Die Tochter des Kriegers 1
Im Zwielicht der Morgendämmerung
von Maera Nyght, 2013
Für alle, die Bücher lieben und der Fantasie niemals müde werden.
Besonders für meine Mum, weil sie meine Fantasie immer gefördert und nie ausgelacht hat. Weil sie sich immer freut, wenn ich meine Texte mit ihr teile und nicht beleidigt ist, wenn ich es nicht tue.
Leah Webster ist alles andere als glücklich. Gestern noch führte sie das normale Leben einer Sechszehnjährigen in Chicago, heute sitzt sie im Flugzeug in Richtung Schottland, wo sie bei ihrem Onkel leben soll – einem Mann, der ihr genauso unbekannt ist wie sein Bruder, Leahs Vater.
Als sie in dem Heimatland ihres geheimnisumhüllten Vaters eintrifft, jagt ein seltsames Ereignis das nächste. In ihrem neuen Zuhause findet sie ihr Zimmer bei jedem Betreten verändert vor, in der neuen Schule geschehen unerklärliche Dinge und Sachen verschwinden spurlos. Und was hat es bitte mit den ständigen Stromausfällen auf sich, die in der neuen Schule regelmäßig für noch mehr Verwirrung sorgen, als ohnehin schon in Leah herrscht?
Es dauert nicht lange, bis Leah sich in dem fremden Land in Dinge verstrickt, in die schon ihre Gene sie hineinbugsiert haben …
***
„Was soll das heißen, ‚wir fahren zu deinem Onkel‘?! Was für ein Onkel?“, fragte ich absolut perplex meine Mutter anstarrend. „Du hast mir nie erzählt, dass du einen Bruder hast.“ Bei dieser Feststellung überlegte ich, ob meine Mum dabei war, ihren Verstand zu verlieren. Wegen Überarbeitung oder so.
Ich meine, ich wüsste es, wenn ich einen Onkel hätte. Mum oder Grandma hätten mir das erzählt, und überhaupt ließ sich ein Bruder, beziehungsweise Sohn, ja schlecht verheimlichen, vor allem weil meine Grandma bei jeder Gelegenheit unser Familienfotoalbum herausholte. Der hatte sich auf den unzähligen öden Familientreffen wohl kaum im Wandschrank versteckt, oder?
„Hab ich auch nicht“, entgegnete Mum und versuchte, meinen Blick einzufangen, „Aber dein Vater.“
Scharf sog ich die Luft ein.
Das war zu viel.
Wir redeten nicht über meinen Vater. Nie. Es war kein Thema, das totgeschwiegen wurde, nein, es war ein Thema, das es schlicht und einfach nicht gab. Punkt.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann Mum das letzte Mal die Worte „dein Vater“ ausgesprochen hatte. Ich war mir nicht mal sicher, ob sie das überhaupt je getan hatte. Das Wenige, das ich über meinen Vater wusste, hatte ich von Grandma, und auch die hatte mir nur von ihm erzählt, weil ich sie zuerst erweicht und ihr dann geschworen hatte, Mum nie auf ihn anzusprechen.
Mir war klar, dass Grandma nicht gewusst haben konnte, dass mein Vater einen Bruder oder sonstige Verwandten hatte, sonst hätte sie’s mir erzählt.
Klar, mir war schon bewusst gewesen, dass er Verwandte haben musste, oder zumindest gehabt haben musste. Schließlich hat jeder Eltern. Aber mir war nie deutlich geworden, dass es da draußen noch lebende Personen geben könnte, mit denen ich auf väterlicher Seite verwandt war.
Für mich war mein Vater immer wie ein Phantom gewesen. Es hatte ihn mal gegeben und sein Schatten war immer noch zu spüren, aber für mich war er unerreichbar. Das hatte ich akzeptiert.
Dennoch war er immer noch ein wunder Punkt für mich, vor allem deswegen, weil ich nicht wusste, wie ich mich in Bezug auf ihn fühlen sollte. Sollte ich ihn als eine Art Helden sehen, wie das bei den meisten meiner Freundinnen und deren Vätern der Fall war, wenn sie sie nicht gerade hassten?
Oder sollte ich wütend sein, weil ich nicht wusste, was mit ihm geschehen war?
Denn obwohl meine Mum von ihm sprach und sich verhielt, als wäre er tot, war nicht sicher, ob er das tatsächlich war. Das hatte Grandma mir anvertraut. Eines Tages war mein Vater verschwunden und sie hatte nie wieder etwas von ihm gehört.
Sie wusste nicht, ob Mum wusste, was mit ihm geschehen war und ich hatte ja geschworen nicht zu fragen. Und ich hielt meine Versprechen.
Was ich wusste, war, dass in keiner Zeitung eine Todesanzeige auf seinen Namen erschienen war und dass auch kein Grab mit seiner Inschrift existierte.
Genau genommen existierten überhaupt keine Daten über Locan Greyknight, meinen Vater. –Zumindest, wenn das sein richtiger Name war. Sogar die Hochzeitsurkunde war nicht aufzutreiben gewesen, und ich hatte es wirklich versucht soweit es mir möglich war.
Die Suche im Web hatte nichts ergeben.
Auch nicht, als ich verschiedene Schreibweisen vom Vor- als auch vom Nachnamen gecheckt hatte. Nichts, nothing, nada, niente.
Sein Name stand einzig auf meiner Geburtsurkunde, sodass ich einigermaßen sicher sein konnte, dass es der echte war.
Folglich hatte ich aufgehört, über meinen rätselhaften Vater nachzudenken und versucht, ihn vollkommen zu verdrängen.
Als Mum nun diese Worte sagte, kamen alle Zweifel zurück. Die Fragen, die alle verschiedene Varianten von ‚Wer bin ich?‘ waren, die Wut darüber, dass meine Mum meinen Vater nicht vergessen zu können schien.
Das merkte ich schon daran, wie sie mich manchmal ansah.
Es war nicht schwer zu erraten, wieso. Ich hatte keinerlei Ähnlichkeit mit meiner Mutter oder sonst jemandem aus meiner Familie mütterlicherseits. Das bedeutete, dass ich entweder eine Mischung aus meinem Vater und meiner Mutter war, oder sämtliche Züge der väterlichen Seite geerbt hatte. Ich vermutete letzteres.
„Ach ja? Tja, schön, dass ich das auch mal erfahre. Hast du meinem Onkel gesagt, er soll mich in Ruhe lassen, oder ist er von der Sorte Verwandten, die nicht mal zu Weihnachten oder zum Geburtstag eine Karte schreiben?“, zischte ich, als ich mich vom Schock erholt hatte.
Mum schwieg. Normalerweise ging ich nicht so mit ihr um, überhaupt ging ich nur äußerst selten in die Luft, so wie jetzt. Selbstbeherrschung war mir wichtig, so konnte ich verbergen was ich dachte oder fühlte.
Aber jetzt brannten sämtliche Sicherungen durch. „Was wollen wir jetzt bei dem, wo er sich doch nie gemeldet hat?! Wieso sollten wir jetzt zu ihm fahren? Soll er doch den Arsch hochkriegen und herschwingen!“
„Leah Caroline Webster! Nicht in diesem Ton und ich verbitte mir diese Ausdrucksweise!“, wetterte jetzt auch Mum los. „Wir fahren zu ihm, weil er angerufen hat und ich denke, dass dir ein Aufenthalt im Ausland während der Schulzeit zukünftig Chancen einbringen wird. Und rede nicht so über ihn, er ist ein mächtiger Mann und ein Gentleman.“
„Ach, ein Gentleman, ja?! Warum hat er mir dann nicht einmal zum Geburtstag gratuliert? Ich dachte, das gehört zum guten Ton?! Schließlich hatte er sechszehn Gelegenheiten dazu! Und angerufen hat er? Das interessiert mich einen feuchten Dreck! Aber du springst natürlich sofort. Ist es, weil er so ein ‚mächtiger Mann‘ ist und du dir neue Beziehungen für die Firma aufbauen willst? Das ist es, oder?“
Nach diesem Vortrag in voller Lautstärke holte ich erst mal tief Luft.
Meine Mutter nutzte diese Gelegenheit. „Nein, ich bringe dich zu ihm, weil er der Bruder deines Vaters, dein Onkel ist und er stets höflich zu mir war.“ Auf die Firmen-Sache ging sie nicht ein, aber ich war ziemlich sicher, dass es zumindest zum Teil daran lag.
Meine Mutter hatte sich solange ich mich erinnern konnte in der Arbeit vergraben. Ich war bei Grandma, im Kindergarten oder später in der Schulbetreuung abgesetzt und dort stets mit Verspätung abgeholt worden.
Mit meinen Erinnerungen an mitleidige Mienen von Betreuerinnen, stirnrunzelnden Blicken auf die Uhr, Freundinnen, die früher abgeholt wurden und mich zurückließen, und den Kindergartendirektor, der abschloss und draußen mit mir wartete, manchmal über eine Stunde, und mir dabei Geschichten erzählte und mir einen Lolli schenkte, könnte ich die Washington Library füllen.
Einmal hatte man mich sogar zum Hochhaus, in dem wir damals noch wohnten, gefahren und beim Portier abgesetzt, als Mum sich zu sehr verspätete, und ich hatte dabei einen neuen Freund gefunden: Den Portier.
Und jetzt wollte meine Mum mich anscheinend bei meinem Onkel, den ich noch nie gesehen und von dem ich heute zum ersten Mal hörte, abladen. „Moment, was hast du gerade gesagt?“, fragte ich und hörte selbst die leise Panik, die sich in meine Stimme geschlichen hatte. „Was soll das heißen, du bringst mich zu ihm? Bleibst du nicht da? Und für wie lange?! Das kannst du doch nicht machen!“
Mum schwieg und presste die Lippen zusammen.
„Mum?!“
„Pack deine Sachen. Du fährst morgen früh.“
„Morgen früh?“, echote ich und kam mir langsam wie ein Papagei vor. Und zwar wie einer von der begriffsstutzigen Sorte.
„Ähm, Mum, nur falls es dir entgangen sein sollte, ich habe morgen Schule. S-C-H-U-L-E. Du weißt schon, diese Sache, bei der ich immer pünktlich um acht in diesem Gebäude sein muss, das von außen wie ein Gefängnis aussieht und auch für die Minderjährige Spezies, genannt Schüler, eines ist?! Das, wozu jeder hier in den USA gesetzlich verpflichtet ist? Und wohin ich schon seit elf Jahren gehe?“
Und in die du kein einziges Mal zu Elternsprechtagen oder Theateraufführungen gekommen bist?, ergänzte ich in Gedanken verbittert.
„Morgen wirst du jedenfalls nicht hingehen.“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass das strafbar ist“, erklärte ich laut und überlegte im Stillen, ab welchem Alter man nochmal Aufenthaltsbestimmungsrecht hatte. Das musste ich unbedingt googlen.
Mum seufzte. „Ich werde das nicht mit dir diskutieren. Du wirst morgen fahren und wenn du nicht willst, dass ich für dich packe, solltest du jetzt damit anfangen.“
Ich hatte große Lust, weitere Gegenargumente vorzubringen, aber mir war klar, dass sie tatsächlich für mich packen würde, wenn ich nicht gleich selbst anfing. Und das durfte ich nicht zulassen, schon allein weil in meinem Kleiderschrank auch Klamotten hingen, die sie nicht zu Gesicht bekommen sollte.
Nein, nicht irgendwas Unanständiges, aber meine beste Freundin Aymara hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, mir Klamotten zu schenken, die ihr Verwandte geschenkt hatten und die ihr nicht standen oder gefielen, oder die ihr nicht mehr passten –Aymara war nämlich größer als ich.
Und wenn Mum wüsste, dass wir sozusagen einen Klamottentausch betrieben, würde ihr das sicher nicht gefallen. Sie würde es für Almosen halten… ja, ich weiß, meine Mum hat eine schräge Art zu denken.
„Ist ja gut“, lenkte ich also gezwungenermaßen ein, „Aber nur damit du’s weißt, ich tue das nur unter Protest, okay?! Ach ja, wo wohnt mein neuer Onkel denn bitte?“
„In Schottland. Das Wetter dort ist meist kalt.“
Mit einem entrüsteten Schnauben weil mir dazu tatsächlich nichts mehr einfiel verließ ich das Wohnzimmer, ging in meins und direkt durch in meinen begehbaren Kleiderschrank. Hinter mir schloss ich die Doppeltür und zückte sofort mein Handy.
Ein Druck auf die Kurzwahltaste eins, ein Wartezeichen und schon vor dem nächsten nahm Aymara ab. „Hey Süße, was gibt’s?“
„Meine Mum ist verrückt geworden und will mich zu meinem Onkel nach Europa abschieben!“, sprudelte es aus mir heraus.
Aymara schwieg kurz. Wie gesagt, es war ungewöhnlich, dass ich meine Ruhe vergaß und ausflippte. Eher wurde ich so ruhig und meine Stimme so kalt, dass man meinen könnte, Eis sollte sich vor meinem Mund bilden. Das Ausflippen kam meist erst danach, aber dieses Stadium hatte ich in diesem Fall einfach übersprungen.
