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Prolog

Ich möchte dir eine Geschichte erzählen. Zwar wirst du leider nicht direkt darauf antworten und mir sagen können, wie du sie findest, aber es ist mir wichtig, dass du sie kennenlernst. Bitte stelle keine zu hohen literarischen Ansprüche daran. Ich bin kein Schriftsteller, zumindest kein professioneller. Aber ich bin ein junger Mann, dem einige Dinge widerfahren sind, von denen ich glaube, dass sie vor allen dich, aber vielleicht auch andere Menschen interessieren könnten. Darum habe ich aufgeschrieben, was ich innerhalb einiger besonderer Wochen erlebt habe: Geschehnisse, die mir meine eigene Vergangenheit erschlossen und meine Zukunft auf einen neuen, zuvor kaum vorstellbaren Weg gelenkt haben.

Wie gesagt bin ich kein großartiger Schriftsteller oder Poet. Manche Sätze mögen zu lang, manche Formulierungen zu umständlich, manche Grammatik fehlerhaft und manche Beschreibung zu wenig ausgeschmückt oder zu oberflächlich sein. Bitte sieh es mir nach. Denn all diese Unvollkommenheiten umgeben doch eine Handlung, die es – wie ich finde – wert ist geteilt zu werden. Sie beschreibt außergewöhnliche und sehr entscheidende Entwicklungen meines Lebens. Ich hoffe dir gefällt meine Geschichte. Denn gerade du bist damit ganz wesentlich verbunden. Du und die Wirrungen des Schicksals haben sie überhaupt erst ermöglicht.

 

Fangen wir also an.

Kapitel 1: Der Tag, der alles änderte

Dies ist eine außergewöhnliche Geschichte. Es ist eine Erzählung darüber, wie ich die vergangenen sechs Wochen verbracht habe. Diese Wochen waren für mich ereignisreicher als alles, woran ich mich in meinen bisher achtzehn Lebensjahren davor erinnern kann. Die Geschehnisse dieser Wochen, seit dem 1. Oktober 2010, haben mich an viele Orte geführt, an denen ich noch nie zuvor gewesen bin und von denen ich nicht gedacht hätte, dass ich sie so bald oder gar jemals aufsuchen würde.

Sie haben mich mit Menschen bekannt gemacht und tief verbunden, von deren Existenz ich kurz zuvor überhaupt nichts wusste. Und sie haben nicht nur meine Gegenwart und meine wahrscheinliche Zukunft tiefgreifend verändert, sondern vor allem das Bild, das ich von meiner eigenen Vergangenheit hatte. Ja, sie haben meine Identität neu definiert. Wer ich bin? Nun, fangen wir damit an, wer ich noch am Morgen des 1. Oktober 2010 glaubte zu sein:

 

Mein Name ist Ben, das ist kurz für Benjamin, aber alle nennen mich Ben. Geboren und aufgewachsen bin ich in einem kleinen Ort nahe Frankfurt am Main. Ich bin also Deutscher, allerdings der Sohn eines US-Amerikaners, Marcus Baker, der zur Zeit meiner Geburt in Deutschland stationiert war. Er war übrigens Afroamerikaner, weswegen meine Haut etwas dunkler ist als die der meisten Deutschen. Ich habe ihn leider nie kennengelernt, denn nur wenige Wochen nach meiner Geburt starb er bei einem Flugzeugabsturz im zweiten Golfkrieg über dem Meer nahe Kuwait.

Aufgezogen wurde ich als einziges Kind meiner alleinerziehenden deutschen Mutter, Renate Baker. Nach der Grundschule ging ich aufs Gymnasium und dieses Jahr habe ich mein Abitur geschafft. Meine Leistungskurse waren Englisch und Geschichte. Diese beiden Fächer werde ich wohl auch studieren, auf Lehramt, aber ganz sicher bin ich mir da noch nicht. Vielleicht will ich auch Buchautor werden oder etwas in Richtung Journalismus machen. Mal sehen. Zwar schaue ich mich schon nach Unis um, aber wahrscheinlich mache ich zuerst mal ein FSJ, ein Freiwilliges Soziales Jahr, oder ein FJP oder FÖJ, also ein Freiwilligenjahr zum Thema Politik oder Ökologie – am liebsten bei einer internationalen Organisation, irgendwas mit Entwicklungshilfe, Umwelt- und Klimaschutz oder im Bereich der Internationalen Beziehungen. Das wäre wohl was für mich.

Aber als nächstes möchte ich erst mal reisen. Hauptsache mal raus aus Europa, vielleicht nach Kanada oder nach Indien – oder irgendwo in Südamerika oder in ein afrikanisches Land. Da hab ich mich noch nicht so festgelegt, denn das klingt eigentlich alles spannend. Gelesen und Reportagen gesehen habe ich zwar schon viel zu diesen Ländern und Kontinenten, aber nun möchte ich gern mal raus in die Welt und es auch live erleben.

