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Kapitel 1 Die Irren

 

„Du wirst hier nie wieder herauskommen. Du wirst dir ansehen, was du getan hast, bis an dein Lebensende.“ höre ich eine sanfte Stimme in der Dunkelheit. Ich weiß nicht, wo ich bin. Es ist warm, jemand ist bei mir. Ich bin total benommen, höre die Stimme wie durch einen Nebel. Was soll ich getan haben? Ich habe in meinem ganzen Leben nichts Böses getan. Die Stimme gehört nicht Rolf, meinem Exmann. Der könnte vielleicht annehmen, ich sei böse. Aber ein Fremder? Was könnte ich dem getan haben? Wie soll ich es sehen, wenn es dunkel ist? Was soll ich mir ansehen? Ich gebe ein leichtes Stöhnen von mir, als ich feststelle, dass ich mich nicht bewegen kann. Ich bin gefesselt an Händen und Füßen. Bis an mein Lebensende. Damit meint er bestimmt nicht mein natürliches Ende. Er will mich umbringen. Großer Gott! Ich befinde mich in der Gewalt eines Mörders. Wer weiß, was er mit mir vorhat, bis dann mein Ende eintritt. Ich bekomme Panik. Zum Glück bin ich ja nicht geknebelt und kann frei atmen. Das ist aber auch alles, was ich kann. Ich zerre an meinen Fesseln. Schreien kann ich nicht. Mein Mund ist derart trocken, dass meine Zunge am Gaumen klebt und meine Lippen aufeinander.

„Bemüh dich nicht. Das kostet dich nur Kraft. Und du wirst sie noch brauchen.“ sagt er. Er hört sich fast zärtlich an, fürsorglich. Er ist irre. Ich bin in der Hand eines Irren! Wie bin ich hierher gekommen? Ich hatte eine Verabredung in einem Hotel. Ich bin oft in Hotels verabredet. Seitdem ich meine Arbeit aufgegeben habe, ist das meine Arbeit. Ich treffe mich mit Fremden. Sie sind meist nett, einige arrogant, manche schüchtern und verklemmt, aber noch nie hat mir jemand Angst gemacht, so wie dieser Mann mit der zärtlichen Stimme. Ich hatte schon Todesangst. Ich kenne dieses Gefühl. Rolf konnte es durch seinen bloßen Anblick in mir hervorrufen. Aber der Mann ist nicht Rolf. Ich bin scheinbar auf einem Bett gefesselt und er sitzt neben mir auf der Bettkante. Er riecht gut. Im Moment höchster Panik fällt mir das auf. Es ist ein teures Aftershave, ich kenne es, manche meiner Gäste haben es schon getragen. Könnte es einer von denen sein? Aber die Stimme kommt mir nicht bekannt vor. Ich bin sicher, diesen Mann noch nie gesehen zu haben. Ich kann auch nicht einschätzen, wie alt er ist. Wer mag das sein?

Der Mann bewegt sich nicht. Er kann mich nicht beobachten, denn es ist komplett dunkel. Man sieht nichts, keine Konturen des Zimmers, gar nichts. Er wartet auf eine Reaktion, glaube ich. Oder er lauscht auf meinen Atem, der stoßweise geht. Ich darf nicht hyperventilieren, schießt es mir durch den Kopf. Das macht es noch schlimmer. Mir ist einmal ein Patient auf dem Stuhl zusammengebrochen, weil er eine solche Angst vor mir hatte. Ich bin Zahnärztin gewesen in meinem alten Leben.

Ich bin Maja Feldmann. Ich habe Rolf überlebt und ich werde auch diesen Mann überleben, versuche ich mir zu sagen. Diese zwei Sätze, daran werde ich mich festhalten. Ich habe Rolf überlebt. Und deswegen hat er mir diesen Mann geschickt, damit ich den nicht überlebe. Rolf hat ihn geschickt, mich zu entführen. Jetzt bekomme ich die Quittung dafür, dass ich mich von ihm befreit habe. Er hat diesen Mann beauftragt, es mir richtig zu zeigen und mich dann zu erledigen. Das würde zu Rolf passen. Das könnte seine Idee sein. Er macht es nicht selbst. Das bin ich nicht wert. Er bezahlt jemanden dafür.

„Hast du dich beruhigt? Du hast sicher Durst.“ sagt er freundlich. Er hält mir etwas an den Mund und ich spüre etwas Nasses. Er gibt mir etwas zu trinken. Ich werde nicht sofort sterben. Er will mich erst leiden lassen. Er will, dass ich sprechen kann. Er will meine Panik hören. Ich soll betteln. Das wird ihm Freude machen. Ich trinke hastig. Es ist Eistee, glaube ich. Sicher bin ich nicht. Hoffentlich ist nichts darin, das mich nachher in Krämpfen verenden lässt. Ich werde nicht sprechen. Der bekommt keinen Ton von mir zu hören. Das wird ihn aus dem Konzept bringen. Ich bin so quirlig und eilig, so energiegeladen, er wird erwarten, dass ich jetzt rede. Er kennt mich. Er will mich zum Reden bringen, ich hatte schon immer ein großes Mundwerk und würde jeden aggressiv anfahren, der mir etwas will. Aber diesem Irren werde ich den Gefallen nicht tun. Ich werde schweigen, ihn meine Verachtung spüren lassen. Ich taste mit den Händen herum. Ich bin nicht mit Handschellen gefesselt.

Es könnten Lederriemen sein. Oder etwas anderes, weicheres als Metall. Ich kann einen Bettpfosten fühlen. Wie eigenartig. Das ist mein Bett. Ich liege in meinem Bett, gefesselt. Ob es ein Traum ist? Einer dieser ewigen, wiederkehrenden Alpträume, die mich quälen, jede Nacht, die mir Schlaf unmöglich machen, die es mir unmöglich machen, meiner regulären Arbeit nachzugehen, weil ich fahrig und unkonzentriert bin am nächsten Morgen? Es ist ein Alptraum. Bestimmt. Einer, der völlig anders ist. Der eine andere Bedeutung hat als der Traum, der mein Leben bestimmt. Der Traum, der mich immer wieder und wieder erleben lässt, wie Timmi, mein kleiner Sohn, in meinen Armen seinen letzten Atemzug tut. Ich fühle, wie mir Tränen über das Gesicht laufen. Wo ist Timmi? Ich will den Traum mit Timmi. Ich habe keine andere Möglichkeit, mit ihm zusammen zu sein als nachts in diesem Alptraum. Ich erlebe diese Szene immer wieder. Nur das Gefühl, das ich dabei habe, ist im Traum ein anderes. Als Timmi starb, fühlte ich Erleichterung darüber, dass seine Qual ein Ende nahm. Aber im Traum fängt sie für mich erst an, jede Nacht ist da das Gefühl des Verlustes, der Hilflosigkeit. Wenn ich jetzt darum bitte, dass Timmi kommen möge, vielleicht ist es dann anders. Vielleicht kann ich ihn loslassen.

„Wo ist Timmi?“ frage ich mühsam mit einer fremden, tonlosen Stimme.

„Wer ist Timmi?“ fragt der Mann neugierig.

„Mein Sohn. Wo ist er? Ich will von Timmi träumen. Ich will nicht diesen Traum. Ich will den Traum mit Timmi. Bitte.“ sage ich flehend.

„Du träumst von deinem Sohn? Warum?“

„Weil er tot ist. Weil er tot ist. Bitte.“

Warum wache ich verdammt noch mal nicht auf? Das kann doch nicht wahr sein!

„Wärest du auch gerne tot?“

„Ja. Dann wäre ich bei ihm. Ich bin seine Mama.“ sage ich. Warum versteht er das nicht? Was hat er in meinem Traum verloren? Er soll weg gehen und Platz machen für Tim.

 

Als ich erwache, scheint die Wintersonne in mein Schlafzimmer. Ich liege nackt im Bett. Ich habe mich wohl ausgezogen, weil ich wieder so geschwitzt habe. Ich wache jede Nacht komplett verschwitzt auf. Ich sehe auf die Uhr. Es ist 10 Uhr am Samstagmorgen. Ich kann mich bewegen. Ich untersuche sofort meine Handgelenke. Sie sind makellos. Keine Spuren von einer Fesselung. Ich habe das geträumt, denke ich erleichtert. Es war nur ein Traum. Ein schlimmer zwar, aber zum ersten Mal habe ich nicht von Tim geträumt. Das war ein eigenartiger Traum. Ich träumte, ich arbeitete bei einem Escort-Service. Wie seltsam. Ich bin Zahnärztin. Wie komme ich denn darauf? Ich klettere mühsam aus dem Bett, gehe unter die Dusche und ziehe mir einen kuscheligen Hausanzug aus Samt an. Ich werde heute nicht aus dem Haus gehen und ihn den ganzen Tag tragen. Den Tag, der mir gehört. Ich werde frühstücken, die Zeitung lesen und mich dann mit einem Buch auf die Couch legen. Ich sollte eigentlich Sport treiben bei meiner Figur. Aber es hat geschneit und damit habe ich eine gute Ausrede, es nicht zu tun. Ich werde maximal meine Auffahrt freischaufeln, das ist Sport genug.

Ich sprinte die Treppe hinunter. Ich laufe eigentlich immer. Auch, wenn es keine Veranlassung dazu gibt. Ich bin immer in Eile. Das hat sich auch nicht gelegt, als ich innerhalb von ein paar Monaten nach Timmis Tod 20 kg zugelegt habe. Ich finde es auch nicht anstrengender. Nur mein Schuhwerk ist manchmal meinem Tempo nicht gewachsen. Ich öffne die Haustür. Alles ist tief verschneit. Gegenüber räumt Rutkowski gerade seine Einfahrt. Er ist ein extrem schlanker Mann, fast dürr, trotz seines dicken Pullovers sieht man die Schulterknochen herausstehen. Ich weiß, wer er ist. Vor ungefähr 5 Jahren hat Rolf mit seinen Zeitungsartikeln über Rutkowski ein Heidengeld verdient. Er hat kübelweise Dreck über diesen Mann ausgegossen, was ihm nicht gerade mein Wohlwollen eingebracht hat. Er hat Rutkowskis Existenz damit zerstört.