„Welcher Onkel?“, fragte sie dann.
„Du sagst es!“, rief ich, während ich meinen Koffer von einem Regal herunterzerrte und mich nach kurzem Überlegen auch nach dem zweiten streckte.
Tatsächlich hatte ich keine Onkel mütterlicherseits. Meine zwei Tanten hatten zwar geheiratet, aber die eine hatte sich kurz darauf wieder scheiden lassen und der andere Onkel, Henry, war gestorben. Ich hatte Henry wirklich gemocht. Meine Familie hatte mit den Männern offensichtlich kein Glück. Eine Statistik, in die ich mich selbst mittlerweile fröhlich miteinreihen konnte.
„Anscheinend hat Mum die ganzen Jahre vergessen zu erwähnen, dass ich einen Onkel habe, und zwar väterlicherseits! Sie hat sogar die Tabuworte ausgesprochen.“
„OmG“, kam es wie erwartet von Aymara. Sie kannte die Tabuworte genauso gut wie ich. „Warte, was war das eben mit dem abschieben?“ Ihre Stimme klang etwas panisch.
„Ich weiß auch nichts Genaues. Nur, dass sie mich nach Schottland schickt.“
„Wie, gleich nach Schottland?! Okay, eins nach dem anderen. Ich brauch mehr Infos. Erzähl mal von Anfang an. Und… Action!“
Ich holte tief Luft. „Also, ich bin nach einer vormittäglichen Joggingrunde zurück nach Hause gekommen, wie immer. Mum war da.“
Diese Aussage ließ ich kurz sacken. Mum kam gewöhnlich frühestens um acht, meistens um zehn nach Hause, und morgens war sie weg bevor ich aufstand. Und ja, das galt auch an Sonntagen.
„Sie sagte, wir müssten reden und dann hat sie gesagt, ich zitiere: ‚Wir fahren zu deinem Onkel. Oder besser gesagt du. Du fliegst.‘“ Lange und ruhig ausatmend versuchte ich, zu meiner gewohnten Ruhe zurückzufinden. Zumindest äußerlich und die Stimmlage betreffend.
„Und dann?“
„Dann bin ich ausgeflippt.“
Schweigen. Aymara versuchte wahrscheinlich, sich das ganze Szenario vorzustellen.
„Okay, weiter!“
Ich schilderte ihr den restlichen Verlauf des Gesprächs.
„O Mann, das ätzt“, stellte sie am Ende fest.
„Und wie!“
„Gehe ich richtig in der Annahme, dass du gerade packst?“
„Verdammt richtig.“
„Wenn du nach Schottland fliegst, denn das wirst du wohl tun, solltest du dir vor allem warme Sachen mitnehmen. Ich hab gehört, das Wetter dort ist unberechenbar.“
Ich seufzte. Nicht, weil es mir etwas ausmachte, warme Sachen einzupacken, sondern weil ich überhaupt packte.
Schon lange träumte ich davon, mal nach Schottland zu reisen. Nicht nur, weil Grandma behauptete, mein Vater käme von dort, obwohl das mein Interesse am Vereinigten Königreich Großbritanniens erst geweckt hatte.
Die Landschaft dort übte eine starke Anziehung auf mich aus, genau wie die Burgen. Man musste sich dort, wenn man auf einem Hügel stand und das grüne Land überblickte, grenzenlos frei fühlen.
Aber ich hatte freiwillig dorthin gehen wollen, wenn ich Lust dazu hatte und nicht irgendein mysteriöser Onkel auf mich wartete.
„Mann, ich fass‘ es einfach nicht, dass sie dir das antut. Das kann sie doch nicht machen! Weißt du eigentlich, wie viele Kilometer zwischen Chicago und… wo willst du noch mal landen?“
„Warte kurz.“ Ich trat aus dem Kleiderschrank, öffnete meine Zimmertür und rief: „Mum? Wohin genau in Schottland?“
Mums Stimme antwortete, wie könnte es anders sein, aus ihrem Arbeitszimmer. „Er lebt, soviel ich weiß, in Stonehaven, aber das Flugzeug wird in Aberdeen landen.“
„So viel du weißt?!“, echote ich fassungslos und zog die Tür hinter mir zu, ehe sie antworten konnte. „Hast du’s mitbekommen?“, fragte ich.
„Mhm“, bestätigte sie.
Im Hintergrund erklang das Klappern einer Tastatur.
Ein kurzes Schweigen folgte.
Dann: „O mein Gott! Zwischen Chicago und Aberdeen liegen sechstausendzweihundertneunundsiebzig Kilometer!“
Weil mir danach war, seufzte ich nochmals.
Aymara fuhr fort: „Ein Flug dauert circa acht Stunden und achtundfünfzig Minuten, je nach Flugroute, das sind fast neun Stunden! Und es sind sechs Stunden Zeitunterschied! Wenn hier grade um neun die Schule anfängt…“
„Ist in Aberdeen fünfzehn Uhr“, beendete ich ihren Satz.
„Schei… benkleister. Hi Dad! Mach ich gleich.“
Ich grinste, hörte bei ihrer nächsten Frage jedoch rasch wieder damit auf.
„Denkst du, du wirst dort zur Schule gehen müssen?“
„Höchstwahrscheinlich. Davor graut mir schon jetzt.“
„Hey, das wird schon. Wegen deines Akzents wirst du dir jedenfalls keine Sorgen machen müssen, so oft wie du mit Angus abhängst.“
Angus. Der andere Grund, aus dem meine Sehnsucht nach Schottland geweckt worden war.
Er war der Nachbar meiner Grandma, fünfzig und für mich eine Art Ersatzvater. Und er war Schotte.
Jedes Mal, wenn ich bei Grandma zu Besuch war, ging ich zu ihm rüber oder er kam zu uns.
Mum hatte ihn noch nie gesehen und wusste nichts von ihm. Was ein echtes Kunststück war. Man konnte in manchen Fällen durchaus behaupten, dass sie ignorant war.
Immer, wenn Grandma keine Zeit hatte und Mum darauf bestand, dass jemand auf mich aufpasste, behauptete Grandma dies zu tun und ich ging stattdessen zu Angus oder Angus kam rüber in Grandmas Haus.
Aymara kannte ihn längst, ich hatte sie einander vorgestellt. Die beiden hatten sich sofort gemocht, was sowohl für Aymara als auch für Angus sprach.
Mit der Zeit hatte ich mir angewöhnt, mit Angus nicht nur größtenteils britisches Englisch, sondern auch in seinem schottischen Akzent zu sprechen, den ich ihm abgeschaut hatte.
Sogar Gälisch hatte er mir ein wenig beigebracht –oder zumindest hatte ich ihn das glauben lassen.
„Das stimmt wohl“, gab ich zu.
„Warte, ich google mal Stonehaven. … Also, Stonehaven. Liegt an der Autobahn 92, relativ nah bei Aberdeen an der Küste, verfügt über mehrere High-Schools, hat circa 10.000 Einwohner, ist Hauptstadt der historischen Provinz Kin…cardinshire, des heutigen Aberdeenshire. Laut Wikipedia. …Okay, ähm…“
Wieder Geklapper während ich versuchte, diese ganzen herunter geratterten Infos zu speichern und mir was darunter vorzustellen.
„Es gibt dort verdammt viele Burgen. Ich geh mal auf Bilder. Wow, eigentlich sieht’s da gar nicht mal so schlecht aus. Aber wenn ich da leben würde, ganz ehrlich, ich würde die Krise kriegen. Mich fühlen, als wär ich am A…llerwertesten der Welt, Mann Dad, musst du dauernd unangekündigt ins Zimmer platzen? Ich telefoniere. Wie wär’s mal mit anklopfen?“
Irgendeine unverständliche Antwort.
„Ja, gleich, ich telefoniere nur gerade. Nein, das kann ich nicht auch draußen, das ist ein Privatgespräch und wir haben grade eine Krise. Ciao.“
„Versuchst du immer noch, deine Familie zu erziehen?“
„Ja, aber meine Bemühungen scheinen vergebens zu sein. Sie haben immer noch nicht gelernt, anzuklopfen! Arrgh! Ich meine, Pace ist lernfähiger. Allerdings ist Pace auch der süßeste, schlauste Hund der Welt. Mit dem ich Gassi gehen soll, er ist so unruhig heute. Ich fürchte, ich kann nicht mehr lang dranbleiben.“
„Schon okay.“
„Aber mal im Ernst: Ruf deine Grandma an! Vielleicht kann sie deiner Mum ja verklickern, dass es so einfach nicht geht. Es muss doch irgendwo eine Klausel geben, die das Herausreißen einer Minderjährigen aus gewohntem Umfeld verbietet. Oder eine gegen Abschieben zu einem Unbekannten. Was ist mit dem Aufenthaltsbestimmungsrecht?“
„Das haben der oder die Erziehungsberechtigte, wenn die betreffende Person minderjährig ist“, sagte ich, weil ich mich inzwischen wieder daran erinnerte. Bestimmte Dinge interessieren einen, wenn die Erziehungsberechtige sich als unberechenbar darstellt.
„Na toll. Von wegen, das Gesetz ist da um zu schützen. Aber vielleicht kann deine Grandma ja was machen. Ruf morgen an bevor du fliegst. Wenn du fliegst, und ich bete, dass das nicht passiert. Oder schreib mir 'ne Mail. Und der Zeitunterschied ist mir sowas von egal, wenn du also reden willst, wenn du angekommen bist, ruf einfach an. Ich hab nämlich so das Gefühl, dass ich morgen nicht zur Schule gehen werde. Zu deprimiert.“
„Alles klar.“ Diese Aussage nahm ich durchaus ernst, auch die mit dem Schule Schwänzen, das war bei Aymara einfach. Weil bei ihrer Geburt etwas mit ihren Organen nicht gestimmt hatte war sie operiert worden und hatte immer noch hin und wieder Bauchschmerzen und Krämpfe, weil alles wieder richtig zusammenwuchs oder so. Da kam es schon mal vor, dass sie das Bett hüten musste. Doch meine beste Freundin war ein positiv eingestellter Mensch und hatte beschlossen, sich davon nicht runtermachen zu lassen, denn immerhin hat alles auch sein Gutes. Wenn man ihr da Glauben schenkte.
„Bis dann, Süße. Ich bin für dich da. Wenn’s geht, komm heute Abend nochmal vorbei. Jederzeit.“
Schon jetzt hörte ich ihrer Stimme an, dass sie gleich losheulen würde. An meiner drohenden Abschiebung schien selbst sie nichts Positives finden zu können.
„Ich versuch’s. Ich hab dich lieb, Aymara.“
„Ich dich auch.“
Energisch die Tränen wegblinzelnd legte ich auf und machte mich ans Packen.
Ich nahm fast alles mit.
Also, natürlich nicht alles alles, aber meine Lieblings- oder zumindest Ersatzlieblingsstücke quetschte ich so gut es ging alle in meine Monstren von Koffern. Die Frage, warum ich die überhaupt besaß, wo ich doch noch nie ernsthaft verreist war, kam mir dabei zum ersten Mal. Prävention, mutmaßlich, um notfalls ausreißen zu können. Eine interessante Option, die weiterzuverfolgen meine Vernunft mir jedoch verbot.
Den Großteil des Platzes nahmen jedenfalls Jacken ein. Ich hatte ein Faible für Jacken.
Das hatte mit der Lederjacke meines Dads angefangen, die ich eines Tages beim Spielen auf dem Speicher unserer damaligen Wohnung im obersten Stock eines älteren Hauses gefunden hatte. In der nachfolgenden Zeit hatte ich entdeckt, wie praktisch und trotzdem schick Jacken und Boleros sein konnten. Diese weltbewegende Erkenntnis führte dazu, dass ich sogar im Winter in T-Shirts herumlief, mit warmen Jacken darüber.
Falls das schottische Wetter also wirklich derart unberechenbar sein sollte, war dieses Faible sicher nützlich. Auch nützlich war, dass ich lesetechnisch zeitgemäß drauf war und all meine Bücher im E-Bookformat kaufte oder einscannte, denn es stand zu bezweifeln, dass sich in meinen Koffern auch noch Platz für die in gedruckter Form recht dicken Wälzer fände.
Während ich packte und in der Welt des Faltens, Stopfens und Platzsparens, des Abwägens und hin und wieder Verwerfens versank, beruhigte sich mein Gemüt wieder.
Schließlich schnappte ich mir noch einen relativ kleinen Rucksack fürs Handgepäck, in den ich Aufladekabel (ein wahrer Salat), den E-Reader, Laptop, das Necessaire, Taschentücher, eine meiner Lieblingsjacken und ein Kuschelkissen stopfte. Den MP3-Player würde ich mir in die Hosentasche stecken.
Zufrieden begutachtete ich mein Werk. Na also!
Rasch zog ich mir eine meiner Lederjacken über, die Einzige, die noch nicht eingepackt und die ich auch morgen im Flugzeug anziehen würde, sollte ich wirklich fliegen, und verließ mein Zimmer.
Mum saß am Esszimmertisch und schlug auf die Tasten ihres Lappies ein.
Meine Wut flammte wieder auf, aber dieses Mal war es diese kalte, berechnende, gefährliche Wut, die ich von der mütterlichen Seite meiner Familie geerbt hatte.