Das war der Stand der Dinge am Morgen des 1. Oktober.

 

Mittags entdeckte ich eine E-Mail, die alles lostrat. Als Absender war kein Personenname, sondern nur die Mailadresse m.r.@gmail.com genannt – über folgender Nachricht:

 

 

Hello Ben,

 

how are you? Sorry for contacting you so very late – and sorry for contacting you now at all. I don’t want to change your whole life and take away your belief of your own past but I just have to do it. The following will offer to you a whole new world and reveal to you who you really are. I truly hope you will cope with this alright and I hope that we will meet someday soon.

And now: don’t ask me who I am, how I know and why I do this – I won’t tell you anyway – at least for now. But: take a deep breath and stay as calm as you can. This is no joke. It’s the truth. The people who you believe to be your parents are actually not your real parents. Ask Renate about “kumwinua”.

Have a save journey Ben.

 

Best wishes,

M.R.”

 

 

Ich war ziemlich verwirrt, etwas ungläubig und vor allen Dingen neugierig. Zusammengefasst stand in der E-Mail dieser mir unbekannten Person, die mich persönlich ansprach und mich zu kennen schien, dass es ihr leid tat, sich erst jetzt bei mir zu melden und sich überhaupt zu melden, da es mein Leben verändern und mir den Glauben über meine Vergangenheit wegnehmen würde, aber es müsse getan werden. Und vor allem schrieb der unbekannte Absender, dass die Personen, welche ich für meine Eltern hielt, nicht wirklich meine Eltern seien. Und: ich solle Renate nach „kumwinua“ fragen.

Wer war dieser Mensch mit dem Kürzel M.R. und woher kannte er meine E-Mail-Adresse, meinen Namen und den meiner Mutter? Und wie kam er zu so einer waghalsigen Behauptung über meine Eltern? Und wer oder was war „kumwinua“? Nun, der Absender würde mir diese Fragen – zumindest erst einmal – nicht beantworten, wie er geschrieben hatte. Wer aber konnte mir sonst die Antworten geben? Als erstes fragte ich Google. Das heißt, ich gab das Wort „kumwinua“ in die Internet-Suchmaschine ein, doch ohne ein hilfreiches Ergebnis zu erhalten. Also fragte ich als nächstes meine Mum, Renate, die ja sogar in der Mail erwähnt worden war.

Als ich ihr die Frage stellte, was „kumwinua“ bedeutete und was das mit meinen Eltern zu tun habe, wurde ihr Gesicht schlagartig blass, dann rollten Tränen über ihre Wangen und sie setzte sich hin, sprach für einige Momente kein Wort. Als sie sich etwas gefasst hatte, enthüllte sie mir mit leicht zittriger Stimme eine Wahrheit, die sie mir seit meiner frühsten Kindheit vorenthalten hatte (nur zu meinem Besten, wie sie nun mehrfach betonte) und die ich erst im Laufe der folgenden Tage und Wochen besser zu begreifen vermochte.

Renate gestand mir, dass sie mich adoptiert hatte, dass sie nicht meine leibliche Mutter war, sondern unfruchtbar und daher unfähig Kinder zu gebären. Das war Schock Nummer eins. Schock Nummer zwei folgte sogleich. Marcus Baker war gar nicht mein Vater, sagte sie mir. Er war nicht tragisch ums Leben gekommen, sondern er hatte überhaupt nie gelebt. Er war reine Fiktion und seine Existenz und Vaterschaft nur von Renate, meiner Mutter(?), ausgedacht und all die Jahre vorgetäuscht worden um vermeintlich zu erklären, warum ich vaterlos und dunkelhäutig war.

Das klang für mich alles ziemlich unglaublich und sehr abgefahren. Ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Was ich als sicher und gegeben über mein Leben annahm, stürzte nun ohne Vorwarnung wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Doch noch während ich versuchen konnte diese Schocks zumindest ansatzweise zu verarbeiten, knallte mir Renate einen dritten entgegen. Sie wusste nämlich auch etwas zu „kumwinua“ zu berichten:Die kumwinua homes sind der Name des Kinderheims, aus dem sie mich vor gut 17 Jahren als Säugling adoptiert hatte. Die kumwinua homes stehen in einem kleinen Ort in Kenia.

Kapitel 2: Die Reise beginnt

Ich saß im Flieger nach Nairobi und ließ mir die vergangenen Tage noch einmal durch den Kopf gehen: wie ich die E-Mail geöffnet und sie gelesen hatte, dann mit Adoptiv-Mum Renate gesprochen und erfahren hatte, dass ich aus einem Kinderheim irgendwo in Kenia adoptiert worden war. Genau dorthin war ich jetzt unterwegs, sofern ich diesen Ort denn finden konnte. Zu der Reise hatte ich mich schließlich entschlossen, nachdem ich die Adresse des Kinderheims „kumwinua homes“ zwar online gefunden und es auch angeschrieben, jedoch keine Antwort erhalten hatte.