Er war nämlich unschuldig, stellte sich heraus. Man konnte ihm nicht nachweisen, dass er die Explosion des riesigen Gewächshauses verursacht hatte, bei dem seine Schwägerin starb und er so entstellt wurde. Er war mal ein Bild von einem Mann. Breitschultrig, sportlich, sehr gut aussehend. Ein Traumtyp. Ein Lächeln, das Polkappen schmelzen lassen konnte. Und heute ist er ein Wrack. Er muss kurz vor dem Verhungern sein, stelle ich mit fachmännischem Blick fest. Dass er überhaupt noch die Kraft hat, den Schnee wegzuschippen. Wenn man ihn sieht, will man ihn füttern, und zwar sofort, weil man befürchtet, er würde jeden Moment zusammenklappen.

Ich jedoch nicht. Rutkowski ist nämlich ein Arschloch. Er ist vor ein paar Monaten hierhin gezogen, in das neue Haus genau gegenüber, das Haus aus Sichtbeton und viel Glas. Dass ausgerechnet er in ein solches Haus zieht. An seiner Stelle und mit seinem Aussehen würde ich mich verstecken. Er tut das allerdings nicht. Er weiß, zu welcher Uhrzeit ich aus der Praxis komme und steht dann vor seiner Tür und lächelt mich höhnisch an. Wie kann er wissen, dass ich Rolfs Frau war? Ich habe nach der Scheidung meinen Mädchennamen wieder angenommen. Ob er das weiß? Das wird der Grund sein, dass er mich so voller Verachtung mit seinem Blick misst. Er amüsiert sich über mich. Ich lasse mir solche Blicke natürlich nicht kommentarlos gefallen und habe immer ein nettes Wort für ihn. Ich überziehe in mit einer solchen Häme, dass es mich wundert, dass er mich noch nicht angezeigt hat. Immerhin ist er Anwalt. Er macht zwar in Immobilien, und auch sehr erfolgreich, aber er ist Rechtsanwalt. Unverdrossen steht er jeden Tag dort und schenkt mir seinen verachtungsvollsten Blick.

Heute sieht er jedoch über seiner Schneeschaufel einfach nur zu mir herüber. Sein Gesicht ist ausdruckslos. Heute ist etwas anders. Ob ich nicht geträumt habe? Ob er heute Nacht in meinem Haus war? Ob er das war, der Mann mit der sanften Stimme? Ich kenne nur seinen unverschämten, lauten Tonfall. Ob er so reden kann? Ich starre ihn an, mit der Tageszeitung in der Hand, die ich gerade aus dem Kasten geholt habe. Meine Füße stecken in leichten Pantoffeln voller Schnee. Ob er das war? Ich kann es nicht ausschließen. Ich werde gleich Fenster und Türen überprüfen. Wenn er das war, bekommt er keine zweite Gelegenheit. Ich bin manchmal etwas nachlässig, ja, aber nicht mit den Sicherheitsvorkehrungen, die ich getroffen habe, seitdem ich geschieden bin. Rolf könnte jederzeit wieder hier aufschlagen und Rache an mir üben. Immerhin ist er der Meinung, es sei meine Schuld, dass Tim schwerbehindert auf die Welt kam. Und es ist meine Schuld, dass er starb. Obwohl Rolf zu der Zeit im Bett bei seiner Geliebten lag.

Ich gehe wieder hinein. Ich zittere vor Kälte. Ich schleudere mir die schneegefüllten Pantoffeln von den Füßen, schlüpfe in meine kurzen pelzgefütterten Stiefel und gehe in die Küche. Es duftet nach Kaffee, die Sonne scheint auch hier hinein, es könnte so schön sein, wenn ich eine Familie hätte. Aber ich habe nichts mehr. Ich schlage die Zeitung auf, um mich abzulenken. Rolf schreibt immer noch für dieses Blatt, aber seitdem es eine Gegendarstellung drucken musste, weil er sich bei Rutkowski zu weit aus dem Fenster lehnte, berichtet er nur noch über Stadtteilfeste und sonstige aufregende Dinge. Das kommt davon. Heute berichtet er über den Weihnachtsmarkt. Das geschieht im Recht, denke ich erfreut. Ich genieße meinen Kaffee und mein Brötchen und zünde mir dann genüsslich die eine Zigarette an, die ich mir morgens gönne.

Ich höre das Geräusch des Schneeschiebers. Warum ist das so laut? Ich muss noch einmal nachsehen. Habe ich vielleicht die Tür offen gelassen? Ich gehe in den Flur. Nein. Die Tür ist geschlossen. Also öffne ich sie. Und was sehe ich? Rutkowki schaufelt einen Streifen meiner Ausfahrt frei. Vom Gehweg bis zur Haustür. Er macht das langsam und vorsichtig, er ist nicht nur fast verhungert, er ist auch gehbehindert. Er ist unterschenkelamputiert, ich weiß das genau, denn er gönnt mir einen wundervollen Blick in sein Schlafzimmer.

„He, bist du krank? Was machst du denn da? Du wohnst da drüben.“ sage ich aufgebracht. Was fällt dem ein, auf mein Grundstück zu kommen?

„Ich wollte dir einen Gefallen tun. Mit deinem Gewicht ist das Schneeschippen gar nicht so einfach.“ sagt er und sieht mich genüsslich von oben bis unten an. „Oh, du hast heute deinen eleganten Tag.“ bemerkt er spöttisch, als sein Blick an meinen klobigen Stiefeln hängen bleibt.

„Pass bloß auf, sonst ist das dein letzter Tag. Willst du dein Leben in meiner Einfahrt aushauchen? Fall bloß nicht zusammen. Ich sammle dich nicht ein.“ sage ich spitz und schlage die Haustür wieder zu.

Der hat sie ja nicht alle. Warum tut er das? Er wäre doch viel schöner gewesen, meinen dicken Arsch beim Schneeschaufeln zu beobachten. Er hätte sich darüber auslassen können. Aber er schaufelt selbst. Wahrscheinlich hat er heute Morgen Radio gehört und wurde zu einer guten Tat aufgefordert, dieser Idiot. Denn das ist er scheinbar. Er hat eine Sekretärin, die ist so schön, die könnte als Model arbeiten. Und was macht er? Ich hatte schon oft gehört, wie sie sich lautstark stritten. Marion, so heißt sie, war dann in Tränen aufgelöst, als er sie fort schickte. „Meinst du, es geschieht ein Wunder und ich sehe irgendwann wieder so aus wie früher?“ hatte er gekreischt. „Hau bloß ab.“ Und sie erwiderte unter Tränen, er möge doch auf der Stelle abkratzen, er hätte sie gar nicht verdient. Das hat sie schon richtig erkannt. Sie scheint ein schlaues Mädchen zu sein, aber sie kreuzt immer wieder hier auf und hat außer Akten auch immer etwas zu Essen dabei. Sie tut das nicht, weil sie ihre Arbeit verlieren würde, wenn er stirbt. Sie scheint ihm wirklich zugetan, weiß der Teufel, warum das so ist.

 

Vielleicht sollte ich etwas netter zu ihm sein. Es wird nicht einfach sein, so zu leben, mit diesem entstellten Körper, vor allen Dingen, wenn man einmal so aussah wie er. Soll er sich doch verbal an mir austoben, wenn es ihm Freude macht. Mir macht es nichts aus, wenn er mich jedes Mal auf mein Gewicht hinweist. Ich bestehe ja nicht nur aus Fett. Ich habe auch ein Hirn und bin beruflich sehr erfolgreich. Was macht das schon, wenn mein verhungerter Nachbar mich für ein Monster hält? Neben dem sieht jeder Normalgewichtige wie ein Monster aus. Es mangelt mir nicht an Verehrern, die meine Kurven zu schätzen wissen. Ich finde, ich sehe ganz lecker aus. Alles an mir ist rund. Was macht das schon? Ich war mal zierlich, jetzt bin ich es eben nicht mehr. Es ist so, und wem es nicht gefällt, braucht nicht hinzusehen. Ich brauche das Polster. Es federt mich ab von der Realität.

Ich könnte Papa besuchen, überlege ich. Er wohnt nicht weit von hier und wenn ich die geräumte Hauptstraße erreicht habe, sind es nur fünf Minuten, bis ich bei ihm bin. Papa ist Witwer. Das Jahr 2007 war für uns alle ein schlimmes Jahr. Rutkowski verlor seine Schönheit, seine Existenz. Ich verlor Timmi und meinen Mann, mein Vater verlor meine Mutter. Sie waren nicht verheiratet, deshalb heiße ich Feldmann und mein Vater Stürmer. Ich werde ihn besuchen, ich sehe ihn recht selten.

Er ist ein herzlicher, gut aussehender Mittfünfziger und hat eine Menge Verehrerinnen, die ihm nachstellen. Wenn er ausgeht, dann bestimmt erst heute Abend. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er die Damen reihenweise mit nach Hause nimmt. So ist er nicht. Ich kann also einen gemütlichen Tag mit ihm verbringen, bevor er sich in Schale wirft und die Damenwelt entzückt mit seinem Charme. Er kennt Rutkowski übrigens auch. Sie kennen sich schon lange, seit 10 Jahren etwa. Papa sammelt Kunst und Häuser. Die kauft er nur bei Rutkowski, denn der hat ein besonderes Talent. Er ist Anwalt, wie gesagt, aber er hat Visionen wie ein Architekt. Und so machen Schuppen, den ich mit Papa besichtigt habe, hat er zu etwas wunderbarem gemacht. Die kauft Papa dann und vermietet sie gewinnbringend. Mehr weiß ich über ihr Verhältnis zueinander aber nicht. Wenn ich mit ihm zusammen bin, reden wir nur über Dinge, die uns beide angehen. Ja. Ich werde Papa besuchen und ihm von meinem seltsamen Traum erzählen. Er hat eine Art an sich, die unangenehme Gefühle sofort verschwinden lässt.

Ich ziehe mich um und sehe erst einmal nach, ob Rutkowski draußen herumlungert. Nein. Er ist nicht da. Wahrscheinlich muss er sich jetzt den ganzen Tag ausruhen. Er hat sehr sorgfältig gearbeitet, sehe ich. Und er hat mein Auto vom Schnee befreit.

