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Kapitel 1

Wie sollte man damit umgehen, wenn eine nahestehende Person abrupt das Leben verlässt? Gerade noch war er da, dann auf einmal nicht mehr. Von einer Sekunde zur nächsten. Es gab keine Vorwarnungen, keine Hinweise darauf, was passieren würde.

Und wie sollte man damit umgehen, wenn alle möglichen anderen Menschen die Schuld am dem Tode deinem Bruder geben? Die Schuld am Tode deines eigenen Vaters.

Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.

Mein Bruder Lenny trug keine Schuld, meiner Meinung nach zumindest. Er hatte lediglich den Stein ins Rollen gebracht. Sozusagen. Er hatte sich geoutet. Als schwul. Meine Eltern waren wirklich toll und verständnisvoll, aber das sah Dad zu streng. Er war total ausgeflippt. Wie immer, wenn er völlig rasend war, fuhr er mit seinem Audi davon, um sich in Ruhe abzureagieren. Wir alle unternahmen nichts, als er los fuhr, weil wir wussten, dass er wieder kommt. Beziehungsweise gingen wir davon aus. Doch ein Holzlaster, dessen Bremsen nicht mehr ganz so neu waren, hatten dem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er erfasste das Auto von unserem Vater auf der Fahrerseite und dem Rettungsdienst nach, war er sofort tot gewesen. Das war nun eine Woche her.

 

Gerade haben wir Andrew McGunaheff zu Grabe getragen und waren nun alle zu Fuß zur Trauerfeier unterwegs. Vereinzelt hörte man Schluchzer von den Trauergästen. Mein Dad war sehr beliebt gewesen, hatte viele Freunde und dementsprechend war eine ansehnliche Menge an Leuten gekommen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.

Mir ging das alles so ziemlich auf die Nerven. Natürlich, ich liebte meinen Vater und vermisste ihn schrecklich. Sein Verlust war schwer, doch ich mochte dieses ganze Drumherum nicht, das veranstaltet wurde. Denn Dad mochte so etwas auch nie. Wenn er das nun sehen würde, würde er sich wahrscheinlich im Grabe umdrehen.

Ganz vorne von der Trauerparade lief meine Mutter weinend mit der Schwester meines Vaters. Ich war in der beachtlichen Menge untergetaucht und schwieg vor mich hin.

Als ich jedoch plötzlich eine Hand auf meiner Schulter spürte, schrie ich leise auf.

„Entschuldige, Joy.“, murmelte mein Bruder Lenny und nahm seine Hand wieder weg.

Langsam nickte ich und sah zu ihm auf. Da er anscheinend genauso wenig Schlaf wie ich in der letzten Woche bekommen hatte, zeichneten sich auch unter seinen Augen tiefe Schatten ab, wie bei mir. Trotzdem sah er gut aus. Er war einer dieser Menschen, die immer gut aussahen. Sein braunes Haar war zerzaust und stand in all möglichen Richtungen ab. Doch es stand ihm. Es sah gewollt aus, obwohl es das sicherlich nicht war. Seine braunen Augen tragen auf meine blauen.

 

„Du hast nicht geweint“, stellte er nüchtern fest. „Noch gar nicht.“

Ich zuckte lediglich mit den Schultern. „Aber du.“

Er nickte. „Ja. Aber wer war nochmal das Mädchen von uns beiden?“, neckte er mich leicht. Lenny versuchte immer gute Laune zu verbreiten und Witze zu reißen. Egal, in welcher Situation.

„Na, du.“, sagte ich und lächelte ihn müde an.

Sanft knuffte er mir in die Seite.

Stumm liefen wir weiter und ich ließ den Blick schweifen. Ein paar Gäste sahen immer wieder zu uns und schüttelten den Kopf. Es machte mich wütend. „Sie versuchen es noch nicht mal zu verstecken. Wie offen sie dich ansehen.“

Lenny zuckte zusammen. „Es ist okay, Joy. Ich komme damit klar.“

„Ja ja. Es ist doch furchtbar. Die glauben doch echt, dass du Schuld bist. Haben die denn keinen Funken Gehirn mehr im Kopf?“

Er schnaubte. „Ich bin Schuld.“

„Bist du nicht und jetzt sei still. Der einzige, der wirklich Schuld ist, ist der Typ, der die Bremsen von dem Laster vernachlässigt hat.“

Stumm nickte mein Bruder. „Hm. Ich geh schon mal vor. Bis dann.“ Damit brauste er davon und ließ mich allein. Allein unter zig trauernden Menschen. Ja, man konnte sich auch in Gesellschaft sehr alleine fühlen.

Seufzend drifteten meine Gedanken ab. Wie sehr ich doch wünschte, dass man die Zeit zurück drehen könnte. Wäre Dad doch nur eine Minute später los gefahren. Dann hätten wir uns das hier alles sparen können. Dann säßen wir alle im warmen Wohnzimmer und würden uns versöhnen, uns ausreden, uns in die Arme schließen. Wir würden nicht durch diese trostlosen kalten Straßen laufen und trauern müssen. Ich vermisste ihn verdammt noch mal! Auch wenn ich dies nicht zeigte, traf mich sein Tod tiefer als ich mir anmerken lassen konnte. Bei mir war das einfach so. Ich konnte Traurigkeit nur durch Wut zeigen. Je mehr ich an Dad dachte desto wütender wurde ich. Seine braunen Augen, die die von Len so glichen. Die hellbraunen Haare, das einfach nie so wollte wie er, selbst nach stundenlangem Föhnen. Sein kleiner Bierbauch, der aus den Fußballabenden mit den Nachbarn entstanden war. Und dann noch seine hohe anmutige Statur und der liebende Blick mit den er uns, seine Familie, betrachtet hatte. Überall war er bekannt und beliebt gewesen, wegen seiner ehrlichen und offenen Art. Er hatte einfach dieses Lächeln, das jeden verzauberte. Einen Makel hatte er ja dann doch gehabt. Schließlich konnte er seinen einzigen Sohn, den er von klein auf aufgezogen und geliebt hatte, nicht akzeptieren, da dieser schwul war.

Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und träumte mich weg. Ich dachte einfach zu gern an die gemeinsame Zeit mit Dad zurück. Gerade als ich noch klein war, hatten wir den größten Spaß. Damals stand ich ihm näher, als jetzt zum Schluss. Er hatte mir mehrmals täglich die Haare geflochten, während ich meiner blonden Puppe die Haare flocht.

Gerade liefen ein paar Damen vorbei, die nicht im mindesten darum bemüht waren, ihr Gespräch leiser zu führen. Sie zogen über Lenny her, wie schlimm das sei, was für eine Schande er für die Familie bedeuten müsse. Joy, tief durchatmen, ermahnte ich mich streng im Stillen.

Als sie dann davon anfingen, wie gerne sie Lenny hinter Gittern sehen würden, bog ich in eine Seitengasse ab, um nicht völlig durch zu drehen. Ich brauchte Abstand. Und zwar ganz dringend. Abstand zu dem ganzen Drama. Ich realisierte, dass ich das erste Mal seit einer Woche wirklich alleine und für mich war. Hier war niemand, der einfach so rein platzen und mich fragen könnte, wie es mir ginge, nur damit ich antwortete, dass es schon passte. Was natürlich nicht der Wahrheit entsprach.

Lenny trug doch keine Schuld. Warum verstand das keiner? Er war der sprichwörtliche Sündenbock. Als ob es heutzutage noch schlimm wäre, homosexuell zu sein. Früher war das vielleicht so, aber heute doch nicht mehr! Möchte man meinen.

 

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich auf einem Spielplatz im Sand stand. Ich sah mich um. Es war der West-Spielplatz. Seufzend ließ ich mich neben einer niedrigen Brücke im Sand nieder, die zu einem Kletterkomplex gehörte. Erschöpft sank mein Kopf gegen die kalte, morsche und hölzerne Wand und ich schloss die Augen. Am liebsten hätte ich geheult. Doch ich konnte nicht. Das alles frustrierte mich so.

