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Vorahnungen

Sie schaut Ihren Mann an, wechselt den Blick zum Arzt und fragt ihn ob er sich sicher sei. Wie zu erwarten, antwortet der Arzt, dass man sich nie zu einhundert Prozent sicher sein könne und es besser wäre sich einen alternative Namen auszudenken. Sie zwingt sich zu einem Lächeln, offensichtlich scheint ihr Mann sowie der Arzt nicht ihren Gedanken folgen zu können. „Woher auch?“, überlegt sie nun für sich, der Arzt kennt ihren Stammbaum nicht und ihr Mann kann den neuen Erdenbewohner kaum mehr erwarten und verliert deshalb alles andere aus den Augen. Ihrer Meinung nach ist er es der an Schwangerschaftsdemenz leidet und nicht sie. Sie wischt sich mit diesen tollen Papierhandtüchern den Bauch ab. Am liebsten hätte sie Belze gebeten, dass er ihr die Handtasche mit den Feuchttüchern geben soll. Okay ihr Kind ist noch nicht auf der Welt, aber Feuchttücher hatte sie schon immer dabei, zumindest seit sie es mal bei einem befreundeten Pärchen gesehen hat wofür diese „Universalwaffe“ alles eingesetzt werden kann. Sie muss unweigerlich lächeln trotz dem Druck auf die Blase die das kalte Gel hervorgerufen hat. Ist das das berühmte Strahlen einer Schwangeren? Nur weil sie an lauter blöde Sachen denken muss? „Au verdammt!“, entfährt es ihr, als der Kleine in ihrem Bauch gegen die Blase kickt. Belze schaut sie beunruhigt an, obwohl der Arzt vor drei Minuten erklärt hat, dass alles in Ordnung ist. „Es spielt nur mit meiner Blase Fußball. Es muss wirklich ein Junge sein.“, klärt sie ihren Mann auf. “Reich mir bitte schnell meine Handtasche damit auf die Toilette kann.“, fährt sie in aller Ruhe fort obwohl sie das Gefühl hat, jede Sekunde kann sie platzen und alles überschwemmen. Er reicht ihr nicht die Handtasche, sondern läuft schnurstracks auf die Frauentoilette zu. Sie muss ihm also folgen, als er allerdings Anstalten macht sie bis in die Kabine zu begleiten muss sie ihn mit einem Stoß in die Rippen wieder in die Realität versetzen und sich die Handtasche schnappen während sie ihm ein „Wehe“ fast schon entgegen faucht.

So schnell sie nur kann, huscht sie in eine Kabine, bekommt gerade noch das Höschen-Problem gelöst und erleichtert sich. Dann kann sie in Ruhe aus der Tasche die Feuchttücher und die Ersatzunterhose fischen. „Du kleiner Frechdachs!“, schimpft sie, wieder schmunzelnd, ihren kleinen Bauchbewohner. Sie muss sich eingestehen, dass es doch gar nicht so schlecht klingt einen Jungen zu haben, auch wenn sie sich zu fast zweihundert Prozent sicher war ein Mädchen zu bekommen, denn alle Geburten in der mütterlichen Seite ihrer Familie waren Mädchen, die Jungs waren alle angeheiratet. Hatte sie das in ihrem Wunsch nach einem Mädchen vielleicht nur so gesehen? In Ihrem Job als Stewardesse konnte sie im Moment sowieso nicht arbeiten, also beschloss sie, während sie nun doch noch ihren Bauch mit einem Feuchttuch reinigt, dass sie mal die Zeit nutzen wird um einen gründlich recherchierten Stammbaum für Ihr Kind zu erstellen. Schon hört sie ein Klopfen an der Toilettentür. „Schatz! Ist alles gut bei dir?“, ruft ihr Mann durch die Tür. Sie weiß, dass wenn sie nicht antwortet dann kommt das nächste Klopfen direkt von Kabinentür. „Himmelherrgott Belze! Eine schwangere fette Frau ist nun mal in diesen Modell-Kabinen kein Expresszug!“, donnert sie ihm entgegen hoffentlich ist keine andere Kabine belegt, denkt sich Angelika. Belze scheint beruhigt, vermutlich durch den Umstand das sie noch wie ein Rohrspatz fluchen konnte. Dieser Mann treibt sie aber auch regelmäßig mit seiner unverhohlenen Liebe in die Raserei, doch selbst bei diesem Gedanken musste sie schon wieder lächeln. Sie macht sich fertig und packt alles wieder ein. Als sie jedoch die Toilettentüre öffnet beim Verlassen der Toilette, bekommt er schon den zweiten Schlag ab, da er zu nah an der Türe gestanden ist. Er tut so als ob nichts gewesen wäre, aber sein rotleuchtendes Ohr spricht Bände.