 

Wahrscheinlich wird er heute sterben und er wollte, dass ich ihn in guter Erinnerung behalte, denke ich finster, als ich ihn an seinem Schlafzimmerfenster stehen sehe, als ich im Wagen sitze. Ich nicke ihm zu, zu mehr kann ich mich nicht durchringen. Dank bekommt er garantiert nicht. Ich kann allerdings auch nicht losfahren. Die Batterie ist leer. Und der Arsch steht an seinem Fenster und lächelt hämisch. Auch das noch. Ich rufe den Automobilclub an. Das kann dauern, sagt man mir. Also lege ich entnervt auf. Ich habe eine Viertelstunde in der Warteschleife gehangen, um dann zu hören, man könne mir keinen Zeitpunkt nennen. Aber wozu hat man denn Nachbarn? Darauf hat Rutkowski nur gewartet. Mit einem amüsierten Lächeln steigt er in seinen Jaguar, lenkt ihn in die Parklücke vor mir und öffnet seine Motorhaube. Er steigt aus mit einem Starthilfekabel und klopft an mein Fenster. „Zu dumm, das Licht auszumachen. Mach die Motorhaube auf, Maja. Oder willst du lieber fliegen statt fahren?“ grinst er. Ich ziehe den Hebel für die Motorhabe und er legt das Starthilfekabel an meiner Batterie an und dann an seiner. Er steigt in seinen Wagen.

„Jetzt starten.“ ruft er. Ich drehe den Schlüssel und mein Wagen springt an. Jetzt kann er wochenlang triumphieren. Er klappt meine Motorhaube wieder zu. „Und nicht so viele Pralinen futtern. Schön aufpassen, dass der Motor nicht ausgeht. Sonst gehst du zu Fuß. Wäre keine schlechte Idee.“ sagt er lächelnd. Dann wirft er das Kabel in seinen Wagen und geht wieder in sein Haus. Was für ein Arschloch, denke ich erzürnt. Ich muss machen, dass ich hier wegkomme. Der Weg zu Papa ist zu kurz, um die Batterie aufzuladen, also drehe ich eine Ehrenrunde über den Autobahnring, bevor ich zu ihm fahre. Das passiert mir nicht noch mal, schwöre ich mir. Das gönne ich ihm nicht noch einmal.

 

Ich wäre besser nicht zu Papa gefahren. Ich störe nämlich. Nicht er öffnet mir die Tür, sondern die ätherische Schönheit Marion, Rutkowskis Sekretärin. Ich sehe sie verdattert an.

„Du bist Maja. Komm rein, Bodo duscht noch.“ sagt sie mit einem strahlenden, herzlichen Lächeln. Sie ist schon bis zum Äußerten gestylt, mehr geht nicht. Wie schön sie ist, denke ich. Sie besteht nur aus Haut und Knochen, kein Gramm Fett. So lange Beine hätte ich gerne. Sie fühlt sich hier auch schon zu Hause, denn sie nimmt mir den Mantel ab und hängt ihn auf. Aha. Das ist also Papas Neue. Sie ist ungefähr so alt wie ich, schätze ich. Sie sieht nicht nur umwerfend aus, sondern riecht auch so. Was für wundervolles Haar sie hat. Leicht gelockt fällt ihr die blonde Mähne bis fast zum Po. Kein Wunder, dass Papa so geheimnisvoll getan hat. Und Rutkowski will sie nicht. Jetzt hat Papa sie. Sie muss nett sein, sonst wäre sie nicht hier. Er muss in sie verliebt sein.

„Hast du schon gefrühstückt?“ fragt sie mit einer betörenden Stimme. Ich habe sie bisher nur schreiend oder schluchzend erlebt. Aber ich kann mir vorstellen, mit dieser Stimme hat sie meinen Vater eingewickelt.

„Ja. Danke. Ich nehme nur einen Kaffee. Es ist wirklich kalt draußen. Du bist Rutkowskis Sekretärin. Stell dir vor, der hat mir heute Starthilfe gegeben.“ sage ich. Ich muss sie dauernd ansehen. Meine Stiefmutter. Ich muss lächeln. Das ist etwas Ernstes. Sie sieht sehr glücklich aus. Sie strahlt von innen heraus.

„Mike? Der ist wohl krank?“ grinst sie. Sie stellt eine Tasse Kaffee vor mich hin.

„Er sieht auch krank aus. Was hat er denn?“

„Nichts. Er isst nicht. Körperlich ist er in Ordnung. Also, für seine Verhältnisse.“ sagt sie errötend. „Wir bieten dir bestimmt jedes Mal ein Schauspiel, was?“

„Du weißt ja nicht, was du verpasst, wenn er auf mich trifft.“

„Ist das so? Ich kann mal mit ihm reden.“

„Nein. Es ist quasi ein Ritual. Er beschimpft mich und ich ihn. Mir würde doch glatt etwas fehlen, wenn das aufhört.“ lache ich.

„Er ist nicht so. Er ist total nett. Eigentlich. Seitdem diese Frau ihm zugesetzt hat, vermeidet er jeglichen Kontakt zu Frauen. Das soll ihm nicht noch mal passieren. Nehme ich jedenfalls an.“ Sie zündet sich eine Zigarette an. Dann sieht sie mich verschwörerisch an.

„Seit Bodo mich kennt, ist er noch eitler geworden.“ flüstert sie leise. „Dabei ist das völlig unnötig.“ Mein Vater war schon immer eitel. Aber jetzt hat er eine Frau, die über zwanzig Jahre jünger ist, da muss er noch mehr an sich tun als er es jetzt schon tut.

„Ah. Da kommt er ja.“ strahlt sie. Mein Vater kommt in die Küche und für die schöne Marion geht die Sonne auf. Er gibt ihr einen zärtlichen Kuss. Ich habe nie gesehen, dass er eine andere Frau küsste als meine Mutter. Dann küsst er mich rechts und links und setzt sich, stolz wie der Sonnenkönig persönlich. „Zwei wunderschöne Frauen zum Frühstück. Was gibt es besseres?“ grinst er. Ob er sein Haar tönt? Es kommt mir dunkler vor als letzten Monat. Zutrauen würde ich es ihm.

„Wann wolltest du mir das sagen? Wenn ich ein Geschwisterchen habe?“ necke ich ihn. Er errötet. Also ist das wohl auch ein Thema. Ich fasse es nicht.

„Was willst du? Ich musste erst mal testen, ob es die wunderbare Marion mit mir aushält. Scheinbar tut sie das, oder, Schätzchen?“ Er streichelt ihr zärtlich die hagere Wange.

„Ja.“ haucht sie verschämt. Ich bin hier fehl am Platz, denke ich. Vollkommen. Ich störe ein junges Glück. Mein Vater hat ein neues Glück gefunden, eine neue Liebe. Das freut mich für ihn, wirklich. Und diese Marion ist wirklich nett.

„Stell dir vor, Mike hat ihr heute Starthilfe geleistet.“ grinst sie amüsiert.

„Ehrlich? Hat er dich dabei beschimpft? Er ist unerträglich, was?“

„Ja. Allerdings.“ nicke ich. Ich werde ihm nicht von meinem Traum erzählen, beschließe ich. Das Thema gehört nicht hierhin.

„Er weiß nicht, dass du meine Tochter bist. Es ist Zufall, dass er dort hingezogen ist. Ich habe ihm nie erzählt, dass ich eine Tochter habe. Wahrscheinlich wäre er dann auch nicht netter. Es ist ihm völlig gleichgültig, ob ich dann die Häuser woanders kaufe. Es ist ihm alles gleichgültig geworden.“ sagt er nachdenklich.

„Oh, nein. Ich werde nicht mit ihm reden. Du bist fürsorglich. Nicht ich.“ wehre ich ab. Das fehlt noch. Diesen Ton von Papa kenne ich genau. Oh, Mike, möchtest du über etwas reden? Erzähl es der dicken Tante Maja. Nein. Ich habe genügend eigene Probleme. Seine brauche ich nicht auch noch.

„Ich habe nichts gesagt. Hast du schon einmal eine Frau bei ihm gesehen?“

„Ja. Marion. Allerdings hört man sie eher als dass man sie sieht. Die beiden unterhalten die ganze Straße.“ lache ich.

„Er kommt nur noch selten ins Büro. Ich habe ihn gar nicht mehr unter Kontrolle. Deshalb ist er so dünn. Ich habe keine Gelegenheit, ihn zu füttern.“ bemerkt Marion.

„Füttere meinen Vater. Der ist wenigstens nett.“

„Das ist Mike auch. Er ist kein Arschloch. Er benimmt sich nur so.“

„Das reicht auch. Ich will ihn nicht ausloten. Du brauchst ihn mir nicht anzupreisen. Ich brauche keinen Mann. Und schon gar nicht so einen.“

„Du gehst also nach der Optik?“ faucht sie. Sie beschützt ihn immer noch. Das ist doch nicht zu glauben.

„Er geht nach der Optik. Er sieht mich verächtlich an. Nicht ich ihn. Was denkst du, was er da tut? Ist er heimlich in mich verliebt und will verhindern, dass es mir so geht wie dir? Er macht das, weil er mich mag, ja? Wie blöd bist du eigentlich?“

„Maja. Bitte.“ sagt Papa hilflos. Einem Streit unter Frauen ist er nicht gewachsen.

„Könntest du uns mal alleine lassen, Bodo? Das ist nicht unbedingt für deine Ohren bestimmt.“

„Huch, jetzt kommen die körperlichen Vorzüge des Herrn Rutkowski. Du hast Recht, Marion. Das ist wirklich nicht für meine Ohren bestimmt.“ Er erhebt sich lächelnd.

„Es ist nicht für deine Ohren, weil er dein Freund ist.“ sagt sie erklärend.

„Aber über mich redest du nicht, verstanden? Das da ist meine Tochter.“ Er zeigt auf mich. Dann verlässt er die Küche. „Ich bin im Wintergarten.“ ruft er vom Flur.

