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Die Liebe

    Die Liebe ist einer tiefen, unergründlichen Schlucht gleich.
Ich lasse mich fallen.
Riskiere zu zerbrechen,
In der Hoffnung zu fliegen.

Flügelschlag

Raphael!“, erklang der panische Schrei, als der Speer durch seinen Körper stach und er erstarrte. Nur langsam realisierte er das Geschehene.

Warmes Blut floss an ihm hinunter und er hörte das hämische Lachen an seinem Ohr. Eine erheiterte, tiefe Stimme, die ihm irgendeinen Schwachsinn über den Tod erzählte, doch es war ihm gleich. Ich diesem letzten Moment, denn er wusste es war sein Ende, sah er nur den Engel mit seinen azurblauen Schwingen, welcher auf ihn zu geeilt kam. Er sah die Tränen, den Schmerz in dem Blick seines Geliebten…

Mit einem kräftigen Ruck wurde die Waffe aus seinem Leib gezogen. Nichts stütze ihn mehr und er sank auf die Knie. Seine Flügel konnte er nicht länger halten. Die Kräfte verließen ihn.

Zarte Hände fingen ihn auf, ein wohlbekannter Körper schmiegte sich an den seinen. Ein letztes Mal genoss er diese Nähe, bevor die Schwärze ihn erfasste.

Ich liebe dich.“, murmelte er. Das Schluchzen und Schreien seines Gefährten war das letzte was ihn aus dieser Welt erreichte.

 

Schweißgebadet setzte Raphael sich in seinem Bett auf. Er keuchte und spürte sein Herz rasen.

Schon wieder hatte er diesen Traum gehabt. Seit vier Wochen ein und denselben.

Er starb. Aber diese Tatsache war nicht so wichtig, wie dieser Engel, der seine Welt zu beherrschen schien. Immer noch hörte er die verzweifelten Schreie und Rufe.

Nach jedem Erwachen hatte er das Gefühl etwas wichtiges verloren zu haben. Jemanden verloren zu haben, doch er verstand einfach nicht wenn.

Woher kam dieser Traum? Er hatte nie jemanden, wie diesen Kerl gekannt. Ein Film, an den er sich erinnerte, oder vielleicht eine Geschichte aus einem Buch? Doch wieso träumte er immer wieder das Gleiche?

Seine Gedanken wurden durch das Klingeln seines Weckers unterbrochen. Einmal drückte er den Aus-Knopf, bevor Raphael die Füße aus dem Bett schwang und sich erhob, um ins angrenzende Badezimmer zu gehen, wo er sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Danach stütze er sich an dem Waschbecken ab und sah in den Spiegel.

Dunkle Ringe, lagen um seine Augen, die Wangen wirkten ein wenig eingefallen. Alles in allem sah er aus wie ein verdammter Zombie.

„Immerhin habe ich von meinem Tod geträumt.“, murmelte er, bevor er an die Seite nach seinem Handtuch griff, um sich das Gesicht abzutrocknen.

Gerade noch rechtzeitig, bevor seine Zwillingsschwester Mia in das Zimmer stürmte und ihm von hinten um den Hals fiel.

„Frühstück. Jetzt. Sonst kommst du zu spät!“ Mit jedem Wort wurde sie ein wenig lauter, bis sie ihm praktisch ins Ohr kreischte. Schmerzhaft verzog er das Gesicht.

„Hab ich eine Wahl, Nervensäge?“

„Nö! Übrigens Brüderchen, du siehst echt beschissen aus!“

Na, herzlichen Dank aber auch, dachte sich Raphael, bevor er die Arme seiner Schwester von seinem Hals löste und nach unten ging.

Das würde wieder ein super, geiler Tag werden… NICHT!

 

„Du siehst echt beschissen aus, Kumpel.“, ließ seine beste Freundin Sahara verlauten und ihr Freund Max der ihn nur eines kurzen Blickes würdigte nickte bestätigend.

Der Kerl hat tatsächlich immer noch Sorgen, dass ich irgendwann über ihn herfalle, dachte Raphael belustigt.

Tja, aber seit er sich unfreiwillig geoutet hatte, war das noch eine der besten Reaktionen gewesen.

„Hab ich ihm heute Morgen auch schon gesagt.“, meinte Mia und ließ sich auf den freien Platz neben Sahara fallen.

Ihr Gerede darüber, wie gut an so etwas mit ein wenig Make-up abdecken konnte ignorierte Raphael einfach. Schwul oder nicht, er war immer noch ein Mann und das Tragen von Make-up war ihm dann doch eine Nummer zu viel.

„Hattest du wieder diesen Albtraum?“

Ein kräftiger Arm legte sich um seine Schulter. Neben Raphael stand nun der riesiger Daniel, der ihn besorgt von oben herab ansah.

Falls es jemand wissen will: Nein, er ist nicht seine heimliche Liebe! Nein, sie sind nicht zusammen und Ja, es ist normal, dass er Raphael so behandelt, wie jetzt, wo er ihm mit einer Hand durch das Haar wuschelte und ihm zugleich einen Kuss auf die Stirn gab.

Man oh man.

„Lass das!“

Sogleich ließ Daniel von ihm ab und schlenderte schulterzuckend zu seinem Platz gleich hinter Sahara.

„Ich dachte, dass es dir ein wenig hilft.“

„Nicht wirklich wie du siehst.“, konterte Raphael und konnte sich nur mit Mühe ein Augenrollen verkneifen, während er sich zu seinem eigenen Platz begab, der ganz hinten lag und damit sehr weit weg von seiner Clique. Keinen Moment zu spät ließ Raphael sich auf den alten Holzstuhl fallen, unter dem sich vermutlich schon ein ganzer Haufen alter Kaugummis angesammelt hatte, als die Kursleiterin auch schon den Raum betrat und auch schon gleich damit begann den wissbegierigen Schmarotzern, wie sie ihre Schüler so schön nannte, den Tag mit Wahrscheinlichkeitsrechnung zu versüßen.

