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Kapitel 1

Es war schon beinahe beängstigend, was für einen Ausmaß die Rebellion inzwischen erreicht hatte. Was vor wenigen Jahren mit einer Gruppe frustrierter Jugendlichen begonnen hatte, war inzwischen zu einer riesigen, netzartigen Untergrundorganisation geworden, die mit Hilfe einiger weniger Kernmitglieder ihren Einflussbereich und ihre Mitgliederzahl ständig erweiterte.  Ihre Operationen wurden organisierter und großflächiger, es taten sich neue Geldquellen auf und durch geschickte Mundpropaganda vergrößerte sich ihr Unterstützerkreis stetig. Beinahe war es zu gut, um wahr zu sein.

Sie stand am Fenster und sah auf die Neuankömmlinge hinab, die in dem Außenparcours ihr Geschick bewiesen. Jeder Neuankömmling zwischen sechszehn und fünfzig Jahren, egal welchen Geschlechts, musste diese Ausbildung durchlaufen. Dabei wurden ihre Fähigkeiten von den erfahrenen Prüfern eingeschätzt und später entschied man, wer für den militärischen Einsatz geeignet war und wer nicht. Es kam manchmal vor, dass sich während dem Training, wenn die Neuankömmlinge an ihre physischen und psychischen Grenzen kamen, Absonderlichkeiten zeigten. Dies war Vermoës  Aufgabe. Mit scharfem Blick beobachtete sie die Gruppe, und ließ dabei einen etwa zwanzigjährigen Schönling nicht aus den Augen, der die Tortur am wenigsten zu ertragen schien. Missbilligend die Stirn runzelnd beobachtete sie, wie er sichtlich erschöpft nach Atem rang, bevor er sich mühsam daran machte, die nächste Runde zu absolvieren. Dabei hatte er noch zehn davon vor sich.

Die er natürlich nicht schaffte. Anstatt die Zähne zu zu beißen wie alle anderen, ließ er sich zwei Runden später auf die Knie fallen und bat flehend, aufhören zu dürfen. Neben ihm begann ein Mädchen, das höchstens siebzehn sein konnte, mit schmerzverzerrtem Gesicht die nächste Runde. Sie wusste, was auf dem Spiel stand, und sie kämpfte. Doch der Schönling dort unten… Er hatte nie gelernt, dass es Dinge im Leben gab, für die man kämpfen musste. Vermoë wandte sich ab, als er von den Trainern auf die Füße gezerrt und weggetragen wurde. Leise seufzend machte sie sich auf dem Weg zum Befragungsraum. Auch diesmal würde der Junge seine Lektion nicht lernen. Er würde nicht die übliche Prozedur, nämlich kopfüber in den eiskalten See geworfen zu werden, hinter sich bringen müssen. Sie durften seine Loyalität nicht verlieren, sonst würde es schwieriger werden, an die gebrauchten Informationen zu kommen.  Wobei es wirklich schade war, sie hätte seine Reaktion unheimlich gerne gesehen. Spöttisch lächelnd betrat sie den Raum, wo der erschöpft aussehende Junge auf seinem Stuhl kauerte und sich augenscheinlich selbst bedauerte. „Guten Morgen, Leutnant Hoke.“ begrüßte mich einer der Ausbilder, der mir kurz zunickte und dann den Raum verließ. Dann war ich mit dem Jungen zusammen. Auch wenn er nicht viel jünger war als Vermoë, waren sein Gesicht, seine Haltung und sein Betragen so völlig unterschiedlich von den Soldaten der Rebellion, die in seinem Alter waren,  dass sie ihn kaum als Erwachsenen betrachten konnte. Eingeschüchtert sah der Junge sie an und wagte es anscheinend nicht, sie zu grüßen. Sie beschloss, diese Formalität zu übergehen und stellte sich kurz vor. „Leutnant Hoke. Ich bin zuständig für die neuen Rekruten und werde Ihnen ein paar Fragen stellen.“ Sie sah ihn eindringlich an.