 

„Ich war mal mit Mike zusammen. Vor dem… Unfall. Und danach durfte ich ihn nicht mehr unbekleidet sehen. Ich liebte ihn aber doch. Er hat mich ausgelacht. Das willst du dir nicht antun, Marion. Und dann hat er mich zum Essen eingeladen und war unglaublich nett zu mir. Er kam mit in meine Wohnung und ich dachte, jetzt wird es wie früher. Wir knutschten herum. Da war er noch nicht so dünn. Und dann zog er sein Hemd aus und zeigte mir, was ich bekommen würde. Das willst du nicht, Marion, hat er geschrien. Ich war völlig entsetzt, als ich das gesehen habe. Ich habe ihn angefasst und dachte, nein, das will ich nicht. Ich kann das nicht. Es war furchtbar.“ sagt sie ernst. „Du machst dir keine Vorstellung davon, wie es sich anfühlt. Er hatte einen so schönen Körper. Und jetzt…“

„Aber ich gehe nach der Optik, ja?“ frage ich empört. „Ich würde ihn noch nicht mal wollen, wenn er so aussähe wie vor dem Unglück. Schade, dass du meinen Mann nicht gekannt hast. Er sah aus wie ein Engel. Er hätte optisch gut zu dir gepasst. Aber sein Charakter war unterirdisch. Soviel zum Thema Aussehen. Ich habe das Gefühl, du willst mir Rutkowski nahe bringen, weil du nicht bei ihm landen kannst. Halte dich an meinen Vater. der ist kein Arschloch und benimmt sich auch nicht so. Und wenn du glaubst, du könntest nur deinen Spaß mit ihm haben, bis es sich Mike überlegt hat, bekommst du es mit mir zu tun. Es ist ihm völlig ernst, sonst wärest du nicht hier. Was ist das überhaupt für ein merkwürdiges Gespräch? Ich bin keine Psychotherapeutin. Ich mag zwar so aussehen, bin ich aber nicht. Ich bin Zahnärztin. Hast du Schmerzen, komm zu mir. Aber lass mich mit dieser Scheiße in Ruhe.“ sage ich undamenhaft. „Ich werde demnächst vorher anrufen, bevor ich hier unangemeldet hereinschneie. Schönen Tag noch.“ sage ich, schnappe mir meine Tasche und rausche in den Flur, reiße meinen Mantel vom Haken und flüchte mich draußen in meinen Wagen. Was für ein beschissener Tag!

 

Mein Handy klingelt mehrfach, bis ich es ausschalte. Ich habe mich mit einer Tasse Tee auf der Couch verkrochen. Ich lese aufmerksam in dem dicken Krimi. Aber am Ende der Seite weiß ich nicht mehr, was am Anfang stand. Ich kann mich nicht konzentrieren. Wie kann das sein, dass sich dieser Tag komplett um Rutkowski dreht? Mein Vater hat eine neue Liebe gefunden. Da ist sehr schön für ihn. Und für Marion auch. Aber sie sollen mich in Ruhe lassen. Lieber gar keinen Mann als das Ekel gegenüber. Ich habe etwas Besseres verdient. Nicht unbedingt etwas Schöneres. Ich will, wenn überhaupt, jemanden, der nett zu mir ist. Es ist mittlerweile später Abend, als ich das Buch zuklappe. Ich kann morgen noch einmal drin lesen, ich habe nämlich nichts davon mitbekommen. Ich habe Seite um Seite gelesen, aber ich war so in Gedanken, dass ich es nicht registriert habe. Ich mache mir etwas zu Essen. Dann kontrolliere ich Türen und Fenster und schließe sogar die schweren Stahlrollläden im Untergeschoß, obwohl ich mittlerweile sicher bin, dass es ein Traum gewesen ist heute Nacht. Ich gehe hoch in mein Schlafzimmer. Wie immer werfe ich einen Blick aus dem Fenster. Bei Rutkowski brennt Licht. Er hält sich viel im Schlafzimmer auf. Meist liegt er nur da und starrt an die Decke. Du wirst dir ansehen, was du getan hast. Das hat der Mann heute Nacht in meinem Traum gesagt. Aber ich habe nichts getan. Ich bin ihm vorher noch niemals begegnet, da bin ich absolut sicher.

Ich ziehe mir mein seidenes Nachthemd an. Ich mag es, das zu tragen. Es erinnert mich an Zeiten, als ich noch glücklich gewesen bin. Nach Timmis Tod und der Scheidung hatte ich eine kurze, stürmische Affäre mit einem verheirateten Mann, der mich ablenkte von meinem Schmerz. Bis er das merkte und zu seiner Frau zurückging. Ich kämpfte nicht um ihn, dazu fehlte mir die Kraft. Ich hatte ihn wirklich gerne. Aber er dachte, er wäre nur ein Mittel zum Zweck. Ich beließ ihn in dem Glauben. Mit mir hätte er sowieso keine Zukunft gehabt.

 

Rutkowski hängt wahrscheinlich ähnlichen Gedanken nach. Er hat einen Arm hinter dem Kopf und der andere liegt in seinem Schoß. Wahrscheinlich starrt er wieder finster zur Decke. Ich muss meine Brille aufsetzen, um zu erkennen, was er da wirklich tut. Ich erröte tief. Ich stehe an meinem Fenster und sehe meinem Nachbarn beim Masturbieren zu, geht mir auf. Er hat seine Hose geöffnet und streichelt sich dort. Dass er daran noch Freude hat. Oder auch nicht. Ich mache das manchmal (bei mir natürlich), um mich zu entspannen, wenn ich es mit Gedanken nicht schaffe. Vielleicht tut er es auch aus diesem Grund. Ich bin ganz fasziniert. Ich wusste gar nicht, dass ich am Voyeurismus Interesse finden könnte. Er macht etwas ganz Intimes und ich kann dabei zusehen. Natürlich. Er weiß, dass ich ihm zusehe. Deshalb tut er das. Er weiß, ich werfe abends immer einen Blick zu ihm herüber, ob er wieder neugierig an seinem Fenster steht. Tut er das, ziehe ich meinen Vorhang zu. Tut er das nicht, bleibt er offen. Ich mag es nämlich, vom Tageslicht geweckt zu werden.

Zum Glück ist er ja nicht nackt dabei. Den Anblick gönnt er mir morgens, wenn er aus dem Bad kommt. Ich kann seinen armen, geschundenen Körper bewundern, wenn er seine Prothese anlegt und sich dann anzieht. Nun bin ich Ärztin und habe schon einiges gesehen. Eigentlich bin ich Kieferchirurgin, aber seitdem ich Timmi verloren habe, arbeite ich nur als Zahnärztin. Ich habe neben Zahnmedizin auch Humanmedizin studiert, also ist mir nichts Menschliches fremd. Aber ich habe mir, ehrlich gesagt, nie darüber Gedanken gemacht, wie die Menschen danach weiterleben, nachdem sie zusammengeflickt wurden.

Es ist furchtbar. Sie müssen jeden Tag im Spiegel sehen, was mit ihnen geschehen ist. Es ist ja nicht nur das, was Rutkowski getroffen hat. Man fiel auch noch über ihn her, im Gericht und in der Presse, weil man ihm die Schuld daran geben wollte. Sie müssen versuchen, einfach weiterzuleben. Mich überkommt ein Gefühl des Mitleids. Wie schön wäre es, wenn Marion nicht so erschrocken gewesen wäre und sie jetzt mit ihm da oben wäre und sie ihn berührte. Aber sie hat wohl ein ausgeprägt ästhetisches Empfinden, weil sie selbst einen Körper wie ein Kunstwerk hat. Deshalb hat sie sich auch in Bodo Stürmer verliebt, meinen gut aussehenden Vater mit dem Körper eines Enddreißigers. Vielleicht hatte sie auch keine Lust mehr, um Rutkowskis Zuneigung zu kämpfen. Ich verzichte darauf, die Vorhänge zu schließen und lösche das Licht und lege mich ins Bett. Ich habe Angst davor, einzuschlafen. Der Traum wird mich wieder ereilen, wenn ich die Augen schließe. Aber was ist das schon dagegen, so leben zu müssen wie Rutkowski, denke ich. Ich kuschele mich in die Kissen und ergebe mich meinem Schicksal. Und als ich am nächsten Tag erwache, habe ich zum ersten Mal seit Jahren nicht geträumt.

Ich kann es nicht fassen. Ich sehe mich im Zimmer um, als hätte ich es noch nie zuvor gesehen. Ich springe aus dem Bett und könnte die ganze Welt umarmen. Ich sehe aus dem Fenster. Rutkowski liegt noch im Bett. Aber ich nicht. Ich habe gut geschlafen! Ich habe nicht geträumt. Das Leben kann so schön sein. Es sei denn, da turnt eine Frau im Garten herum und versucht mit dem Schraubenzieher die Rollläden aufzuhebeln, wie das gerade bei Rutkowski der Fall ist. Das gibt’s doch nicht. Eine blonde, zierliche Frau, ganz in weiß gekleidet, sie sieht aus wie ein Schneeflöckchen, arbeitet sich mit verbissenem Gesicht an seinem Fenster ab. Na warte. In dieser Straße ist noch nie irgendwo eingebrochen worden. Und die Trulla wird das auch nicht schaffen. Ich habe mich noch nie so schnell angezogen. Sie hebelt immer noch herum, sehe ich, als ich aus der Haustür flitze. Ich habe mir das Brecheisen geschnappt, das immer auf der Garderobe liegt. Ich kann ja nie wissen, ob Rolf mir mal einen Besuch abstattet und dann will ich angemessen bewaffnet sein. Die schnappe ich mir. Die hat mich noch gar nicht gesehen, so wie sie da herumfuhrwerkt. Ich klingele Sturm bei Rutkowski. Dann schleiche ich mich um das Haus herum.

„Was machst du da? Gibt’s da, wo du herkommst, keine Klingel?“ schreie ich. Sie lässt vor Schreck den Schraubenzieher fallen. „Was willst du hier? Dir eine Tracht Prügel abholen? Dann komm her, Schneeflöckchen.“ sage ich drohend und baue mich vor ihr auf.

„Wer bist du denn? Seine Neue?“ fragt sie. Das scheint das einzige zu sein, was sie interessiert. Sie sieht mich, eine wild gewordene Furie mit einem Brecheisen in der Hand und sie fragt, ob ich seine neue bin. Die ist ja noch verrückter als er.

 

„Ja. Ich bin Frau Rutkowski. Da staunst du, was?“ Ich bin stolz auf meinen Einfall.

„Seit wann?“

„Was geht es dich an? Was willst du hier?“

„Das geht nicht. Er gehört mir.“ keift sie außer sich.

„Das wüsste ich aber. Verschwinde, du Puderquaste.“

„Woher weißt du das?“ Woher weiß ich was? Die ist ja komplett irre.

„Von ihm. Von wem sonst? Jetzt mach dich vom Acker, sonst geht es dir schlecht.“

Aber sie geht nicht. Was mache ich denn jetzt? Hätte ich doch besser mal die Polizei angerufen. Sie starrt auf einen Punkt hinter mich. Aber davon lasse ich mich nicht beirren. Wenn ich mich jetzt umdrehe, sticht sie mich mit dem Schraubenzieher ab, so, wie sie drauf ist. Ich gehe drohend auf sie zu.

„Lass sie in Ruhe, Maja, Schatz.“ sagt Rutkowski hinter mir. „Ich habe schon die Polizei angerufen.“

„Maja Schatz? Was soll das heißen? Du gehörst doch mir.“ sagt die Blonde entsetzt.