Für Ende November waren die Temperaturen ziemlich hoch. Bisher gab es noch keinen Schneefall, nur vereinzelt Frost. Trotz der Kälte, die meine Kleider durch drang, fror ich nicht. Mir war sogar eher noch warm, zu warm. Kurzerhand entledigte ich mich meiner Jacke und dem schwarzen Wollpullover, den ich über meinem ärmellosen Kleid trug. Abgesehen von dem schwarzen Kleid und den Absatzschuhen, trug ich nur noch eine dünne Strumpfhose am Leib.

Müde zog ich meine Knie an und verbarg mein Gesicht in den Händen. Langsam schloss ich die Augen und seufzte auf. Meine gedrehten Locken fielen mir über die Knie. Normalerweise hatte ich lange glatte Haare, aber Dad hatte eine Lockenmähne so an mir geliebt, fand es süß. Deshalb trug ich sie heute, nur für ihn, so.

 

„Nicht ein bisschen zu kalt?“, ließ mich eine schroffe Stimme zusammen schrecken. Vorsichtig hob ich den Kopf und sah einen schwarzhaarigen Typen vor mir stehen. Er war muskulös und groß. Und sehr gut aussehend. Schnell verbannte ich diesen Gedanken und musterte ihn. Sein Kommentar war echt unnötig, denn er selbst stand nur in einem knappen T-Shirt da.

„Nein. Überhaupt nicht. Aber dir scheint die Kälte doch auch nichts auszumachen.“, murmelte ich und stand auf.

Er warf die Zigarette weg, die er bis eben noch geraucht hatte und sah mich fast schon lauernd an.

Ich sah kurz der Kippe hinterher, hob meine Sachen vom Boden auf und sah wieder zu ihm. „Dir ist bewusst, dass dies ein Kinderspielplatz ist und sich dieser Sandkasten somit nicht sonderlich gut als Aschenbecher eignet?“

Grinsend versperrte er mir mit dem Arm gegen die Wand des Kletterkomplexes den Weg. „Was du nicht sagst. Ist jemand gestorben oder gehörst du zu diesen Menschen, die ihre depressive, schwarze Phase haben?“

Ich schenkte ihm ein eiskaltes Lächeln. „Mein Dad. Vor gut einer Woche. Also nein, ich bin in keiner depressiven, schwarzen Phase.“ Genervt verdrehte ich die Augen.

„Oh, das tut mir ja so Leid.“, entgegnete sichtlich desinteressiert und versperrte mir weiterhin den Weg.

Wütend sah ich ihm in die Augen. Sie waren dunkelbraun, nicht schwarz, wie ich erst dachte. „Sind wir jetzt im Kindergarten? Würdest du bitte deinen Arm wegnehmen?“

„Scheint so. Schließlich sitzt du in einem viel zu freizügigem Kleid im Winter auf einem Spielplatz, ohne deine vorhandene Jacke anzuziehen. Typisches Kinderverhalten. Aber falls es dich tröstet, das Kleid betont deine Vorzüge.“ Er grinste dreckig.

Ungeduldig und gereizt zischte ich: „Hältst dich wohl für ganz toll.“ Erneut wollte ich mich an ihm vorbei drängeln, doch er versperrte mir nur weiter grinsend den Weg.

„Hast du es etwa eilig?“

Nickend murrte ich: „Ja, gleich ist die Trauerfeier. Kommt nicht so gut, wenn ich da nicht auftauche.“

Skeptisch musterte er mich und fixierte meine Augen mit seinem Blick. Dann, ganz plötzlich, durch fuhr mich ein Schmerz in den Schläfen. So schnell wie er gekommen war, war er wieder verschwunden. Kurz dachte ich, den jungen Mann die Stirn runzeln zu sehen.

Zitternd schaute ich auf seinen Arm.

„Ist dir nun doch kalt?“, fragte er und musterte mich eingehend.

Schnaubend sagte ich lediglich: „Bist du langsam fertig? So interessant bin ich nun auch wieder nicht.“

„Nicht? Ich halte dich für sehr interessant.“ Er lachte kehlig. „Arbeitest du für die Grünen?“

Verwirrt schaute ich ihn an. Was meinte er denn bitte damit? „Was meinst du? Würdest du mich nun bitte gehen lassen?“ Ich deutete auf seinen Arm.

„Natürlich, Süße.“, raunte er und nahm seinen Arm runter. „Man sieht sich, Kleines.“

„Hoffentlich ja nicht.“, knurrte ich und suchte das Weite. Ab zur Trauerfeier.

 

Kapitel 2

 

Mom verbarrikadierte sich schon die letzten zwei Wochen, seit der Beerdigung, in ihrem Schlafzimmer. Sie lag auf Dads Seite des Bettes und drückte sein Kissen fest an sich. Sie war nicht ansprechbar und sie aß auch nichts. Das einzige, was sie wirklich zu sich nahm, war Alkohol. Die Schnapsflaschen umrahmten das große Bett und immer wieder hörte man ihr Schluchzen und ihr unverständliches Gemurmel.

Lenny und ich waren am Verzweifeln. Wir überlegten, ob es nicht ratsam sei, einen Arzt zu rufen. Gerade saßen wir um Wohnzimmer und schauten einen Film. Zumindest lief der Fernseher, aber so wirklich achteten wir nicht darauf, was lief. Leise stand ich auf und schlich den Gang zum Schlafzimmer entlang. Als auf mein Klopfen keine Antwort kam, öffnete ich die Tür und spähte hinein.

„Mom, soll ich dir etwas kochen? Du musst doch etwas essen.“

Sie sah nicht einmal auf, klammerte sich nur an die Schnapsflasche, als hinge ihr Leben davon ab. Unverständlich murmelte sie etwas, das wie „Hau ab“ klang.

Seufzend trat ich einen Schritt näher. „Du musst etwas essen. Komm, ich lasse dir ein heißes Bad ein und danach mache ich dein Lieblingsessen.“

Anscheinend wütend wollte sie sich aufsetzen, kippte aber sofort wieder um. „Verschwinde!“, brachte sie undeutlich hervor und versuchte die leere Flasche nach mir zu werfen. Sie verfehlte mich um Meter.

 

Missmutig schlich den über den weichen weißen Teppich zurück ins Wohnzimmer zu Lenny. „Sie bringt sich noch um, Len.“

„Ach Joy.“ Mein Bruder nahm mich in den Arm.

Ich schmiegte mich in seine Umarmung. „Ich hab sie seit.. seit der Beerdigung nicht mehr nüchtern gesehen. Dieser Drecks-Alkohol zerstört sie und ihr ist es egal! Dad hätte das niemals gewollt.“

„Das wird bestimmt bald besser. Sie versucht ihre Trauer zu bewältigen. Wenn es nicht besser wird, dann rufen wir einen Arzt, ja?“ Sanft strich er mir über den Rücken.

„Ich wusste nicht, dass es so schmerzen würde. Len, ich vermisse ihn so.“, murmelte ich in sein Shirt.

„Ich weiß, Joy, ich weiß. Wir alle vermissen ihn. Aber wir schaffen das, ja? Für Mom. Alleine schafft sie es nicht, deswegen müssen wir nun für sie stark sein.“

Ich nickte. „Du hast Recht.“ Gähnend hielt ich mir die Hand vor den Mund. Die letzten Wochen hatten ihren Tribut gefordert.

 

„Ich bringe das eben schnell zu Jeff. In spätestens zwei Stunden müsste ich wieder da sein.“ Ein paar Tage später hatte ich beschlossen, unserem Onkel, Dads Bruder, die Kiste zu bringen, die schon lange bei uns stand. Dad war nie dazu gekommen, sie ihm zu bringen. Es waren Erinnerungsstücke und Bilder von ihrer gemeinsamen Kindheit darin enthalten. Ein paar persönliche Andenken hatte ich für Jeff noch oben drauf gelegt.