Kurz nach dem Öffnen der Wohnungstür, überfällt Maren die Beiden gleich und stellt Belze die Fragen aller Fragen: „Ich weiß du bist jetzt schon über die 15. Schwangerschaftswoche hinaus, also was ist es? Sag mir Belze werde ich Tante oder Onkel, bitte?“. Belze lässt sich diese Chance nicht entgehen und erzählt brühwarm, dass im Moment die Chancen nicht schlecht stehen, dass sie Onkel wird. Angelika ist es, wie so oft nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie jetzt schon herum posaunen, dass sie einen Filius gebären wird. Und sie ruft das Geschwisterpärchen zur Räson, dass im Moment wirklich noch alles offen sei. Das was zählt ist hier und jetzt, dass es dem Kind gut gehe und es sich prächtig entwickelt. Ihr Blick fällt in diesem Moment in den Spiegel und in dem das komplette Spiegelbild nicht zu passen scheint weil der Bauch ihr immer noch nicht gefällt, da er ihr viel zu fett erscheint. Dabei verzichtet sie schon auf Sahneeis und Schokolade bei Ihren Genuss Attacken wie es Maren mit einem Glitzern im Auge gerne nennt. Maren war zu Angelika und Belze gezogen, weil sie sich als Studentin in dieser Universitäts- und Landeshauptstadt kein Zimmer von ihrem Bafög leisten kann. Für Angelika und Belze, war das gerade passend da Angelikas Arbeitgeber denn Zuschuss für die Wohnung während des Mutterschutzes und der Elternzeit nicht zahlen kann. So hat sich diese dreier Wohngemeinschaft gebildet mit der Aussicht auf einen Ausbau in eine vierer WG. Sie spürt Blicke auf sich ruhen. Sie schaut zuerst zu Belze der es immer noch schafft mit seinem Dackelblick sie dahinschmelzen zu lassen und dann zu Maren, deren Augen sie auch gerade offensichtlich ausziehen. Als Maren merkt, dass sie entdeckt wurde wird sie kurz rot und erwidert dann einen frechen Spruch: „Also wenn ich nicht wüsste, dass ich stockhetero bin, bei schwangeren Frauen würde ich weich werden und meine Homoseite erforschen wollen. Auf dem Absatz kehrtgemacht und in Nullkommanichts in Ihrem Zimmer verschwunden. Zurück bleiben zwei fragende Gesichter mit offenem Mund.

„Du kennst doch Maren!“, findet Belze als erstes die Worte wieder, „Und sie hat verdammt recht du siehst echt sexy aus und dass von Tag zu Tag mehr!“. Das hätte er nicht sagen sollen, denn so läuft er geradewegs in einen linken Haken von Angelika: „Aha und davor war ich nur so lala? Und was ist, wenn ich geworfen habe? Verlässt du mich wegen einer anderen Schwangeren?“. Irgendetwas lässt ihr Blut aufkochen und sie attackiert weiter: „Meinst du ich sehe nicht wie du den anderen Weibern auf die aufgeblähten Bäuche und Titten starrst, wenn du mich oben im Familienzentrum nach der Schwangerschaftsgymnastik abholst?“. Jetzt steht Belze zum zweiten Mal mit offenem Mund im Hausflur. „Geht’s noch?“, fragt Maren die von dem harschen Tonfall im Flur, wieder aus dem Zimmer geholt wurde. „Dein Mann ist nun mal nicht blind und Frauen in der Schwangerschaft verändern sich extrem, er kennt deine Kugelschubsertruppe ja auch von Anfang an, da vergleicht man halt. Wenn ich an eurem Zimmer vorbeilaufe und du dich gerade im Spiegel musterst, und ich das im Türspalt sehe riskiere ich auch nicht nur einen Blick! Dieser wunderschöne Zustand des Körpers lässt keinen Menschen unberührt.“, verteidigt die kleine Maren ihren großen Bruder. Angelika spürt, dass Maren recht hat, aber zugeben? Wutentbrannt stampft sie in das Schlafzimmer und bellt noch über die Schulter: „Ihr könnt mich mal! Nein besser, wenn ihr so zusammenhaltet, könnt ihr euch mal gegenseitig!“ Verdammt was ist mit ihr los? Sie schmeißt sich auf das Bett und beginnt zu weinen. Am liebsten hätte sie sich selber geohrfeigt, aber das wäre ein Schuldeingeständnis. Es müssen also die verdammten Hormone sein. Und wenn sie heute Abend richtig mit dem Popo wackelt, wenn sie sich Bett fertigmacht, werden seine Hormone es ihm erlauben es ihr zu verzeihen, hoffentlich. Am längsten bleibt Belze im Flur stehen der Sturm von beiden Seiten hat ihm seine Haare zu Berge stehen lassen, und jetzt rechnet er damit, dass zu jederzeit eine der zwei Türen sich öffnen könnte und er wieder mitten im Sturm stände. Er realisiert, dass es nicht passieren wird, und geht mit den beiden Einkaufstaschen die er seither in den Händen trägt in die Küche.