„Nein. Ich war schneller, du Pfeife.“ grinse ich. Hoffentlich hat er wirklich die Polizei angerufen. Sie kommt jetzt auf mich zu. Was mache ich jetzt? Ich kann ihr doch keinen mit dem Brecheisen überbraten. Wegen dieser kleinen Maus will ich doch nicht in den Knast! Also werfe ich beherzt das Brecheisen weit weg in den tiefen Schnee und straffe die Schultern.

„Komm schon, du halbe Portion.“ sage ich und winke sie mit beiden Händen heran. Meine Knie schlottern vor Aufregung, aber das weiß sie nicht. Sie zielt mit entschlossenem Blick mit der Faust in mein Gesicht. Die ist noch viel kleiner als ich! Also gebe ich ihr einen festen Stoß, sie kommt ins Stolpern und sitzt auf dem Arsch, mitten im Schnee. Ich stürze mich auf sie. Sie wiegt schätzungsweise die Hälfte von mir und ich habe sie im Nu umgedreht, das knochige Persönchen, und drücke ihr Gesicht in die weiße Pracht.

„Man bricht nicht ein. Hast du das verstanden?“ brülle ich, während ich sie an ihrem schönen Haar ziehe. Sie reagiert nicht. Also lasse ich sie wieder Schnee fressen. „Hast du das verstanden? Wenn ich dich hier noch einmal sehe, hast du es hinter dir. Und lass meinen Mann in Ruhe.“ schreie ich ihr so laut ins Ohr, dass sie aufschreit. Ich höre die Sirene des Polizeiwagens. Na endlich. Ich bleibe auf ihr hocken. So kann sie jedenfalls nicht weg, wenn sie es auch versucht. Sie strampelt aus Leibeskräften.

 

„Sie können Sie loslassen.“ sagt eine weibliche Stimme amüsiert. „Sie bringen Sie ja um.“

„Dann soll sie wachsen. Ich kann doch nichts dafür, dass sie so klein ist.“

Die Polizistin hilft mir auf und ihr Kollege schnappt sich die blonde Schneeflocke, die mich wütend anstarrt, als sie den Schnee ausgespuckt hat. „Du bist tot.“ sagt sie giftig.

„Ja. Ich weiß, Schätzchen. Aber du siehst aus wie ein Geist. Nicht ich.“

 

Ich sage der Beamtin, was geschehen ist und sie geht mit in mein Haus, um sich die Daten meines Ausweises zu notieren. Dann verabschiedet sie sich und ich bleibe in meinem Haus. Was Rutkowski jetzt zu sagen hat, interessiert mich nicht. Er hat ihr nicht geholfen, als ich auf ihr saß. Das ist doch eindeutig. Aber er hat die Polizei angerufen. Er kennt sie und hält sie für gefährlich, diese mickrige halbe Portion. Vielleicht ist sie für ihn gefährlich. Ich hätte sie mit einer Hand erledigen können. Wie süß sie ausgesehen hat. Und irgendwie kam sie mir bekannt vor. Ich überlege beim Frühstück. Ich habe sie schon einmal irgendwo gesehen. Das ist aber lange her. Nach der zweiten Tasse Kaffee fällt es mir ein. Sie sieht aus wie Rutkowskis Schwägerin, die damals getötet wurde. Wie kann das sein? Sie hatte keine Schwester. Rolf hat tagelang geforscht. Sie hatte keine Schwester und doch war gerade eben bei Rutkowski eine Frau im Garten, die ihre Schwester hätte sein können. Wie seltsam.

 

Als ich das Geschirr in die Maschine räume, schellt es. Rutkowski will mir mitteilen, ich sollte mir keine Schwachheiten einbilden. Garantiert. Ich öffne zögernd. Ich habe jetzt keine große Lust auf den. Vor allen Dingen nicht, als er so lüstern in meinen Ausschnitt starrt. Ja, das ist besser als das, was die Kleine zu bieten hat, was, Mike, denke ich belustigt. Wahrscheinlich kommen sie in der Größe in seiner Welt gar nicht vor.

„Keine Angst, ich kippe nicht nach vorne.“ sage ich ernsthaft.

„Oh, deswegen schaue ich nicht.“ grinst er.

„Nein? Was willst du hier? Dich bedanken? Geschenkt. Sonst noch was?“

„Kann ich vielleicht reinkommen? Ausnahmsweise? Ohne Beschimpfung?“

„Das ist ja langweilig.“ grinse ich. „Keine Sorge. Ich bilde mir nichts ein. Ich habe keine Rechte auf dich. Will ich auch nicht.“

„Kann ich vielleicht trotzdem hereinkommen? Es ist wichtig.“

„Aber sie werden nicht angefasst.“

„Nein. Die machen mir Angst.“

„Du bist echt ein seltsamer Vogel. Komm schon rein, bevor du erfrierst vor dem Verhungern.“ Ich trete zur Seite und lasse ihn eintreten. So nahe war ich ihm nur einmal. Als ich ihm im Sommer den Kopf gewaschen habe, weil er noch unverschämter grinste als sonst.

„Also? Was ist?“ Ich verschränke die Arme vor der Brust, bevor er sich vor Angst noch in die Hosen macht.

„Nadja ist gefährlich. Es war nicht die beste Idee, sich als meine Frau auszugeben.“

„Ja. Jetzt finde ich das auch. Ich empfinde es als peinlich. Die muss ja denken, ich habe keinen anderen abbekommen.“

„Wir könnten das mal für eine halbe Stunde lassen. Ich muss dir erklären, wen du dir da zur Feindin gemacht hast. Danach können wir uns wieder angiften.“

„Na gut. Kaffee? Oder fällst du dann vom Stengel?“

„Du bist geschieden. Ich weiß auch, warum.“ grinst er frech. Wenn er das tut, sieht er eigentlich ganz nett aus. Ich nehme ihm seine dicke Jacke ab und gehe mit ihm in die Küche.

 

„Hast du schon gefrühstückt? Oder kommt das in deinem Leben nicht mehr vor?“

„Doch. Manchmal schon. Wenn Marion kommt.“

„Ach, die mit der Reitpeitsche?“

„Nein. Sie bittet mich immer nett. Aber ich würde gerne das Croissant haben, wenn du mich schon fragst. Hast du Marmelade?“

„Himbeere.“

„Mit Körnern?“

„Ich habe keine Ahnung. Sieh mal nach.“ Ich hole das Glas aus dem Kühlschrank.

„Nein. Gut.“ Er grinst wieder und scheint sich hier richtig wohl zu fühlen.

„Also, was ist sie? Eine Killerbraut?“ Ich gebe ihm eine Tasse Kaffee und Teller und ein Messer. Er schneidet in aller Seelenruhe das Croissant auf, tut Butter darauf und Marmelade. Dann beißt er hinein. „Nein. Sie liebt mich.“ sagt er kauend.

„Hilfe. Die ist ja gefährlich. Wie ist das denn passiert? War sie schon beim Arzt?“

„Sie war mehrfach in Behandlung. Aber nicht deshalb.“ Er starrt wieder in meinen Ausschnitt. Ich trage einen BH, der alles noch weiter nach oben drückt.

„Ja. Wenn du zu Ende geschaut hast, kannst du dann vielleicht weitersprechen?“

„Ich kann schauen und sprechen. Da staunst du, was? Sie war mit meinem Bruder zusammen. Der schöne Oliver. Und dann entdeckte sie ihre Liebe zu mir. Als hätte es einen Blitzschlag auf ihrer Festplatte gegeben, Oliver war gelöscht und alle Dateien wurden durch Mike ersetzt. Sie liebt mich, weil ich entstellt bin. Nicht obwohl. Kling das nicht krank?“

„Obwohl würde auch krank klingen.“ sage ich. Wie gemein ich sein kann.

„Ich habe schon alles versucht. Bisher war alles, was sie tat, legal. Aber heute, das war nicht legal. Vielleicht kann ich jetzt eine Verfügung erwirken.“

„Das ist doch schön. Was hat das jetzt mit mir zu tun?“ Ich schäle mir eine Mandarine und gebe ihm die Hälfte ab, die er sich in den Mund steckt. Essen kann er also. Er tut es nur nicht. Wie merkwürdig.

„Wenn sie mich nicht bekommt, wird sie wenigstens dich fertigmachen.“

„Sie soll ruhig kommen.“

„Ich denke, sie hat Oliver umgebracht.“ sagt er zögernd und mustert seinen Teller.

„Er hat einen Unfall auf der Autobahn gehabt, wenn ich mich recht erinnere.“

„Ja, die Bremsen versagten.“

„Und sie kann das? Die kann ja noch nicht mal einbrechen.“

„Sie hat das schon mehrfach versucht. Du solltest dir mal die anderen Fenster ansehen. Aber selbst wenn sie die Rollläden aufhebeln könnte, steht sie vor gepanzerten Fenstern.“ grinst er. „Sie kommt nicht rein. Aber es war gut, dass du es gesehen hast und die Polizei sie auf meinem Grundstück fand. Danke.“

„Kann es sein, dass sie so aussieht wie deine Schwägerin?“

„Ja. Sie sieht genauso aus. Sie hatte mehrere Operationen, damit sie ihr optisch ähnelt. Sie spricht auch ein wenig wie sie. Meine Tochter war total erschrocken, als sie sie in einer Bäckerei gesehen hat.“ Seine Tochter. Die arme Sandra, die jetzt um die 20 ist und seit dem Unfall auf den geistigen Stand einer Sechsjährigen zurück gefallen ist.

„Deine Tochter. Wie geht es ihr denn?“

„Sie wohnt jetzt in einer Wohngemeinschaft. Es gefällt ihr sehr gut.“ sagt er stockend.

„Das ist schön. Und, könnte sie wieder werden?“

„Sie können es nicht sagen. Ich möchte auch nicht darüber reden.“ erwidert er niedergeschlagen.

„Ja. Verstehe ich. Und, was soll ich jetzt tun wegen Schneeflöckchen?“

„Sie heißt Nadja. Du solltest vorsichtig sein. Sie findet eine Möglichkeit, mir nahe zu sein. Was würde sich da besser anbieten als das Haus gegenüber?“

„Sag doch so etwas nicht.“ stöhne ich. Man kann sich ganz vernünftig mit ihm unterhalten, finde ich. Das muss ja auch sein. Er ist mit meinem Vater befreundet. Wenn er sich meinem Vater gegenüber so verhalten würde, wie er es sonst mir gegenüber tut, Papa hätte ihm schon längst eine verpasst.

