Für uns Wölfe unter den Menschen ist diese Nacht eine gnädige. Ich recke meinen Kopf zum Himmel und heule den Vollmond an. Das pelzige Gefühl auf der Haut kommt nicht von ungefähr, meine Verwandlung schreitet zur Vollendung. Ansonsten hat sich meine körperliche Verfassung nicht wesentlich geändert, jeden Morgen stelle ich fest, dass in mir Leben ist.
Es ist stickig heut Nacht. Ich weiß, mit den gewetzten Scharfkrallen, den gefletschten Reißzähnen würde ich Angst einflößend auf DICH wirken. Deshalb warte ich, bis DU das Licht löscht, bevor ich meine tierkörpergleiche Gestalt durch DEIN offenes Fenster schmiege.
DU sollst wissen, ich war nicht immer so …
* * *
Seinerzeit war Silber praktisch das einzige Handelsgut auf dem gesamten Weltmarkt. Das hatte seinen Grund: Die Zahl der Werwölfe – imposante Zwittergestalten aus Menschenkörpern und Tierköpfen - war in den letzten Jahren sprunghaft, zusehends einer Epidemie gleich, ja explosionsartig angestiegen, und bekanntlich vermag nur der Fangschuss mit einer reinen Silberkugel den Werwolf zu töten.
Jung aber desillusioniert vermisste ich in den Prophezeiungen des Nostradamus die entscheidende, wo es hätte folgendermaßen heißen müssen: Einige Dekaden nach der zweiten Jahrtausendwende werden die Werwölfe die Weltherrschaft erringen, gleichzeitig wird sich die Zivilisation rapide zurück entwickeln. So war es gekommen, wie es kommen musste, die einst als Ammenmärchen verunglimpften Werwölfe waren gegenüber den Normalsterblichen inzwischen in der Überzahl. Sie bildeten rund um die schon zunehmend entvölkerten, ehemaligen Metropolen – von New York bis Kalkutta, von Kapstadt bis London – undurchdringliche Belagerungsringe, die sie von Vollmond zu Vollmond, wenn sie in Rudeln die Straßenzüge nach neuerlichen Opfern durchkämmten, enger schnürten.
Das Berufsbild der zum Aussterben verurteilten Menschheit hatte sich sehr vereinfacht. Es gab die einfachen Malocher in den Silberminen und Diejenigen, die Silberhandel betrieben, und schließlich die Jäger, zu denen ich mich zählte. Meine Ration an Jagdsilber erwarb ich gewöhnlich unter der Erde, im maroden U-Bahnschacht, wo durchgerostete Waggonskelette auf kaum weniger zerklüfteten, lückenhaften Gleisen den Verfall der Hochtechnologie bezeugten (hier unten bekam ich jedes Mal meinen Nostalgischen!). Mein bevorzugter Händler entstammte einer Familie, die bereits in der dritten Generation vom Kaufen und Verkaufen lebte – seinen Vater und Großvater hatte man noch als Dealer kriminalisiert, wie er mit einem Anflug von Stolz zu berichten wusste. Synthetische Drogen galten damals als der Heilsbringer, nun war es allein Silber, Silber und nochmals Silber.
