdessen nach dem Buch, das auf ihrem Nachttisch lag. Auf dem in dunklen Farben gehaltenen Cover prangte in dicken Lettern das Wort „Twilight“. Es war ein riesiger Spaß, dieses Buch zu lesen – an mehreren Stellen hatte Raven vor lauter Lachen zu lesen aufhören müssen. Und einmal wäre sie beinahe von ihrem Sessel gefallen dabei, als sie sich ihren Vater glitzernd vorstellte. Ja, es war kindisch, aber einfach zum Schreien komisch. Funkel, funkel….
Kichernd legte die Siebzehnjährige den dicken Band zur Seite und kletterte noch etwas ungelenk aus ihrem Bett. Man sollte meinen, dass die Menschen in den letzten 150 Jahren, in denen sie nun schon von der Existenz der Vampire wussten, zumindest ein kleines bisschen von ihren Vorurteilen abgelegt hätten, doch dem schien nicht so zu sein. Manche hielten sie noch immer für blutsaugende Ungeheuer, unkontrollierbar und ständig außer Kontrolle. Die meisten sahen nur diese Bezeichnung „Vampir“ vor sich, und verstanden nicht, dass auch ein Vampir – ja, eigentlich ein ganz normaler Mensch war. Vielleicht etwas schneller und stärker als ein durchschnittlicher Mensch, aber vom Seelenleben her doch eigentlich ganz ähnlich.
Leise murrend griff sie nach der Fernbedienung ihrer Stereoanlage. Als sie endlich den richtigen Knopf gefunden hatte, ertönten weiche Harfenklänge. Ihr Vater hasste es, wenn sie, wie er es immer ausdrückte, „diesen neumodischen Unsinn“ bediente. Er mochte es traditionell; die alten Werte wie Ehre und Anstand zählten viel bei ihm, dagegen verurteilte er fast alles, das er nicht kannte oder nicht kennen wollte, wozu technische Errungenschaften wie der Fernseher ebenso zählten wie auch, dass die Hierarchie unter Menschen und Vampiren nicht mehr so streng war. Er und einige andere steinalte Vampire bemühten sich zwar, alles zusammen zuhalten, doch Raven vermutete, dass das System spätestens in 200 Jahren zusammenbrechen würde. Davon wollte ihr Vater jedoch nichts hören. Wie immer.
Gähnend tapste die Siebzehnjährige zu ihrem begehbaren Kleiderschrank – den ihr Vater ihr nach langem Betteln vor einem Jahr zugestanden hatte – und ließ ihren Blick über die große Auswahl an bodenlangen Kleidern wandern. Wie gesagt – ihr Vater liebte es traditionell.
Zwar fanden sich durchaus Jeans und T-Shirts in ihrer Garderobe, doch die konnte sie nur tragen, wenn ihr Vater außer Haus war. Was, in letzter Zeit, glücklicherweise häufiger vorkam.
Mit einem tiefen Seufzen zog sie ein langes, seidenes Kleid hervor, in Saphirblau gehalten. Neben Rubinrot ihre zweite Lieblingsfarbe. Rasch wechselte sie ihr Nachthemd gegen das Kleid aus und ging dann gleich weiter ins Bad, wo die junge Vampirin rasch ihr langes Haar, Strähne für Strähne, entwirrte und sich das Gesicht wusch, ehe sie einen Moment lang inne hielt und sich kritisch im Spiegel betrachtete. In letzter Zeit waren ihre früher immer sehr kindlichen Gesichtszüge ausgeprägter geworden, weiblicher, worüber sie sehr froh war, denn mit sechzehn Jahren auf dreizehn geschätzt zu werden war eine harte Erfahrung für sie gewesen.
Die tiefschwarzen Wimpern waren länger und dichter geworden, so dass sie nicht mehr darauf angewiesen war, heimlich Mascara zu verwenden, den ihr die Dienerinnen ins Bad schmuggelten – Stichwort Vater.
Ihre grünen Augen hatten eine viel lebendigere Farbe als noch vor einem Monat angenommen. Raven konnte spüren, dass die endgültige Wandlung bald einsetzen würde, und der Gedanke daran ließ sie unruhig werden. Ihr war alles erzählt geworden, was sie wissen musste; wie ihr Körper, und vor Allem ihre Sinne, sich veränderten, was die daraus resultierenden Folgen waren. Dennoch wurde ihr mulmig bei dem Gedanken daran, dass es bald so weit sein würde. Insgeheim freute sie sich, nicht mehr ‚die Kleine’ zu sein, die Einzige aus der Familie, die diesen Meilenstein im Leben eines Vampirs noch nicht hinter sich hatte, aber die Beklemmung blieb. Es war eben im positiven wie auch im negativen Sinne so, dass ihr Leben sich grundsätzlich verändern würde.