„Ich mach das schon, Joy.“, sagte Lenny und machte Anstalten in seine Jacke zu schlüpfen.

Hastig zog ich ihm die Kiste weg. „Vergiss es. Ich mache das.“

„Joy, sei vernünftig. Dort, wo Jeff nun ist, da solltest du wirklich nicht hingehen. Außerdem geht bald die Sonne unter.“ Unser Onkel besaß eine Bar in einer nicht ganz so guten Gegend der Stadt. Als junge Frau sollte man wirklich nicht mehr so spät noch dort sein.

Ich zog mir noch die alten Handschuhe von Dad über und eilte zur Tür. „Bis später, pass auf Mom auf!“, schrie ich Lenny zu und war schon aus dem Haus verschwunden, bevor er antworten konnte.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle wehte mir ein kalter Windhauch durch die Haare. Fröstelnd ging ich schneller und erwischte gerade noch den Bus. Eine gute halbe Stunde später kam ich bei der Bar von Onkel Jeffrey an. Es war bereits dunkel und total aus der Puste, ließ ich die schwere Kiste auf den Tresen knallen. Gott, was waren das bitte für Erinnerungsstücke? Backsteine von dem Haus, in dem sie aufgewachsen waren?

„Wo ist Jeff?“, fragte ich den Barkeeper. „Und wehe Sie sagen, er ist nicht da. Denn dann ist hier verdammt noch mal der Teufel los!“

 

Er schätzte mich kurz ab. „Kommt gleich, Süße.“Na, das konnte ja lustig werden. Genervt ließ ich mich auf den nächsten Barhocker fallen und schnaubte.Ich schaute mich in dem Lokal um. Bei eigentlich jedem Typen stand eine junge Frau. Alle viel zu knapp bekleidet, stellte ich fest. Mensch, draußen herrschten Minusgrade!

„Hey Schätzchen. Willst du was trinken? Einen Martini? Geht auch auf mich.“, hauchte mir ein ekelhaft riechender Mann entgegen, der mindestens dreimal so alt wie ich war. Seinem Mundgeruch zu urteilen, hatte er selber schon mehr als genug gehabt.

„Sehe ich so aus, als würde ich mit dir einen trinken?“, entgegnete ich gereizt.

Verwirrt runzelte er die Stirn. „Ja?“

Na klasse. „Nein, du alter Sack und jetzt lass mich in Ruhe.“

Er packte mich grob am Arm. „Wie hast du mich genannt? Das wirst du bereuen, wenn du erst mal nackt in meinem Bett liegst. Du wirst dir wünschen..“

„Du wirst doch wohl nicht Hand an meine Nichte legen wollen, oder?“, wurde der Mann von meinem Onkel unterbrochen, der hinter mir aufgetaucht war.

Sofort wurde ich losgelassen. „Was? Deine Nichte?“ Nahezu augenblicklich trollte sich der Mann davon.

„Danke.“, richtete ich mich an Jeff und lächelte ihn an. „Ich hab dir was mitgebracht.“

„Ah, das erklärt, warum du so spät noch hier aufkreuzt. Was ist es denn?“

Ich deutete auf die Kiste. „Dad war doch nie dazu gekommen, dir diese Kiste zu bringen und ich wollte es endlich mal erledigen.“

Sanft lächelte er mich an. „Danke. Aber warum bist du alleine gekommen? Hätte Lenny dich nicht begleiten können?“

Ich verdrehte die Augen. „Ich kann das auch ganz gut alleine. Außerdem musste doch jemand bei Mom bleiben.“

„Apropos, wie geht es Annabelle?“, hakte er nach. Kurz begrüßte er einen molligen Blondhaarigen, der gerade die Bar betreten hatte.

Seufzend meinte ich: „Nicht gut. Sie trinkt nur und lässt nicht mit sich reden. Ich glaube, es wird immer schlimmer.“

Er schenkte mir einen mitleidigen Blick. „Das tut mir Leid, Joyful. Wenn ich was für euch tun kann...“ Er ließ den Satz offen.

Ich bedankte mich und verließ kurz darauf die Kneipe. Gerade als ich um die nächste Straßenecke bog, vibrierte mein Handy.

 

„Wo bist du, Joy?“, ertönte die hektische Stimme von Lenny. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja, keine Sorge. Ich bin so gut wie an der Bushaltestelle. In einer halben Stunde müsste ich wieder da sein.“ Oder auch nicht. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo die Bushaltestelle war.

Schnell legte ich auf und steckte mein Handy wieder in die Handtasche zurück. Ein Geräusch hinter mir ließ mich zusammenfahren. Da war nichts. Vielleicht eine Katze. Bestimmt.

Hastig ging ich weiter und schaute mich unsicher um. Wieder ein Geräusch. Ich lief geradewegs in eine Sackgasse. Vor mir huschte eine Katze vorbei. Ich erschrak kurz. Nur eine Katze.

Erleichtert drehte ich mich und stand plötzlich einem großen blonden Mann gegenüber. Erschrocken wollte ich zurückweichen, doch ich wurde fest an den Armen gepackt.

„Hey, lass mich..“ Mein Atem stockte. Mein Handgelenk wurde hoch gehoben und der Mann schnupperte daran.

„Welch liebliches Aroma.“, knurrte er und plötzlich leuchteten seine Augen grün auf und weiße Fangzähne erschienen in seinem Kiefer. Mir rutschte das Herz in die Hose. Verdammt, was war das denn? Specialeffects? Ich hoffte es.

Langsam ließ er seine Zunge meine Ader entlang gleiten. War das mein Ende? Oh Gott, würde es wirklich so zu Ende gehen? Was wurde nun aus Lenny und Mom?

 

Ich war auf den Schmerz gefasst, als er seine Zähne in mein empfindliches Fleisch bohrte. Das dachte ich zumindest. Ein schriller Aufschrei entfuhr mir und ich hoffte nur, dass das jemand gehört hatte. Doch der wahre Schmerz begann erst, als er anfing zu saugen. Es schien, als schoss mir flüssiges Feuer durch die Adern, von meinem Arm in den ganzen Körper ausbreitend. Meine Knie wurden weich und mein Magen hob sich bedenklich. Mir flimmerte es vor Augen und ich schloss sie. Eine einzelne Träne ran mir aus dem Augenwinkel. So war es also. So würde ich sterben. Gerade als ich mich in ein Gebet stürzen wollte, was ich sonst nie tat, wurden meine Gedankengänge unterbrochen.

 

„Du solltest doch auf mich warten! Zur Hölle, ich könnte dich dafür köpfen!“ Die schroffe Stimme wurde lauter, was bedeutete, der dieser Jemand immer näher kam.

Nahezu sofort wurde ich zu Boden gestoßen. Zusammen gekauert blieb ich am Boden liegen und presste mir mein pochendes Handgelenk an den Körper.

„Entschuldige, aber ich konnte einfach nicht widerstehen und..“, kam es anscheinend von dem Blonden.

„Klappe!“, unterbrach ihn der Neuankömmling. „Na, wen haben wir denn da?“ Er kam näher und ich schloss die Augen. Als er sich vor mich kniete und behutsam mein Kinn anhob, biss ich mir verzweifelt auf die Unterlippe.

„Riecht sie nicht köstlich?“, warf mein Angreifer ein, bekam aber keinerlei Beachtung.

Mein Gegenüber lachte kehlig und mir befahl mir sanft: „Öffne doch mal deine hübschen blauen Augen für mich.“

Woher..? Ich hatte ihm doch noch nicht in die Augen gesehen. Langsam öffnete ich meine Augenlider und stieß einen üblen Fluch aus.

„Fuck!“, setzte ich hinterher und mir wurde klar, warum mir seine schroffe kehlige Stimme bekannt vorgekommen war.

„Ach, so etwas sagt man doch nicht, Kleines. Wie ich sehe, bist du heute mal wärmer angezogen.“ Er grinste mich an.