Er begrüßte mich freundlich und wir fachwerwolfsimpelten; der Preis je Kugel war weiter in die Höhe geschnellt, machte mittlerweile eine gesamte Wagenladung unverarbeiteter Grundnahrungsmittel aus (Geld als Zahlungsmittel war längst passé). Wenn ich nicht gerade in den raren Vollmondnächten Werwölfe jagte, war ich gezwungen anzupflanzen - irgendwie musste man das Silber ja bezahlen, die Abschussprämien deckten die Unkosten seit langem nicht mehr -, und ich erntete stattlich, bräuchte aber künftig Superernten. In Bälde schiene der Mond wieder volle Breitseite, nicht geizig gönnte ich mir fünf Kugeln. Oben stand der mit Naturalien beladene Wagen, den ich mit einem Maultiergespann her geschafft hatte, Treibstoff war eines der Dinge, wofür niemand mehr seine Arbeitskraft einzusetzen gedachte. Die meisten dieser Geschäfte beruhten ausschließlich auf Vertrauen, der Handeltreibende konnte nicht sicher sein, dass droben wahrhaftig ein beladener Laster auf ihn wartete und ich genauso wenig, dass das Silber rein war. Manch ein Händler pflegte es mit verwandtem Billigmaterial wie Zinn zu strecken, es zu vernickeln oder im Kern zu verbleien. Ich vertraute und schnipste ihm den Schlüssel für die Frachttür zu, das entleerte Gefährt würde er mir nachher stehen lassen, sorgfältigst verstaute ich die wertvollen Silberkugeln, verabschiedete mich per Handschlag und ging frohgemut meines Weges. Zuhause, im Bunker, stopfte ich mit kindischer Vorfreude die Munition in die Magazinkammern meines Präzisionsgewehres. Ich durfte mich mit Recht ein famoser Schütze nennen: Fünf Kugeln, das bedeutete im Normalfall fünf Werwölfe weniger, die die Welt geißelten. Am Abend sah ich dann dem Mond beim Reifen zu. In höchstenfalls 24 Stunden würde das Jagen und Gejagtwerden neuerlich beginnen.
Als die Nacht der lunaren Vollblüte hereingebrochen war, postierte ich mich auf dem Dach einer dreigeschossigen Wohnhausruine. Es war das höchste Gebäude im Umkreis, von dort besaß man Fernsicht und freies Schussfeld. Ungeduldig, das Gewehr beinah fortwährend schussbereit im Anschlag, harrte ich der Ankunft der schier unausrottbaren Bestien. Wie stets würden sich die Werwölfe zu Rudeln verschiedenster Stärke formiert haben. Durch die Anzahl der Kugeln in meinem Jagdtrieb limitiert, konnte ich maximal ein Rudel von Fünfen angreifen und müsste mich außerdem vergewissern, dass keine weiteren in der Nähe waren. Die Abschussprämie (Pflanzgut, was sonst!) bekam nämlich nur Derjenige, der den Abschuss nachweisen konnte, indem er vom erlegten Werwolf – unterdessen sich dieser zurückverwandelte – einen sogenannten Klauen-/Daumenabdruck nahm. Was beileibe keine ungefährliche Angelegenheit war, viele Jäger waren bei ebenjener Nachgangstätigkeit aus dem Hinterhalt gebissen worden und heulten jetzt, salopp gesprochen, ebenso mit den Wölfen.
Ich lauerte also auf dem Dach und hielt Ausschau nach einem zahlenmäßig geeigneten Rudel. Oder sollte ich besser Horde sagen, denn sie liefen aufrechter als dieser und jener Mensch, ihre Gangart hatte so gar nichts zombiehaftes, im Gegenteil, sie waren unheimlich flink und ausdauernd. Vor etlichen Monden, bei einem nächtlich unter Flutlicht stattfindenden, fehlterminierten - da in Vollmondnacht - Stadionsportfest purzelten sämtliche Kurz-, Mittel- und Langstreckenrekorde der Leichtathleten. Eine Rekordhatz sondergleichen hatte diese erste und bislang letzte Werwolfiade gezeitigt, auch was die dahingegangenen Menschenleben betraf.
Die halbe Nachts war sinnlos vergeudet - entweder waren es zu viele Werwölfe oder nur einzelne, die als Späher fungierten und eine gewaltige Nachhut hinter sich herzogen -, dann endlich! Dann endlich fing mein Nachtsichtzielfernrohr ein versprengtes Quartett ein. Vier Exemplare, eine Kugel würde ich übrig behalten, optimal, falls Unvorhergesehenes geschähe, ich in Kalamitäten der beißwütigen Sorte geriete.
Routiniert begann ich die Exekution, da die zotteligen Gestalten von zwei unverwüstlichen Laternen bestens beleuchtet über den gleichfalls verfallenen Parkplatz an der Frontseite der Ruine huschten. Meine Finger waren ruhig, viermal drückte ich ab: Biffbaff, biffbaff, biffbaff und ein letztes gedämpftes Biffbaff. Jeder Schuss ein Volltreffer, wie panisch die widerborstigen Wesen auch auseinandergelaufen waren. Silber ist sehr weich, was den Vorteil hat, dass es im Körper steckenbleibt, ihn nicht durchschlägt. Einzig mit Silber gespickte Werwölfe waren dauerhaft erledigt. Es gab reichlich schwarze Schafe unter den Jägern, die den abgeschossenen Untieren die Kugel später wieder heraus praktizierten, dadurch sowohl das silbrige Material als auch bedauerlicherweise den Werwolf gewissermaßen neu in Umlauf brachten.