Ein lautes Klopfen riss die Siebzehnjährige aus ihren Gedanken. „Einen Moment!“, rief sie laut und hastete aus dem mit weißem Marmor verkleideten Bad. Rasch schnappte sie sich die Fernbedienung von ihrem Bett, stellte die Musik ab und öffnete dann die Tür. „Ja..?“ Ihre Stirn runzelte sich regelrecht von selbst, als sie Siljan vor sich stehen sah, der sie wieder mit diesem abwertend – spöttischen Blick betrachtete, den sie so hasste.
„Guten Abend. Was gibt es?“, erkundigte sie sich kühl und verschränkte die Arme demonstrativ vor dem Brustkorb, während sie versuchte, seinen Blick so ungerührt als möglich zu erwidern. „Guten Abend. Euer Vater wünscht Eure Anwesenheit beim Abendmahl“, erwiderte der Krieger herablassend lächelnd, offensichtlich nicht beeindruckt von ihrem Versuch, gelassen drein zusehen. „Ach, wünscht er das. Und Ihr seid dazu degradiert worden, Botengänge zu absolvieren?“ Wow, Raven hatte gar nicht gewusst, dass sie dermaßen arrogant klingen konnte. Innerlich feixte die Dunkelhaarige als sie sah, wie Siljans Kiefer sich merklich anspannte und seine Augen sich vor Zorn verdunkelten.
„Keine Sorge, es war nicht mein Wunsch, Euch zu begegnen“, fauchte er wütend und sah Raven unter zusammengekniffenen Augenlidern hervor an. „Gut. Ich habe mich schon gewundert“, erwiderte die junge Vampirin bissig, wandte sich um und ging zurück in ihr Zimmer. „Ihr könnt ihm ausrichten, dass ich in zwei Minuten da bin“, rief sie noch über ihre Schulter hinweg, ehe sie ihm die Tür vor der Nase zuknallte.
Betont langsam suchte sie sich ein Paar flacher, schwarzer Schuhe aus, und schlenderte dann gemütlich zurück zur Tür. Sie war ehrlich überrascht, als sie Siljan, eindeutig noch immer wütend, im Flur stehen sah. „Ihr seid ja noch immer nicht weg“, meinte sie missmutig und drängte sich unsanft an ihm vorbei. Beinahe hätte sie ihm schadenfroh die Zunge herausgestreckt, als der Vampir ein genervtes Knurren ertönen ließ, nur um überrascht herum zufahren, als er sie am Arm zurückhielt. „Ich wollte noch etwas mit Euch besprechen. Keine Sorge, ansonsten wäre ich längst über alle Berge.“ Sobald er sich sicher schien, dass Raven nicht davonlaufen würde, löste er seinen Griff und brachte ein wenig mehr Abstand zwischen die junge Vampirin und ihn selbst. „Was? Ihr wollt mit mir etwas besprechen? Seit wann zählt meine Meinung denn?“, fragte sie ein wenig schnippisch, aber andererseits auch ehrlich erstaunt und nutzte die kurze Pause um ein Gummiband um ihre langen Haarsträhnen zu schlingen und sie so einigermaßen ordentlich am Platz zu halten.
Siljan ging nicht auf ihre Bemerkung ein.
So ein überheblicher Idiot!
„Ich war so frei, Eurem Vater zu erzählen, wer die fremde junge Dame in seinem Gästezimmer ist.“ Entsetzt riss Raven die Augen auf. Oh Gott, wenn er die Wahrheit erzählt hatte, wollte ihr Vater sie wahrscheinlich nur zum Abendmahl sehen, um sie im Anschluss darauf direkt in den Flieger nach Australien zu setzen. Oder vielleicht auch Neuseeland - das war noch weiter weg. Wie hatte sie bloß vergessen können, ihm davon zu erzählen? Hier vor Siljan in Panik aus zu brechen war allerdings auch keine wirklich angemessene Option. Nun hieß es Haltung bewahren.