 

Nach der Schule, da waren sich alle einig, ging es an den nahe gelegenen Badesee. Auch wenn sich alles in Raphael dagegen sträubte mitzufahren. Größtenteils lag es an den blonden Locken, dem dürren Körper und gigantischen blauen Schwingen, die schon die ganze Zeit vor seinem inneren Auge rumgeisterten.

Dieses Mal war irgendetwas anders. Der Traum schien präsenter zu sein. Verfolgte ihn zum ersten Mal auch im wachen Zustand, sobald er die Augen schloss.

Die anderen bemerkten natürlich seine Abwesenheit und er war ihnen dankbar, dass sie ihn mit irgendwelchen Fragen verschonten, obwohl sie ihn zwangen zum See mit zu kommen.

Irgendwie quetschte sich die Gruppe zu fünft in Saharas kleinen Wagen. Raphael muss sich ganz klar eingestehen, dass es nicht gerade hilfreich von den beiden Mädels gewesen war die drei Kerle nach hinten zu setzten. Max stimmte ihm da nur all zu gerne zu, war doch der Beifahrersitz zu seinem Stammplatz geworden, um den er sich nur ungern mit Raphaels Schwester stritt, doch all seine Küsschen, Kuschelversuche und Komplimente halfen da nichts. Sahara war unerbittlich und Daniel und Raphael lachten den anderen schamhaft aus, als er beleidigt vor sich hin brummend mit auf den Rücksitz stieg.

 

Trotz dieser lustigen Zurschaustellung inniger Liebe, atmeten alle dann doch befreit auf, als sie endlich aussteigen konnten.

Eine Decke, die Sahara steht’s dabei hatte, holten sie hinten aus dem Wagen.

Die beiden Mädchen schlenderten mit deutlich übertriebenen Hüftschwung voran, obwohl es bei Mia nicht so extrem wirkte, wie bei Sahara, die Max vermutlich damit ein wenig einheizen wollte. Amüsiert sah Raphael wie den beiden Kerlen der Sabber aus den Mündern lief, wobei Daniels Augen eindeutig an seiner Schwester hingen. Es machte ihm nur wenig aus, wusste ich doch schon seit fast 2 Jahren, was sein bester Freund für Mia empfand und langsam schienen die beiden auch voran zu kommen.

Er freute mich für die beiden, obwohl auch ein wenig die Eifersucht an ihm nagte.

 

Raphael!

 

Die von Panik erfüllte Stimme des Traum-Mannes kam ihm sofort in den Sinn. Er stolperte und wäre ganz sicher auf die Schnauze gefallen, hätten Daniel und Max ihn nicht aufgefangen.

„Pass auf!“

Sogleich versuchte Raphael das Gefühlschaos zu verbergen, welches in ihm aufkam. Er verdrängte alle Erinnerungen an seinen Traum, den jungen Mann und auch den damit verbundenen Schmerz, richtete sich wieder auf und grinste seine Freunde ein wenig debil an. Seinen kleinen Fall schob er auf seine Tollpatschigkeit und legte einen Schritt zu um in der Mitte der Gruppe zu laufen und somit niemandem in die Augen schauen zu müssen.

Was war nur mit ihm los? Raphael erkannte sich selbst nicht mehr wieder, überlegte sogar schon den Vorschlag seiner Schwester anzunehmen und sich an einen Spezialisten zu wenden, den das diese Träume so sehr sein Leben beeinflussten konnte einfach nicht normal sein.

Am Ufer des Sees angekommen half er den Mädels dabei die Decke auszubreiten. Außer ihnen befand sich niemand an dem See. Im Verlauf des Tages würde sich das natürlich ändern, denn das Wetter war fantastisch, doch jetzt genoss Raphael die Stille um sie herum.

„Was fehlt sind ein paar kalte Getränke.“, jammerte Mia als sie sich neben ihren Bruder auf die Decke legte.

„Stimmt, daran hätten wir wirklich denken können.“, antwortete Raphael, während sich die anderen schon die Kleider vom Leib rissen, um so schnell wie möglich ins Wasser zu kommen.

„Mia? Kommst du mit.“, hörte Raphael Daniels gemurmelte Frage. Er öffnete unauffällig ein Auge und schielte zu seiner Schwester rüber. Bei dem tiefen Rotton ihres Gesichts konnte er sich ein Grinsen kaum verkneifen.

Zögernd griff sie nach Daniels ausgestreckter Hand und ließ sich von dem Kerl hoch ziehen, doch so einfach würde er sie nicht gehen lassen, immerhin hatte Raphael hier den Job eines jeden Bruders zu erledigen.

„Wenn du ihr wehtust, kastriere ich dich! Hörst du Daniel!“

Zufrieden bemerkte er, wie sein bester Freund zusammenzuckte, sich letztendlich doch zu ihm umwandte und verstehend nickte.

„Du bist ein Arsch, Raphael!“, schimpfte seine Schwester, was er allerdings schlicht und einfach ignorierte.

Etwas schwerfällig setzte er sich auf und sah den beiden Paaren nach, die lachend an den See eilten. Wie gern würde er das Gleiche erleben.

 

Diesen Wunsch erfülle ich dir gern.