Schritte näherten sich. Blondie. „Du kennst sie? Woher?“

„Ich hab die letztens nach der Beerdigung von ihrem Vater oder so getroffen.“, sagte der Mann, der mir schon vor über zwei Wochen auf dem Spielplatz begegnet war.

„Ohho, sie kennt dich!“, frohlockte der Blonde.

 

„Ich kenne ihn nicht!“, stieß ich sauer hervor und wollte mich aus seinem Griff lösen. Mein Handgelenk pochte und mit jeden Herzschlag schien der Schmerz schlimmer zu werden.

Spöttisch zog der Dunkelhaarige eine Braue hoch. Er strich mir übers Haar. „Mich kannst du Lucas nennen und meinem Kumpel dort Eric.“ Auch wenn ich es nicht sah, spürte ich, wie er mich angrinste. „Wie dürfen wir dich nennen?“

„Chantal.“, entfuhr es mir, bevor ich noch einmal darüber nachdenken konnte. Augenblicklich flog mein Kopf herum. Dieser Bastard hatte mich geschlagen!

„Lüg mich nicht an, Kleine.“ Er verkrallte sich in meinem Haar und zerrte meinen Kopf schmerzhaft zurück. „Sag mir deinen Namen, ansonsten werde ich dich am ganzen Körper absuchen, wo dein schicker Ausweis ist, obwohl mir klar ist, dass er sich in deiner Handtasche befindet.“ Hinter Lucas sah ich Eric schelmisch grinsen.

„Joy.“, murrte ich sauer.

„Und weiter?“, drängte er mich.

„McGunaheff. Joy McGunaheff.“ Er ließ mich unsanft los, sodass ich nach vorne kippte und mich gerade so noch abstützen konnte. Mich durch fuhr ein sengender Schmerz. Mein Handgelenk! Ich unterdrückte einen Aufschrei.

„Du nimmst sie mit, oder?“, kam es entsetzt von dem Blondschopf. „Das ist doch irrsinnig. Außerdem..“

„Klappe!“, wurde er heute schon zum zweiten Mal unterbrochen. „Ja, sie kommt mit. Sie ist süß und hat Biss. Das hatte ich schon lange nicht mehr.“

Ich erstarrte. Was? Mitnehmen? Mich? Oh bitte lieber Gott, falls es dich geben sollte, lass das alles ein böser Albtraum sein. Ich schloss die Augen und hoffte auf ein Wunder. Doch als ich sie wieder öffnete, war ich noch immer mit diesen zwei Gestalten in der dunklen Gasse.

„D-das geht nicht. Ich muss nach Hause. Ich werde gebraucht. Bitte. Lasst mich gehen. Ich verrate auch nichts und werde das hier einfach vergessen.“, brachte ich schnell hervor.

Eric lachte. „Falls Lucas dich jemals gehen lassen sollte, könntest du ihn gar nicht verraten, weil du dazu gar nicht mehr in der Lage wärst.“

„Ach, mach ihr doch keine Angst.“, grinste Lucas und ging vor mir in die Hocke. Er strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „So tapfer bist du. Eine einzelne Träne, wobei du doch gerade deinem Ende entgegen blickst. Das mag ich an dir. Diese Stärke hat mich überzeugt dich mitzunehmen.“

 

Aus verengten Augen sah ich ihn an. „Soll ich nun heulen, damit du mich gehen lässt?“

Er lachte schallend. „Ich würde dich so oder so mitnehmen, Kleines.“

„Boah, wieso? Meine Familie wird mich vermissen und mich suchen!“

„Aber sie werden dich nicht finden. Glaub mir, wenn ich etwas verstecke, dann mit Erfolg.“ Er grinste überlegen. Am liebsten würde ich ihm sein Grinsen aus dem Gesicht schlagen.

Kurz atmete ich gegen den Schmerz, der noch immer pochend meinen Körper durch fuhr, an und knurrte dann: „Bring mich um oder lass mich gehen, ich werde nicht mit dir mit gehen.“

„Mutige, aber dumme Worte.“, nuschelte Eric, der daraufhin einen bösen Blick von mir kassierte.

„Kleines, weißt du, täglich gehen so viele junge Dinger wie du verloren und kein Mensch juckt es. Auf eine mehr kommt es nun auch nicht mehr an.“ Er stand auf und zog mich hoch. „Wir werden aufbrechen, doch vorher..“ Grob entzog er mein Handgelenk meinem Klammergriff und bevor ich es verhindern konnte, leckte er über die klaffende Wunde. Ekelhaft.

Mein Handgelenk begann zu kribbeln und schmerzte, doch dann konnte ich nahezu dabei zu sehen, wie sie heilte. Ich machte große Augen. Wow.

Bevor ich genauer darüber nachdenken konnte entwich mir: „Den Trick musst du mir zeigen.“

Er lachte kehlig und schlang einen Arm um meine Schultern und führte mich davon. Ich wehrte mich und stemmte mich gegen ihn an. „Lass mich los, du Bastard!“

„Halt still und geh leise mit, ansonsten werde ich deiner Familie einen Besuch abstatten!“, fauchte er mich sauer an.

„Ach und woher weißt du, wo sie wohnen?“

Eric hatte meine Handtasche in der einen Hand und in der anderen.. meinen Personalausweis. Er ratterte meine Adresse runter.

Resigniert, aber dennoch widerwillig ließ ich mich wegführen.

Wir kamen bei einer schwarzen Corvette an. Lucas stieß mich hinten in den Wagen und setzte sich neben mich. Eric fuhr.

 

„Du entführst mich in einer Corvette? Ehrlich? Kein schwarzer Kleinbus mit getönten Scheiben? Und ich bin weder gefesselt noch geknebelt.“ Anscheinend hatte ich zu viele Filme gesehen.

„Wäre es dir denn lieber, wenn ich dich in den Kofferraum stecke?“

Ich runzelte die Stirn. „Nein, klar nicht. Aber mich könnte doch jemand erkennen. So dunkel ist es nun auch wieder nicht. Straßenlaternen und so?“

Er lachte. „Du willst wohl echt gefesselt werden!“ Lucas lehnte sich zurück. „Als ob dich hier jemand kennen oder gar erkennen würde. Zumal die Leute hier in der Gegend sowieso überwiegend nur saufen und Drogen nehmen. Die schauen doch nicht in die Fenster vorbeifahrender Autos.“

Er hatte Recht, verdammt. „Ach, was hast du denn in dieser Gegend so spät noch gemacht? Dies ist kein sicherer Ort für so ein hübsches junges Ding wie du es bist.“

„Das geht dich doch nichts an!“, fauchte ich. Nicht, dass er meinem Onkel noch auflauern würde.

„Was hast du gemacht? Ich frage nicht noch einmal.“

Stur ignorierte ich ihn weiter. Sollte er doch bleiben wo der Pfeffer wächst.

Keine Sekunde später drückte mich Lucas auf die Sitzbank. Ich keuchte auf und schon lag seine Hand an meinem Hals und drückte zu. Leicht. „Wo warst du?“

„Fahr zur Hölle.“, brachte ich gequält hervor.

Nun verstärkte er den Druck und ich bekam kaum noch Luft. „Eric, fahr zu der Adresse, die in ihrem Ausweis steht.“, richtete er nach vorne.

Ächzend umklammerte ich seinen Arm. „I-ich..“, bekam ich heraus, ehe er seine Hand etwas locker ließ, sodass ich reden konnte. „Ich hab etwas zu meinem Onkel gebracht und jetzt lass bitte meine Familie aus dem Spiel.“

Lucas befahl Blondie, doch die ursprüngliche Route zu fahren.