 

„Kannst du nicht wegziehen? Du handelst doch mit Immobilien.“ sage ich eifrig. Das wäre die Lösung. Rutkowski weg, Schneeflöckchen weg und ich könnte nach Hause kommen, ohne beäugt zu werden.

„Nein. Ich mag es hier.“

„Wie kann das sein? Ich beleidige deinen Blick.“

„Nein. Tust du gar nicht. Ich tue das, weil ich dich kenne.“

„Nein. Wir kennen uns nicht.“ sage ich entschieden.

„Du erinnerst dich nicht daran?“

„Ich wüsste nicht, dass wir uns schon einmal irgendwo getroffen hätten. Nein. Du musst dich irren. Du wärest mir aufgefallen.“ lache ich.

„Wirklich? Ich bin mir vollkommen sicher.“ sagt er nervös.

„Woher sollten wir uns denn kennen?“

„Wenn du dich nicht daran erinnerst, ist das auch egal. Vergiss es einfach.“

„So. Halbe Stunde ist vorbei. Möchtest du anfangen oder soll ich?“ frage ich.

„Womit?“

„Mit dem, was wir sonst tun. Das war übrigens eine nette Vorstellung gestern Abend.“

„Eine Vorstellung? Was?“

„In deinem Schlafzimmer.“ grinse ich anzüglich.

„Du siehst in mein Schlafzimmer?“

„Ja. Ständig. Du siehst ja auch in meins.“

„Was hast du denn gesehen?“ fragt er unsicher und errötet. Wie niedlich, denke ich. Er hat sich wohl gar nichts dabei gedacht.

„Oh, nichts.“ versichere ich. „Das Übliche.“

„Ach, ich weiß, was du meinst. Ich dachte, du wärest nicht zu Hause.“

„Du tust das immer nur, wenn ich nicht da bin? Du wartest, bis ich weg bin?“

„Nein. Ich warte, bis du schläfst.“

„Du beobachtest mich beim Schlafen und onanierst dabei? Schämst du dich nicht?“

„Nein. Du weißt ja nicht, wie das ist, so leben zu müssen.“ Er durchbohrt mich mit seinem Blick.

„Nein. Das weiß ich allerdings nicht.“ sage ich kleinlaut und erinnere mich an meine gestrigen Überlegungen. Solange er wartet, bis ich eingeschlafen bin…

„Du läufst ja auch immer halbnackt durch die Gegend. Wundert dich das?“

„Ich laufe nicht halbnackt durch die Gegend. Ich wohne hier. Soll ich mir vielleicht den Mantel anziehen, weil du ein Spanner bist?“

„Ich dachte eher, du hältst mich für einen Spinner.“ grinst er breit.

„Ja. Das auch. War es das? Dann gehe wieder in dein Haus auf deinen Posten. Ich könnte auf die Idee kommen, zu duschen.“

„Hast du schon.“

„Aber diesmal hatte ich was an, als ich aus dem Bad kam. Blöd, was?“

„Ich habe keine Ahnung. Aber dein Haar ist noch feucht. Aber etwas anderes. Wir sollten die Telefonnummern austauschen, für den Fall, dass Nadja hier noch einmal aufkreuzt.“

„Die willst du ja nur haben, um mir zu sagen, was ich anziehen soll, wenn ich ins Bett gehe.“

„Das ist eine Gute Idee. Kannst du heute das Weiße anziehen? Man sieht dann… egal. Es ist schön.“

„Was sieht man? Hast du einen Feldstecher?“

„Was hast du denn gestern gesehen?“

„Zum Glück nicht viel. Was sieht man, wenn ich das Weiße anhabe? Ich kann es dir schenken. Es ist von meinem Exmann.“

„Aber nur, wenn du es vorher anhattest.“ Er erhebt sich. „Ich werfe dir nachher meine Nummer in den Briefkasten. Danke für den Kaffee.“

„Du kannst richtig nett sein, wenn du willst.“ sage ich aufrichtig.

„Ja? Du siehst ja, was dabei rauskommt. Eine zweite Nadja kann ich nicht gebrauchen.“

 

Am Abend inspiziere ich genau mein Schlafzimmer. Er kann mich so gut sehen, weil die Laterne direkt vor dem Fenster steht. Ich habe den ganzen Tag daran gedacht, dass er mich beobachtet. Irgendwie fand ich den Gedanken verwirrend, dann, ich schäme mich vor mir selbst, ein wenig erregend. Er beobachtet mich beim Schlafen und holt sich dann einen runter. Dafür hat er noch den Nerv. Er hat mit dem Leben schon abgeschlossen, aber sein Schwanz noch nicht. Jetzt geht in seinem Schlafzimmer das Licht an. Er kommt ans Fenster und sieht zu mir herüber. Er muss denken, ich schlafe. Ob er es jetzt wieder tut? Nein. Heute macht er etwas anderes. Das habe ich auch noch nie gesehen. Er geht an seine Kommode und holt eine Waffe heraus. Er will also nicht warten, bis er verhungert. Er will seinem Dasein vorher ein Ende machen. Er entlädt sie, Gott sei Dank. Dann setzt er sich auf das Bett und hält sie aus verschiedenen Winkeln an seinen Kopf. Bloß keinen Fehler machen, sonst könnte es noch schlimmer sein als vorher. Ich habe schon einmal einen gesehen, bei dem es schief ging. Der muss jetzt warten, bis es von selbst zu Ende geht oder bis eine barmherzige Pflegekraft ihm ein Kissen auf das Gesicht drückt.

Aber Mike ist noch nicht soweit. Er legt die Waffe wieder in die Kommode und legt sich auf das Bett und starrt wie üblich an die Decke. Was für ein Glück. Er würde es fertig bringen und es vor meinen Augen tun. Du meine Güte. Ich fange schon wieder an zu zittern. Ich stehe auf und schalte das Licht ein. Hoffentlich sieht er zu mir herüber. Ja. Er erhebt sich vom Bett und sieht mich an, als ich am Fenster stehe. Ich drohe ihm mit dem Finger, bis er begreift, was ich meine und grinst. Dann schüttelt er den Kopf und zeigt auf seine Uhr. Es ist also noch nicht soweit. Ich lege erleichtert die Hand auf mein Herz. Er bedeutet mir, ich solle mich ausziehen und ich lache und zeige ihm einen Vogel. Dann lösche ich das Licht und lege mich wieder ins Bett.

 

Er ist nett, finde ich. Dass er mich vorher zur Weißglut gebracht hat, blende ich mal für einen Moment aus. Könnte ich mit einem so gezeichneten Mann leben? Ich versuche mir das vorzustellen. Es ist ja nicht nur äußerlich. Auch seine Seele ist gezeichnet. Er benimmt sich wie der letzte Arsch, damit ihm niemand zu nahe kommt. Er kennt mich irgendwo her. Komisch. Ich kann mich nicht daran erinnern. Wenn er so ausgesehen hat wie vor fünf Jahren, könnte ich mich nicht daran erinnern? Vielleicht kennt er mich nicht persönlich, sondern weiß, wer ich bin. Ich bin Rolfs Frau. Vielleicht hat er das herausgefunden. Ich sehe wieder aus dem Fenster. Er steht immer noch da, wo er eben gestanden hat. Stöhnend angele ich nach meinem Handy und wähle seine Nummer, die ich eben eingespeichert habe.

„Was ist?“ meldet er sich.

„Du kannst noch etwas an die Decke starren. Ich kann nicht einschlafen.“

„He, mir gefällt das mit dem Telefon. Dann können wir uns auch angiften, ohne in der Kälte zu stehen.“ lacht er. Wie nett sich das anhört.

„Du willst das doch nicht wirklich tun? Was ich eben gesehen habe, meine ich.“

„Ich will nur sicher sein, keinen Fehler zu machen, wenn es absolut unerträglich wird.“

„Was wird unerträglich? Hast du Schmerzen? Dagegen kann man etwas tun.“

„Nein, Frau Dr. Feldmann, keine Schmerzen.“

„Ah. Verstehe.“ Dazu kann ich nichts sagen. Ich bin ja nachts selbst ein Pflegefall für die Telefonseelsorge. Ob er das weiß?

„Du hast Angst, einzuschlafen. Weil du nachts immer schreist.“ sagt er.

„Du kannst das hören?“

„Im Winter natürlich nicht. Wenn im Sommer das Fenster offen ist. Dann kann ich es hören. Du schreist wie am Spieß. Zuerst habe ich gedacht, es wäre ein Einbrecher bei dir.“

„Glaub ja nicht, wir könnten eine Selbsthilfegruppe aufmachen. Das hat keinen Sinn.“

„Maja? Du denkst schon über mich nach, oder? Tu das nicht. Ich höre auch auf, dich so unverschämt anzusehen.“

„Denkst du über mich nach?“

„Nein. Jetzt kuschele dich in deine Decke und versuch zu schlafen. Du musst morgen früh aufstehen.“

„Sing mir bloß kein Schlaflied.“

„Nein. Ich kann nicht singen. Schlaf gut.“

„Dein Wort in Gottes Ohr.“

 

Ich habe beschissen geschlafen, ich habe schlimm geträumt. Mein Tag in der Praxis ist auch nicht viel besser. Ich habe einen Patienten angeschrien, es sei eine Unverschämtheit, sein Gebiss so verkommen zu lassen und dann ein Wunder von mir zu erwarten. Norbert, mein Kollege, hat dann übernommen und mich nach Hause geschickt. Er duldete keine Widerrede. Ich soll die ganze Woche zuhause bleiben, in diesem Wetter kommen sowieso kaum Patienten. Sie gehen alle nicht gerne zum Zahnarzt und dieser Schnee ist eine gute Ausrede, zuhause zu bleiben. Soll mir Recht sein. Ich fahre zum Supermarkt, decke mich mit Vorräten für die ganze Woche ein und nehme mir vor, meine freie Zeit zu genießen.

 

Das Wetter scheint sich nicht zu bessern, im Gegenteil, es wird nicht lange dauern, und wir sind komplett eingeschneit. Und als ich zuhause ankomme, hat Mike ein anderes Opfer gefunden. Er und Marion giften sich ge wieder einmal an. Sie droht ihm gerade mit Kündigung und er findet, das sei die beste Idee, die sie je hatte. Sie stehen sich ganz nahe, fast Nase an Nase und brüllen. Und dann geschieht etwas Seltsames. Er nimmt sie in den Arm und drückt sie fest.

„Es tut mir leid. Ich habe mir es auch anders gewünscht.“ sagt er.

„Ja. Ich auch. Aber es sollte wohl nicht sein.“ sagt sie und streichelt sein Gesicht.