Nach einem Blick auf die Uhr der ihm sagt, dass die Mittagessenszeit bereits herangenaht ist beginnt er die mitgebrachten Backwaren, zu belegen und den Salatkopf mit den Cocktailtomaten zu einem leckeren Snack zuzubereiten. Natürlich ohne Butter unter dem fettarmen Käse und die Salatsoße nur mit leichtem Joghurt und Kräutern, ohne Öl. Dass Angelika mit ihrem Gewicht nicht zufrieden war hat sich jetzt noch mehr verstärkt. Eine weitere Standpauke, dass er sie nur mäste, damit sie wenigstens mit ihm zufrieden ist, weil sie ja dann keinen anderen mehr bekommt, will er nicht nochmal riskieren. Manchmal kann sie so verletzend sein. Und das hatte wirklich weh getan. Sie ist in letzter Zeit so unruhig und unzufrieden, etwas belastet sie sehr bei der Schwangerschaft, aber Belze hatte genug Menschenkenntnis darum weiß er, dass sie den Grund selber nicht kennt. Er nimmt sich eine Portion, stellt den Salat und die Schnittchen in den Kühlschrank und setzt sich so an den großen Esstisch, dass er auf den dunklen Flur blicken kann, wenn einer der zwei eine Tür öffnen würde, sieht er den Lichtschein. Belze kann in Ruhe sein Essen beenden. Er stellt noch schnell sein gebrauchtes Geschirr in die Spüle, geht dann zu seinem Sekretär, holt dort noch ein paar Unterlagen die er in seine Ledermappe packt. Im Flur bleibt er stehen, eigentlich wollte er heute Abend noch ein wenig trainieren gehen, seine Sporttasche steht allerdings im Schlafzimmer. Die Spätschicht, die er extra für diese Untersuchung getauscht hat, würde ihm nur eine halbe Stunde lassen, und dann wäre er immer noch ungeduscht. Also verwirft er diesen Plan und empfindet es besser noch ein wenig offen zu sein mit seiner Planung. Er dreht sich noch einmal um, damit er eine Notiz auf dem Küchentisch hinterlässt die den Frauen einen Hinweis auf das Essen im Kühlschrank gibt. Belze überlegt nochmal kurz ob er noch etwas machen kann damit sich seine Frau und seine Schwester nicht mehr in die Haare kriegen. Doch ein Blick auf die Uhr lässt ihn die Wohnungstüre schließen und er macht sich auf den Weg zur Arbeit.