„Und wer ist sie, wenn ich fragen darf?“
„Ihr Name ist Thalia, sie…“
Da wurde er von einer lauten, scharfen Stimme unterbrochen. „Raven, da bist du ja endlich! Hast du etwa schon wieder verschlafen?“, erklang es eindeutig schlecht gelaunt aus dem Speisesaal. Und die Stimme war unverkennbar. Ergeben seufzte Raven leise. Neuseeland, ich komme.


Schnell warf sie Siljan noch einen wütenden Blick zu – ihr war einfach gerade danach – und machte sich auf den Weg in den riesigen Saal.
„Nein, Vater, habe ich nicht. Und auch dir einen wunderschönen Abend. Ja, danke, ich habe wunderbar geschlafen, und du?“, meinte Raven sarkastisch und ließ sich auf den Sessel ihrem Vater gegenüber fallen. In diesem Raum wurden meistens Feierlichkeiten veranstaltet, deswegen war er auch groß genug für eine Tafel, die ungefähr 300 Vampiren Platz bot. Wenn jedoch nicht gerade ein Bankett oder ähnliches anstand, war er absolut leer, bis auf einen normalen Esstisch für sechs Personen. Gespräche hallten unheimlich in dem mit dunklem Holz ausgekleideten Raum; Raven mied diesen Teil des Hauses, so gut es ihr möglich war.
Gereizt schnaubte ihr Vater – was für eine Begrüßung – und fuhr damit fort, seine Zeitung zu lesen. Eine ganz normale Szene, beinahe wie unter Menschen, bis auf den kleinen Unterschied, dass hier statt Kaffee Blut getrunken wurde, und die Anwesenden Vampire waren. Wie gesagt, eine ganz normale Szene!
„Du hättest mir ruhig sagen können, dass du eine Freundin hierher eingeladen hast“, meinte ihr Vater plötzlich hinter seiner Zeitung und klappte diese dann bedächtig und genau zusammen, während dessen ruhte der tadelnde Blick auf seiner Tochter.
Ah, das war also der Grund, weshalb er so plötzlich auf ein gemeinsames Frühstück bestand. „Entschuldige. Es war ein spontaner Besuch.“
„Hmm“, knurrte er nur und überflog noch einmal die schreienden Überschriften auf der Außenseite der Zeitung. Was für eine angeregte Konversation!
„Ich wusste gar nicht, dass ihr mit einander bekannt seid. Du hast sie mir nie vorgestellt.“ Nun vorwurfsvoll, fanden die beinahe schwarzen Augen Raven erneut, und sie zuckte, scheinbar schuldbewusst, mit den Schultern.
„Es hat sich nie ergeben.“
„Dennoch finde ich es nicht unbedingt angemessen, dass mich ein Krieger über die Bekanntschaften meiner Tochter aufklärt.“ Mit einer energischen Bewegung warf er das Bündel aus bedrucktem Papier auf die glatt polierte Tischfläche aus – wie sollte es anders sein – dunklem Nussbaumholz.
„Nun, eigentlich kommt es sehr gelegen, dass sie dich gerade jetzt besuchen gekommen ist. Ich werde die nächsten zwei Wochen in Sevilla sein, geschäftliches Regeln und alte Kontakte wieder auffrischen.“
Erstaunt hob sie eine Augenbraue. „Du bist doch vor drei Tagen erst aus Rom zurückgekehrt?“ Nicht, dass sie ihn vermissen würde, Gott bewahre, nein; dafür hatte er in letzter Zeit zu oft versucht, ihr noch mehr ihrer ohnehin spärlichen Freiheit zu nehmen. Sobald ihr Vater außer Haus war, übergab er die Verantwortung für sie an Lucan, und dann konnte sie, zumindest eine Zeit lang halbwegs normal leben.
Der Anführer der Krieger war für sie schon immer ein Vaterersatz gewesen, und konnte ihr beinahe keinen Wunsch abschlagen, wie der Großteil seiner Leute.
Äußerlich mochten sie wie riesige, furchteinflößende, aggressive und kampfeslustige, dazu noch mit spitzen Fängen bewaffnete Muskelpakete wirken – doch wenn man wusste, wie, wurden die großen, bösen Vampire plötzlich richtiggehend zahm.
Raven war zum Glück der Krieger niemand, der so etwas ausnutzte, ansonsten hätte es sicherlich schon des Öfteren Ärger mit ihrem Vater und auch einige Strafversetzungen gegeben.