Was erlebe ich denn da? Hat er seine menschliche Seite wiederentdeckt? Ich verdrücke mich schleunigst mit meinen Einkaufstüten, bevor Marion mich entdeckt und rausposaunt, dass ich die Tochter seines Freundes bin. Das muss ja nicht sein. Meine Tür ist nicht abgeschlossen. Dabei war ich sicher, das getan zu haben. Ich lasse meine Tüten fallen und eile zurück zum Wagen, um mein Tränengas zu holen, das sich immer im Handschuhfach befindet. Hoffentlich funktioniert es auch, wenn es gefroren ist, denke ich.

„Was ist?“ ruft Mike, der mich die Sprühdose ausprobieren sieht.

„Es war jemand in meinem Haus. Ich hatte abgeschlossen. Ich bin ganz sicher. Nur einer kann das gewesen sein.“

„Bleib hier. Ich sehe nach.“ Er kommt über die Straße.

„Du? Hast du meinen Mann schon einmal gesehen?“ Ich sehe ihn von oben bis unten an. „Der hat mich durch das ganze Haus geprügelt. Was meinst du, was er mit dir veranstaltet. Geh weg. Ich sehe selbst nach.“

Wir sehen gemeinsam nach. Rolf hat etwas gesucht. Keine Wertsachen. Die sind alle noch da. Ich weiß genau, was er gesucht hat. Das, was ich versteckt habe. Das Material über Mike Rutkowski.

„Hast du irgendetwas in der letzten Zeit getan, was das Interesse der Presse wecken könnte?“ Ich sehe ihn scharf an.

„Nein.“

„Dann hat sich deine Nadja an ihn gewandt. Ich weiß, was er gesucht hat. Das findet er aber nicht hier. Ich habe es vergraben.“ grinse ich. Obwohl, nach Lachen ist mir eigentlich nicht zumute.

„Der ist immer noch an mir dran?“ fragt er ungläubig. Er weiß also, wer ich bin. Das habe ich mir doch gedacht. „Was heißt das, du hast es vergraben?“

„Er sagte, er hätte etwas Sensationelles. Und dann habe ich mir alles geschnappt, habe es in einen Müllsack gepackt und habe es im Sandkasten vergraben.“

„Im Sandkasten?“

„Wir hatten einen Sohn. Leider hat er nie darin gespielt.“

„Timmi. Das ist also dein Sohn.“

„Nein. Das war mein Sohn. Woher weißt du seinen Namen?“

„Du schreist ihn in die Welt hinaus. Jede Nacht.“ sagt er ruhig. „Was hat er denn so Wichtiges über mich herausgefunden?“

„Ich habe keine Ahnung. Ich habe es mir nicht angesehen.“

„Dann lassen wir es dort, wo es ist. Ich wüsste nicht, was es sein könnte. Ehrlich.“

„Es ist mir auch gleichgültig. Ich muss einen Schlüsseldienst kommen lassen. Er hat noch einen Schlüssel. Dabei ist das eine Schließanlage. Es gab vier Schlüssel. Ich habe sie alle. Wie kann das sein?“

„Ich denke, mit den richtigen Kontakten ist das kein allzu großes Problem.“

 

Er wartet mit mir in der Küche auf den Mann vom Fachbetrieb. Ich will wieder ein spezielles Schloss, von dem man keine Nachschlüssel machen kann.

„Mike? Du siehst doch oft in mein Schlafzimmer. Hast du da in der letzen Zeit mal jemanden gesehen? Jemanden, der da nicht hingehört, meine ich. Ich hatte einen wirklich seltsamen Traum in der Nacht von Freitag auf Samstag. Es war so real.“

„Freitag auf Samstag. Da war ich leider nicht zuhause.“ sagt er verärgert. „Was hast du denn geträumt?“

Ich erzähle stockend von dem furchtbaren Traum. Er bekommt einen entsetzten Gesichtsausdruck. „Könnte es dein Mann gewesen sein? Er weiß doch bestimmt, dass du Alpträume hast. Vielleicht wollte er dir Angst machen?“

„Du glaubst nicht, dass es ein Traum gewesen ist?“

„Hört sich nicht so an, nein. Er könnte hier gewesen sein, dir etwas in ein Getränk getan haben und hat dich dann nachts besucht.“

„In ein Getränk. Das könnte sein. Ich hatte Wein getrunken, die Flasche stand offen im Kühlschrank. Jetzt habe ich sie leider weggeworfen.“ sage ich ärgerlich. Heute war die Müllabfuhr da gewesen, die Flasche ist weg.

„Wenn du möchtest – es ist nur ein Vorschlag. Ich könnte eine meiner Kameras auf deine Haustür richten. Dann kannst du dir morgens die Aufnahmen ansehen.“ sagt er ernst.

„Und wenn er durch die Hintertür kommt?“

„Lass dir einen Riegel dran machen.“

„Das ist eine gute Idee. Dass ich da nicht drauf gekommen bin. Ja. Richte die Kamera auf meine Haustür. Wenn es dir nichts ausmacht.“

„Nein. Nadja kommt sowieso nicht rein. Wir könnten es auch so machen. Wir lassen den Riegel weg und richten die Kamera auf dein Schlafzimmer. Du könntest in meinem Gästezimmer schlafen.“

„Wenn der Vorschlag nicht von dir wäre, fände ich ihn richtig gut.“ grinse ich. Wie bemüht er ist. Wie kommt der plötzliche Sinneswandel?

„Dann sollten wir aber das Schloss noch nicht einbauen lassen.“

„Er kann es hier lassen. Das schaffe ich noch, ein Schloss zu tauschen.“

 

Der Monteur lässt es hier, aber Mike nimmt es samt Schlüsseln mit in sein Haus. Dann packe ich mir ein paar Sachen und räume meine Einkäufe wieder aus dem Kühlschrank.

„Ich mache quasi Urlaub von meinem Leben. Richte dich schon mal auf schlaflose Nächte ein. Ich schlafe sehr laut.“ drohe ich, als wir bei ihm angekommen sind.

„Du laut, ich wenig. Passt doch.“ Er zeigt mir das Gästezimmer neben seinem Schlafzimmer. „Du kannst die Tür abschließen. Außerdem schließt du die Vorhänge. Es wäre ja kontraproduktiv, wenn er dich hier sehen würde.“

„Hoffentlich denkst du nicht, ich habe das erfunden, um mich bei dir einzuquartieren.“

„Ich habe dich eingeladen.“ sagt er knapp.

„Ich überlege immer noch, woher ich dich kennen sollte.“

„Ist nicht wichtig. Wie wäre es jetzt mit Kochen? Das kannst du doch? Essen kannst du jedenfalls gut.“

„Ja, das habe ich dir wohl voraus.“ erwidere ich spitz, aber nicht böse. Er sagt ja die Wahrheit.

„Ich finde es sinnlos. Wie so vieles.“

„Das mag sein. Ich finde auch vieles sinnlos. Aber ich tue es trotzdem und ich lebe einfach weiter. Irgendwann kommt der Tag, an dem ich es nicht mehr sinnlos finde. Ganz bestimmt.“ sage ich tapfer und stehe kurz vor einem Tränenausbruch. Mein Leben ist ein einziger Kampf. Ich habe nur keine Ahnung, worum ich kämpfe. Ich habe alles verloren. Ich hatte eine tolle Karriere vor mir, einen netten Mann, ein Kind. Und was habe ich jetzt? Alpträume und Angst, Schlafen zugehen.

„Das unterscheidet uns. In mein Leben wird keine gute Fee hereinschneien, ihr Zauberstäbchen schwingen und es wird alles wieder gut.“

„Das kann man nie wissen.“

„Bilde dir bloß nicht ein, du wärst die gute Fee. Du hast das schon einmal getan und es war ein Fehler.“ sagt er und besieht sich seine Schuhe, während wir auf dem Flur am Treppenabsatz stehen.

 

„Ich habe für dich die gute Fee gespielt? Du meinst die Unterlagen, die ich vergraben habe?“ Mike antwortet nicht. Also meint er etwas anderes. „Was hast du zu verlieren, wenn du es mir sagst?“

„Ich kann nichts mehr verlieren. Was willst du? Essen oder diskutieren?“

„Beides. Ich wollte schon immer alles.“ Dann fällt mir ein, was der Mann in meinem Traum gesagt hat. Du wirst dir bis an dein Lebensende ansehen, was du getan hast.

„Falls du dir einbildest, ich wäre die unbekannte Schöne, die dich gerettet hat, bist du schief gewickelt. An diesem Tag hat mich mein Mann ins Krankenhaus geprügelt.“ sage ich aufgebracht und gehe zum ersten Mal langsam die Treppe hinunter. Mike folgt mir. Er hat Schwierigkeiten damit. Er fängt an, seine Schwäche zu spüren, die das Hungern verursacht. Wahrscheinlich sitzt seine Prothese auch nicht mehr richtig, weil er so abgenommen hat.

Ich bleibe unten im Flur stehen und sehe ihn an.

„Zeig mir deine Handflächen.“ fordert er mich auf. Ich zeige sie ihm. Ich habe Narben, die durch den zerbrochenen Spiegel verursacht worden sind, gegen den mich Rolf geschleudert hat. Ich kann mich zum Glück nicht an diese Prügelorgie erinnern. Man sagte mir das im Krankenhaus.

„Woher sind die Narben?“ Er greift nach meinen Händen und untersucht sie genauestens. Seine Hände sind kühl, er hat also auch schon Probleme mit der Körpertemperatur. Eigentlich gehört er in eine Klinik, wo man ihn zwangsernährt. Wie kann er sich das antun?

„Es war der Flurspiegel. Rolf hat mich quasi dort hineingeworfen.“

„Sie sind nur in der Innenfläche. Findest du das nicht seltsam?“

„Was ich seltsam finde, Mike, ist die Tatsache, dass du verhungern willst. Dir ist ständig kalt, oder? Du trägst zwei Pullover übereinander. Hast du schon Krämpfe, weil dir Magnesium fehlt? Hast du schon Probleme mit dem Zahnfleisch? Warum tust du das? Das Leben ist ein Geschenk. Du hast kein Recht, dich derart zu bemitleiden, dass du es einfach so aufgeben willst.“ sage ich mit erhobener Stimme.