Hokes Gestalt war wirklich eindrucksvoll. Der Mann bestand aus mehr Muskeln als Fett und Knochen, seine Gestalt war riesig, seine Augen stechend, aber sie vermittelten dennoch einen klugen und fairen Eindruck. Am Tag zuvor hatte Vermoë ihn gebeten, ihr die Befragung zu überlassen und sie in seiner Gestalt durchführen zu können.  Er hatte eingewilligt und saß nun in einem Überwachungsraum nebenan und sah das Gespräch durch eine Kamera. Es war wirklich wichtig, in diesem Gespräch so viele Informationen herauszubekommen wie möglich. Sie musste feststellen, ob der Plan, den der Anführer der Rebellen ihr vor kurzem unterbreitet hatte, für dessen Umsetzung ihnen bisher allerdings die Informationen gefehlt hatten. Dieser Plan könnte alles ändern, und vielleicht war dieser Junge ein Schlüssel zu seiner Umsetzung. „Rekrut Bedor. Heute haben wir schon einmal festgestellt, dass die körperliche Seite nicht ihre Stärke zu sein scheint. Sie sind gleich durch den ersten Test gefallen. Das passiert nur bei knapp zehn Prozent unserer Rekruten. Um sie aufnehmen zu können, müssen Sie uns allerdings von ihren Stärken überzeugen“ fuhr sie fort und beobachtete ihn, wie er immer weiter auf seinem Stuhl zusammensackte. „Anscheinend ist ihr Wille, den Rebellen beizutreten, nicht so ausgeprägt wie sie es gestern meinen Kollegen versichert haben. Man hat Sie, einen Cousin des Regenten, schließlich nicht einfach so aufgenommen. Wir können, wie wir heute gemerkt haben, damit rechnen, dass sie früher oder später aufgeben und heulend zu ihrem Cousin zurückkehren werden.  Natürlich nicht, ohne ihm alle Details über dieses Rebellenlager zu verraten. Oder gibt es etwas, was uns vom Gegenteil überzeugen kann?“  Bedor blickte auf, für einen kurzen Moment ließ er seinen Blick Hokes Gesicht streifen, um dann wieder auf seine nervös ringenden Finger zu schauen. Vermoë schwieg eine Weile, wissend, dass ihr Schweigen ihn schlussendlich noch mehr unter Druck setzen würde als weitere Reden. Und wieder behielt sie Recht. „Ich.. er .. ich werde nicht zurückkehren, Leutnant Hoke. Ich habe … endlich … erkannt, was für ein Mensch er ist. Alles, was er je für mich und meine Familie getan hat, tat er, um gut da zu stehen. Als wir es wirklich brauchten, hat er uns im Stich gelassen. Leutnant… ich bin mir sicher! Ich will ihnen helfen!“

Er wirkte wirklich verzweifelt. Durch den Anschluss an den Lügendetektor am Vortag hatten sie ausgeschlossen, dass er ein Spion war. Dennoch war diesem Jungen nicht zu trauen. „Nun, es gibt da etwas, wobei sie uns helfen könnten.“ schlug sie, bemüht, ihre Stimme möglichst neutral zu halten, vor. „Ich kann Ihnen natürlich nicht verraten, worum es genau geht. Aber wir planen schon länger eine Operation, in der ihr Cousin eine wichtige Rolle spielt. Deshalb brauchen wir so viele Informationen über ihn wie möglich. Damit meine ich die Informationen, die nur ein Insider des Palastes kennen kann. Nicht seine politischen Meinungen oder Handlungen, sondern vielmehr persönlichere Informationen.“ Innerlich spannte Vermoë sich an, als sie die Reaktion des verwirrt aussehenden Jungens erwartete. „Natürlich wären wir bereit, ihnen dafür entgegen zu kommen. Beispielsweise könnten wir eine Erleichterung ihrer Grundausbildung organisieren. Oder ein Einzelzimmer.“ Wieder schwieg sie und wartete auf eine Reaktion. „Nun, ich habe … eigentlich habe ich meine Entscheidung ja schon getroffen. Wenn ich zu ihnen komme, dann… Nun ja .. dann ganz. Was wollen Sie wissen, Leutnant Hoke?“ fragte er und schaffte es endlich, den Blick zu heben und in Hokes Augen zu schauen.