Ich sondierte noch einmal das Umfeld, ehe ich zu den in einem Radius von zirka fünf Körperlängen Niedergeworfenen hinab stieg. Zückte das Kohlenstaub berieselte Papier, um fix ihre im Rückwandel befindlichen Pfotenabdrücke darauf zu bannen. Doch wie ich an meine erste vermeintliche Beute herantrat, bemerkte ich, dass die Rückumwandlung nicht im Geringsten eingesetzt hatte. Absonderlich! Ich stutzte noch, als die vier scheinbar leblosen Bestien plötzlich aufsprangen und mich in ihre tödliche Mitte nahmen. Mit eisigem Entsetzen gewahrte ich meine vollkommene Verlorenheit, ich konnte ja schlecht meine Reservekugel aufvierteln und jedem ein ihn aufhaltendes Viertel auf den Pelz brennen. Nein, es gab kein Entrinnen, ich sah haarigste Visagen mir fauchend entgegen drohen und wusste, dass ich nun rechtzeitig für meine fortan werwölfische Zukunft ein bisschen zu sterben hatte ...
Wie ich bereits ausführte, war der Silberhandel weitgehend Vertrauenssache. Kein Zweifel, der langjährige Händler meines Vertrauens hatte mir einsparungshalber faules Silber (im Volksmund Katzensilber) angedreht. Das war was, ausgerechnet er! Ich war von der Habgier, dem Materialismus, der Ichbesessenheit – von den ureigenen Schwächen des menschlichen Charakters bitterlich enttäuscht. Aber als sie mich anfielen und bissen, musste ich fast befreit auflachen, denn als einen von ihnen erkannte ich meine vormalige Vertrauensperson, meinen Händler, wie hatte ich mich zuletzt in ihm getäuscht! Trostreich, dass das Wort Vertrauen doch noch etwas galt, unter den Menschen. Er, der Tauscher und nunmehrige Täuscher, hatte nämlich nicht etwa mich, seinen Mitmenschen verraten, sondern nur zwischenzeitlich die Seite unfreiwillig gewechselt, zu den Wolfsmenschen, er einer von den anderen, damit war das Ganze ihm menschlich wahrlich nicht mehr zu verübeln.
Eine der letzten brauchbaren Erfindungen der Menschheit war übrigens die Zeitmaschine. Leider war nur eine Reise in die Vergangenheit möglich, leider auch eine ohne Wiederkehr. Aber was heißt hier leider? In der Vergangenheit würde ich in die Welt der Uneingeweihten eindringen, wo es Ungebissene in Hülle und Fülle gäbe. Muss ich hinzufügen, dass ich diese Reise eilig antrat? Genug von der hoffnungslos verwerwölferten Gesellschaft, genug vom auslaufenden Zeitalter des Nur-Menschen! Wehe euch Unglücklichen in den nichtsahnenden Zweitausendzehnern!
* * *
DU spürst es selbst: Heute haben wir nicht nur Vollmond, es ist zudem völlig windstill, wo doch sonst im November oft ein Westwind geht. Das Rascheln vor DEINEM Fenster, das bin ich! Zwar stecke ich in einer neuen … in einer Wolfshaut, aber vielleicht hast DU ja trotzdem für mich noch ein +1 auf der Freunde-Einladungsliste offen!? Lies jedenfalls endlich DEINE langweilige Geschichte zu Ende! Und schalte das verflixte Licht aus, DU verdammter Feigling!
E N D E
Halt, Moment noch! Einen letzten bescheidenen Wunsch mögest DU mir erfüllen: Entblöße DEINE Schulter, linksseitig DEINES Halses, los, nur ein kurzer Überwindungsmoment, dafür beißt es sich so sehr viel angenehmer!
Waaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhh!
E N D E E N D E
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle Pelzträger