„Ach, habe ich nicht? Woher nimmst du dir das Recht, mir das zu sagen?“

„Du weist mich auch dauernd auf meine Ernährung hin. Das ist doch typisch. Dicke darf man beleidigen, was das Zeug hält. Aber Magersüchtige sind kranke, bedauernswerte Wesen. Du hast dich aufgegeben, bist aber zu feige, dich zu erschießen.“

„Nein. Ich habe es mir anders überlegt.“

„Irgendwann bist du zu schwach, um die Waffe überhaupt zu heben.“

„Wenn du jetzt weiter redest, sterbe ich vielleicht in den nächsten Minuten. Ich habe doch gesagt, wir essen. Wo ist jetzt dein Problem?“ sagt er aggressiv. Eine Haarsträhne wippt dabei und er sieht sehr aufgebracht aus.

Ich frage mich, warum ihm mein Vater noch nicht den Kopf zurechtgerückt hat und ich flitze in die Küche und sehe im Kühlschrank nach, was ich kochen könnte. Hoffentlich verträgt er das noch. Ich hole das Hühnchen heraus, das ich heute gekauft habe. Ich werde eine Suppe kochen. Ich werfe die Schale mit dem Suppengemüse auf den Tisch und suche in der Schublade nach einem Messer. Dann suche ich mir einen großen Topf und gebe das Hühnchen hinein. In Windeseile habe ich das Gemüse geschnippelt. „Hast du Reis da?“ frage ich ihn, der neugierig an der Tür steht.

„Sieh mal dort nach.“ Er zeigt auf einen Schrank, ich wasche das Gemüse und geben es in den Topf. Im Schrank befinden sich Vorräte für Wochen. Und er steht daneben und ignoriert das. Ich könnte ihn schlagen. Das Hühnchen wird lange brauchen. Ich muss vorher etwas essen. Ich schäle ein paar Mandarinen und zwei Äpfel. „Setz dich da hin und iss. Glaub ja nicht, dass ich dich darum bitte, so wie es Marion tut. Die hast du übrigens verloren, du Schlaumeier.“

„An wen?“

„An meinen Vater.“ sage ich triumphierend. Vielleicht öffnet ihm das die Augen. Er setzt sich gehorsam an den Tisch und steckt sich eine Mandarinenspalte nach der anderen in den Mund.

„Sie ist mit Bodo Stürmer zusammen.“

„Sag ich doch.“

„Das ist dein Vater?“ Er verschluckt sich derart, dass ich ihm auf den Rücken klopfen muss.

„Ja. Das ist mein Vater. Und die Vorstellung, dass die ätherische Marion, die übrigens jünger ist als ich, meine Stiefmutter werden könnte, finde ich irgendwie amüsant. Mama.“ grinse ich. Ich stecke mir eine halbe Mandarine in den Mund.

„Das findet sie nicht witzig, jede Wette.“ sagt er verwundert. Er sieht mich an. Er sucht wahrscheinlich nach einer Ähnlichkeit zwischen Bodo und mir. Aber ich sehe aus wie meine Mutter mit meinem schwarzen Haar und den blauen Augen.

„Dann könnte es geplant gewesen sein, dass er mir ausgerechnet dieses Haus schmackhaft machte? Hier liegt auch der Hund begraben, nur ist die Gegend näher an der Firma. So ein alter Fuchs. Und ich beleidige ständig seine Tochter. Ist doch nicht zu glauben. Du hast ihm das nicht erzählt, oder? Er hat nie etwas gesagt.“

„So beleidigt war ich nicht. Es hat ein bisschen Action in mein Leben gebracht. Ich habe mir auf dem Heimweg immer überlegt, was ich dir heute an den Kopf werfen werde.“

„Ja? Ich fühle mich direkt geschmeichelt. Was hast du dir für heute ausgedacht?“

„Zwangsernährung.“

„Ich werde alles essen, was du mir vorsetzt, versprochen. Besser ich esse es, als du stopfst es in dich hinein.“ grinst er unverschämt.

„Pass bloß auf, sonst fange ich an, dich zu mögen.“

„Das muss ich auf jeden Fall verhindern.“

„Zwischen Mögen und dem, was Nadja fühlt, liegen Welten.“

„Man sieht es den Menschen leider nicht an, wie verrückt sie sind. Sie schien mir so normal, so naiv und – einfach lieb.“

„Ja. So war mein Mann auch. Einfach lieb. Sonst wäre ich nicht auf die Idee gekommen, den zu heiraten, glaub mir das.“

„Denkst du manchmal, dass du blöd gewesen bist?“

„Nein. Ich konnte es zu dem Zeitpunkt nicht erkennen. Ich war nicht blöd.“

„Ich aber. Sie war mit Oliver zusammen und wandte sich dann mir zu. Das hätte mir gleich verdächtig vorkommen müssen.“ sagt er traurig.

„Du gibst ihr Macht. Tu das nicht. Sie hat Macht über dich. Es gibt noch andere Frauen, die dich wirklich lieben können. Lass dich nicht so hängen. Das will sie, um dann als große Retterin dazustehen.“

„Sie die große Retterin? Sie hat mir den Rest gegeben. Sieh mich an. Wer könnte mich lieben? Ich bin ein Krüppel. Du hast die Fotos in der Zeitung gesehen. Was stelle ich jetzt da? Was könnte ich einer Frau geben?“

„Wenn sie kommt, dann erinnerst du dich bestimmt daran.“

„Ich kann dir mal erzählen, was ich mit Marion gemacht habe. Ich bin wirklich ein Arschloch. Aber sie hätte es sonst nie begriffen. Sie war so schockiert. Sie hat mir so leid getan.“

„Ich weiß, was du getan hast. Du hast das getan, um sie zu schützen. Wenn du es anders gemacht hättest, sie hätte vielleicht damit leben können.“

„Vielleicht.“ brummt er.

„Jetzt liegt sie in Bodo Stürmers großem Bett. Du musst dir eine andere suchen.“

„Nein. Das ist vorbei. Ich kann dir mal zeigen, auf was sie die nächste einlassen müsste. Willst du es sehen?“

„Du sagst das, weil ich Ärztin bin, habe ich Recht? Aber Ärzte haben auch Empfindungen. Sie zeigen es nur nicht so deutlich.“

„Kannst du dir mal meinen Hals ansehen? Ich kann kaum den Kopf bewegen. Nadja sagte, das läge an vernarbtem Gewebe.“

„Ach, sie kann das beurteilen?“

„Sie ist Masseurin.“

„Und dann läufst du trotzdem so herum? Du kannst kaum den Kopf bewegen? Warum gehst du nicht mal zu einem Arzt?“

„Du bist doch hier.“

„Dann zieh mal deinen Rollkragenpullover aus. Ich muss es wenigstens fühlen können. Ich sehe auch nicht hin. Du willst das nämlich gar nicht. Du willst mich nur schockieren, glaube ich.“

Ich ziehe ihm den Pullover über den Kopf. Darunter trägt er einen mit V-Ausschnitt und darunter noch ein T-Shirt. „Dann lass mal sehen.“

„Ich dachte, du wolltest fühlen?“

Ich lege meine Hände um seinen Nacken. Seine Haut ist warm, aber anscheinend fühlt er das nicht. Er wird dauernd frieren. Dass er den Kopf nicht richtig bewegen kann liegt nicht an vernarbtem Gewebe. Man kann es deutlich fühlen, da er kaum Fettgewebe hat. „Hat sie etwas mit deinem Kopf gemacht? Gezogen oder gedehnt? Etwas in der Art?“

„Ja. Ich hatte dauernd Schmerzen. Aber es wurde davon nicht besser.“

„Habt ihr euch davor gestritten?“ Ich bewege sanft den Kopf hin und her. Sie hat einen Nerv blockiert, und zwar mit voller Absicht. „Hast du manchmal Probleme beim Sehen?“

„Ja.“

„Wie lange hast du das schon?“

„Etwa anderthalb Jahre.“

„Dann hoffen wir mal, der Nerv ist nicht dauerhaft geschädigt.“ Ich bin da kein Fachmann, und es ist gefährlich, was ich jetzt mache. Aber es knackt sanft und danach ist der Kopf wieder zu allen Seiten beweglich. Ich bin erleichtert. „Besser?“

„Ja. Der Schmerz ist weg.“ Er dreht verwundert den Kopf.

„Du solltest sie verklagen. Das ist gefährliche Körperverletzung. Sie wird eine empfindliche Strafe dafür bekommen. Haben die denn keinen Ehrenkodex?“ sage ich aufgebracht. Wie kann man so etwas tun!

„Du kannst dich wieder anziehen. Oder hast du noch eine Baustelle?“

Ich setze mich wieder hin. Er zieht sich wieder den Pullover über seinen eingefallenen Oberkörper. „Bist du meine Fee?“ fragt er lächelnd.

„Nein. Das war Nachbarschaftshilfe. Musst du nicht arbeiten? Ich will dich nicht stören. Du kannst das ruhig tun. Ich rufe dich dann zum Essen.“

 

Kapitel 2 Hotel Rutkowski


Ich gehe ihm erst nachts auf die Nerven. Ich habe ein kuscheliges Gästezimmer bezogen, nachdem wir gegessen und nett geplaudert haben. Er hat einen solchen Charme, dass man sein Aussehen ganz vergisst, wenn er redet. „Hier hat noch niemand geschlafen. Alle schönen Träume sind noch da.“ hat er gesagt, als wir hochgingen, er in sein Schlafzimmer, ich in das Gästezimmer. Ich habe die Tür offen gelassen. Der Flur ist schwach beleuchtet, das ist mir lieber, als in absoluter Dunkelheit zu schlafen. Wenn ich aufwache, womit ich sicher rechne, weiß ich nicht, wo ich bin und gerate dann erst recht in Panik.


Ich habe mich in ein nettes Nachthemd geworfen und bin erleichtert unter die dicke Decke geschlüpft. Wenn ich viel Glück habe, bleibt der Traum vielleicht weg. Ich schlafe auch recht schnell ein, seine Stimme noch im Ohr, die amüsante Geschichten über Hauskäufer erzählt hat. Und dann kommt irgendwann der Traum mit dem Mann wieder. Ich bin wieder gefesselt, mein Mund ist ausgetrocknet. Er flüstert sanft, ich würde hier nicht mehr herauskommen und er streichelt diesmal über mein Gesicht. Ich habe Todesangst, als ich in Schweiß gebadet aufwache.


„He. Es ist alles gut.“ sagt Mike. „Niemand hält dich fest. Es ist alles in Ordnung. Es ist kein Fremder hier. Was hast du mich erschreckt. Ich habe wirklich gedacht, es sei jemand hier.“ Er hat eine

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 13.04.2021
ISBN: 978-3-7487-8021-2

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