 

Verwirrt sah sich Raphael um, in dem Versuch herauszufinden, woher diese Frauenstimme kam. Doch außer ihnen war niemand da

Er konnte doch…Nein. Wahrscheinlich hatte er es sich nur eingebildet. Eine andere Erklärung gab es einfach nicht. In der Hoffnung sich ein wenig zu entspannen, legte Raphael den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel hinauf, wo vorbeiziehende Wolken immer wieder ihre Gestalt veränderten. Er versank in dieser Betrachtung, wurde langsam schläfrig, bis ein kleines Aufblitzen hoch über ihm seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Das Objekt wurde immer größer, klarer. Etwas stürzte hinab. Sofort sprang Raphael auf und rief den anderen eine Warnung zu. Während die Mädels ihn nur verwirrt anschauten, bemerkten auch Max und Daniel, dass etwas nicht stimmte. Sie griffen nach den Mädels und eilten mit ihnen zusammen zurück zur Decke. Keine Sekunde zu spät, denn schon klatschte das fallende Objekt ins Wasser. Federn und eine gigantische Fontäne schossen in die Luft.

„Scheiße! Was war das denn?!“

Raphael beachtete Max Ausruf nicht, sondern bewegte sich langsam in Richtung Wasser, als dieses sich wieder beruhigte und wieder so still dalag, wie bei ihrer Ankunft. Nur dass nun unzählige azurne Federn die Oberfläche zierten.

Auch die anderen hatten sich in Bewegung gesetzt, hielten aber anders als Raphael einen gewissen Sicherheitsabstand zum Gewässer.

„Raffi, komm zurück und lass uns von hier verschwinden.“, zischte Mia ihm zu.

Raphael hörte sie nicht. Er war wie in Trance. Irgendetwas rief nach ihm.

 

Wenn du dich nicht beeilst ertrinkt er vielleicht.

 

Wieder diese weibliche Stimme, doch dieses Mal hinterfragte Raphael sie nicht.

„Raffi, was tust du da.“, brüllten seine Schwester und Daniel zusammen, als er sich die Schuhe von den Füßen streifte und ins Wasser stieg. Er beachtete die Rufe der anderen nicht, watete hinein ins kühle Nass, bis es ihm bis zur Brust reichte, dann tauchte er ab. Pflanzen wickelten sich um seine Glieder. Einmal versuchte er sogar die Augen zu öffnen, doch er sah nichts als das trübe Wasser des Sees, während er weiter schwamm.

 

Raphael!

 

Genau hier! Direkt unter ihm. Raphael packte zu. Er erwischte irgendetwas , dass sich anfühlte wie ein Arm. Es zog ihn nach unten. Die Luft wurde ihm langsam knapp und Raphael sammelte noch ein letztes Mal alle Kräfte, ertastete mit den Füßen etwas Festes und stieß sich nach oben ab, katapultierte sich mit seinem Fund an die Oberfläche.

Keuchend öffnete er die Augen, hörte hinter sich seine Schwester und Sahara kreischen, während die Jungs ebenfalls sehr komische Töne von sich gaben. Blinzelnd öffnete er die Augen.

Blonde Locken, ein zierlicher Körper und…zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, starrte Raphael auf die azurblauen Schwingen und den jungen Mann, der in seinen Armen lag.

Das konnte doch nur ein Witz sein. Erneut bemerkte er, dass sie nach Unten gezogen wurden. Das mussten diese Flügel sein.

Angestrengt versuchte Raphael mit seiner Last durch das Wasser zu schwimmen, doch der junge Mann aus seinen Träumen war einfach zu schwer. Ein Glück dass ihm Daniel auf halben Weg entgegen kam, der sich als einziger aus seiner Schockstarre hatte lösen können.

Sie schleppten den Geflügelten ans Ufer, wo sich Raphael sofort über ihn beugte seine Hände auf den Brustkorb presste. Er drückte einige Male zu, bevor er den Kopf des blonden Mannes überzog, ihm die Nase zudrückte und seinen Mund auf den leicht geöffneten des anderen legte und ihn beatmete. Um sich herum hörte er die hysterischen Gespräche seiner Freunde, die meinten langsam den Verstand zu verlieren.

Ein leises Rascheln ließ Raphael zu den riesigen Schwingen blicken, die sich leicht bewegten. Ihm wurde zum ersten Mal bewusst, wie absurd diese Situation war. Er beatmete einen…einen Engel? War das eigentlich möglich oder verlor er nun ganz sicher den Verstand? Er wusste es nicht mehr.

Erst als kräftige Hände an seinen Brustkorb drückten, gelangte Raphael zurück ins hier und jetzt. Hustend wand sich sein Traum-Mann ab und spukte Wasser, während er sich auf Raphaels Oberschenkeln aufstützte.

Die Flügel schlugen ein wenig aus und die weichen Federn kitzelten über Raphaels Gesicht. Nein, es konnte einfach kein Traum sein.

Wimmernd wichen die Mädchen zurück. Er sah die Panik in ihren Blicken. Max und Daniel positionierten sich wie echte Beschützer vor ihnen.

„Raphael?“

Irritiert sah er in die Richtung aus der sein Name erklang. Blaue Augen sahen ihn an. So genau wusste er nicht, was der andere in diesem Moment empfand. Eine seltsame Mischung aus Angst, Panik, Unglauben und Hoffnung. Die Zeit es so genau zu analysieren fand Raphael dann auch nicht mehr, bevor sich die Arme des Blonden um seinen Hals schlangen, sich der zierliche Körper an ihn drückte und sich die blauen Schwingen entfalteten. Auf einmal waren da warme, weiche Lippen die sich auf seine schmiegten, ganz anders als die lebensrettende Berührung zuvor und anstatt sich zu wehren, versank Raphael darin. Es war ihm egal, dass es diesen Augenblick gar nicht hätte geben dürfen, dass Männer mit Flügeln eigentlich nicht existieren durften und dass er anscheinend vollkommen von Sinnen war und dringend Hilfe brauchte. Alles was zählte war diese eine zarte Berührung die durch die fließenden Tränen des blonden Engels leicht salzig schmeckte.