Ob ich mich hinausstehlen sollte?
Mir war schon klar, dass Mum sich dort positioniert hatte, um den Flur durch die weit geöffnete Esszimmertür im Auge zu behalten.
Aber wenn sie so auf die Tasten einschlug, bedeutete das, dass sie einen Lauf hatte. Folglich wäre es fast schon lächerlich einfach, mich an der offenen Tür vorbei durch den Flur zu schleichen und aus der Wohnung zu stehlen.
Die Entscheidung war schnell gefällt. Leise lief ich an der Tür vorbei und blieb dann bei der Anrichte neben der Haustür stehen. Im Stillen fluchte ich.
Meine Umhängetasche lag noch dort, wo ich sie hatte liegen lassen, als ich nach Hause gekommen war. In ihr befanden sich keine Schulsachen, die hatte ich im Spind in der Schule gelassen, weil wir heute nichts aufbekommen hatten.
Vorsichtig hob ich sie auf und hängte sie mir um. Dann wandte ich mich dem eigentlichen Problem zu: Meinem Schlüsselbund auf der Anrichte.
Wenn ich ihn an mich nahm, würde er hundertprozentig klirren. Normalerweise war das kein Problem, weil Mum gewöhnlich auch in ihrem Arbeitszimmer war. Im Esszimmer hingegen und noch dazu mit der offenen Tür würde sie es auf jeden Fall hören.
Also zwei Möglichkeiten: Schlüsselbund nehmen und verschwinden, noch bevor das verräterische Klirren verhallt war, oder mich der Frau stellen, die mich abschieben wollte.
Ich schloss die Augen. Am liebsten hätte ich Ersteres gewählt. Allerdings würde ich mich dann einfach nur feige fühlen. Das Vorbeischleichen war ja noch in Ordnung. Dabei handelte es sich eher um sowas wie ein Ausweichmanöver. Die erste Möglichkeit jedoch war ganz klar eine Flucht. Nie im Leben würde ich zulassen, dass ich mir feige vorkam. Zu stolz war ich darauf, rechtmäßig von mir behaupten zu dürfen, mutig zu sein und die richtigen, vernünftigsten Entscheidungen treffen zu können.
Sonst dachte ich nicht lange nach, bis ich mich für die ehrlichere und die Variante entschied, mit der ich selbst am besten klarkam.
Es war aber auch noch nie vorgekommen, dass Mum mich in diesem Maße hatte loswerden wollen. Wenn sie mich bei Grandma oder im Kindergarten abgesetzt hatte, hatte ich immer gewusst, dass sie überzeugt war, dass ich dort gut aufgehoben war. Und ich war überzeugt gewesen, dass sie mich nie irgendwo lassen würde, wo ich in Gefahr geraten könnte.
Das erste Mal seit sechzehn Jahren begann diese Überzeugung zu wanken. Und ich wünschte mir verzweifelt, wie mir klar wurde, dass sie nicht umgestürzt werden möge.
Innerlich seufzend strich ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Manchmal hasse ich es, vernünftig zu sein.
Mit diesem unvernünftigen, aber dennoch logischen Gedanken griff ich nach dem Schlüsselbund und machte mir nicht die Mühe, das Klirren zu vermeiden. Ihn in die Tasche gleiten lassend drehte ich mich in Richtung Esszimmer. Dort war das Klacken der Tasten verstummt.
Eine Sekunde später schoss Mum in den Flur.
„Ich hoffe du hast dafür gesorgt, dass ich all mein Gepäck mitnehmen kann“, sagte ich ruhig, bevor der Hurrikan Mum losbrechen konnte.
Mum wirkte empört über die unausgesprochene Unterstellung. „Selbstverständlich“, erklärte sie pikiert. „Du kannst so viel mitnehmen, wie du willst und fliegst First Class.“
Selbstverständlich.
„Gut.“ Ich drehte mich wieder um und öffnete die Tür.
„Wohin willst du?“, fragte Mum scharf.
„Zu Grandma. Und, ja, ich habe schon fertig gepackt. Fehlen nur noch das Ticket und der Pass.“ Über die Schulter sah ich sie mit gehobenen Brauen an.
Mum erwiderte meinen Blick gefasst. „Die gebe ich dir morgen.“
Dachte sie etwa ernsthaft, ich würde das Ticket zerreißen, verstecken, absichtlich verlieren oder sonst was damit anstellen? Eigentlich müsste sie mich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich nicht so tickte.
Mir jeden Kommentar diesbezüglich sparend, verkündigte ich: „Circa um acht bin ich wieder da.“ Damit ließ ich die Tür zwischen uns zufallen.
Ich klingelte und zwang mich, den Finger nach einer Sekunde wieder vom Klingelknopf zu nehmen. Viel lieber hätte ich Sturm geklingelt. Aber das verwarf ich.
Erstens hasste Grandma sowas.
Zweitens würde damit offensichtlich, wie sehr ich durch den Wind war.
Also klingelte ich, wie gesagt, nur eine Sekunde.
Grandma brauchte höchstens eine Minute, um mir aufzumachen, eine Zeitspanne, die mir wie Jahre vorkam.
Aber das war ja unwahrscheinlich. Schließlich soll ich die nächsten Jahre im Exil verbringen.
„Leah?“, fragte sie überrascht. „Was machst du denn hier?“
Ein Blick in mein Gesicht reichte und sie wusste, wie ich mich fühlte.
Das konnten nur drei Menschen: Grandma, Angus und Aymara. –Nein, meine Mum nicht.
„Was ist los?“, wollte sie besorgt wissen.
Ich biss mir auf die Innenseiten meiner Wange, um nicht sofort mit allem rauszuplatzen.
„Komm erst mal rein“, forderte Grandma mich auf und machte die Tür frei.
In dem kleinen, einstöckigen Haus meiner Grandmutter, das mich sofort mit warmer Freundlichkeit zu umgeben schien, fühlte ich mich beinahe sofort besser.
Grandmas Haus war ganz anders als unsere Wohnung. Es war gemütlich, mit dunklen Winkeln, in denen man sich verkriechen konnte, Landschaftsgemälden an den Wänden, Kissen und einem großen Kamin im Wohnzimmer, auf dem jede Menge Fotos der Familie, am meisten von mir, aufgestellt waren.
Dagegen war unsere Wohnung stets peinlich sauber und unpersönlich.
Die einzige Ausnahme bildete mein Zimmer, ein warmes, heimeliges Plätzchen im Eisreich, wie Aymara es auszudrücken pflegte.
Wie immer ließ ich mich in den dunkelroten Schaukelsessel vor dem Kamin fallen, Grandma nahm im braunen Platz. „Also?“, fragte sie erneut und musterte mich durchdringend.
Dafür, dass meine Grandma zweiundsiebzig war, war sie ganz schön auf Zack und sehr modern. So fand sie auch, dass Kinder in Entscheidungen der Eltern miteinbezogen werden und – ein Stück weit – auch mitbestimmen können sollten. Auch deshalb rechnete ich mit ihrer Unterstützung.
Ich platzte zuallererst mit dem Kern der Neuigkeiten heraus „Mum will mich nach Schottland abschieben!“ und erzählte ihr alles Genauere.
Als ich geendet hatte, ließ ich mich im Sessel zurückfallen und atmete tief durch.
Grandmas Miene hatte sich umwölkt. Was sie da gehört hatte, gefiel ihr offensichtlich nicht. „Niemand will dich abschieben“, erklärte sie ungewohnt scharf. „Ich weiß nicht, was Evelyn sich dabei gedacht hat. Und das wird sie mir erklären müssen. Ich rufe sie gleich mal an.“
Grandma bezeichnete Mum nie als ihre Tochter. Entweder sie umschrieb sie als „deine Mutter“ oder nannte sie bei ihrem Vornamen, Evelyn.
Erleichtert nickte ich.
„Du gehst am besten rüber zu Angus“, stellte Grandma fest. „Er wird sich freuen dich zu sehen, und vielleicht weiß er ja etwas über dieses Stonehaven. Ich gebe dir ein paar Plätzchen mit.“ Es war offensichtlich, dass sie mich aus dem Haus haben wollte, wenn sie Mum anrief.
„Geht klar.“
Nachdem Angus nicht öffnete, ging ich um das Haus herum –und tatsächlich: Er stand in seinem Kräuterbeet und gärtnerte.
„Angus!“
Beim Klang meiner Stimme hob er den Kopf und lächelte. Seine Augen blitzten.
Ich kannte niemanden, der lebendiger schien als der Schotte.
„Leah, da bist du ja mal wieder. Komm rüber!“
Mit einem Nicken sprang ich in einer einzigen, fließenden Bewegung aus dem Stand über den Zaun, der mir bis zum Bauch ging.
Der Schotte klatschte und Erde rieselte von den Gartenhandschuhen. Aus dem Beet tretend streifte er die Handschuhe ab und legte sie auf einen der Trittsteine, ehe er zu mir kam.
Er umarmte mich kurz herzlich und grinste zu mir hinunter. Der Mann war ein Riese. „Du wirst immer größer“, erklärte er, „und schöner noch dazu.“
Augenverdrehend boxte ich ihm scherzhaft in die Seite. „Und du machst immer noch so blumige Komplimente, wie es für Schotten in den Geschichten üblich ist.“
Angus lachte. Für mich war er wirklich der Inbegriff eines Highlanders aus den Geschichten. Nur Kilts verfluchte er regelmäßig.
„Komm“, sagte er dann und ich folgte ihm über den Rasen auf die Terrasse, wo er sich in einen Holzstuhl fallen ließ. Aufmerksam betrachtete er mich. „Na schön, was liegt dir auf dem Herzen, Leah? Ich merke doch, dass irgendwas los ist.“
Ich wurde ernst und stellte die Plätzchenschachtel auf den Holztisch, ehe ich mich in einem anderen Stuhl niederließ. „Was weißt du über Stonehaven?“
Kurz sah er verblüfft aus. „Nicht viel“, erklärte er bereitwillig. „Liegt an der Küste und gehört zu Aberdeenshire. Da gibt’s viele Burgen und Burgruinen in der Gegend. Ich glaube, mich zu erinnern, in meiner Jugend einmal Stonehaven Castle besucht zu haben. Aber mehr kann ich dir nicht sagen.“
Ich seufzte. „Glaubst du, es wäre schön, dort zu leben?“
Seine Brauen hoben sich etwas und er zuckte mit den Schultern. „Sicher ganz anders als hier, würde ich sagen.“
„Tja, sieht so aus, als würde ich das herausfinden.“
Er stockte. „Das musst du mir genauer erklären“, stellte er dann fest. Das tat ich. Leicht stirnrunzelnd folgte er meinen Ausführungen. Als ich geendet hatte, schüttelte er den Kopf. „Ich werde deine Mutter nie verstehen. Sie hat eine so wundervolle Tochter, und die schickt sie weg. Was hat deine Grandma dazu gesagt?“
„Sie telefoniert mit ihr.“
„Ah.“
Mehr musste ich nicht erklären.
„Du weißt, wie meine Einstellung zu deiner Mutter ist“, sagte er schließlich. „Obwohl ich mir ungern ein Urteil über Leute bilde, die ich nur aus Erzählungen kenne. Aber vielleicht will sie wirklich nur das Beste für dich.“
„Wieso kann sie nicht mich fragen, was ich denke, bevor sie mich irgendeinem Phantomonkel überlässt?“
Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht dachte sie, du willst vielleicht deinen Onkel kennenlernen“, stellte er offen fest. „Und das willst du doch auch, nicht wahr? Du willst einen deiner nächsten Verwandten kennenlernen. Und du willst die Person kennenlernen, die dir vielleicht etwas über ihn erzählen wird.“
Ich schwieg.
Es stimmte. Aber was, wenn mich dieser Onkel, von dem sich ein verborgener Teil von mir so sehr wünschte, ihn kennenzulernen, nicht mochte? Wenn er mich nur ehrenhalber nahm, weil ich die Tochter meines Vaters, seines Bruders, war und er meiner Mum die Arbeit erleichtern wollte, und nicht, um seine Nichte kennenzulernen? Und was, wenn ihn mein Anblick enttäuschte? Und seit wann war das mir überhaupt so wichtig? Seit ich erfahren habe, dass es ihn gibt, antwortete ich mir selbst.
Ich klingelte Sturm, diesmal.
Das war bei Aymara immer angebracht. Wenn jemand nur kurz klingelte, dachte ihre Familie immer, es sei nicht wichtig und beeilte sich demnach auch nicht, zu öffnen.
Also nahm ich den Finger erst vom Knopf, als meine beste Freundin die Tür aufriss und mir, kaum dass sie mich erkannt hatte, um den Hals fiel. „Oh Gott, Süße! Ich werde wahnsinnig, wenn du gehst! Was soll ich dann bitte gegen Vik und Jenna ausrichten? Was soll ich ohne dich machen? Was anziehen? Wer geht mit mir shoppen? Wer gewährt mir Zuflucht vor meiner Familie? Mit wem mache ich alles in der Schule? Und was wirst du ohne mich in diesem verdammten fremden Kaff mit einem wildfremden Onkel tun?“
Mit diesem Sturzbach an Fragen, von der ich keine beantworten konnte, zerrte sie mich in das Haus der Chaosfamilie Nummer eins, schlug die Tür hinter mir zu und weiter ging’s in ihr Zimmer durch einen Flur, der eigentlich breit war aber von mehreren überladenen Kleiderhaken, herumliegenden Schulsachen und nachlässig fallen gelassenen Taschen so beengt wurde, dass wir es vorzogen ihn im Gänsemarsch zu durchqueren.
