Was weiß ich noch von meiner Kindheit?
Eigentlich so gut wie nichts, ein paar Bilder, aber wenig Mitteilungswertes. Das Leben, mein Leben plätscherte geruhsam dahin. Unsere Mutter arbeitete als Abteilungsleiterin in einem Großbetrieb und so war ich meist der Obhut und Fürsorge meines 5 Jahre älteren Bruders überlassen.
Für mich hieß das, an allen teilnehmen zu müssen, woran er Gefallen hatte und meine Interessen deckten sich mitunter nicht mit den seinigen.
Das führte zwangsläufig zu Konflikten, aus denen ich meist als Sieger hervorging, indem ich drohte: „Ich sage es Mama!“. Er brummte dann: „Ich sei eine verdammte kleine Petze“, aber ließ in der Regel dann davon ab, mich als Versuchskaninchen benutzen zu wollen.
Ja, und dann war da noch eine 12 Jahre ältere Schwester aus erster Ehe meines Vaters, die aber schon lange nicht mehr bei uns wohnte, jedoch regelmäßig zu Besuch kam.
Siggi (Sieglinde) war wirklich hübsch, aber alles was, an ihr von Reiz war, versteckte sie unter ihrer Schwesterntracht und nur bei uns zu Hause nahm sie ihr Häubchen ab.
Sie war in einer Art Stift tätig, aber wie ich in Erinnerung habe, kein so ganz klerikaler, obwohl dort Tracht getragen wurde. Sie ist dann, ich glaube, schon mit 22 Oberschwester geworden und meine Mutter war ganz stolz auf sie.
Sie schrieb uns auch sehr oft und ich erinnere mich noch an ihre wie gestochen aussehende Handschrift.
Dann meine Einschulung: Die wirklich bis zum Grund gefüllte große Zuckertüte hatte Siggi besorgt und sie war so schwer, dass mein Bruder sich bereit erklärte, sie für mich zu schleppen.
Irgendwo hatte er einmal die biblische Weisheit „Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert“ aufgeschnappt und lag mir damit in den Ohren, wenn ich ihn um etwas bat. Ich schätzte, ein Drittel der Süßigkeiten konnte ich in den Wind schreiben.
Der Verlust war verschmerzbar, ich war nicht besonders scharf auf Zuckerschaumzeug und anderes – wie echte Schokolade – gab es damals im Osten noch nicht.
Die Schule
Als Nesthäkchen der Familie war ich zwar nicht verzärtelt, das hatte mein Bruder stets zu verhüten gewusst, aber ich war verwöhnt und in der Regel sah man mir alles nach.
Die Lehrer in der Schule wollten dies aber partout nicht tun und es kam zu einer Reihe kleiner Missverständnisse. So geschah es, dass ich zweimal innerhalb der Schule in eine andere Klasse umgesetzt wurde.
Einmal, um mir so richtig eine über den Brägen zu ziehen, sogar in eine reine Mädchenklasse (bis ungefähr 1955 waren Mädchen und Jungen getrennt jedenfalls an meiner Schule).
Ihre Milchmädchenrechnung ging aber nicht auf, meine ehemaligen Klassenkameraden überschütteten mich nicht mit Spott und Hohn, sondern hielten mich für einen ausgesprochenen Glückspilz, mit dem sie allzu gern die Rollen getauscht hätten.
Die Mädchen freuten sich über die Abwechslung und ich genoss es, „Hahn im Korb“ sein zu dürfen.
Ich bewunderte den Fleiß der Mädchen und begriff nicht, wie selbst die Superschlauen unter ihnen Angst vor einer Klassenarbeit oder Prüfung haben konnten.
Ihre Vorlieben für riesige, prall gefüllte Federtaschen, Stammbuchblümchen, Poesiealben nebst sonstigen Kinkerlitzchen amüsierten mich, aber ich habe mich brav mit sinnigen Sprüchen in ihren Alben verewigt.