 

 

 

Fallen lassen

Stumm saß Michael am Rande der Schlucht und starrte in den hellen Morgenhimmel, wo sich die jungen Engel austobten. Ihre Grenzen testeten, oder einfach nur aus Freude am Fliegen die Lüfte eroberten.

Leicht spürte er das Vibrieren seiner eigenen Schwingen als ein kräftiger Luftstrom die Federn streifte. Automatisch griff er sich ins blonde Haar um die schwarze Feder, welche ihn zierte, an Ort und Stelle zu halten.

Zart strich er über die weichen Fasern. Er erinnerte sich genau daran, wie diese Flügel einmal über den Himmel geflogen waren, erinnerte sich an das Lachen und an das strahlende Lächeln seines Gefährten. Die Berührungen und jedes geflüsterte, leidenschaftliche Wort.

Alles war ihm genommen worden.

An diesem Tag vor fast dreihundert Jahren hatte nicht nur sein Geliebter sein Leben verloren sondern auch Michael. Sie waren zusammen gestorben.

„Michael.“

Gabriels Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Der große Engel stand direkt hinter ihm, zusammen mit seinem Gefährten.

Ikarus trat auf Michael zu. Die Enden seiner missgestalteten Schwingen berührten tröstend Michaels Arm. Der erdgebundene Engel wusste genau wie es um ihn stand. Schweigend akzeptierte Michael diese Geste, obwohl er sich normalerweise nicht von anderen anfassen ließ. Zu sehr schmerzte es ihn.

Auch der Erzengel trat zu ihnen. Seine mächtige Gestalt überragte die beiden anderen und die Mine war vollkommen verschlossen. Nicht eine einzige Emotion konnte Michael daraus ablesen. Wie Ikarus es schaffte den goldenen Engel und seine kalte Art zu lieben und zu verstehen, begriff er bis heute nicht, dabei wusste er am besten, das die Liebe manchmal seltsame Wege ging.

 

Wenn wir alleine sind ist er anders, hörte Michael Ikarus Stimme in seinem Kopf.

Kann ich mir nicht vorstellen.

Sagt der, welcher den Schatten bezwungen hat.

 

Sogleich hielt er die schwarze Feder fest, als Ikarus mentaler Griff ein wenig daran zupfte.

 

„Hört auf. Ich kann es nicht ausstehen, wenn ihr mich mit euren übernatürlichem Gelaber ausschließt.“, sagte Gabriel, in seiner gefühlskalten Art. Einzig wie er den linken Flügel ein wenig steckte um den seines Gefährten zu berühren, ließ auf seine Gefühle für Ikarus schließen.

„Du bist doch sicher nicht hier, um uns neuer Höflichkeitsformen zu belehren. Was willst du Gabriel.“

Michael bekam nicht mehr als einen intensiven Blick aus goldenen Augen, der in sogleich daran erinnerte, wenn er vor sich hatte und wie er sich Gabriel gegenüber verhalten musste. Verfluchte Erzengel mit ihrer Autorität.

Erst als Michael sich von dem Älteren abwandte, sprach dieser weiter.

„Mikana will dich sehen.“

„Mikana, ja?“, wiederholte Michael und schaute wieder zurück Richtung Himmel. „Will sie mich wieder für dreihundert Jahre ans Leben binden? Sag ihr, dass sie es vergessen kann. Mein Versprechen habe ich gehalten! Jetzt hat sie ihres zu erfüllen. Ich bin frei!“

„Dieses letzte Wiedersehen wirst du mir doch noch gönnen.“

Überrascht wandte sich Michael der Halbgöttin zu, die sich unbemerkt an sie herangeschlichen hatte. Er stand auf und deutete eine kleine Verbeugung an, bevor er sich aufrichtete und die Schultern strafte.

Wenn sie nun wieder auf die Idee kam ihm ein Versprechen aufzubinden, so konnte er sich wahrscheinlich nicht dagegen wehren.

„Mikana.“

„Entspann dich, Engel.“, erwiderte sie, ging auf ihn zu, bis kein Blatt mehr zwischen sie passte. Eine zierliche Hand legte sich auf seine Brust, streichelte die festen Muskeln. Gern hätte er sie einfach weggeschoben, doch bei dieser Halbgöttin konnte er es sich nicht erlauben, deshalb stand er einfach nur bewegungslos da.

„Ich will dich nicht wieder binden. Du weißt dass ich Gefühle nicht verstehe, doch ich kann dir ehrlich sagen, dass du mir wichtig bist. Ich will dich nicht verlieren, Michael.“

„Mein Versprechen ist erfüllt. Ich muss endlich gehen. Lass mich.“

Sie begriff nicht welche Qualen er litt und doch nickte sie zustimmend.

„Ich lass dich gehen.“, sagte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und kam ihm näher, bis ihre Nasen sich beinahe berührten. „Doch lass mich dir zuvor noch deinen innigsten Wunsch erfüllen.“

„Dass kannst du nicht.“

Ihr Lächeln sandte ihm einen unangenehmen Schauer über den Rücken.

„Sicher.“

Ein tiefer Schmerz ging durch seine Flügel. Michael schrie auf, versuchte sich von Mikana zu lösen, doch sie hielt ihn viel zu fest.

„Wehr dich nicht, Engel.“

Ein Stoß. Er stolperte über die Kante, versuchte sein Gleichgewicht zu halten doch er schaffte es nicht. Ein letzter Blick.