„Das tut nichts zur Sache“, meinte der Aristokrat kühl und leerte seine Porzellantasse in einem Zug. Ein leises Klacken ertönte, als er sie vorsichtig wieder auf der glatten Oberfläche des dunkel gemaserten Tisches abstellte. „Siljan wird für diesen Zeitraum die Verantwortung übernehmen.“ Gequält stöhnte Raven auf, unterdrückte das etwas unelegante Geräusch jedoch, als ihr Vater sie erneut wütend musterte.
„Muss das sein? Warum nicht Lucan?“, fragte die Siebzehnjährige, entsetzt von dieser Nachricht, und ließ sich kraftlos gegen die Lehne des Sitzmöbels sinken.
Mit einer geschmeidigen Bewegung schob der Vampir die Kaffeetasse zu seinem restlichen Essgeschirr und erhob sich, wobei sein missbilligender Blick Raven herausfordernd das Kinn heben ließ.
„Spar’ dir deine Widerworte; es sei denn, es ist dein Wunsch, das Haus in den nächsten Wochen nicht zu verlassen. Sollte dem so sein, werde ich selbstverständlich entsprechende Anweisungen geben. Außerdem war es Lucans Vorschlag, dem jungen Krieger diese Aufgabe zu übertragen, nicht der meine.“
Wie erstarrt folgen Ravens tannengrüne Augen dem Weg ihres Vaters bis zur großen Flügeltür. „Daniel war gestern hier. Er meinte, dass meine Wandlung noch diese Woche einsetzen wird. Ich dachte, dass würde dich eventuell interessieren.“
Seine Schritte stockten für einen Augenblick, und unvernünftigerweise keimte plötzlich eine Art Hoffnung in ihr auf. Hoffnung, dass er sich umdrehen, sie anlächeln würde, sagen, dass er selbstverständlich hier bliebe, um das mit ihr gemeinsam durch zustehen. Dass er sie in den Arm nehmen würde, und alles wieder wie früher wäre.
Da jedoch setzte er seinen Gang fort und ihre unsinnige Hoffnung zerbrach schmerzhaft in tausend glitzernde Scherben.
„Ruf’ mich an, solltest du sie überleben.“
Fassungslos starrte Raven auf den Türrahmen, durch welchen er gerade verschwunden war. Ihre Sicht verschwamm, als die seit einigen Wochen durcheinanderwirbelnden Gefühle in ihrem Kopf sich verselbstständigten und ihr Tränen in die Augen trieben. Doch weit kamen sie nicht; als der erste salzige Tropfen eine Spur auf ihrer Wange hinterließ, entfernte die Siebzehnjährige diese augenblicklich mit ihrem Kleidsärmel von ihrer Haut. Was steigerte sie sich auch in solche Dinge hinein? Sie wusste, dass ihr Vater nicht mehr das geringste Interesse an ihr zeigte, und langsam sollte sie sich wirklich damit abfinden. Tief atmete Raven ein, um die von den Tränen herrührende Hitze aus ihrem Gesicht zu vertreiben und erhob sich nun ebenfalls von ihrem Sessel. Ein wenig benommen verließ die junge Vampirin den Raum. Erschrocken zuckte sie zusammen, als eine Stimme neben ihr ertönte. „Alles in Ordnung?“ Überrascht blieb sie stehen. Siljan fragte, ob alles mit ihr in Ordnung war? Träumte sie etwa? Traum oder nicht, sie wusste nur, dass sie jetzt kein Mitgefühl wollte, schon gar nicht von der Person, von der sie es am wenigsten erwartete. „Ich wüsste nicht, was das Euch angehen sollte.“ Bei der eisigen Kälte in ihrer Stimme fröstelte die Dunkelhaarige beinahe selber. Jetzt klang sie schon wie ihr Vater.
Siljans Miene verfinsterte sich, was Raven beinahe hätte erleichtert aufseufzen lassen. Mit Wut konnte sie umgehen, aber nicht mit Mitleid. „Wie konnte ich es nur wagen, Euch eine Frage zu stellen. Verzeiht mir bitte, MyLady.“ Die Worte aus seinem Mund troffen förmlich vor Spott. „Das werde ich mir erst überlegen müssen“, erwiderte Raven bissig und ließ ihn dann einfach stehen. Sie hatte besseres zu tun, als sich hier mit diesem überheblichen Krieger ein Streitgespräch zu liefern, wenn sie sich eigentlich am Liebsten alleine in ihrem Zimmer verbarrikadiert hätte.

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Tag der Veröffentlichung: 02.03.2010

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