In ihrem Zimmer, das vergleichsweise eine Oase der Ordnung in diesem Haus darstellte, ließen wir uns auf ihrem breiten Bett voller bunter Kissen auf der munter gepunkteten Tagesdecke nieder.
„Und? Hat deine Grandma irgendwas erreicht?“
Stumm schüttelte den Kopf.
Pace, Ays Hund, sprang neben uns aufs Bett und begrüßte mich mit einem kurzen Lecken meiner Hand. Wenn ich im Schneidersitz saß, waren Pace und ich auf gleicher Augenhöhe.
„Hey, Pace“, sagte ich, kraulte seinen Kopf und zerzauste sein Fell. Der weiß-schwarz gefleckte Hund drehte sich auf den Bauch. Die Bitte, ihn weiter zu kraulen, war unmissverständlich.
Ay grinste. „Er ist bei niemandem außer uns so.“
Das stimmte. Nicht einmal Brian, Ays Cousin, der ebenfalls in diesem Haus lebte, durfte ihn anfassen. „Ich hab versucht, mehr rauszufinden“, erzählte Aymara, „Aber keine Infos über jemanden in Stonehaven mit Nachnamen Greyknight gefunden, dein Onkel heißt also entweder anders, oder er ist unter dem Radar.“
„Hm“, machte ich. „Vielleicht gibt er sich auch nur als mein Onkel aus.“
Ay schüttelte den Kopf. „Nee. Wieso sollte er? Außerdem mag deine Mum ja vieles sein, aber dumm oder leichtgläubig sicher nicht.“
„Du hast recht“, stöhnte ich und ließ mich nach hinten sinken. Finster starrte ich an die Decke, bis eine Hundeschnauze sich vor mein Gesichtsfeld schob und Pace mir die Nase leckte. Ich musste kichern.
Dann kam mir ein Gedanke und ich hörte schlagartig damit auf. Sogar Pace verabschiedet sich schon von mir.
Als hätte der Hund dies gehört, sprang er abrupt vom Bett, rannte zur Tür und knurrte. Nur eine Sekunde später ertönte ein Klopfen.
Verblüfft sah ich Ay an. „Sieht so aus, als hättest du es geschafft, wenigstens einen deiner Verwandten zu erziehen.“
Sie grinste. „Das ist Brian. Er klopft neuerdings wirklich immer an. Sinneswandel oder so.“
Brian, ihr Cousin, wie gesagt, war ganz in Ordnung wenn man davon absah, dass er ein Junge war.
Wir drei hatten früher immer miteinander gespielt und waren immer noch Kumpel, auch wenn er immer weniger mit uns rumhing. Früher war er ‚der coolste‘ Junge der Schule gewesen, letztes Jahr aber was das anging von einem neuen Schüler abgelöst worden. Der Beliebteste schien er jedoch weiterhin zu sein.
Wenigstens war er seit seinem entsetzlichen Statusverlust nicht mehr mit Vik, der Schuldiva, zusammen. Seitdem war auch sein Verhältnis zu Ay wieder besser.
„Woher weißt du so genau, dass er es ist?“, hakte ich nach.
Ay schnaubte resigniert. „Weil er die einzige Person in diesem Haus ist, die anklopft. Anwesende ausgenommen.“
Ich warf ihr einen mitleidigen Blick zu.
Aymara war zwar Einzelkind, aber das Haus war trotzdem rappelvoll. Hier wohnten nicht nur sie und ihr Dad – ihre Mum war tot –, sondern auch…
ihre Großeltern väterlicherseits;
ihre Tante väterlicherseits und deren Mann;
ihr Onkel väterlicherseits und dessen Frau;
ihre zweite, alleinstehende Tante väterlicherseits;
ihr Cousin Brian (Sohn von Ays Onkel mütterlicherseits, seine Eltern waren seit Jahren irgendwo vor Kanada beim Segeln verschollen);
ihre Cousine Sue (Tochter der alleinstehenden Tante) und Sues kleine Schwester Louisiana.
Der Haushalt zählte also insgesamt zwölf Mitglieder. Und das Haus mochte zwar groß sein, soo groß aber nun auch wieder nicht, dass man sich nicht auf die Nerven fallen konnte.
So groß kann vermutlich kein Haus sein, ging es mir durch den Kopf.
Aymara erwiderte den Blick mit einer gequälten Grimasse, stieg vom Bett und öffnete.
„Ja, Lieblingscousin?“
Der braunhaarige Junge, der im Türrahmen lehnte, hob eine Augenbraue. „Ich bin dein einziger Cousin, Lieblingscousine.“
„Ja, das bist du, dem Himmel sei Dank. Noch mehr Verwandte könnte ich nicht ertragen.“
Die beiden tauschten einen leidgeprüften Blick.
Es war immer ein Genuss Brian zu sehen, den ich voll auskostete, wo Ay mir den Rücken zuwandte und er mich von seinem Standpunkt aus nicht sehen konnte. Auch wenn ich persönlich nicht auf Bri stand, vielleicht kannte ich ihn dafür auch zu gut und lange, so fiel auch mir immer wieder auf, wie gutaussehend er war mit seinem immer leicht gebräunten Teint, den er von seinem ursprünglich portugiesischen Vater geerbt hatte, den leicht verzottelten Haaren, seiner sportlichen Statur und Größe und dem kritischen, aufmerksamen Blick der verriet, dass er mehr zu bieten hatte als Armmuskeln.
„Also, was gibt’s?“, fragte Ay ihn ungeduldig. Ihr war, wie ich vermutete, noch nie wirklich aufgefallen, was für ein Hottie ihr Cousin war. Höchstens schloss sie es aus den Reaktionen anderer. Ich hielt es für sehr wahrscheinlich, dass Bri unter anderem genau das an ihr schätzte.
„Ich hab gehört, dass Leah hier ist.“
Ay warf die Arme in die Luft. „Dieses Haus hat Ohren!“
Ihr Cousin zuckte bloß die Schultern. „Du bist nicht die Einzige, die sich aufrafft wenn es an der Tür klingelt.“
„Sonst ist aber niemand so weit gekommen.“
„War ja auch nicht nötig. Also, ist Leah hier?“ Obwohl als Frage formuliert, klang es eher nach einer Feststellung.
Meine beste Freundin seufzte. „Ist sie. Komm rein.“ Mit diesen Worten ließ Ay ihn stehen, und kehrte aufs Bett zurück.
Brian grinste mir zu als er der Einladung Folge leistete. „Hey, Lee.“
Ich schenkte ihm ein Lächeln.
Er schloss die Tür hinter sich. Dann holte er sich Ays Schreibtischstuhl zum Bett und setzte sich drauf.
Wir sahen ihn erwartungsvoll an.
„Ich hab von der Krise gehört“, eröffnete er das Gespräch.
Ay ließ sich nach hinten fallen und Pace ließ sich neben ihr nieder, die Vorderpfoten und den Kopf auf ihrem Bauch. „Hat man in diesem Haus eigentlich null Privatsphäre?“
„Dass du das nicht schon selbst bemerkt hast, ist bewundernswert“, antwortete Brian. Es klang routiniert, als würde er das öfters sagen.
„Aber ich hab nur davon gehört, weil Sue gehört hat, mit welchem Theater du Leah an der Tür begrüßt hast.“
„Und die Kleine ist natürlich sofort zu dir gelaufen“, folgerte ich.
Brian grinste. „Tja, ich bin eben ihr Lieblingsverwandter.“
„ ‚Die Kleine‘ vergöttert ihn geradezu“, führte Ay immer noch auf dem Rücken liegend aus. „Das kommt nur, weil er ihr Mathe erklärt und weil er sie in der Sunfield unter seinen Schutz gestellt hat. Typischer Fall von Cousin macht auf großer Bruder.“ Sie fuchtelte in der Luft herum, was Pace neugierig verfolgte.
„Kein Grund neidisch zu sein. Du bist und bleibst meine Lieblingscousine, Ay. Und dich hab ich ja auch unter meinen Schutz gestellt.“
Das hatte Brian tatsächlich, genau genommen uns beide, als wir in die Primary kamen, also die Sunfield. Mittlerweile gingen wir natürlich längst auf die Sunhill-High, genau wie Brian ein Jahr über uns.
Wieder einmal fragte ich mich, wie er nur mit Vik, diesem Miststück, hatte zusammenkommen können. Ob er es nur getan hatte, weil das sein Stand als Schulking verlangte? Oder war er tatsächlich auf diese falsche Schlange hereingefallen?
Der Junge sah mich an, und hörte auf zu grinsen. „Hat deine Mum wirklich vor, dich abzuschieben?“
Ich hob eine Braue.
„Das hab ich mir so zusammengereimt“, erklärte er und winkte ab.
„Ja. Und ob das stimmt! Sie schickt sie zu ihrem Onkel“, antwortete Ay für mich.
„Aber ich dachte, dein Onkel wäre tot. Henry, oder?“
„Ja, schon. Sie schickt mich zum Bruder meines Vaters. Nach Schottland. Name unbekannt.“
Noch nie in meinem Leben hatte ich die Worte „Dad“ in Bezug auf meinen Vater verwendet, wie mir plötzlich aufging, als ich mir bei der Antwort selbst zuhörte.
„Nicht ernsthaft.“
Ich sah ihn nur an.
„Ernsthaft?! Aber das geht nicht. Ich meine, du kennst ihn doch gar nicht.“
„Das geht eben doch“, erklärte Ay und legte sich eine Hand über die Augen. Mit der anderen kraulte sie Pace hinterm Ohr.
Brians Miene verfinsterte sich. „Dagegen gibt’s doch bestimmt ein Gesetz. Es gibt doch quasi für oder gegen alles ein Gesetz.“
Ich lächelte traurig. „Das hat Ay auch gesagt. Aber wenn, dann werden wir es bis morgen nicht finden.“
„Pah!“, machte Brian und sah mich dann mitleidig an. „Das tut mir echt Leid für dich, Lee. Aber hey, jetzt siehst du wenigstens mal das Vereinigte Königreich und musst keine Collagen mehr aus Prospekten erstellen. Du kannst sie jetzt aus eigenen Fotos machen.“
Ich seufzte. „Nee, kann ich nicht. Du weißt doch, dass meine Kamera mir auf der Ausflugsfahrt ins Wasser gefallen ist.“
Damals hatten unsere und die Klasse über uns eine Bootstour gemacht. Und ich hatte es nicht über mich gebracht, es Mum zu sagen.
Nicht nur, weil ich eine gute Digitalkamera versenkt hatte. Sondern vielmehr, weil die Kamera Dad gehört hatte und ich genau genommen gar nichts von ihrer Existenz wissen dürfte. Hätte ich mir eine neue gekauft, hätte Mum sofort gefragt, wieso ich nicht die alte benutzte. Ihr war nämlich nie aufgefallen, dass es Dads gewesen war –ein Standartmodell. Aber hätte sie es herausgefunden… das wollte ich mir gar nicht vorstellen.
Ay hob den Kopf und warf mir einen verständnisvollen Blick zu. Sie wusste ebenso wie Brian, wie viel mir am Fotografieren lag.
„Das war nur Jennas Schuld. Dieses fiese Girl hat dir ein Bein gestellt, ganz sicher!“
„Blöd nur, dass sich das nicht beweisen ließ“, stellte ich fest.
Das ist immer das Gemeinste. Wenn jemand etwas macht und dann, wenn man ihn beschuldigt, tut, als wüsste er von nichts und man selbst steht als Lügner da, der die Schuld anderen in die Schuhe schiebt, um eigene Fehler zu kaschieren.
Noch immer erinnerte ich mich an die abweisenden Blicke meiner Klassenkameraden und denen aus Bris und Jens Jahr, nachdem Jen meine Vorwürfe abgestritten hatte. Warum sie ihr mehr geglaubt hatten als mir, war mir noch immer ein Rätsel.
„Ja, das war echt blöd“, stimmte Brian zu, „Aber ich glaube, da hätte ich eine Lösung. Wartet kurz.“ Damit verließ er das Zimmer.
Einen verblüfften Blick wechselnd zuckten Ay und ich die Schultern und warteten.
Kurz darauf kehrte er zurück, ein Päckchen unterm Arm. Er warf es mir zu und ich fing es schnell auf.
Grinsend meinte er: „Immer noch gute Reflexe.“
„Ihre sind besser als deine“, informierte Ay.
„Und deine, Kusinchen“, erklärte Bri ungerührt. Dann sah er mich an. „Was sagst du?“
Statt sofort zu antworten musterte ich erst einmal fassungslos das Päckchen. Es schien neu und völlig unangetastet. „Aber... das kann ich nicht annehmen!“
„Was ist es?“, fragte Ay neugierig.