Mikana die ihm lächelnd zuwinkte.

Ikarus und Gabriel, die untätig daneben standen.

Seine Flügel bewegten sich nicht. Michael konnte sich nicht länger halten. Er fiel.

 

Immer weiter entfernte sich das Himmelsschloss, immer näher kam die Erde.

Michael fühlte sich verraten. Der Grund für Mikanas Handlung wollte einfach nicht in seinen Kopf.

 

Wehr dich nicht. Er fängt dich auf.

 

Irgendwo dort untern hörte er jemanden schreien. Dann traf er auf Wasser. Der Aufprall jagte ihm die Schmerzen durch den ganzen Körper. Das kalte Nass schloss sich über ihm zusammen, drang in seine Lungen.

Das also war sein Tod, dachte sich Michael, als sein Körper aufhörte sich zu wehren, seine Glieder schwer wurden und seine nutzlosen Flügel ihn immer weiter Richtung Grund zogen.

Ein letzter Gedanke kam ihm bevor das dunkle Nichts ihn umfing.

Raphael!

 

Jemand blies warme Luft in ihn hinein. Er begriff sofort, dass er atmen musste, doch sein Körper protestierte, den zuerst musste das ganze Wasser hinaus. Seine Hände versuchten von Selbst das Hindernis zu beseitigen, welches sich immer noch auf seine Lippen drückte. Pressten kräftig dagegen, bis es nachgab und er sich endlich abwenden konnte. Michael hustete und würgte das Wasser hinaus, während etwas festes ihm halt gab. Um sich herum hörte er Gerede und Gekreische, doch dass interessierte ihn nur wenig. Eine ganze Weile lag er so da und hustete das Wasser aus seinen Lungen.

Nur langsam richtete er sich auf und sah sich in seiner Umgebung um.

Eindeutig auf der Erde. Überall sah er Wiese und Bäume. Vor ihm standen vier Menschen. Zwei junge Frauen, die ihn voller Angst ansahen und zwei Männer, vermutlich in demselben Alter, welche beschützend vor ihnen standen.

Kurz versuchte Michael seine Flügel zu bewegen. Mehr als ein Strecken war nicht drin. Deutlich spürte er, wie die Federn auf leichten Wiederstand stießen. Er drehte sich ein wenig bis er sehen konnte, was es war.

Nein…Das konnte doch nicht…

„Raphael?“, brachte er leise hervor und tatsächlich wandte sich der Angesprochene ihm zu. Haselnussbraune Augen sahen ihn fragend an. Die dunklen, nassen Haare fielen ihm ein wenig in Gesicht.

Dieses geliebte Gesicht, das er seit verfluchten dreihundert Jahren so schmerzlich vermisste. Diese Augen, die ihn Nacht um Nacht in seinen Träumen verfolgten.

Raphael!

Zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, schlang er die Arme um den größeren. Zu lange war es her, dass er seine Wärme gespürt, seinen Körper berührt hatte. Michael drückte sich an seinen Geliebten. Seine Flügel entfalteten sich ganz von alleine, als er die Lippen auf die Raphaels legte. Wärme, Hoffnung und übermenschliche Freude durchfluteten ihn bei dieser winzigen Berührung. Raphael wehrte sich nicht, lies sich ebenfalls in diesen Kuss fallen.

Es war wieder wie damals. Alles war zurück. Sein Herz pumpte, das Leben fuhr durch seine Adern.

Beinahe verzweifelt klammerte sich Michael an den anderen, mit der Angst es wäre doch nur ein Traum und gleich würde er aufwachen. Salzig schmeckten seine Tränen, die sich in diesen Kuss mischten.

Alles war wieder vollkommen, bis Raphael auf einmal von ihm weggezogen wurde.

Erschrocken öffnete Michael die Augen und sah, wie die beiden Männer seinen Gefährten an den Armen gepackt hatten und Raphael, der seinen Blick immer noch auf Michael ruhen hatte, hinter sich her schleppten.

In einem verzweifelten Versuch an seinen Gefährten zu gelangen, streckte Michael den Arm aus, versuchte sich aufzurappeln, um die Gruppe, die sich immer weiter entfernte ein zu holen, doch es funktionierte nicht. Sein Körper bewegte sich nicht.

Er blieb sitzen. Tränen flossen unaufhörlich über sein Gesicht, alles was er noch konnte war Schreien.

 

Raphael hörte den verzweifelten Schrei des Geflügelten. Ein letzter Blick zeigte ihm, wie der Blonde dort am Ufer saß. Sein Körper zitterte, die Flügel lagen ausgestreckt am Boden.

Er riss sich von Max und Daniel los. Mia versuchte ihn noch aufzuhalten aber da hatte er sich schon von ihnen abgewandt.

„Raphael bist du verrückt?!“, schrie seine Schwester.

„Ich kann ihn nicht so da lassen!“

„Sei kein Idiot! Ich meine schau dir den Kerl an! Er hat Flügel! Gigantische blaue Flügel!“

Sie fasste ihn am T-Shirt und wollte ihn hinter sich her ziehen.

„Aber er ist in meinen Träumen!“

Wieso es ihm so wichtig war, verstand er nicht, doch er konnte den Geflügelten nicht einfach so sich selbst überlassen. Auch verspürte er keinerlei Furcht, anders als es bei den anderen der Fall zu sein schien.

„Ich schwöre es euch, er ist nicht gefährlich!“

„Woher zum Teufel willst du das wissen?!“, brüllte Max in an.

„Ich weiß es einfach. Vertraut mir, bitte.“

Alle schienen sich unsicher, sogar Mia, die sonst immer für ihn da war, stellte sich nun hinter Max und Sahara in Sicherheit. Dann kam das Überraschende. Daniel gesellte sich zu ihm, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sah ihm direkt in die Augen.