Angelika wacht auf. Jetzt hat sie sich doch wirklich in den Schlaf geweint. Ein Blick auf die Zeitanzeige in ihrem Schminkspiegel zeigt ihr zwei unerfreuliche Sachen. Erstens mit verheulten Augen sieht sie unmöglich aus und zweitens, dass Belze gegangen sein muss ohne sich von ihr zu verabschieden. Das kommt selten vor und zeigt ihr, dass gerade wirklich etwas schiefläuft. Sie macht sich auf etwas zu essen und trinken. Es soll ja nicht darunter leiden, dass bei ihr nicht alles rund läuft. Rund läuft, allein dieser Gedanke lässt sie schon wieder rote Backen bekommen, da sie sich gerade ausmalt wie sie mit der Kugel für andere aussieht, wenn sie läuft. Traurigkeit und Wut machen sich in ihr breit. Als sie in der Küche ist, geht sie zielstrebig auf den Kühlschrank zu. Als sie dann das Essen auf den Tisch stellt sieht sie auch den Zettel mit der Notiz, und wieder wird ihr klar wie blind sie sich auf Belze verlässt. Sie weiß nicht ob sie nach einem solchen Vorwurf reagiert hätte. Hätte sie vielleicht nur für sich etwas zu Essen gerichtet, oder gar zum Trotz etwas gemacht, dass Belze unter Garantie nicht mochte? Sie geht zum Kaffeeautomat und lässt sich eine fast fettfreie Latte in ein Glas laufen, solange sie aus dem Wohnzimmer sie Ihren Laptop holt. Mit Latte und Laptop setzt sie sich wieder an den Esstisch klappt den Laptop auf und beißt in das erste Schnittchen. Sie öffnet den Browser und gibt in die Suchmaschine „Ahnenforschung“ ein. Einige Treffer später hat sie das was sie braucht zusammen. Für die Erstellung des Baumes als schöne Grafik hat sie ein Tool gefunden und ist gerade dabei es herunterzuladen, um Informationen zu sammeln, hat sie eine Wordvorlage in der man viele wichtige Details über eine Person eintragen kann. Dazu hat sie noch zwei Leitfäden die ihr aufzeigen an welchen Stellen man recherchieren kann auch wenn die Leute selbst schon tot sind und welche Fragen man an oder über eine Person stellt um möglichst schnell die Lebenslinien nachzeichnen zu können. Gerade als der Drucker zu rattern beginnt erscheint auch Maren in der Küche. „Entschuldige, ich war wohl mal wieder etwas zu schroff zu dir.“, versucht sie die Stimmung erträglich zu machen. „Darfst du noch einen Latte? Deiner sieht aus als ob er schon ein Weilchen leer ist.“, macht sie ein Friedensangebot das Latte-Glas für Angelika nochmal zu füllen. „Ne lass mal, mir ist gerade eine heiße aufgeschäumte Milch lieber.“ Maren schluckt die Frage, ob sich eine 0,3%-Milch überhaupt aufschäumen lässt herunter, nickt nur und drückt das passende Knöpfchen.

Wie erwartet ist das Ergebnis mehr heiße Milch als Milchschaum, aber Maren reicht wortlos das Wunschgetränk und erhält sogar ein Dankeschön. Sie beobachtet weiter wie Angelika ihr dickes abgegriffenes Adressbuch aufschlägt und auf einem Papier an einem Baum Notizen macht. „Sieht nach Gartenarbeit aus“, versucht sie an Informationen zu gelangen. Und tatsächlich Angelika beginnt zu erzählen, dass sie für Ihren Nachwuchs einen Stammbaum anlegen möchte. Auf die Frage ob Maren ihr helfen soll zieht sie nur eine Augenbraue hoch. Doch dass kümmert Maren nicht und sie wirft gleich die Vorzüge ihres Geschichtestudiums sowie dass sie ja wohl den zweiten Ast, also Belzes Ast, besser kennen würde als sie. Und als sie dann noch flehentlich erwähnt, dass sie das gerne für ihren großen Bruder machen würde, gibt sich Angelika geschlagen. Während Angelika weiterhin ihr Adressbuch durchforstet, fängt Maren an auf dem Handy zu tippen. Angelika ist gerade mit dem Adressbuch durch, als es in Marens Handy wie verrückt anfängt zu klingeln. Anscheinend treffen viele Antworten gleichzeitig ein. Maren schaut in den Laptop auf dem das Stammbuch-Programm geöffnet ist. „Wollen wir es gemeinsam eintragen? Denn ich als zukünftige Patentante sollte über das Patenkind bestens informiert sein.“, fragt Maren. Doch mit einem gekünstelt angeekelten Gesicht antwortet Angelika: „Du? Niemals!“. Beide schauen sich an und fangen an zu lachen. Die Wogen scheinen wieder geglättet zu sein. Die Zusammenarbeit geht beiden gut von der Hand und so füllt sich der Stammbaum mehr und mehr. Auf dem Bildschirm ändert der die Form nach jedem abgeschlossenen Eintrag eines Familienmitglieds, fast schon wie eine Baumspross zum Baum erwächst und das mit einem Zeitraffer aufgenommen.

Impressum

Texte: Frank Städler-Rainer
Bildmaterialien: BookRIX (Cover-Vorlage)
Lektorat: leider noch niemand
Tag der Veröffentlichung: 20.12.2016

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