 

Als ein mir allzu bekannter Klingelton ertönte, sah ich mich nach meiner Tasche um. Sie lag neben Lucas. Ich wollte nach ihr greifen, doch wurde von dem Dunkelhaarigen zurück geschoben. „Glaubst du allen ernstes, dass ich dich an dein Handy ran gehen lasse?“

Ich zuckte hilflos mit den Schultern. „Es könnte was passiert sein. Ich kann auch sagen, dass ich noch im Bus sitze.“

„Wenn etwas passiert sein sollte, dann hast du Pech. Du kannst doch sowieso nicht helfen.“ Dann grinste er fies. „Du bist jetzt mal ganz brav still, Kleines.“

Kurz wühlte er in meiner Tasche herum, dann hatte er schon mein Handy in der Hand und den Anruf entgegen genommen.

„Joy? Mensch, wo bleibst du denn? Joy? Alles in Ordnung? Bist du dran?“, ertönte die sorgenvolle Stimme meines Bruders. Anscheinend hatte Lucas laut gestellt.

Er gab mir ein Zeichen, die Klappe zu halten und sprach dann ins Handy: „Tut mir Leid, Joy darf gerade nicht mit dir reden. Aber keine Sorge, sie sitzt neben mir und es geht ihr … den Umständen entsprechend gut.“

Unruhig rutschte ich auf meinem Platz hin und her. Oh Mist.

Kurz herrschte Stille. „Wer bist du und was hast du mit Joy vor?“

„Weißt du, deine Schwester ist echt süß und ich werde sie erst mal ein bisschen behalten.“, fuhr Lucas fort, als hätte Lenny nichts gesagt. Dann sah er mich an und fragte: „Wie heißt er?“

Stur antwortete ich nicht, was einzig zur Folge hatte, dass mir geräuschvoll eine Ohrfeige verpasst wurde. Fassungslos starrte ich ihn an. „Leck mich!“

„War das ein Angebot, Kleines?“ Mein Gegenüber grinste süffisant.

„Lass sie in Ruhe! Joy, wo bist du?“, schrie Lenny durchs Telefon.

„Wie heißt du? Antworte mir oder ich werde das Angebot deiner Schwester annehmen. Ob ihr das wohl Recht ist?“ Woher er wusste, dass unser Gesprächspartner mein Bruder war, war einfach. Ich hatte ihn unter „Bruderherz“ im Handy eingespeichert und so erschien er, wenn er mich anrief.

Knurrend entfuhr es meinem Bruder: „Lenny, verdammt! Ich heiße Lenny. Lass ja die Finger von meiner Schwester, ich schwöre bei Gott...“

„Jaja, nerv' mich nicht, Kleiner.“, fuhr Lucas dazwischen. „Was ich mit diesem süßen Ding hier vor habe, braucht dich nicht zu interessieren. Aber nun genug geredet. Sagt auf Nimmerwiedersehen.“

„Joy!“, brüllte Len hastig.

„Lenny, i-ich hab dich lieb. Pass gut auf Mom auf, ich komme wieder. Ich liebe euch!“

Len erwiderte noch etwas, doch es kam hier nicht mehr an. Lucas hatte ihn weggedrückt und warf mein Handy aus dem Fenster, dass er eigens dieses Zweckes geöffnet hatte.

 

Mein entsetzter Blick traf seinen amüsierten. „Wie rührend.“, gab er sarkastisch von sich.

„Wir sind gleich da.“, kam es von Eric. Ihn hatte ich ja fast vergessen. „Soll ich die Kleine dann auf ein Zimmer bringen?“

Lucas neben mir lachte. „Wovon träumst du Nachts, mein Freund? Unsere Süße hier, hat die Ehre von mir auf ein Zimmer gebracht zu werden. Nimm du das Auto, Eric.“

Seufzend lehnte ich meinen Kopf gegen die kühle Fensterscheibe. Mittlerweile war es draußen stockdunkel geworden und ich konnte nichts erkennen. Kein Auto kam uns entgegen. Der musste ja sehr abgelegen wohnen. Na klasse. Ich unterdrückte ein Gähnen. Ob ich hier überhaupt ein Auge zu bekommen könnte?

Als wir kurz darauf durch ein großes eisernes Tor fuhren und einige Minuten später hielten, zerrte Lucas mich aus dem Auto. Leute kamen aus dem Haus – Pardon, aus der Villa gestürmt und Lichter gingen an. Leicht geblendet betrachtete ich die kleine Villa. Dennoch befand ich sie als riesengroß.

„Also für einen Monster-Kidnapper überrascht du mich immer mehr. Was kommt als nächstes? Wohnst du noch bei Mommy, die dich bei dieser Scheiße hier unterstützt?“, gab ich grummelnd von mir.

 

Lucas lachte schallend. „Oh, Kleine, du und ich werden uns blendend verstehen.“Wohl kaum. Wir betraten schließlich den Eingangsbereich. Hell, freundlich, groß, protzig, elegant. Also das krasse Gegenteil von meiner Vorstellung. Wäre ich jetzt nicht die Gefangene, würde ich laut los lachen. Denn mitten im Raum baumelte ein fetter goldener Kronleuchter. Das war doch alles viel zu absurd um überhaupt wahr zu sein. Vermutlich lag ich in Wahrheit mit einer Gehirnerschütterung in einer Gasse und träumte mir das hier alles zusammen. Schön wäre es.

Ein braunhaariger Mann blieb vor uns stehen und musterte mich anzüglich. „Süß die Kleine. Dein neuer Zeitvertreib?“

Ich warf ihm einen bösen Blick zu. „Könntet ihr es mal bitte unterlassen, mich die ganze Zeit 'Kleine' zu nennen? Ich habe einen Namen!“

Lucas nickte und überging meine Worte einfach. „Ja, meine Kleine, also spare dir diesen Blick.“, knurrte er. „Ich werde sie jetzt auf ihr Zimmer bringen, ich will ich unter keinen Umständen gestört werden.“ Das klang doch zuversichtlich, oder? Wenn ich ein Zimmer bekam, würden diese Monster mich nicht sofort umbringen. Das hoffte ich zumindest. Ich musste von hier fliehen.

Ich wurde eine lange und pompöse Treppe herauf gezerrt und durch einen langen Gang in ein sehr geräumiges Schlafzimmer gezogen. Dicke rote Vorhänge verdeckten mehrere Fenster, eine großer Kleiderschrank zierte fast eine Wandhälfte, ein Schminktisch konnte ich auch ausfindig machen und eine Kommode neben der Tür. Doch ein riesiges Himmelbett dominierte den Raum. Wofür brauchte ein einzelner Mensch nur so große Betten? Da konnten bestimmt vier Menschen nebeneinander schlafen. Hier und da waren dunkle Sessel in Szene gesetzt. Der Teppich, den ich gerade mit meinen Schuhen beschmutzte, war rosé.

 

„Home sweet home.“, sagte Lucas und schloss die Tür hinter uns.

„Ihr.. ihr seid Vampire, oder?“ Vorsichtig sah ich zu ihm auf. „Du, Eric, die meisten anderen Bewohner hier.“

„Scharf kombiniert, Sherlock.“ Er grinste breit.

Der machte sich lustig über mich! „Verkneif dir dein Lachen. Ich bin nicht dumm.“ Er brachte mich wahnsinnig auf die Palme.

Er trat näher an mich heran. „Du bist nicht dumm. Ich halte dich sogar für sehr intelligent. Hoffentlich bist du klug genug, um zu merken, dass Fluchtversuche dir nichts bringen werden. Falls du es vom Anwesen schaffen solltest, was sehr unwahrscheinlich ist, denn Vampire haben ein sehr gutes Gehör, dann musst du erst mal rund zwanzig Kilometer Wald hinter dich bringen.“

Innerlich fluchte ich wie ein Kesselflicker. „Welch ein Glück.“, stieß ich leise sarkastisch hervor. „Erzähl mal, was sind denn so die Angewohnheiten von euch Blutegeln? Wie kann man sie töten? Nur rein aus Interesse.“

Er lachte laut auf. „Guter Versuch, Kleine. Also schau..“

„Hör auf mich ständig Kleine zu nennen, verdammt!“, fuhr ich ihn aufgebracht an.