„Du weißt was du tust.“, stellte er fest. „Ich glaube dir, Kumpel.“

„Das ist nicht dein Ernst, oder Daniel?“, wollte Mia wissen.

„Ein wenig unsicher bin ich mir schon. Ich meine, da sitzt ein Kerl mit Flügeln am Ufer, aber erstens ist das auf der anderen Seite auch total abgefahren und zweitens können wir ihn schlecht so da lassen, oder.“

Ohne noch weiter darüber nach zu denken, eilte Raphael die Lichtung zurück, bis er vor dem Geflügelten zum Stehen kam.

Die leisen Schluchzer des Blonden waren wie Nadeln, die sich in sein Herz versenkten. Leise kniete er sich vor den Blonden, fasste mit der Hand nach seinem Gesicht und hob langsam seinen Kopf.

Das kurze Zusammenzucken des Mannes ignorierte er einfach.

Ein verletzter Blick aus blauen Augen bohrte sich in ihn hinein.

Vorsichtig fasste er einen Arm des Mannes und legte ihn sich über die Schulter. Zur gleichen Zeit trat auch Daniel an die andere Seite und wiederholte das Vorgehen. Panisch schaute der Blonde zu Raphaels bestem Freund und wieder zurück.

„Er ist ein Freund und will nur helfen.“ Sogleich entspannte sich der Geflügelte zwischen ihnen. Schweigend ließ er sich von ihnen mitziehen, wobei er Raphael aber nicht aus den Augen ließ, als hätte er Angst, dass er verschwinden würde.

„Komm schon, jetzt bringen wir dich erstmal nach Hause.“

„Wenn wir diese Flatterdinger ins Auto gequetscht bekommen.“, fügte Daniel nachdenklich hinzu

 

 

Träume

Bereits auf halbem Weg zum Wagen tauchten die ersten Probleme auf. Der Geflügelte verlor einfach das Bewusstsein und sackte in sich zusammen. Die Muskeln hielten die riesigen Schwingen nicht länger und mit einem Mal wurde der Blonde so schwer, dass Daniel und Raphael gemeinsam Mühe hatten den anderen zu halten.

„Verflucht!“, ächzte Daniel und Raffi konnte ihm da nur zustimmen, wurde er ja selbst vom Gewicht des Geflügelten beinahe in die Knie gezwungen.

„Max! Hilf doch mal mit!“

Zu dritt brachten sie den Bewusstlosen zum Wagen. Mit ein wenig Fantasie schafften sie es sogar unglaublich schnell ihre Last in Saharas kleinem Gefährt zu verstauen, wobei Mia nun auf Daniels Schoß auf dem Beifahrer Platz nehmen musste und Sahara zusammen mit Raphael und dem Geflügelten hinten saß. Es gefiel ihr nicht Max fahren zu lassen, doch davon wollte Raphael nichts hören. Sollte sie doch schmollen wie ein Kleinkind, doch nicht nur von den Flügeln ihres Findelkindes erdrückt zu werden, sondern auch noch von Max massiger Gestallt, dass würde er garantiert nicht aushalten.

Glücklicherweise war die Fahrt bis zu ihrem Haus nicht unglaublich lang, obwohl diese 20 Minuten durchaus ausreichten um Raffi ein paar Rückenschmerzen zu bereiten. Max bog in ihre Einfahrt ein. Erleichtert stellte Raphael fest, dass seine Eltern nicht zu Hause waren. Gut jetzt mussten sie den Blonden nur noch durch das Haus in die Separate Wohnung der Geschwister tragen.

Wer sich wundert, es war gar nicht so einfach gewesen ihre Eltern dazu zu überreden diese Räume in ihr persönliches Reich verwandeln zu dürfen, die Bedingung war natürlich, dass er und Mia sich selbst um die häusliche Arbeit kümmerten…Wenn überraschte das?

 

„Passt doch mit den Flügeln auf, bevor ihr sie ihm noch brecht!“, zischte Mia von draußen und Sahara schlug ihrem Freund auf die Hände, als er wieder viel zu fest zupackte und an den Schwingen zog, um Raphael, der immer noch unter dem Bewusstlosen im Wagen feststeckte, von eben diesem zu befreien.

„Macht das doch besser, verflucht noch mal! Der Kerl wiegt ne Tonne.“ Max versuchte erneut zu ziehen, gleichzeitig griff auch Daniel zu und gab sich alle Mühe so vorsichtig wie Möglich den Geflügelten aus dem Auto zu holen. Und tatsächlich schafften sie es.

„Endlich“, stöhnte Raphael. Seine Knochen gaben ein unangenehmes Knacksen von sich, als er mühevoll aus dem Wagen kletterte. „Und jetzt schaffen wir ihn nach oben.“

 

 

Er stand ganz allein in der großen Halle, die, bis auf das schwache Licht einer einzelnen Kerze direkt vor ihm, von Dunkelheit erfüllt war. Die Flamme tanzte einen kurzen Augenblick. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass jemand bei ihm war.

Versteck dich nicht. Ich weiß, dass du hinter den Säulen stehst.“

Ein kurzes Rascheln. Federn die über den Boden schleiften und unwillkürlich musste er grinsen. Nur ein junger Engel würde seine Flügel soweit absenken, dass sie den Boden berühren.

Was machst du?“, fragte der Eindringling zaghaft.

Ich bete, junger Engel.“

Dann…störe ich gerade?“

Ja, sowas in der Art.“

Tschuldigung…dann…dann geh ich einfach wieder…lass dich nicht stören.“

War das nicht einfach knuffig? Er lachte und drehte sich nun zu seinem Besucher um, wobei eine kleine Bewegung seines Flügels ausreichte, um die an der Wand befestigten Lichter zu entzünden und den Raum in sanftes Kerzenlicht zu tauchen.