Abwechselnd schaute ich vom Päckchen zu Brian.
Er übernahm für mich: „Eine Kamera. Genau genommen eine ziemlich gute, hab ich gehört.“
„Ziemlich gut?“, wiederholte ich fast ehrfürchtig, „Diese Kamera hat Spitzenklasse. Das Modell hier ist erst letztes Jahr rausgekommen und noch immer der Schlager.“
„Richtig. Ich hab sie im Januar zum Geburtstag von Tante Sylvia bekommen. Aber ich kann nichts damit anfangen. Du weißt ja, dass ich deine Collagen liebe, aber ich selbst mache eben keine Fotos. Ich bestehe darauf, dass du sie nimmst. Bei mir liegt sie eh nur rum.“
„Das ist wahr“, pflichtete Ay ihm bei.
Nur zögernd nickte ich. „Okay, wenn du meinst.“ Ich ging zu ihm und umarmte ihn fest. „Danke.“
„Keine Ursache. Und, Kusinchen? Was hast du für Leah?“
Dieses Mal regte Ay sich nicht erst lange über die Tatsache auf, dass Bri wusste, dass auch sie etwas für mich hatte. Vermutlich, weil es klar war.
„Infos. Ich hab alles Interessante im Internet über Stonehaven zusammen gesucht. Viel ist das nicht. War früher ein einfaches Fischerdorf und bla, bla, bla. Ich hab’s dir schon auf deinen Reader geschickt, zusammen mit einem Musikmix, den ich neu zusammengestellt habe, Songs die dir gefallen werden und Fotos. Ich hab auch ein bisschen Gälisch gefunden, aber das kannst du ja eh schon.“
„Danke“, sagte ich ehrlich nochmal und blickte dabei beide an. Sie winkten ab.
„Bleib bloß in Form“, mahnte Ay mich. „Ich will nicht, dass ich dich schlagen kann, wenn du zurückkommst.“
Ay und ich besuchten beide einen Kampfkurs in der Schule, in dem wir fast jeden Monat etwas Neues durchnahmen.
„Oh, da mach dir mal keine Sorgen, Kusinchen“, lachte Bri. „So weit wird es wohl nie kommen.“
„Haha“, machte Ay schnaubend.
Inzwischen wanderte mein Blick zu Ays Wecker. Überrascht registrierte ich, dass es schon nach sieben war. „Ich sollte langsam los.“
Plötzlich standen meiner besten Freundin Tränen in den Augen.
Sie stand auf und umarmte mich heftig. „Ich hab dich lieb“, schniefte sie. „Versprich mir, dass du zurückkommst.“
„Spätestens, wenn ich volljährig bin, versprochen.“ Auch mir saß plötzlich ein Kloß im Hals.
Ich nahm Pace in den Arm, richtete mich auf und drehte mich zu Brian um. Der schien auch nicht gerade glücklich. Er trat zu mir und nahm mich kurz in den Arm. Danach räusperte er sich.
Verdammt, er würde doch nicht auch noch losheulen?
„Pass auf dich auf, Lee. Wäre doch schade, so 'ne taffe Freundin wie dich zu verlieren.“
Ich nickte. „Ja, finde ich auch. Und du nerv Ay nicht zu sehr, bleib uneingebildet und bring deinen Verwandten bei, anzuklopfen. Pass auf dich auf. Und nochmal danke für die Kamera.“
„Alles klar.“
„Ich ruf dich an, Ay“, fügte ich hinzu.
„Das will ich dir auch raten“, drohte sie mir.
Ich zwang mich zu einem Lächeln, wuschelte noch einmal kurz durch Paces Fell, drehte mich dann um und verließ das Haus so schnell wie möglich.
Auf dem Gehsteig winkte ich noch einmal zu den beiden besten Freunden hinauf, die man nur haben konnte und die aus Ays Fenster zurückwinkten. Hastig wandte ich mich ab, damit sie die Tränen nicht sahen, die mir die Wangen herunterzurollen begannen.
Das Päckchen mit der Kamera fest umklammernd machte ich mich auf den Weg nach Hause.
Ein Zuhause, das ich für eine Ewigkeit hinter mir lassen würde. Die salzigen Tränen tropften auf das Päckchen und färbten den dunkelblauen Karton dort wo sie aufkamen schwarz.
Es regnete. Selbst der Himmel über Chicago schien mir sagen zu wollen, dass er mich vermissen würde.
Einzig das Geräusch der Scheibenwischer störte die Totenstille im Auto. Ich folgte der gemächlichen Bewegung mit den Augen. Hin –und her. Her –und hin. Irgendwie hypnotisierend.
Aber ich konnte mich nicht entspannen, weswegen das Ganze auf mich keinen Einfluss hatte.
Ob ich im Flugzeug schlafen würde?
Was, wenn ich Flugangst haben sollte?
Noch nie in meinen ganzen Leben war ich in ein Flugzeug gestiegen oder gar geflogen.
Ungewöhnlich für die Tochter der Besitzerin einer der größten und reichsten Firmen Illinois‘, sicher. Jedoch nicht für die Tochter einer Workaholic, die keine Zeit hatte, mit ihrer einzigen Tochter irgendeinen längeren Urlaub zu unternehmen.
Die einzige echte Gelegenheit, die ich je zum Fliegen bekommen hatte, war, als meine Klasse nach Prag reiste. Einen Tag vor der Klassenfahrt hatte ich eine Mandelentzündung bekommen und damit war die Fahrt, beziehungsweise der Flug, gestrichen. Ay war auch noch nie geflogen –die Mandelentzündung damals hatte ich von ihr. Deswegen hatte ich sie auch nicht nach ihren Erfahrungen fragen können. Und Bri, der schon mehrere Flüge hinter sich hatte, hätte mir nichts Hilfreiches sagen können: für ihn war so etwas keine Sache, über die man groß nachdachte. Typisch Junge.
Vielleicht hätte ich Steph anrufen sollen, eine Schulfreundin, die regelmäßig mit ihren Eltern auf Mallorca oder anderen Inseln Urlaub machte. Aber ich hatte nicht mehr daran gedacht.
Egal. Wenn ich flugkrank wurde, würde ich die Stewardess wie in den Filmen um Tabletten dagegen bitten, die hatten sie da sicher vorrätig. Und wenn ich Flugangst hatte, nun, dann würden das die längsten neun Stunden meines Lebens werden. Super Einstellung.
Schließlich beendete Mum die Stille. „Wenigstens wirst du jetzt die Highlands zu sehen kriegen. Ich dachte, das würde dich freuen.“
Auch sie war angespannt. Sie versuchte meisterhaft, dies zu verbergen, aber ich kannte sie zu gut: nach einem Streit mit Grandma war sie immer angespannt.
Trotzdem hoffte ich, dass sie zumindest zum Teil auch deswegen angespannt war, weil sie mich wegschickte.
Der Gegenstand meiner Überlegungen setzte den Blinker, als wir das Schild entdeckten, das uns mitteilte, dass wir die nächste Ausfahrt zum O'Hare nehmen mussten.
„Meine erste Reise nach Schottland hatte ich mir aus irgendeinem Grund anders vorgestellt“, erwiderte ich, eine Spur Verbitterung schwang in meiner Stimme mit. „Außerdem zählen Aberdeen und auch Stonehaven noch nicht zu den Highlands.“
Mum schluckte. „Na ja, wenigstens ist es Schottland“, sagte sie, während sie die Ausfahrt nahm.
„Ja“, sagte ich nur tonlos.
Schweigend nahm Mum etwas aus dem Fach zwischen uns und drückte es mir in die Hand. Ein Zettel.
„Was ist das?“
„Ein Zettel mit einer Adresse und zwei Telefonnummern.“ An ihrem Ton erkannte ich, dass sie auf 'Geschäftlich' umgeschaltet hatte.
Also musterte ich ohne weitere Fragen den Zettel.
Als Adresse war Evenfall Manor angegeben. Darunter standen zwei Nummern, eine Festnetz- und eine Handynummer.
Ich steckte den Zettel ein.
„Vor dem Flughafen wird ein Taxi auf dich warten, das dich hinbringt“, fuhr Mum fort.
Was, mein Onkel, der so scharf darauf war, mich nach Schottland zu bekommen, kam nicht mal selbst, um mich abzuholen?
„Der Taxifahrer hat eine genaue Beschreibung von dir, er wird dich erkennen. Wenn keiner zu dir kommt, ruf die Festnetznummer an.“
„Gut“, nickte ich.
„Halte deinen Pass und dein Ticket stets bereit“, fuhr sie mit ihren Instruktionen fort, „Da du erster Klasse fliegst, wirst du als erste zusammen mit den anderen Erste-Klasse-Passagieren einsteigen, und als Erste mit den anderen wieder aussteigen.
Lass dein Gepäck nicht aus den Augen.
Das Terminal, zu dem du musst, steht auf dem Ticket. Such dir am besten einen Warteplatz dort in der Nähe. Du darfst nichts zu Trinken durch die Kontrolle mitnehmen, wenn du also während des Flugs etwas trinken willst, dann kauf dir was in dem Shop, den es hinter dem Checkpoint gibt, oder im Flugzeug selbst.
Das Gleiche gilt für Essen. Flugzeugessen ist grässlich, sogar in der ersten Klasse, deswegen solltest du dir was im Shop kaufen.
Falls du dich noch im Flughafen umsehen willst, achte auf die Durchsagen. Der Flug wird angesagt. Wenn du dich verspätest, wirst du persönlich ausgerufen.
Dein Gepäck gibst du an dem Schalter, an dem dein Flug angezeigt wird, auf. Keine Sorge, wenn du das verwechselst, merken das die Angestellten.
Du kriegst die Sachen wieder, indem du in Aberdeen zu den Laufbändern, über denen dein Flug angezeigt wird, gehst und dort auf deine Sachen wartest. Dein Handgepäck kannst du mitnehmen, es wird nur am Checkpoint durchleuchtet.
Wenn du auf Klo musst, oder es sonst einen Grund geben sollte, aus dem du dein Gepäck kurz nicht im Auge behalten kannst, geh zu einem der Sicherheitsangestellten oder zum Infoschalter und bitte sie darauf aufzupassen. Wenn du ankommst, fühlst du dich vermutlich etwas komisch, wegen dem Zeitunterschied. Das Beste ist es dann, den Rest des Tages ruhig zu verbringen und zu schlafen, wenn dort Abend ist.“
Ich versuchte, mir all diese Anweisungen zu merken und in eine logische Reihenfolge zu bringen.
Himmel, wie sollte ich mir das so schnell merken?
Als ich jedoch alles noch mal durchging, stellte ich fest, dass ich alles noch wusste. Kam vermutlich von der Nervosität und der dadurch erhöhten Aufmerksamkeit.
Das war alles nicht fair! Normalerweise bekamen Leute, die in eine Situation wie diese gerieten, eine Abschiedsparty. Und normalerweise kamen Leute erst gar nicht in so eine Situation, stellte ich fest.
Mir fiel noch etwas ein, woran ich bisher noch gar nicht gedacht hatte. „Mum, brauch ich da nicht ein Visum oder so was?“ Immerhin war ich keine Europäerin.
„Nein. Dein Vater hat dafür gesorgt, dass du jederzeit in sein Land kommen kannst.“
„Heißt das, ich bin Schottin?“, fragte ich verblüfft. Schön, dass ich das auch mal erfuhr.
Ein Blick in meinen Reisepass hätte das sicher vorher offenbart, aber der war nun mal bei meiner Mutter in Verwahrung und weil ich die USA noch nie verlassen hatte, hatte ich ihn nie genauer inspizieren können –oder Neugier in die Richtung entwickelt.
Ihre Reaktion bestand aus einem gereizten Blick. „Selbstverständlich bist du Schottin, schließlich war dein Vater auch einer. Obwohl ich natürlich nachvollziehen kann, wenn du dich mehr als Amerikanerin fühlst. Wenn du mit deiner Frage allerdings meinst, ob du zwei Staatsbürgerschaften hast, kann ich deine Frage mit Ja beantworten.“
Meine Gedanken rasten. Ich war Schottin. All die Jahre hatte ich nach Großbritannien gewollt und nicht gewusst, dass ich selbst Britin war. Davon konnte auch Grandma unmöglich gewusst haben. Warum ging Mum so verschlossen damit um?
Und wurde die doppelte Staatsbürgerschaft für ein Kind normalerweise nicht erst nach dessen Geburt beantragt und anerkannt? Hatte mein Vater sich also wirklich auch noch nach meiner Geburt gewünscht, dass ich auch in seiner Heimat zuhause sein könnte?
Außerdem war soweit ich wusste die doppelte Staatsbürgerschaft zumindest hier in den USA ein Ausnahmefall. Ausländer die hier eingebürgert wurden verloren jede andere Staatsangehörigkeit, das wusste ich weil es hin und wieder zum politischen Diskussionsthema wurde, die Regierung wollte, dass man sich, wenn man dauerhaft hier leben wollte, auch zu den Vereinigten Staaten bekannte, sich für sie entschied. Vielleicht galt das nicht für Minderjährige wie mich, und ich musste mich erst mit der Volljährigkeit entscheiden? Oder es gab andere Ausnahmeregelungen?