„Aber du bist nun mal meine Kleine.“ Als er mir über die Wange strich, versucht ich seine Hand weg zu schlagen. Er fing sie ab und als ich mit der anderen Hand zu einer Ohrfeige ansetzte, wurde auch sie abgefangen. Seine Hände umschlossen meine Handgelenke wie Fesseln aus Stahl. „Versuch das nicht noch einmal.“ Er ließ mich nicht los, sprach aber weiter. „Wir Vampire haben, wie du schon bei Eric beobachten durftest, grün leuchtende Augen. Dass wir hübsche Eckzähne bekommen, hast du auch schon gesehen und gespürt. Holz, Silber, Kruzifixe, Weihwasser, Knoblauch, Sonnenlicht und et cetera können uns nichts anhaben, allgemein dieser ganze Märchenquatsch. Wir trinken ausschließlich Menschenblut, am liebsten aus einer gesunden pochenden Ader.“ Er leckte sich über die Lippen und fixierte meinen Hals mit seinem Blick. Mein Herz setzte einen Schlag aus. „Oh, ob unser Biss schmerzt, können wir nach einiger Erfahrung, ganz gut selbst regulieren.“

„Was?“, ging ich an die Decke. „Wenn ich diesen Eric in die Finger bekomme! Warum lässt er mich Todesqualen leiden, wenn es gar nicht nötig ist! Verdammt sei er!“ Lucas lachte auf und lockerte dabei versehentlich den Griff um meine Handgelenke.

 

Ich riss mich los und trat einige Schritte zurück.. „Du genauso!“

„Ich? Wann habe ich dich denn Todesqualen erleiden lassen? Bisher war ich doch ganz nett.“, entgegnete er grinsend. Er nahm es nicht ernst.

„Nett? Du hast mich geschlagen und meine Handgelenke werden morgen blau sein! Wegen dir sehe ich meine Familie vermutlich nie wieder. Das sind sehr große Qualen. Du herzloses Monster verstehst das vielleicht nicht, aber ich liebe meine Familie und werde es immer tun! Wenn ich hier sterbe, dann wenigstens in dem guten Gewissen, dass kein anderes Mädchen dran glauben musste oder gar Lenny. Den hättet ihr direkt kalt gemacht, nicht wahr? Klar, hättet ihr. Hätte ich dich doch bloß nie getroffen. Warum bin ich auch auf diesen verflixten Spielplatz gegangen? Vielleicht wäre ich dir trotzdem über den Weg gelaufen, aber dann hättest du mich gleich umgebracht, was?“ Da kam mir ein Gedanke. „Warum … hast du mich nicht auf dem Spielplatz umgebracht? Und sag mir jetzt nicht, dass du an die armen Kinder gedacht hast, die dort noch spielen wollen.“ Ich hatte meiner Wut Dampf gemacht und sackte nun etwas in mir zusammen.

„Du legst es echt darauf an, zu sterben, oder liege ich falsch?“, kam es belustigt von Lucas.

Er stachelte meine Wut wieder an. „Beantworte meine Frage!“

Er verdrehte genervt die Augen. „Ich hatte erst gegessen, warum sollte ich dann noch mehr zu mir nehmen? Auch Vampire können nur begrenzt Nahrung zu sich nehmen.“ Blitzschnell stand er vor mir und hatte mich an die Wand gedrückt. Seine Lippen hefteten sich auf meinen Hals. „Keine Sorge, ich beiße nicht.“, hauchte er. „Obwohl ich allen Grund dazu hätte. Schließlich hast du mich um mein Essen gebracht, Kleines.“

Verzweifelt versuchte ich nicht zu zittern. Ich fühlte einen Lufthauch und dann stand er ein paar Meter vor mir. Erleichtert atmete ich auf.

„Du brauchst doch keine Angst vor mir haben. Noch nicht.“ Der Vampir grinste. „Im Schrank findest du alles Nötige, also kannst du beruhigt schlafen gehen.“

Er wandte sich zum Gehen und ließ mich allein. Kurz darauf hörte ich, wie er das Zimmer von außen verriegelte.

Da ich nicht beabsichtige zu schlafen, lief ich auf und ab, erkundete das angrenzende Badezimmer, wusch mir das Gesicht und sah mir den Schrankinhalt an. Alles was mir nicht gefiel, landete auf einem Haufen in der Ecke. Der stetig wuchs. Was waren denn das für Fetzen? Die würde ich niemals anziehen. Im Endeffekt blieben mir zwei Outfits und das zehnfache lag am Boden. Aufräumen würde ich das mit Bestimmtheit nicht. Lucas hatte bestimmt Bedienstete, denn ich konnte ihn mir schlecht mit Putzlappen und Staubwedel vorstellen.

Erschöpft schmiss ich mich auf das Bett. Ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte, dass ich gerade mal anderthalb Stunden totgeschlagen hatte. Das Bett kam mir erstaunlich weich und wundervoll vor. Nicht einschlafen, Joy...

 

Kapitel 3

 

„Kann der sich nicht einmal eine holen, die weniger Arbeit macht? Als ob wir nicht schon genug zu tun hätten!“, hörte ich eine mürrische Stimme, die mich aus dem Schlaf riss.

Ein Seufzen. „Ist doch immer dasselbe. Lucas ist und bleibt ein Arschloch und anständige Mädchen gehören nun einmal nicht in sein Beuteschema, Magda. Aber spätestens in einem Monat sind wir dieses Weib sowieso wieder los.“

Vorsichtig öffnete ich die Augen und sah zwei Frauen in Dienstkleidern, die die Unordnung wegräumten, die ich noch gestern Abend fabriziert hatte. Durch die geöffneten Fenster kam helles Sonnenlicht herein. Anscheinend war ich doch eingeschlafen.

Als die Frauen mich bemerkten, stellten sie ihr Gespräch ein und nahmen die Klamotten auf, ehe sie wortlos das Zimmer verließen und die Tür hinter sich verschlossen.

Gerade wünschte ich mir echt, dass Türschlösser niemals erfunden worden wären.

Am anderen Ende vom Bett entdeckte ich ein reichlich gefülltes Tablett. Brot, Brötchen, Croissants, Cappuccino, Kaffee, Kakao, Säfte, Aufstriche, Wurst, Käse, Marmelade, Joghurt und noch vieles mehr. Wollte man mich mästen? Schmeckte mein Blut dann besser?

Zwar aß ich gern – was man mir zum Glück nicht ansah – aber das alles konnte ich unmöglich essen. Kurz überlegte ich in den Hungerstreik zu gehen, aber im Endeffekt würde es nur mir schaden, nicht diesen Blutsaugern. Also begann ich zu essen und es stellte sich heraus, dass ich tatsächlich hungriger war als gedacht. Als ich fertig war, befand sich auf dem Tablett nicht mehr viel.

Gerade als ich es wieder wegstellte, ging die Tür auf und Eric trat herein. Oh, mit dem hatte ich noch ein Hühnchen zu rupfen!

Wütend sprang ich auf, stürmte auf ihn zu und stieß ihm meinen Zeigefinger in die Brust. „Du blöder Bastard! Du hast mich Todesqualen erleiden lassen, obwohl du es hättest verhindern können! Ich dachte, ich verbrenne innerlich. Du sadistischer...“ Ich hatte noch weiter wüten wollen, doch Eric wischte sich meinen Finger von der Brust, als sei er nur ein Fussel.

Er sah auf mich herab. „Fertig? Beruhige dich, das ist eine Angewohnheit von mir. Du sollst nun runter kommen. Kommst du? Freiwillig?“

 

Blöde Frage. „Nein!“, entgegnete ich und wurde prompt am Oberarm gepackt. Ich riss mich los und wich zurück. „Ich bin kein Püppchen, du hirnrissiger..“ Eric packte mich und warf mich über seine Schulter. Ich keuchte auf.