Vor ihm stand ein schwächlicher Junge. Schmal, klein blond und mit wirklich riesigen blauen Augen, die ein wenig ängstlich zu ihm hinaufsahen.

Nun ist es auch zu spät. Was verschafft mir die Ehre.“ Er trat wenige Schritte hinunter vom Podest und ließ sich auf der obersten Stufe nieder. Die Flügel breitete er ein wenig aus und beobachtete dabei amüsiert den Blick des Jünglings, der fasziniert auf die dunklen Schwingen ruhte.

Also?“

Kurz schüttelte der Engel den Kopf.

Er selbst musste grinsen, während der Kleine sich auf ihn zubewegte und sich vor ihm auf dem Boden niederlies.

Heb etwas die Flügel an, sie schleifen über das Parket.“

Etwas irritiert sah ihn der Blonde an, bevor er nickte und seine Flügel anhob und etwas spreizte. Zufrieden lächelte er den Kleinen an.

Du wolltest etwas von mir?“

Ein Nicken war alles, was er als Antwort bekam.

Und…was?“

Der junge Engel schien sichtlich Verlegen. Selbst bei Kerzenlicht konnte er erkennen, wie die Röte in seine Wangen stieg und er immer wieder zu Boden und zurück zu ihm schaute.

Nun hab dich nicht so, Kleiner! Ich bin fast 2000! Vor mir muss dir nun wirklich nichts peinlich sein.“

Nicht peinlich. Ängstlich.“, wisperte der junge Engel und rutschte etwas auf seinem Platz hin und her.

Na, holla! War das gerade sein Herz, welches ihm aus der Brust springen wollte. Plötzlich fingen die blauen Schwingen des Knaben, die sich unruhig bewegten seinen Blick ein.

Wovor fürchtest du dich?“

Vor der Antwort“, gab der Knabe unumwunden zurück und erstaunt über diese direkte Aussage hob er eine Braue und musterte den Kleinen genauer, der im nun fest in die Augen sah.

Wie kann man sich vor einer Antwort fürchten, die man nicht kennt?“

In dem man sie sich bereits von vornherein denken kann!“

Was für ein Schwachsinn, Kleiner! Dann müsstest du die Frage nicht stellen.“

Er brauchte einen Moment, doch dann straffte der Blonde die Schultern, nahm einen tiefen Luftzug, richtete sich auf, wobei er seinem Gegenüber tief in die Augen sah.

Werde mein Gefährte, Raphael!“

Anders als überrascht konnte man den Ausdruck des Ältere nicht nennen. Er brauchte einen Moment um die Worte zu verarbeiten, doch selbst dann wollten sie ihm irgendwie nicht aufgehen.

Das war keine Frage.“, sagte er etwas dümmlich und nun war es an dem Jüngeren zu grinsen.

Nein, aber eine Antwort hätte ich trotzdem gern!“

Ich kenn dich noch nicht einmal!“

Lächelnd stand der Kleine auf, die Flügel stolz erhoben. Von dem eingeschüchtertem Jungen war nichts mehr übrig. Langsam bewegte er sich auf Raphael zu, bis er direkt auf der Stufe vor ihm stand. Der Kleine hockte sich hin, wobei er sich mit den Unterarmen auf Raphaels Schenkeln abstützte.

Mein Name ist Michael und ich will dich als meinen Gefährten, dunkler Engel! Also, was sagst du?“

Tja…was konnte man nur darauf erwidern…

 

Michael erwachte, eingewickelt in mehrere Lagen warmen Stoff und auf einem weichen Untergrund. Von irgendwoher ertönte eine leise Melodie und eine sehr angenehme Männerstimme sag dazu.

Gähnend richtete er sich auf und befreite sich von den Decken, die ihn warm gehalten hatten. Erstaunt bemerkte er, dass es diese Last nicht mehr gab, die ihn normalerweise jeden Morgen noch dazu zwang ein wenig länger im Lager zu bleiben. Erstaunt blickte er über die Schulter und bemerkte seine fehlenden Flügel, an deren Stelle sich nun dunkle Schnörkel über seinen Rücken zogen. Nicht weit entfernt vom Bett fand er einen Spiegel und stellte sich so, dass er die Tätowierung erkennen konnte.

„Ah, da sind sie also hin verschwunden.“ Die Flügel waren in seinen Rücken gebannt worden.

 

In der Welt der Menschen ist es besser, wenn du nicht damit hausieren gehst, mein Lieber!

 

„Mikana! Das du es wagst mit mir zu reden!“

 

Ah komm schon, Michael. Wo liegt dein Problem?

 

Sie hatte tatsächlich den Nerv einen auf unschuldiges Lämmchen zu tun! Knurrend wandte sich Michael von seinem Spiegelbild ab.

 

Jetzt sei doch nicht so! Michi?

 

„Was?!“, bellte er zurück. Leider durfte man keine Götter töten, obwohl diese Herzlosen Schweine es manchmal verdienten.

 

Herzlos?! Na hör mal!

 

„Verschwinde aus meinem Kopf, Mikana!“

 

Ist das der Dank dafür, dass ich dich wieder mit deinem Gefährten vereint habe?

 

Sofort horchte er auf. „Raphael?“

 

Hast du es vergessen? Er ist unten!

 

Eine Flut an Erinnerungen schwappte über ihn hinweg.

Raphael, wie er ihn aus dem Wasser zog. Wie Michael ihn küsste und sein Gefährte anschließend von ein paar Menschen fortgeschleift wurde.