Ehe ich nachhaken konnte, hielt Mum am Eingang zum O'Hare, dem Flughafen Chicagos.
Nach einem Moment des Schweigens stieg ich aus, wuchtete meine Koffer aus dem Kofferraum und setzte den Rucksack auf, den Regen geflissentlich ignorierend.
Währenddessen blieb Mum sitzen. Wir wollen ja nicht, dass das Mascara verschmiert.
Als ich alles hatte, ging ich wieder zur Beifahrertür. „Bis dann also. Ciao“, sagte ich mit Kloß im Hals.
Mum nickte mir zu. Sie schien vollkommen ungerührt von der Tatsache, dass sie mich eine unbestimmte Zeitlang nicht mehr zu Gesicht bekommen würde.
„Denk an das, was ich gesagt habe. Und benimm dich bei deinem Onkel.“
Kurz wartete ich, ob sie nicht noch mehr sagen würde. So wie ich es schon den ganzen Morgen tat. Doch dem war nicht so.
Also knallte ich die Autotür zu und sie fuhr ohne Verzögerung los. Ich starrte dem Auto nach.
Kein „Ich hab dich lieb“.
Kein „Pass auf dich auf“.
Oder sowas Obligatorisches wie „Ich drück dir die Daumen“ oder „Tut mir leid, aber es geht nicht anders“.
Nur ein „Benimm dich und hör auf mich“.
Plötzlich war ich dankbar für den strömenden Regen, der meine Tränen verbarg. Ich klammerte mich an die Halter meiner Koffer und wartete, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte – wo war nur meine Selbstbeherrschung geblieben? – ehe ich den O'Hare betrat.
Der Flug ging um zehn Uhr. Jetzt war es kurz nach acht Uhr.
Nachdem ich ausgerechnet hatte, wann ich ungefähr in Aberdeen landen würde, verzog ich das Gesicht.
Wenn der Flug hier um zehn startete, war es dort vier Uhr nachmittags. Plus die circa neun Stunden Flugzeit bedeutete das, dass das Flugzeug um ein Uhr nachts in Aberdeen landen würde. Großartig.
Dann würde ich mir ja gleich ein Bild von der Gegend machen können. Und wie ich dann Mums Jetlag-Tipp befolgen sollte, war mir schleierhaft.
Die Koffer hinter mir her ziehend blieb ich schließlich in der Mitte der Halle kurz stehen, um mich zu orientieren.
Nach kurzer Zeit entdeckte ich den Gepäckschalter mit meinem Flug und gab das Gepäck auf, was erstaunlich einfach vonstattenging.
Darauf begab ich mich auf die Suche nach dem Terminal, ehe ich kapierte, dass ich wohl erst einchecken musste. Okay. Also machte ich das.
Der Gang durch den Metalldetektor war nicht weiter aufregend, so einen hatten wir auch in einem der Hochhäuser gehabt, in denen wir mal gewohnt hatten. So kam ich also auch unbehelligt durch den Check-in.
Wieder machte ich mich auf die Suche nach dem Terminal, wobei ich wieder einmal feststellte: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Selbst, wenn nicht alle Schilder tatsächlich wegweisend waren, wenn es nach meinem Eindruck ging.
Am Terminal standen Leute, die den nächsten Flug gebucht hatten, meiner kam erst danach.
Also schlenderte ich herum. Kaufte mir etwas zu Essen und Zutrinken und setzte mich in ein Café von dem aus ich alles im Blick hatte und bestellte ein Salatsandwich.
Nicht zu glauben, dass in Schottland schon das Mittagessen durch war.
In einer kleinen Buchhandlung kaufte ich mir außerdem einen Fantasyroman, obwohl ich theoretisch genug Bücher auf dem Reader gespeichert hatte. Aber der Titel und der Klappentext klang ganz interessant… mit ebensolchen Leuten wie mir verdienten die Shops an Flughäfen erst ihr Geld.
Als mein Flug endlich ausgerufen wurde, kehrte ich zum entsprechenden Terminal zurück, Pass und Ticket in der Hand.
Tatsächlich durfte ich zusammen mit den anderen Erste-Klasse-Passagieren als Erste einsteigen.
Die anderen waren lauter Erwachsene, die mir Blicke zuwarfen, als hätte ich etwas verbrochen oder wäre ungebeten zu einem Clubtreffen gekommen.
„Mach dir nichts draus“, sagte eine blonde Frau um die zwanzig neben mir, als wir die Treppe ins Flugzeug hochstiegen. „Die gucken immer so, wenn Jüngere erster Klasse reisen.“
Ich nickte und schenkte ihr ein schnelles Lächeln, während an der Eingangstür zum Flugzeug nochmal alle Papiere kontrolliert wurden, bevor man uns durchgehen ließ. Wie ich feststellte, hatte die Frau, die schon beim Einstieg so freundlich zu mir gewesen war, den Platz mir gegenüber.
Die Plätze waren eher Sessel. Vielleicht würde ich es doch schaffen, eine Runde zu schlafen.
Sobald auch ich mich mit meinem Sessel und dem Gepäck arrangiert hatte, blickte ich hinaus. Unten liefen die Gäste zum Flugzeug, die nicht erster Klasse flogen. Dann wurde die Einstiegstreppe weggefahren.
Die Blonde beobachtete mich. „Dein erster Flug?“
„Ist das so offensichtlich?“, fragte ich zurück.
Sie lächelte. „Nein. Du hältst dich ziemlich gut. Aber dieses Schauspiel des Einsteigens und Wegfahrens ist nur einmal spannend.“
Das klang einleuchtend.
„Ich bin Sandra.“
„Leah“, erwiderte ich und schüttelte ihre ausgestreckte Hand.
Sandra lehnte sich wieder zurück. „Sieht so aus, als müsstest du mich die nächsten neun Stunden ertragen.“
Schulterzuckend erklärte ich: „Vielleicht schlafe ich auch für eine Weile.“
Sandra grinste. „Herzlichen Dank.“
Ich grinste zurück. „Was machst du in Aberdeen?“, fragte ich neugierig.
„Meine Eltern besuchen. Die leben in Stonehaven. Außerdem habe ich dort eine Lehrstelle bekommen.“
Schockiert starrte ich sie an. „Du bist Lehrerin?“
Lachend nickte sie bestätigend. „Oh ja. Gestatten, Miss Dr. Sandra MacFrazier. Ich unterrichte Deutsch und Geschichte.“
„Hm“, machte ich. War sie nicht etwas jung für ein abgeschlossenes Studium plus Doktortitel? Sie musste eine echte Überfliegerin sein, wirkte dafür aber recht normal.
„Und du? Was willst du in Aberdeen? Es sind doch keine Ferien, oder?“
„Nein. Ich besuche einen Onkel von mir und werde eine Weile bei ihm leben.“ Irgendwie widerstrebte es mir, ihr alles zu erzählen.
Paranoid wie ich war, erzählte ich Fremden selten etwas von mir. Immer noch besser, als irgendwem dein ganzes Leben auszuschütten.
„Klingt interessant.“ Und damit ging sie zu alltäglichen, unverfänglichen Themen über, als hätte sie meine Unsicherheit gespürt.
Zwischendurch unterbrach sie sich, als die Sicherheitshinweise durchgegeben wurden, und noch einmal, als wir starteten. „Hier“, sie hielt mir drei Gummibärchen hin. „Beim Start gehen einem immer die Ohren zu, wegen dem Druck. Lutschen hilft.“
„Danke“, sagte ich positiv überrascht, nahm die Gummibärchen entgegen und steckte sie mir in den Mund.
Da Sandra so völlig gelassen blieb als wir abhoben, fand auch nichts wirklich Einschüchterndes daran.
Das Flugzeug stieg und stieg. Ich sah hinaus und verfolgte, wie alles kleiner wurde, ehe wir durch die Wolkendecke stießen. Zuerst nur weiß, dann Sonnenschein.
Das Flugzeug ging wieder in die Waagerechte.
Nun blickte ich über ein weißes Wolkenmeer, das sich bis zum Horizont erstreckte. „Wow“, hauchte ich.
„Ja, nicht wahr. Dieser Anblick wird nie langweilig.“ Auch Sandra schaute nun hinaus.
Ich zückte meine Kamera und machte ein paar Fotos.
„Coole Kamera.“
„Danke. Das Geschenk eines guten Freundes.“
Sandra hob die Brauen und ich lächelte amüsiert. Diesem Irrtum waren schon viele erlegen. „Nicht so ein Freund.“
Mein Lächeln erwidernd begann Sandra, mir von ihrem Studium und ihrer Referendariatszeit zu erzählen und störte sich nicht daran, dass ich dabei nicht sie, sondern die Wolkenlandschaft musterte, in der immer mal wieder Lücken auftauchten durch die ich tief unten winzige Landschaften erkennen konnte.
Es wurde, zumindest nach meinem Zeitgefühl, viel zu schnell dunkel.
Logisch, wir flogen ja quasi in den Abend hinein.
Irgendwann musste ich dann wohl eingeschlafen sein, denn Sandra rüttelte mich leicht an der Schulter, bis ich die Augen öffnete. „Hey Schlafmütze. Du hast mehr als die Hälfte des Flugs verpennt. Letzte Nacht lange auf gewesen?“
Noch ganz verschlafen nickte ich auf diese typische Lehrerfrage hin.
Sie grinste. „Verständlich, wenn man das erste Mal fliegt, kriegt man vorher immer Muffensausen.“
„Die ganze Zeit hab ich mich gefragt, ob ich wohl Flugangst habe oder flugkrank werde“, gestand ich.
Lachend kehrte sie in ihren Sitz zurück. „Nun, diese Befürchtung kannst du jetzt getrost vergessen. Schau mal raus.“
Ich blickte in Dunkelheit als ich es tat. An meinem Spiegelbild vorbei sah ich eine dunkle Nacht, aber ich entdeckte auch Sterne.
„Der Mond ist von dir aus schräg hinten“, informierte mich Sandra.
Mich leicht vorbeigend und den Kopf drehend musterte ich die bleiche Sichel. „Wunderschön“, sagte ich, ehe ich näher zum Fenster rückte, um einen Blick nach unten zu werfen. Entweder brannte unter uns nirgends Licht, oder die Wolkendecke versperrte mir die Sicht, ich war mir nicht sicher, jedenfalls sah ich nur Schwärze.
„In zehn Minuten gehen wir zum Landeanflug über“, erklärte Sandra. „Ich dachte, da sollte ich dich besser wecken.“ Sie gab mir schon mal vier Gummibärchen.
Zum Dank nickend warf ich ihr ein kurzes Lächeln zu und sah dann wieder aus dem Fenster. „Ist die Landung anders als der Start?“, wollte ich wissen.
„Wenn die Maschine aufsetzt, ruckelt es ein wenig, ansonsten ist der einzige Unterschied, dass sich nun die Vorderseite zuerst nach unten neigt.“
„Gut zu wissen.“
Sie gab einen zustimmenden Ton von sich. „Wir werden wieder als erstes die Maschine verlassen. Wollen wir zusammen zu den Gepäckbändern gehen?“
„Gern“, stimmte ich sofort zu.
„Gut. Ach ja, wie kommst du eigentlich zu deinem Onkel?“
„Mit dem Taxi“, erwiderte ich.
„Alles klar.“
„Wie kommst du nach Stonehaven?“, stellte ich ihr so ziemlich dieselbe Frage.
„Ein Freund hat mir einen Wagen bereitgestellt, den ich online in Edinburgh gekauft habe. Er hat ihn hergefahren und auf einem der Parkplätze abgestellt.“
„Hört sich nach einem guten Freund an.“ Mit gehobenen Brauen sah ich sie an, doch sie grinste nur ohne jeden Hinweis auf Verlegenheit. „Er ist nicht so ein Freund. …Könnte es aber werden.“
„Oha.“
„Hast du hier schon Freundschaften oder kennst du hier Leute außer deinem Onkel?“
Ich erklärte nicht, dass ich meinen Onkel gar nicht kannte. „Dich?“
„Das heißt also nein“, lachte sie.
Zustimmend nickte ich.
Ehe sie wieder das Wort ergreifen konnte, ertönte eine Durchsage, dass nun alle auf ihre Plätze zurückkehren und sich anschnallen sollten. Die Durchsage wurde auf Gälisch und Deutsch wiederholt. Die Stewardessen machten eine Kontrollrunde ehe sie sich auf ihre Plätze zurückzogen. Ich steckte mir die Bärchen in den Mund. Das Flugzeug setzte zum Landeanflug an.
Sandra und ich warteten auf unser Gepäck. Wir hatten es uns gegenseitig beschrieben und hielten nun auch nach dem der jeweils anderen Ausschau.
„Da, ist das deine?“, fragte ich, auf eine dunkelgrüne Reisetasche deutend.
„Ja, danke!“ Sie schnappte sie sich, und auch den Koffer, der der Tasche folgte. Danach kehrte sie zu mir zurück, blieb noch zwei Minuten neben mir stehen und musterte wie ich das vorbeiziehende Gepäck.