„Lass mich runter, verdammt!“

Ich hörte ihn lachen. „Gleich geschafft, Kleine.“ Völlig außer mir schlug ich nach ihm und versuchte ihn zu treten, was ihn offenbar nicht im geringsten interessierte.

Schließlich ließ er mich in einem Art Wohnzimmer wieder runter. Es war riesig. Er bedeutete mir mich zu setzen. Daran dachte ich gar nicht.

„Lucas müsste gleich kommen.“ Er seufzte und verließ den Raum. Ich sah mich um. Hohe Decken, große Fenster, Schnitzereien an Boden- und Deckenleiste, golden umrahmte Gemälde, protzige Skulpturen und anderer teuer aussehender Schnickschnack.

„Da ist ja meine Kleine. Hast du gut schlafen?“ Lucas trat ein. „Wie ich gehört habe, kannst du für eine ganze Fußballmannschaft essen und die dir gestellten Kleider gefallen dir wohl nicht recht.“

Ich knurrte etwas vor mich hin und sah ihn dann an. „Entschuldige, dass diese Lumpen nicht meinem Stil entsprechen. Sehe ich denn so aus, als ob ich gut geschlafen hätte?“, fuhr ich ihn an und deutete an mir herab. Meine Klamotten waren etwas verrutscht und mein Haar war zerzaust. Wahrscheinlich würde ich auch heute noch dunkle Augenringe zur Schau tragen. Ich fühlte mich echt elend.

„Alles was da oben im Schrank war, entsprach einer besseren Qualität als deine verwaschene Jeans und der große Hoodie es je sein könnten.“, kam es grinsend von dem dunkelhaarigen Vampir. Er musterte mich. „Du könntest viel mehr aus dir machen, Kleines.“

Genervt zog ich eine Braue hoch. „Gibt es einen Grund, warum mich dieser verdammte Eric hergeschleppt hat?“

Etwas an meinem Tonfall musste es ihm verraten haben. „Er hat dich wirklich tragen müssen?“ Er lachte laut.

Ich lächelte ihn bitter an. „Lach nur. Warum musste ich denn nun hier antanzen?“

 

„Ich wollte dir Paulina vorstellen.“ Er führte eine Blondine an der Hand in den Vordergrund. „Paulina, das ist Joy.“

„Hi“, sagte ich desinteressiert und beachtete sie kaum. „Doch das wird wohl kaum der Grund gewesen sein, oder?“

Zu meiner Überraschung erhob die Frau das Wort. „Doch, das ist der Grund, Liebes. Ich habe die Ehre dich auf heute Abend vorzubereiten.“ Verwundert sah ich sie an. Sie war hübsch.

„Heute Abend?“, fragte ich, bekam aber keine Antwort. Lucas trat auf mich zu, immer näher, bis er unmittelbar vor mir stand. Ich konnte und wollte nicht zurückweichen. Zum einen, weil eine Kommode hinter mir stand und zum anderen, weil ich mich nicht einschüchtern lassen wollte.

„Du kannst Paulina genauso vertrauen wie mir, Kleines.“, sagte er und sah auf mich herab.

„Also gar nicht?“, antwortete ich schnippisch.

Ein Kichern ertönte. „Na, die ist mir jetzt schon sympathisch!“ Sie ließ auf der Couch nieder.

Der Vampir vor mir seufzte auf. „Na dann viel Spaß.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und schlenderte auf die Tür zu.

„Den werden wir haben. Da hast du dir ja wirklich eine Feine ausgesucht, Lucas. Ob du ihrem Temperament in deinem fortgeschrittenem Alter noch hinterher kommst?“, lachte Paulina.

 

Prompt musste ich auflachen, was nicht lange währte. „Ein Pädophiler also?“

Lucas sah mich bedrohlich an, obwohl er zu der Vampirin im Raum sprach. „Wenn du ihr weiterhin solche Flöhe in die Ohren setzt, werden hier Köpfe rollen. Köpfe mit vorzugsweise blondem Haar.“ Endlich verließ er den Raum.

„Er ist nicht pädophil.“, nahm die Blondine den Faden von eben auf. Ich zuckte lediglich mit den Schultern und setzte mich zu ihr. Ich musterte sie eingehend. Ihr blondes Haar fiel ihr in leichten Wellen bis zur Brust und umrahmten ein feines und feminines Gesicht mit braungrünen Augen. Sie war schlank und circa genauso groß wie ich.

„Was ist, wenn er dir wirklich den Kopf abreißt?“

„Ach, damit hat er mir schon tausendfach gedroht und siehe, ich lebe noch.“ Lächelnd sah mich an.

„Die Dienstmädchen lästern, dass er skrupelloses Arschloch sei.“, warf ich ein.

Langsam nickte sie. „Das ist er auch. Aber es gibt einige wenige Personen, denen er vertraut und die er respektiert. Ich gehöre dazu und kann mir fast alles erlauben.“

Von Natur aus war ich neugierig, deshalb fragte ich: „Ja, aber warum? Verstehe mich nicht falsch, aber warum vertraut er dir denn?“

Sie lächelte etwas gequält. „Weißt du, er hat mich damals, als ich noch ein kleines Mädchen war, auf der Straße aufgegabelt. Warum auch immer hat er mich aufgenommen und groß gezogen. Schließlich schenkte er mir die Unsterblichkeit. Zwar bin ich ihm nicht mehr so wichtig wie früher, aber das ist okay. Hauptsache ich bin am Leben, mehr oder weniger, und bin sicher.“

„Sicher? Ist es das nicht ohnehin? Ich meine, ihr Vampire seid voll stark und könnt euch leicht wehren.“ Ich musterte ihr Gesicht. So viel Herz hätte ich Lucas ja nicht zu getraut. Dass er ein kleines Mädchen bei sich auf nimmt.Sie schaute in ihren Schoß. „Nicht wirklich. Weißt du, unter den Vampiren gibt es immer wieder mal Morde. Und wenn man keinen Meister hat, ist man ein leichtes Opfer. Lucas ist mein Meister, da er mich verwandelt hat. Er ist sowohl mein Beschützer, als auch mein Vormund. Er hat quasi das Sagen über mich. Ich schulde ihm ewige Treue. Bis er stirbt. Dann wird der erste Vampir den er verwandelt hat zu meinem Meister... das geht immer so weiter. Meine Leute sind seine, weißt du? Aber man kann sich auch von einem Meister los sagen, doch das ist meist mit viel Blut und so verbunden. Außerdem hab ich keinen Grund mich von ihm los zu sagen. Er ist eigentlich ein guter Meister, jedoch ist er manchmal einfach skrupellos und brutal. Er lässt sich nichts sagen. Er hasst es einfach, was auch der Grund ist, wieso er keinen Meister mehr hat. Ein blutiges Match, dass Lucas gewonnen hat, obwohl sein damaliger Meister viel älter ist.“

Ihre Formulierung ließ mich aufhorchen. „Er lebt noch? Also sein alter Meister?“ Ich hatte ja damit gerechnet, dass die sich auf Leben und Tod bekämpfen würden.

Sie nickte. „Es ist wie ein Spiel. Jeder bekommt einen Silberdolch und dann geht es los. Der erste der dem anderen den Dolch ins Herz stößt, gewinnt. Wenn der Meister gewinnt, hat dieser das Recht, seinen Unterstellten kaltblütig zu ermorden. Jedoch hat dieses Recht der Unterstellte nicht. Er darf sich erfreuen, sein eigener Meister zu sein. Oh, natürlich kann ein Meister seinen Unterstellten auch einfach frei gewähren. Bloß die meisten Vampire stehen einfach auf diesen Kampf. Lucas hatte schon unzählige. Bisher haben seine Unterstellten ihn nur verlassen, weil sie ermordet worden sind oder sich selbst umgebracht haben.“

Fieberhaft dachte ich mit und versuchte alles zu einem vollständigen Bild zusammenzufügen. „Aber Lucas meinte, dass Silber euch nichts anhaben kann.“ Das sagte er doch, oder?“

„Das stimmt ja auch. Zum Teil. Es kann uns kurzzeitig verletzen, aber umbringen bei weitem nicht.“

Ich nickte. Mensch, Vampire sind echt brutal. Und das ganze muss ich jetzt erst mal verdauen. Mit solchen Kreaturen muss ich unter einem Dach hausen.