Die ganze Herrlichkeit dauerte aber nur 4 Monate, dann war Schuljahresschluss. Die Mädchen rückten eine Klasse höher, bekamen eine neue Klassenlehrerin.
Mich hatte die alte Lehrerin so ins Herz geschlossen, dass ich in die Klasse eingereiht wurde, die sie neu übernahm.
Menschen wie meine Mutter, die die näheren Umstände gar nicht kannten, behaupteten schlichtweg; ich sei wegen meiner übergroßen Faulheit „sitzen geblieben“.
In meinem Zeugnis stand aber schwarz auf weiß: Ein Jahr zurückgestellt, nicht „sitzen geblieben“! Da sehe ich wohl einen Unterschied!
Eine kleine Stütze hatte ich an meinem großen Bruder, der, ich wusste das, selbst einmal zurückgestellt worden war.
In der Verwandtschaft sprach damals unsere Mutter von einer Krankheit meines Bruders, die ebendies bewirkt hätte. Ich bekam bald Krämpfe vor innerlichen Lachen, als ich dies hörte.
Mein Bruder, dieser Rabauke, war immer gesund wie ein Fisch im Wasser gewesen und im Sport sogar das Aushängeschild der Schule.
In meinem Falle aber machte Mama nicht vom Recht einer Notlüge Gebrauch, nein, da wurde der gesamten buckligen Verwandtschaft offen kundgetan, dass meine Faulheit und eine ganze Menge anderer Vergehen meinerseits, sie, meine Mutter, noch frühzeitig ins Grab bringen würden.
Daraufhin fiel die ganze Bande über mich her, als hätten sie alle den „Stein der Weisen“ verschluckt oder als Talisman am Halse hängen.
Das Geplärre wurde dann wiederum meiner Mama zu bunt und es gab einen richtigen Krach, wo es überhaupt nicht mehr um meine Person ging. In der Folge herrschte mindestens ein halbes Jahr Funkstille zwischen uns und ihnen.
Wiederum verdrehte Mama nachher die Tatsachen und gab mir die alleinige Schuld an diesem Dilemma. Mein Bruder schlug sich diesmal auf ihre Seite.
Er hatte nämlich öfters Onkel Edwin im Garten geholfen. Obzwar man Onkel Edwin als Kind sicher mehrmals zu heiß gebadet hatte, geizig war er nicht und mein Bruder bekam von ihm immer einen reichlichen Obolus zugesteckt.
Damit war es nun aus und mein Brüderchen hatte so schlechte Laune, dass es mir geraten schien, ihm nicht groß in die Quere zu kommen.
So wurde ich zwangsläufig eine Weile zum „Schwarzen Schaf“ der Familie.
Das gab sich aber schnell und auch meine Leistungen in der Schule waren nicht mehr allzu besorgniserregend.
Während andere Kinder, brachten sie eine 3 nach Hause, von ihren Eltern geohrfeigt wurden, konnte ich meine Mutter damit zufrieden stellen.
Eigentlich hat sie nie von mir sehr viel verlangt, aber wie alle Mütter hatte sie stetig Furcht davor, was die Leute sagen könnten.
Manchmal abends kamen Mama und mein Bruder auf die Zeit zu sprechen, die wir in Bayern verbracht hatten.
Mutter war ja, als die Russen auf Dresden vorrückten, mit uns Richtung Bayern geflüchtet.
Wir wurden dort von einer Bauernfamilie aufgenommen. Ich bekam sogar frische Milch zu trinken und brüllte wie am Spieß, wenn meiner Person zu wenig Beachtung geschenkt wurde.
Dann erkrankte ich plötzlich richtig schwer und meine Mutter wusste sich nicht anders zu helfen, als mich ins amerikanische Soldatenlazarett zu bringen.
Da waren natürlich auch viele Neger und außer im Zirkus hatte Mutter noch nie welche aus der Nähe gesehen.
Dafür waren sie von der Nazipropaganda als ein unterbelichteter Haufen Triebtäter dargestellt worden, deren einziges Lebensziel es sei; in möglichst viele weiße Frauen ihre riesigen Pimpel zu stecken.