Ich konnte nicht einfach zuhause sitzen bleiben und die neuen Informationen zu meiner eigenen Herkunft verarbeiten ohne der Sache nachzugehen – nicht ohne den Ort leibhaftig (wieder) zu sehen, an dem ich von meiner Adoptiv-Mum entgegengenommen worden war, nicht ohne so gut es eben ging nachzuforschen, wer tatsächlich meine leiblichen Eltern waren, was aus ihnen geworden war und warum verdammt sie mich damals als Säugling in ein Kinderheim gegeben hatten.

Als ich am Jomo Kenyatta Flughafen gelandet war und mich bei der Einreise ausweisen sollte – was auch problemlos ablief – kam mir plötzlich der seltsame Gedanke in den Sinn, dass ich zwar einen deutschen Pass in der Hand hielt, aber vielleicht oder sogar wahrscheinlich hier in Kenia geboren war. Die kumwinua homes, der Ort, der mir hoffentlich Antworten auf meine Fragen geben konnte oder zumindest eine Spur, befanden sich laut Internet in einer kleinen Siedlung am Rande des Massai Mara Nationalparks, gut zwei Stunden Busfahrt von der Hauptstadt Nairobi entfernt.

Während der kleine Reisebus, in Kenia „Matatu“ genannt, die hektische Millionenmetropole mit ihrer aufstrebenden Skyline-City, umgeben von der größten Slumsiedlung Afrikas, wie es in meinem Reiseführer stand, verließ und sich einige Zeit darauf auf kurvigen Passstraßen über das weite, waldbedeckte Hochland schlängelte, dachte ich daran, wie – vielleicht ähnlich wie die Mitfahrer heute – vor über 17 Jahren eine junge Frau aus Deutschland auf diese Weise auf dem Weg zum Massai Mara Nationalpark gewesen war. Sie hatte damals hier Urlaub gemacht und eine Safari unternehmen wollen. Ob es zu dem Zeitpunkt schon ihre Absicht gewesen war oder es sich erst spontan ergeben hatte, dass sie nach ihrer Ankunft am Park in ein Kinderheim gehen und dort ein afrikanisches Baby adoptieren würde, hatte mir Renate nicht gesagt.

Wie dem auch sei. Nun, im Jahre 2010 fuhr ich als junger Erwachsener auf wohl derselben Strecke und spürte mehr und mehr eine seltsame Mischung aus Unbehagen und Vorfreude angesichts dessen, was mich erwarten würde. Auch war es schwer zu sagen, ob – wie ich so aus dem Fenster des dahin brausenden Matatus auf die vorbeiziehende Landschaft blickte – ich tatsächlich ein wohliges Gefühl von wiederentdeckter Heimat verspürte oder ob ich mir das, unterbewusst beeinflusst von romantischen Afrika-Filmen und der neuerlich erworbenen Vermutung in diesem Land geboren zu sein, doch nur einbildete.

Während einer Pause an einem Rastplatz hatte ich den Busfahrer gefragt, wie ich zu den kumwinua homes kommen könnte. Daher machte er mich nun, als wir an einem Eingangstor vor dem Nationalpark hielten, darauf aufmerksam, dass ich an dieser Stelle den Wagen verlassen und etwa zwei Kilometer nordwärts gehen müsse, wenn ich das Kinderheim erreichen wollte. Etwas zögerlich packte ich mein Reisegepäck, verabschiedete mich von der Reisegruppe und vom Fahrer, der mir noch fürsorglich eine Telefonnummer seines Arbeitgebers in die Hand drückte, und marschierte dann los in die Richtung, in die er gedeutet hatte.

Nach etwa zwanzig Schritten blickte ich noch einmal zurück und sah das Matatu davontuckern. Nun war ich also auf mich allein gestellt, irgendwo in einem fremden Land. Eigentlich verrückt, was ich hier tat! Aber nun hieß es weitergehen und hoffen, dass ich finden würde, wonach ich suchte. Nach zehn Minuten Wanderung geradeaus (oder was ich zumindest für geradeaus hielt), beschlich mich der beunruhigende Gedanke, dass ich inzwischen bestimmt schon einen Kilometer zurückgelegt hatte und doch wenigstens in der Ferne ein paar Häuser oder Hütten sehen sollte – die sah ich aber nicht.

Ich blieb stehen, nahm meinen Rucksack ab und kramte darin. Einen Kompass oder eine detaillierte Landkarte dieser Gegend hatte ich natürlich nicht dabei. Dafür wenigstens eine Wasserflasche, so dass ich immerhin kein Verdursten fürchten musste – erst einmal zumindest. Dann dachte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 29.10.2017
ISBN: 978-3-7438-3878-9

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