 

„Was ist denn nun heute Abend?“, unterbrach ich die unangenehme Stille.

„Ach, nichts weltbewegendes. Ich werde dich dafür etwas herrichten und dann wird das schon alles gut laufen.“ Sie lächelte zuversichtlich.

Sie schritt um mich herum, begutachtete mich eingehend. Sie besah sich meine Hände, mein Gesicht und strich mir durch die Haare. Sie sog zischend die Luft ein.

Gerade wollte ich fragen, was denn los sei, als Eric mich mit seinem Erscheinen unterbrach. Er legte einen schwarzen Stoff ab. „Alles okay, Paulina?“

„Ich muss sie in den Schönheitssalon bringen.“, antwortete sie und heftete ihren Blick auf Eric.

Schönheitssalon? Warum denn das?

„Dann mach das, aber gebe sehr gut acht auf sie. Wenn sie es schafft zu entkommen, wirst selbst du danach nichts mehr zu lachen haben.“, erwiderte er.

Sie nickte. „Ja, klar, keine Sorge. Kommst du mit?“

Als der blonde Vampir verneinte, machten wir uns schließlich auf den Weg. Wir stiegen in einen schicken Mercedes und in der Stadt angekommen, packte sie meinen Oberarm und schleifte mich bestimmend, aber behutsam in den Salon.

Sie lehnte sich über den Empfand und lächelte die Angestellte dahinter freundlich an. Ich glaubte, etwas grünes in ihren Augen aufblitzen zu sehen. Mit eindringlicher Stimme begann sie zu sprechen. „Wir hatten einen Termin. Sie machen die Kleine hübsch – volles Programm – und dann vergessen Sie rasch, dass wir überhaupt hier waren.“

Die Frau nickte geistesabwesend und stand auf. Wir folgten ihr.

Da begann die nicht ganz schmerzfreie Tortur. Nicht genug, dass sie mir hier sogar die Haare schnitten. Meine Haare! Mir wurden sämtliche Körperhaare auf schmerzhafte Weise entfernt, ich wurde pedikürt, manikürt und Sachen, für die ich schlichtweg keine Bezeichnung kannte.

 

Paulina warf zum Abschied einen hunderter auf die Theke und schob mich ins Auto.„Ich kann die Frauen, die das wöchentlich machen echt nicht verstehen.“, murmelte ich und schaute auf meine schwarz lackierten, in Form gefeilte Fingernägel. Düster und doch elegant. Wie meine Fußnägel auch. „Soll ich so was wie die Königin der Nacht darstellen?“„So in etwa. Eher das billige Vorzeigepüppchen von Lucas“, murmelte Paulina.„Na, das kann er sich so was von abschminken!“Sie schaute mich kurz von der Seite her an. „Man widersetzt sich ihm besser nicht. Nicht jeder kann es sich leisten, bei ihm etwas zu verbocken. Gerade die Mädels die er immer wieder mit nach Hause schleppt. Joy, ich mag dich, also bitte versuch es nicht allzu schnell zu vermasseln.“ Ich zuckte mit den Schultern und blickte nach draußen. Das hatte echt gesessen. Gerade die Mädels die er immer wieder mit nach Hause schleppt. Ich wusste zwar schon seit gestern Abend, dass ich es nicht lange bringen würde, jedoch war es hart es zu hören.

Tausende Bäume rasten an uns vorüber. Oh Gott, ich vermisste Lenny. Und Mom. Dad. Was Dad jetzt wohl unternehmen würde? Wahrscheinlich würde er alles öffentlich machen und Suchtrupps zusammen stellen, was Lucas unheimlich unter Druck setzen würde. Was ja dann wohl bedeuten könnte, dass er kurzen Prozess mit ihr machen würde. Eigentlich wollte ich ja Kinder bekommen, eine Familie gründen, Zukunft haben! In einem tollen Haus wohnen und einen tollen Beruf ausüben. Mir einen Hund kaufen, einen Graupapagei. All das wollte ich erreichen, mir selbst verdienen. Doch all das konnte ich jetzt vergessen. Mit etwas Glück konnte ich meinen neunzehnten Geburtstag noch miterleben. Die Vorstellung, dass ich meinem Ende schon bald ins Auge blicken musste, war deprimierend. Obwohl, etwas verlockendes hatte es doch.Der Wagen blieb ruckartig stehen. Zusammen mit Paulina stieg ich aus.

„Iss erst mal etwas.“, meinte sie und brachte mich durch die Flügeltüren ins Wohnzimmer, indem ich schon vorhin gesessen hatte.Mir wurde sofort ein Tablett mit großer Auswahl von einem braunhaarigem jungen Mädchen gebracht.„Will man mir mal endlich verraten, weshalb ich über drei Stunden diese Schmerzen über mich ergehen lassen musste?“„Ja, wegen heute Abend.“, meinte Paulina verständnislos.Ich schaute sie nüchtern an. „Ja ach. Was ist denn heute Abend?“Sie wirkte unentschlossen. „Ähm, das wird dir Lucas dann schon erklären.“„Und du kannst das nicht?“ Ich zog eine Braue hoch.„Mir wurde keine Anweisung erteilt, es dir zu erklären.“ Gerade wollte sie etwas hinzufügen, doch ich unterbrach sie.„Machst du auch irgendetwas, was dir nicht von Lucas erteilt wurde? Oder gestaltest du dein ganzes Leben nach ihm?“Sie überging meine Frage. „Jetzt iss etwas. Ich komme gleich wieder. Probier doch bitte in der Zwischenzeit nicht abzuhauen, okay?“ Sie verließ den Raum und ich schaute auf das Tablett vor mir. Das war die Chance! Paulina meinte, ich solle nicht abhauen. Das würde ich nicht tun. Plötzlich fand ich das große, scharfe und glänzende Messer sehr interessant. Sehr verlockend. Mit zittrigen Händen griff ich danach. Stumm sendete ich Gebete gen Himmel, obwohl ich wirklich nicht der religiöse Typ war. Ob ich nun in nächster Zeit ermordet werde oder jetzt selbst mein Leben beendete, machte auch keinen Unterschied mehr. Meine Variante wäre eher noch weniger schmerzlich.

Meine letzten Gedanken waren meiner Familie gewidmet. Jetzt würde ich zu Dad gehen. Mit all meiner möglichen Kraft stieß ich mir das Messer dort in den Bauch, wo ich lebenswichtige Organe vermutete. Ich keuchte erstickt auf und versuchte das Messer tiefer zu drücken. Komm schon! Zitternd zog ich es nun heraus. Blut floss über meine Finger, die ich auf die Wunde presste. Ich sackte langsam zu Boden und versuchte meine Hände wegzunehmen. Aber der kleine Rest an gesundem Menschenverstand verhinderte dies. Die Welt um mich herum verschwamm und begann schwarz zu werden. Stimmen erklangen, doch sie schienen von weit weg. Ich konnte nichts erkennen, jedoch spürte ich Berührungen. Hustend versuchte ich etwas aus meiner Kehle zu bekommen, doch wer auch immer mich da berührte, zwang mich zum Schlucken. Übelkeit stieg in mir auf. Verzweifelt versuchte ich den Kopf zur Seite zu drehen. Ich wollte nicht schlucken, ich wollte gehen. Den Schmerz vergessen und zu Dad gehen.

Säuerliche Galle stieg in mir hoch, als mir etwas auf den Bauch gepresst wurde. Nein! Ich wollte gehen. Ich versuchte den Kopf zu heben, mich zu wehre, doch dieser fiel zurück auf den Boden und ich wurde bewusstlos.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.12.2014

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