Schließlich warf sie einen Blick auf die Uhr. „Hast du was dagegen, wenn ich jetzt gehe? Die Fahrt dauert zwar nicht lange, aber ich bin hundemüde.“
„Hättest eben auch schlafen sollen.“
„Nicht alle Leute können überall schlafen“, schnaubte sie.
Ich wurde ernst und beantwortete ihre Frage: „Nein, schon okay. Wir hätten uns dann ja eh verabschiedet.“
„Richtig.“ Sie umarmte mich zu meiner Überraschung kurz. „Viel Glück, Leah. Ich hoffe, dir gefällt Schottland und die Zeit bei deinem Onkel.“
„Danke. Viel Glück in deiner neuen Schule. Lass dich nicht von den Teenies rumärgern.“
„Bestimmt nicht“, versprach sie. „Ciao.“
„Ciao.“
Die einzige Person die ich auf dieser Insel kannte ging davon.
Bevor ich in Selbstmitleid versinken konnte, entdeckte ich meinen Koffer und zog ihn vom Fließband, kurz danach auch den zweiten.
Mit den Koffern rechts und links schlug ich die Richtung ein, die auch Sandra angestrebt hatte.
In einer neuen Halle angekommen, stellte fest, dass ich durch einen weiteren Checkpoint musste, allerdings stand ich nun vor einem kleinen Problem.
Sollte ich mich in die Schlange der Ausländer oder der Einheimischen einreihen?
Noch nie zuvor war ich in Großbritannien gewesen, obwohl ich Britin war. Gleichzeitig aber auch US-Amerikanerin, wonach ich persönlich mich sehr viel mehr fühlte. Wenn mich jemand fragen würde, ob ich Schottin war, würde ich wohl automatisch verneinen, egal was auf dem Papier stand.
Beide Schlangen waren überraschend lang. Ich hatte erwartet, die der Einheimischen wäre kürzer, aber tatsächlich standen dort mehr Leute. Vermutlich buchten nur wenige Urlauber oder Erstreisende Flüge, die in den dunklen Stunden nach Mitternacht landeten.
Sandra entdeckte ich in keiner der beiden Schlangen.
Seufzend zog ich meinen Pass aus dem Rucksack hervor und musterte ihn prüfend, als hätte ich ihn noch nie zu Gesicht bekommen, obwohl ich ihn mittlerweile recht gut kannte, weil ich ihn noch in Chicago studiert hatte. Ja, da stand tatsächlich beides in einem einzigen Pass, dabei hatte ich immer gedacht, Leute mit dopelter Staatsangehörigkeit hätten zwei Pässe. Vielleicht ging das mit einem Aufpreis, das beide kombiniert wurden, wenn man sie gleichzeitig ausstellte.
Weil ich nicht noch länger herumstehen wollte, entschied ich mich unsicher aber leicht eigennützig für die dezent kürzere Schlange der ausländischen Einreisenden. Gefühlt reiste ich ja auch als Amerikanerin ein, nicht als Britin oder gar Europäerin. Und europäisch sah mein Pass nun wirklich nicht aus.
Als ich schließlich an die Reihe kam, gab ich dem Beamten in dem gläsernen Kasten meinen Pass, in dem auch das Ticket steckte. Er inspizierte ihn sorgfältig, verglich das Foto mit meinem Äußeren und runzelte dann kurz die Stirn.
Statt weiter das Foto zu betrachten, sah er an dem Pass, den er hinter der Glasscheibe neben mein Gesicht hielt, vorbei und nun ausschließlich mich an. Musterte mich eingehender, nicht nur oberflächlich.
Er legte den Kopf schief.
Hinter mir stöhnte jemand. Die Überprüfung dauerte länger als bei meinen Vorgängern.
Ich fragte mich, was der Kontrolleur denn hatte. War irgendwas mit dem Pass nicht in Ordnung? Ich fand ihn ja auch irgendwie überraschend, hatte aber schließlich keine Vergleichsmöglichkeit. Aber in dem Fall würde der Mann doch eher den Pass ansehen und nicht mich, oder?
Tief durchatmend lächelte ich gezwungen.
Er sah mich noch eine Sekunde länger merkwürdig an, ehe er sich zu seinem Computer wandte und etwas eingab.
Hoffentlich nicht so etwas wie 'Code Red, illegale Einwanderin mit gefälschtem Pass'.
Einige Sekunden vergingen, in denen er konzentriert auf den Bildschirm starrte. Dann sah er wieder mich an und ein ehrliches Lächeln erschien auf seinen Zügen, das sich sehr von meinem gezwungenen unterscheiden dürfte. „Freut mich, dich kennenzulernen“, erklärte er und zwinkerte mir kurz zu, ehe er meinen Pass stempelte und mir zurückgab. „Stell dich das nächste Mal in die Einheimischen Schlange.“
Rotwerdend nickte ich schnell.
Jemand, vermutlich derselbe, der vorhin auch schon gestöhnt hatte, murmelte irgendwo in der Ausländer-Schlange: „Wie kann man nicht wissen, dass man in einem Land einheimisch ist?“
Der Kontrolleur warf einen scharfen Blick an mir vorbei zu dem Jemand ehe er wieder mich ansah. „Willkommen Zuhause.“
Mit einem gutmütigen Zucken des Kopfes entließ er mich und ich entfernte mich automatisch, womit ich den Checkpoint hinter mir ließ.
Als Letztes konnte ich den Kontrolleur sagen hören: „Ihr Passfoto ist unzulässig, Sir, ich fürchte, Sie müssen einen Moment warten, meine Kollegen kümmern sich dann um das Problem.“ Und ich konnte mir ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen.
Draußen war es im Vergleich zur fast schon stickigen Flughafenhalle ziemlich kühl.
Hastig schloss ich meine Lederjacke, die sofort den kalten Luftzug aussperrte, und sah mich um, entdeckte jedoch niemanden, die auf mich zukam oder auf mich warten könnte.
Also zog ich die Koffer zu einem windgeschützten Fleck, von dem aus ich alles im Blick hatte. Dieser glitt über die Taxis, die an einer Straßenseite aufgereiht waren, und deren Fahrer nur darauf warteten, dass jemand ihre Dienste in Anspruch nahm.
Ich hatte die Adresse. Vielleicht sollte ich mich einfach hinfahren lassen?
Noch nicht, entschied ich, packte einen Energieriegel aus, den ich in Chicago gekauft hatte, und biss herzhaft hinein. Immerhin hatte ich seit Stunden nichts zwischen die Zähne bekommen. Das Essen im Flugzeug hatte ich einfach verpennt.
„Hey, brauchst du 'ne Mitfahrgelenheit?“, sprach jemand mich an.
Ich sah auf, nichts Gutes ahnend.
Ein Mann stand vor mir und blickte mich fragend an.
Sein Äußeres war vertrauenserweckend, aber das hatte auch für Hitler gegolten …zumindest mehr oder weniger.
„Nein, danke, ich habe schon eine.“
„Tatsächlich? Wo denn?“
Ich schwieg.
„Dein Freund hat dich vermutlich sitzen lassen, Kleine. Fernbeziehungen sind so 'ne Sache, du verstehst?“ Sogar sehr gut, aber ich antwortete trotzdem nicht.
Aus dem Augenwinkel ließ ich den Blick suchend über die Leute schweifen, die alle ein Ziel zu haben schienen.
Würden die stehen bleiben und mir helfen, wenn ich um Hilfe schrie? Oder wäre ihnen das Risiko zu hoch, dass sie ihren Flug verpassen könnten oder später als erhofft zuhause eintrafen? In Chicago wäre es vermutlich so.
Aber das hier war nicht Chicago, wo ich gewusst hätte, wie ich mich in so einer Situation verhalten musste. Wo ich gar nicht erst in diese Situation gekommen wäre, weil Leute es einem ansahen, wenn man sich auskannte.
Doch hier schien offensichtlich zu sein, dass ich keinen Plan hatte, was ich tun sollte. Ich hatte eben nie lernen müssen, so zu tun, als wüsste ich, wie’s lief.
„Nein, ehrlich, kein Interesse. Ich komme zurecht, danke.“
Er ließ nicht locker. „Ist schon recht spät“, stellte er fest. „Um diese Zeit sollte ein Mädchen wie du nicht allein vor einem Flughafen rumstehen. Jemand könnte auf falsche Gedanken kommen.“
Da hatte er verdammt recht. „Ich komme zurecht“, wiederholte ich stur.
Mein suchender Blick verharrte bei einer Gestalt in dunkelgrünem Kapuzenpulli.
Der Jemand, ich war mir sicher, dass es ein junger Mann, vielleicht sogar ein Typ in meinem Alter war, lehnte im Schatten an der Außenmauer des Flughafengebäudes. Ihn richtig zu erkennen war mir unmöglich, es war, als hätte er sich absichtlich diesen Platz ausgesucht. Um nicht bemerkt zu werden. Tja, dieser Plan war ja nun offensichtlich fehlgeschlagen.
Aus irgendeinem Grund war ich sicher, dass er genau mich beobachtete.
Würde er einschreiten, wenn etwas passierte?
„Ist dir kalt?“, fragte der Mann, der nichts von meinem gedanklichen Ausflug registriert zu haben schien.
„Nein.“
Meine Antwort fand keinerlei Beachtung.
„In meinem Wagen gibt es eine gute Heizung.“
„Verzichte.“ Langsam wurden meine Antworten regelrecht pampig.
„Sei vernünftig, Mädchen.“
Während ich nur noch das Nötigste sagte, wurde er anscheinend immer ungeduldiger.
Die Härchen in meinem Nacken richteten sich auf. Etwas lag in der Luft. Ich konnte es spüren.
„Du willst doch hier nicht noch stundenlang rumsitzen“, sagte er.
In meinem Kopf baute sich Druck auf, den ich wegzuschieben versuchte, um klar zu denken. Der Druck gab nicht nach.
Ein Teil von mir wollte dem Fremden, der Bedrohung, wie ich mich selbst erinnerte, plötzlich Recht geben. In keinem Fall hatte ich vor, diesem Teil zu gehorchen. Bis zum absoluten Verlust meines Verstandes würde es nämlich noch ein Weilchen dauern.
„Du willst mit mir kommen. In meinem Auto ist es schön warm und ich fahre dich, wohin du willst.“
Dass ich nicht lache. Fehlt nur noch der Klassiker: 'Gegen eine kleine Gegenleistung.'
Die Hände zu Fäusten ballend grub ich mir die Fingernägel in die Handflächen.
Der Schmerz half mir, mich zu konzentrieren. „Nein. Ich werde ganz sicher nicht in Ihr Auto steigen.“
Der Druck in meinem Kopf verschwand kurz, ehe er doppelt so stark zurückkehrte und ich ein Ächzen nur knapp unterdrücken konnte.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie der Junge im Schatten sich anspannte, aber ich konnte mir keine Ablenkung leisten, also ignorierte ich ihn und starrte den Mann an. „Lassen. Sie. Mich. In Ruhe!“
Ehe er reagieren konnte, wurden wir beide abgelenkt. Der seltsame Druck verschwand und meine Hände entspannten sich ein wenig. In meinen Ballen prickelte es.
Ein Taxi hielt nicht weit entfernt mitten auf dem Gehsteig, der eigentlich nur den Leuten, die in den Flughafen hinein und aus ihm herausströmten, vorbehalten war, wie ein Schild nur einen Meter von dem Taxi entfernt in roter Schrift und mit Ausrufezeichen erklärte.
Ein paar Leute mit Koffern machten einen Bogen um das Fahrzeug und warfen ihm erboste Blicke zu.
Die Taxifahrer, von denen ein paar qualmend neben ihren Wagen standen, schauten neugierig und eine Spur neidisch hinüber.
Kaum war das Taxi zum Stehen gekommen, öffnete sich die Fahrertür und ein Mann Mitte vierzig stieg aus. Der Mann war ein Hüne, und ich fühlte mich irgendwie tröstlich an Angus erinnert, obwohl sie ansonsten keine äußerlichen Gemeinsamkeiten hatten.
Sofort hörten die Leute angesichts der Größe und Statur des Mannes mit den bösen Blicken auf. Doch dies Alles, das Schild, die Taxifahrer und die Leute, die ihm hastig auswichen, schien der Hüne gar nicht wahrzunehmen. Stattdessen steuerte er direkt auf mich zu und ließ den Mann vor mir dabei nicht aus den Augen. Der wich nicht von der Stelle, wofür ich ihm widerwillig Respekt zollte. Ich selbst war hinter einen meiner Koffer getreten und hatte so eine, wenn auch nicht sehr wirkungsvolle, Barriere geschaffen. Warum ich das nicht bereits früher getan hatte, war mir schleierhaft.
Der Hüne fixierte den Mann grimmig, als er vor uns, beziehungsweise vor dem Mann und meinem Koffer, stehen blieb. „Hallo, Klaus. Gibt es einen guten Grund, wieso du dich mit diesem jungen Mädchen unterhältst?“
„Ich habe ihr nur eine Mitfahrgelegenheit geboten“, erklärte der Mann, alias Klaus.
Einen unpassenderen Namen konnte ich mir für den nicht vorstellen.