 

-.-.-

 

Tatsächlich. Bedor Krag erwies sich als nützliche Informationsquelle. Er konnte auflisten, welche Termine sein Cousin am liebsten an welchen Tagen wahrnahm, wie viele Wachen sein Zimmer bewachten, in welchen Teilen des Palastes er sich am liebsten aufhielt. Er nannte eine Liste mit seinen Affären, seinen Lieblingsmarken und Lieblingsautos. Bedor konnte sogar einen Einblick in die Freizeitgestaltung des Regenten geben. Alle diese Informationen wurden aufgelistet und in die Systeme eingeschleust, sodass der Plan wuchs und gedieh. Aus einer Idee wurde ein Konzept, an dessen Umsetzung Vermoë wohl oder übel mitarbeiten musste. Der Plan war revolutionär, und unheimlich riskant. Am wenigsten gefiel ihr jedoch die Tatsache, dass sie die entscheidende Rolle bei diesem Plan innehatte.

 

Sie versuchte, ihre Nervosität auf den üblichen Wegen loszuwerden. Sie transformierte sich in den Körper eines kleinen, schwachen Mädchens und absolvierte, nachts, als sie keiner sehen konnte, den Trainingsparcours. Sie konnte sein, wer sie wollte, so stark sein wie sie wollte. Sie konnte innerhalb von Milisekunden in einen Körper schlüpfen, mit welchem ihr die Runden im Trainingsparcours wie ein Witz vorkamen. Doch das wollte sie gar nicht. Die Runden mit einem Körper zu absolvieren, wo jeder Schritt wehtat und man jede Sekunde kämpfen musste, nicht aufzugeben, war eine Herausforderung, die jede Zelle des Körpers beschäftigte. Sie wusste, dass es für sie keine physischen Grenzen gab. Doch dafür erschienen ihr die mentalen nicht selten umso beengender. Wenn sie es dann schaffte, den Parcours absolvierte und damit die Grenzen ihres Geistes überwand, fühlte sie sich grenzenlos und unbeschwert.

Sie experimentierte mit ihren Kräften, um sich abzulenken. Die Figur eines Athleten zu formen, mit der sie die Rekorde mit Leichtigkeit brach. Einen Körper so lange in die Höhe spriessen zu lassen, bis die Wirbelsäule beinahe entzwei sprang.

Und das schwerste von allem: Ihren Körper so genau an die Färbung des Hintergrunds anzupassen, dass man sie nicht mehr sehen konnte, wenn sie sich nicht bewegte.

 

Doch nichts schien zu helfen. Selbst in den extremsten Herausforderungen, die sie an sich selber stellte, kehrten ihre Gedanken oft zu ihrem Auftrag zurück, was sie beinahe wahnsinnig machte. Sie fühlte sich unglaublich einsam, weil alle anderen Donas auf eigenen Missionen waren. Und zu den Menschen hier in dem Rebellenlager, die nichts von ihren Fähigkeiten ahnten, hatte sie nicht viel Kontakt.  Dieses Lager war eigentlich nur für die Rekruten gedacht, die Anweisungen kamen von den anderen Lagern. Eigentlich wäre Vermoë über jeden anderen Auftrag froh gewesen, nur um aus der Langeweile und Einsamkeit fliehen zu können, die sie hier umgab. Doch diese Mission war anders. Sie würde ihren Stolz tief vergraben und all ihre Fähigkeiten zum Einsatz bringen müssen, um diese Mission zu beenden. Und wenn es gelang, wäre dies vielleicht der Schlag, der gebraucht wurde, um die Grundfesten des Systems gänzlich zu erschüttern.

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Tag der Veröffentlichung: 02.05.2016

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