Sogleich suchte sein Blick den Ausgang aus dem Raum. Es gab genau zwei Türen. Die erste konnte es nicht sein, den dort lagerten nur sehr eigenartige Kleider, also riss Michael die zweite Tür auf und eilte hinaus.

Nach unten hatte Mikana gesagt.

Neben dem Raum aus dem er kam, befand sich eine steile Wendeltreppe. Zwei Stufen auf einmal nehmend lief er diese hinunter.

Das Lied, welches er beim Aufwachen gehört hatte wurde lauter und vorsichtig schlich Michael durch die Räume, bis er auf die Quelle der Musik traf.

Genau da! Direkt vor seinen Augen saß tatsächlich sein Gefährte und blickte wie hypnotisiert auf einen großen Flimmerkasten. Gut, Michael musste zugeben es war beeindruckend zuzusehen, wie die kleinen Männchen sich bewegten, sangen und tanzten und er würde sich auch später ganz bestimmt mit dieser Technik auseinandersetzen, doch vorerst galt seine ganze Aufmerksamkeit allein seinem Herzen.

„Raphael?“

Sofort wandte sich der angesprochene ihm zu, betrachtete ihn kurz, bevor er sich verlegen wieder umdrehte.

„Verflucht! Zieh dir doch bitte etwas an.“

„Was denn?“

Raphael erhob sich eilig und lief durch den Raum auf einen kleinen Korb zu. Er kramte nach einigen Sachen und hielt sie ihm hin.

Michael nahm alles an sich, besah sich die Stofffetzen, breitete sie sogar nebeneinander auf dem Sofa aus, um zu sehen wie er das Zeug anziehen sollte.

Raphael schien sein Dilemma zu bemerken.

„Verarsch mich! Weißt du nicht, wie man Pants und T-Shirt anzieht?“

Sollte er das?

„Ach vergiss es! Komm her.“

Tatsächlich brauchten sie drei Anläufe, bis Michael das T-shirt richtig trug, danach ließ sich Raphael mit einem müden Ächzen auf das Sofa fallen, den Kopf in den Nacken gelegt.

Es war so wie damals. Ohne noch groß darüber nachzudenken kletterte Michael auf den Schoß seines Gefährten, der sogleich automatisch die Arme um ihn legte und ihn festhielt.

„Ähm.“, meinte Raphael etwas verwirrt, doch bevor er noch irgendwas sagen konnte, fragte Michael: „Wo sind den die anderen?“

„Abgehauen, nachdem sich deine Flügel urplötzlich in deinen Rücken verzogen hatten.“

„Mikana hat sie gebannt.“

Raphael schüttelte betrübt den Kopf. „Weißt du, ich will gar nicht wissen was das heißt.“

„Nur das Mikana…“, ein Finger der sich auf seine Lippen legte unterbrach Michael in seinem Erklärungsversuch.

„Zu kompliziert! Ich habe immer noch nicht die Tatsache verarbeitet, dass du Flügel hast, also lass uns langsam Anfangen.“

Okay, nun war Michael etwas verwirrt. „Anfangen? Aber Raphael wieso willst du…“

„Das wäre der erste Punkt!“, meinte Raffi. Er hob Michael etwas hoch und setzte ihn neben sich auf dem Sofa ab, bevor er sich ein wenig in seine Richtung drehte.

„Woher kennst du meinen Namen?“

„Wie könnte ich nicht den Namen meines Gefährten kennen?“, wollte Michael amüsiert wissen, doch der ernste Ausdruck in Raphaels Gesicht brachte ihn schnell auf den Boden der Tatsache zurück.

„Du kannst dich nicht mehr erinnern, richtig?“

 

„Tut mir leid, aber an was soll ich mich erinnern?“, wollte Raphael wissen. Irgendwie versetzte es ihm selbst einen Stich ins Herz, als der andere Gequält das Gesicht verzog. Doch sogleich richtete der Blonde sich ein wenig auf. Warme Hände griffen nach seinem Gesicht und der Geflügelte…ähm okay… sein Gast lehnte sich zu ihm nach vorn. Ein breites Grinsen zierte sein hübsches Gesicht.

„Erinnere dich an mich Raphael! Mein Name ist Michael und ich bin dein Gefährte!“

 

 

Erwachen

„Mein Herr! Mein Herr!“

Knurrend wandte er sich dem Hallentor zu, durch das die kleine Echse herein kam. Der Bote schlängelte sich über den dunklen Marmor, bis er direkt vor ihm stand. Mit einem Knall kam sein Kopf auf dem Boden auf, als er sich vor seinem Meister verbeugte.

Au!

„Sag was du zu sagen hast, Fon, und dann verschwinde.“

„Ja, Meister! Wie sie wünschen Meister!“
Genervt verdrehte er die Augen und wandte sich von dem Boten ab, um wieder hinaus aus dem Fenster zu starren, wo irgendwo in der Ferne das Himmelschloss lag.

„Berichte endlich.“

„Sir! Einer der unseren brachte gerade die Nachricht! Raphael! Er ist zurück!“

In Sekundenbruchteilen hatte er den kleinen, Dämon gepackt und zog ihn am Kopf hoch, bis er ihm direkt in die Augen blicken konnte.

„Wiederhol es noch mal!“

„R…Raphael…Sir…Er ist wiedergeboren!“, erwiderte der zappelnde Kerl, den er mit einem Schwung einfach hinaus aus dem Fenster beförderte.

„Raphael.“ Der Stein barst unter seinen Fingern, die Fackeln die den Raum erhellten tanzten wild vor sich hin, während er ausgelassen lachte.

„Na dann, lass uns ein neues Spiel beginnen, mein Freund!“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.10.2016

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