Mamas Ängste waren aber zu ihrer Erleichterung vollkommen unbegründet und ich selbst wurde ein oder zwei Wochen später als geheilt in die Familie zurückgegeben (meine Mutter hat dies den Amis niemals vergessen und egal, was die Amis vom Stapel ließen, irgendwie fand sie immer Worte, sie in Schutz zu nehmen).
Vater war kurz vor meiner Geburt für Führer, Volk und Vaterland den Heldentod gestorben, sodass Mama sich wenigstens um ihn keine Sorge mehr machen musste.
Der Tränen waren auch genug geweint – sie hatte zwei Kinder zu versorgen (Schwesterchen war bei einer Tante in der Schweiz bestens aufgehoben) und wie alle Frauen, deren Männer gefallen, oder vermisst waren, versuchte sie das für uns das Beste aus der allgemeinen Misere herauszuholen.
In der Eile war man in Dresden nicht dazu gekommen, mich zu taufen und es wurde nachgeholt, da Mama keinen Heiden aus mir machen wollte. Wir sind evangelisch und Mutter musste sich im katholischen Bayern die Hacken ab-rennen, um einen Pfarrer passender Konvention zu finden.
Lustig an meiner Taufe ist, dass ich laut Taufschein schon 12 Monate vor meiner Geburt den Segen der „Heiligen Taufe“ empfangen durfte.
Natürlich ein Schreibfehler, eine Unachtsamkeit des Pfarrers, die aber jahrelang unbemerkt blieb.
Nicht einmal unserem „Heiland“ ist solches widerfahren! Nun gut, ihn hat eine Jungfrau geboren, da muss er natürlich den Vorrang haben.
Aber mein eigenes kleines Wunder finde ich auch so schlecht nicht!
Eingebracht hat es mir leider bis heute nicht das Geringste, aber vielleicht fällt für mich noch eine Ladung „Manna“ vom Himmel – eingewickelt in Banknoten.
Sagt man nicht: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“?
Und noch ein Papier habe ich, darauf bin ich aber ganz gewiss nicht stolz.
Es ist ein Nachweis, dass ich aller-reinster arischer Abstammung bin. Ein echter Nachkomme der 1,80 großen, blauäugigen und blondhaarigen Helden, deren Hauptvergnügen es war, anderen die Bäuche aufzuschlitzen und Köpfe abzuhacken.
War kein Gegner mehr zur Stelle, schlug man sich gegenseitig ein wenig die Schädel ein. Das macht der nordischen Rasse keiner nach – niemals. Wobei man eben zugeben muss, es wäre ja schön dämlich, täten es welche.
Dass ich nur 1,67 Meter groß bin, wäre es noch irgendwie verzeihlich und mit der sogenannten Rassentheorie in Einklang zu bringen. Wissenschaftler behaupten ja, die Menschen wären alle früher mehr als einen Kopf kleiner gewesen.
Rechne ich das bis zu den ollen Griechen zurück, würde mir vielleicht die Rüstung des Achill wie angegossen sitzen. So gesehen könnte ich doch eine Heldennatur sein.
Leider habe ich aber nun noch dunkelbraune Augen und fast schwarze Haare. Meine Schädelform dürfte auch nicht ganz den erforderlichen Maßen eines nordischen Langschädels entsprechen.
Von der Figur her und meinen Gesichtszügen nach würde eher jeder waschechte Zigeuner mich umarmen und mit mir Brüderschaft trinken als ein Edelgermane.
Es ist also nichts mit nordischem Heldenblut und das Zeugnis ist reine Makulatur.
Ich hebe es nur auf, um einen Beweis zu haben, wie dämlich dieses ganze Rassenkundegeschwafel gewesen ist und welches Unheil daraus entstehen konnte.
Cover und Text © Willy Rencin (Sweder W. van Rencin)
Tag der Veröffentlichung: 16.02.2019
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