„Ich fürchte, sie hat bereits eine“, erklärte der Hüne, wobei er nicht im Geringsten wirkte, als täte ihm das Leid.
„Oh“, machte Klaus, als wäre das etwas vollkommen Neues für ihn.
„Sorry, Jacque. Ich konnte ja nicht ahnen...“
„Ich bin sicher, sie hat dich darauf hingewiesen“, fiel ‚Jacque‘ ihm ins Wort.
Klaus räusperte sich. „Sie erwähnte etwas in der Richtung“, meinte er schließlich.
„Ich habe deutlich gesagt, dass Sie verschwinden sollen!“, platzte es aus mir heraus. Jetzt, als dieser Hüne da war, schien all mein Selbstbewusstsein wieder zurückgekehrt zu sein. Dabei konnte ich doch nun wirklich auf mich selbst aufpassen. Wieso hatte mich die Gegenwart von Klaus, als ich allein war, so sehr aus dem Gleichgewicht gebracht?
Um die Lippen des Hünen zuckte es. Mit gehobenen Brauen sah er Klaus an.
„Dann war das wohl ein Missverständnis“, erklärte dieser ungerührt.
„Ein Missverständnis?!“, echote ich.
„Das kann ich mir auch nicht vorstellen“, bestärkte Jacque herausfordernd.
„Du weißt doch, Amerikaner.“ Klaus zuckte die Schultern und ich starrte ihn ungläubig an.
„Ich weiß. Üben einen besonderen Reiz auf dich aus, was?“ Bei diesen Worten, einer Anspielung, die mir einen Schauder über den Rücken laufen ließ, starrte der Hüne Klaus finster an. Klaus erwiderte den Blick ebenso finster, warf dann die Arme in die Luft, grummelte irgendetwas und ging von Dannen.
Ich sah ihm nach, dann drehte ich mich wieder zu Jacque um. Zum zweiten Mal stellte ich fest, dass ich mir keinen unpassenderen Namen für eine Person vorstellen konnte. „Danke.“
Er nickte mir zu. „Keine Ursache.“ Damit griff er nach dem Koffer, hinter dem ich mich verschanzt hatte. „Gehen wir.“
Erleichtert und unsicher zugleich folgte ich ihm, nun nur noch einen Koffer ziehend, mit dem Rucksack auf dem Rücken. „Dann sind Sie der Taxifahrer, den mein Onkel engagiert hat?“
„In der Tat. Und du heißt Leah, richtig?“, fragte er zurück, während er die Koffer in den Kofferraum einlud.
„Ja“, bestätigte ich und nahm den Rucksack auf den Schoß als ich einstieg.
Der Hüne tat es mir gleich und schon fuhren wir los.
„Freut mich“, nahm er das Gespräch ohne Verzögerung wieder auf.
„Mich auch. Und noch mal Danke… Jacque?“
„Ja, genau, so heiße ich. Es gibt wirklich nichts zu danken, immerhin ist es zu diesem unschönen Erlebnis bloß gekommen, weil ich zu spät war. Also muss ich mich entschuldigen.“
„Nicht nötig. Es ist ja nichts passiert. Außerdem bin ich sicher, dass mir im Ernstfall jemand geholfen hätte“, der Beobachter im Schatten zum Beispiel, „und ich kann mich sehr gut verteidigen“, auch, wenn ich das vorübergehend vergessen hatte.
„Sowas ist immer gut“, nickte Jacque, während sein Ton eher nach einem zweifelnden „Mag sein“ klang, hakte aber dennoch nach. „Alles in Ordnung trotzdem?“
„Ja, doch, kein Grund zur Sorge“, versicherte ich ihm ein weiteres Mal.
Wir verließen das Flughafengelände, brachten auch Aberdeen hinter uns und fuhren auf der Autobahn nach Süden.
Mein Zeitgefühl hatte ich anscheinend irgendwo über Illinois zurückgelassen und fühlte mich dadurch seltsam losgelöst.
Die Augen starr nach vorn auf die Autobahn gerichtet, die nur von den Scheinwerfern erhellt wurde, spürte ich, wie sich die Müdigkeit erneut in mir ausbreitete. Im Inneren des Taxis war es wunderbar warm.
Rechts und links war nur Dunkelheit.
Irgendwie schade, dass mir die Aussicht entging. Nicht, dass ich sie in meinem Zustand zwischen Müdigkeit und Aufregung gebührend hätte würdigen können.
Schließlich brach ich das Schweigen. „Wie ist mein Onkel denn so?“, fragte ich.
Jacque zuckte zu meiner Überraschung mit den Schultern. „Keine Ahnung. Neulich hat mich jemand angerufen, ich weiß nicht, ob es dein Onkel persönlich war, und sagte, ich sollte dich heute vom Flughafen abholen. –Soll das etwa heißen, du kennst deinen Onkel gar nicht? Ich fahre dich zu einem Wildfremden?“ Das schien ihn nun doch zu beunruhigen.
Auch ich zuckte die Schultern. „Das trifft’s ganz gut.“
Er schnaubte. „Na ja. Denkst du wirklich, 's is' 'ne gute Idee, ganz allein zu 'nem Fremden zu ziehen?“
Wieder zuckte ich die Schultern, weil ich nicht den Kopf schütteln wollte. „Denken Sie denn, er ist gefährlich?“
Auf diese Gegenfrage hin lachte Jacque grollend. Von der Seite musterte ich ihn, beinahe schon fasziniert, und fragte mich, wie er überhaupt in dieses Taxi passte. „Nein. Oder, vielleicht. Aber für dich eher nicht. Unsere Familien sind für uns heilig.“
„Was wissen Sie denn allgemein über meinen Onkel? Oder haben Sie noch nie was von ihm gehört?“
„Jeder in Stonehaven und Umgebung hat schon von ihm gehört, Mädchen. Du hast wirklich keine Ahnung, wie? Na, dann kläre ich dich mal auf: Deinem Onkel gehört hier sehr viel Land. Das Meiste hat er verpachtet, an Bauern oder Firmen. Und er ist sehr fair, was die Preise angeht.
Nur ein Tal ist immer noch Privatgelände. Das Greylightdale. Und in diesem Tal liegt Evenfall Manor. Zumindest steht das so am eisernen Tor, dass die Straße zum Eingang des Tals versperrt. Wenn du wissen willst, wie das Manor aussieht… keine Ahnung. Man hört überhaupt nur wenig von deinem Onkel, obwohl er ein mächtiger Mann sein muss.“
Eine Weile schwiegen wir. Ich verdaute das eben Gehörte. Mir war schon der Gedanke gekommen, mein Onkel könnte in keinem normalen Haus leben, als ich 'Manor' las. Aber so etwas hatte ich dann doch nicht erwartet. Ganz abgesehen von den anderen Dingen. Meine Zeit hier würde wohl noch interessanter werden als ich gedacht hatte. Eins war klar: ein langweiliger Onkel erwartete mich schon mal nicht.
„Hier ging’s nach Stonehaven“, unterbrach der Hüne meine Gedanken.
„Mhm“, machte ich. Dann: „Wieso sind wir nicht abgebogen?“
„Wir müssen nicht nach Stonehaven. Wir müssen zum Greylightdale.“
Aha. Sehr informativ.
Wir fuhren noch eine Weile nach Süden, dann bog Jacque nach Westen ab und wir fuhren ins Landesinnere.
„Meine Mum meinte, er wohne in Stonehaven“, meldete ich mich wieder zu Wort.
„Das Greydale zählt in gewisser Weise noch zu Stonehaven. Zum Umkreis“, erläuterte Jacque.
Erneut folgte einvernehmliches Schweigen. Der berühmte britische Smalltalk hatte es entweder nicht aus England bis nach Schottland geschafft, oder es lag an der Uhrzeit –oder Jacque hatte bemerkt, wie müde ich wirklich war.
Schließlich hielt er an. „Da wären wir“, ließ der Hüne mich wissen und stellte den Motor ab.
Vor uns ragte dunkel ein Eisentor auf. Es hatte eine Doppelflügelöffnung und die Stangen waren zu einer Szene gebogen. Eine Sonne ging über einem Tal auf.
Irgendwie passend. ‚Graues-Licht-Tal‘; ‚Morgendämmerungsanwesen‘; dieses Tor…
Alles schien sich auf die Tageszeit zu beziehen. Die Zeit, wenn es Nacht und Tag zugleich war und alles in der Schwebe hing.
Normalerweise hätte mich diese Erkenntnis zu weiteren philosophischen Gedanken bewegt, doch heute war nichts normal und ich fühlte mich ebenfalls, als hinge ich in der Schwebe.
Also stieg ich lediglich aus dem Taxi, setzte mir den Rucksack wieder auf und betrachtete weiterhin das Tor, so gut es in der um uns herum herrschenden Dunkelheit möglich war.
Jacque ging um den Wagen herum und brachte mir meine Koffer.
„Danke fürs Fahren“, murmelte ich und wandte mich vom Tor ab. „Sie haben nicht zufällig eine Idee, wie ich da reinkomme?“
„Dein Onkel erwartet dich. Er wird sicher irgendwie vorgesorgt haben.“
Der Hüne klang nicht überzeugt.
„Na dann.“
Es brachte auch nichts, hier noch länger rumzustehen. Energisch griff ich nach den Koffern, sicher, dass Jacque schon bezahlt worden war, weil er nicht vor dem Aussteigen nach Geld gefragt hatte wie es in Chicago Brauch war. „Ciao.“ Zu spät ging mir auf, dass meine Großstadtmaßstäbe hier vielleicht keine Anwendung fanden, aber nun hatte ich den Eindruck, ich würde ihn kränken wenn ich fragte, ob ich ihm etwas schuldete.
„Viel Glück, junge Dame“, erwiderte er mit einem freundlichen Nicken, das mich beruhigte.
Sogar ein Taxifahrer konnte die Worte aussprechen, für die meine eigene Mutter sich zu schade war.
Mir selbst Optimismus predigend lief ich, die Koffer mitziehend, im Schein der Autoscheinwerfer bis ganz vors Tor.
Halb erwartete ich, dass es verschlossen sein würde –mit dem Optimismus und mir war das so eine Sache.
Aber als ich die Tür, die seitlich in den linken Torflügel eingefügt war, anstieß, schwang sie ohne den geringsten Widerstand lautlos auf.
Erleichtert drehte mich nochmal um.
Jacque war schon wieder in sein Taxi gestiegen und betätigte zum Abschied die Lichthupe, ehe er wendete.
Als ich durch die Tür ging und diese ebenso lautlos wieder hinter mir zu schwang, war das Geräusch des Taximotors schon weiter entfernt. Ich sah nicht zurück.
Die Koffer hinter mir herziehend folgte ich der Straße und verließ mich dabei völlig darauf, dass meine Instinkte mich warnen würden, wenn die Gefahr bestand, in etwas hineinzulaufen. Es war dunkel und die asphaltierte Straße selbst war am dunkelsten. Nach einigen Metern machte sie überraschend eine Kurve. Natürlich folgte ich ihr, voller Nervosität.
Ein dunkler Umriss schälte sich aus der Dunkelheit. Am Ende der Straße ragte ein großes Gebäude auf. Das musste Evenfall Manor sein. Einzig der Scherenschnitt war erkennbar, sonst schien das ganze Gebäude in absolute Schwärze getaucht zu sein.
Allerdings reichte dieser Scherenschnitt aus, um zu zeigen, wie groß das Manor war. Bestimmt vier Stockwerke hoch.
Unsicher blieb ich stehen und starrte mein Zuhause auf Zeit durchdringend an.
Vermutlich lag es an der Dunkelheit, dass es mir so unheimlich vorkam. Bestimmt. Ganz sicher.
Über mich selbst den Kopf schüttelnd wollte ich gerade weitergehen, als sich ein Schatten von der Hecke links der Straße löste.
Fast hätte ich einen Herzinfarkt gekriegt.
„Willkommen Miss“, sagte der Mann. Auch ihn konnte ich nur schemenhaft erkennen.
Er war durchschnittlich groß und kräftig gebaut; aufgrund seiner Stimme schätzte ich ihn auf Anfang fünfzig.
„Danke“, erwiderte ich unsicher.
„Willst du hier stehen und das Manor weiter anstarren, oder wollen wir reingehen? Du bist sicher erschöpft von der Reise, Miss.“
Wie gern hätte ich nun geantwortet: „Gehen Sie schon mal vor“, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass er dies tun würde.
Seine Stimme klang trotz der leicht ruppigen Worte kühl und distanziert. Ich beschloss, diese Tatsache zu ignorieren und plapperte, was völlig untypisch für mich war, einfach drauflos, weil ich so erleichtert war, auf einen Menschen getroffen zu sein und nun nicht mehr allein auf das dunkle Gemäuer zugehen zu müssen.
„Nein, eigentlich bin ich überhaupt nicht müde“, erklärte ich, auf seine vorherige Unterstellung eingehend und ein wenig flunkernd.
Wortlos nahm der Mann einen meiner Koffer
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Cover: Foto auf Cover: martinak15, „149/365 Damsel in Distress (+2)”, CC-Lizenz (BY 2.0) http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de Quelle: http://www.piqs.de
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2013
ISBN: 978-3-7438-7006-2
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