Cover

Start

 Schmetterlingseffekt

 

 

Die freundlich hellen Strahlen der Morgensonne trafen sanft auf die Kristalle, die vor dem Fenster baumelten und lockten ein magisches Funkeln aus ihnen heraus. Es hatte den Anschein, als wären die gläsernen Tropfen plötzlich zu zauberhaftem Leben erwacht. Sie sprühten förmlich in unzähligen Farben und warfen kleine, bunte Regenbogenfragmente auf die weißen Wände des Schlafzimmers. Ein leichter Windhauch trug den Duft frisch gemähter Wiesen durch das offene Fenster mitten ins Zimmer – wie einen lieblichen Gruß des Sommers. Und Lotus nahm einen tiefen, zufriedenen Atemzug.

 

An einem Kleiderhaken, den sie an ihre Kastentür gehängt hatte, baumelte ein luftiges, weißes Sommerkleid. Darunter standen die dazu passenden Sandaletten bereit. Sie waren ebenfalls in reinem Weiß gehalten. Glücklich musterte sie das hübsche Kleidungsstück, und sogleich bereitete sich eine Welle sprudelnder Vorfreude in ihrem Inneren aus. Sie brachte Bilder von hunderten hell erleuchteten Lampions, die in den nächtlichen Himmel aufstiegen. Jeder einzelne von ihnen trug den ganz persönlichen Herzenswunsch eines hoffnungsfrohen Menschen in den Kosmos. Nun war es also schon wieder soweit – der große Tag der Sommersonnenwende stand ins Haus. Und wie es im kleinen Städtchen Otogi nun einmal der Brauch war, wurden zu diesem besonderen Anlass mit Kerzen erleuchtete Lampions in den weiten Nachthimmel geschickt, auf eine lange Reise in eine unbekannte Ferne.

 

Seit Lotus sich erinnern kann, war dieses Fest ihr allerliebstes im Jahr. Noch nie hatte sie eine Feier verpasst. Und das hatte sie auch in Zukunft nicht vor. Denn es erinnerte sie an einen besonderen Moment ihrer Kindheit – den Augenblick, an dem ihre Sinne zum ersten Mal für die magische Seite des Lebens geöffnet wurden. Jedes Jahr, pünktlich zum Chochin-Fest, machte sich ihr das Wunderbare und Geheimnisvolle in unserem Leben gegenwärtig – das leider allzu oft Verborgene, das wir nur dann sehen können, wenn wir es auch wirklich von ganzem Herzen möchten.

 

Lotus hatte sich über viele Jahre eine morgendliche Routine angewöhnt. Und so war sie innerhalb kurzer Zeit bereit, ihren Arbeitstag anzugehen. Gehüllt in einen leichten Duft von Veilchen machte sie sich auf den Weg, und ein knapper Blick auf ihre Taschenuhr verriet ihr, dass sie sich beeilen musste. Hastig tippelte sie den kleinen Weg entlang, der sie direkt zur nahe gelegenen Station der Schwebebahn führte, als plötzlich und völlig unerwartet etwas vor ihrer Nase umherschwirrte. Sie schärfte ihren Blick und sah dann das außergewöhnliche Geschöpf, das hinter diesen Bewegungen steckte. Vor ihren Augen tat sich die anmutige Form eines großen, schneeweißen Falters auf. Sie hatte in ihrem Leben zwar schon viele Falter gesehen, aber noch nie einen, der auch nur annähernd so beeindruckend wie dieser war. Allein schon seine Größe hob ihn von den gängigen Exemplaren ab. Das helle Tageslicht blitzte auf seinen reflektierenden Schuppen und ließ es beinahe so aussehen, als würde er ein Kleid tragen, das mit unzähligen Diamanten besetzt war. Er funkelte in alle Richtungen, während er in sanften Bahnen durch die Lüfte flatterte. Er flatterte hinauf, dann wieder hinunter. Er zog nach links, nur um dann wieder einen Haken nach rechts zu machen. Seine Flügelschläge verbreiteten eine Lebendigkeit, die fast schon ansteckend wirkte. Dennoch kam es Lotus so vor, als würde mit einem Mal die Zeit stillstehen. Wie hypnotisiert folgten ihre Blicke dem zauberhaften Wesen, das den Anschein erweckte, als würde es eine pulsierende Spur von glitzerndem Leuchtstaub hinter sich her ziehen. Der Duft von süßem Blütennektar drang in ihre Nase.

Kling“, hörte sie auf einmal einen hellen Ton – wie das Klingeln eines kleinen Glöckchens. Und damit, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, war die träumerische Magie dieses außergewöhnlichen Moments mit einem Mal verschwunden. So plötzlich wie er erschienen war, hatte sich der weiße Falter auch wieder in Luft aufgelöst. Nicht mehr die geringste Spur war von ihm zu sehen.

Lotus schüttelte ihren Kopf und blickte verwirrt um sich.

„Wo ist er denn auf einmal hin?“, fragte sie sich. Aber er tauchte nicht wieder auf.

Sie fischte nach der Uhr in ihrer Tasche, nur um verwundert festzustellen, dass bloß ein paar wenige Sekunden vergangen waren.

„Sowas seltsames“, murmelte sie. Aber egal, denn sie musste jetzt die Bahn erwischen.

 

Als sie sich gerade aufmachen wollte, drang ein herzzerreißendes Wehklagen in ihre Ohren. „Miiaauu!“

Das Geräusch kam genau aus der Richtung, in die der mysteriöse Falter verschwunden war.

„Das darf doch nicht wahr sein“, stammelte sie.

„Miiaaauuu“, raunte es ein weiteres Mal. Und diesmal klang es noch einen Tick verzweifelter.

„Ich verpasse wirklich noch meinen Zug und komme zu spät in die Arbeit …“, seufzte sie.

Doch das klägliche Maunzen nahm kein Ende. Lotus beschloss, dem Geräusch zu folgen. Unweit vom Weg, hinter dem Stamm einer stattlichen Eiche, wurde sie schließlich fündig. Die Schreie kamen aus einem alten, dreckigen Pappkarton. Sie näherte sich ihm, wagte einen Blick hinein und sah dann auch schon, wer hier so herzzerreißend jammerte – ein kleines Kätzchen mit cremefarbenem Fell, wohl bloß ein paar Wochen alt. Irgendjemand hatte das kleine Tierkindchen achtlos im Karton ausgesetzt und ganz sich selbst überlassen.

„Miiaauu“, schrie das winzige Fellknäuel erneut und stützte die kleinen Pfötchen an die Wand der Schachtel. Das kleine Schwänzchen zitterte vor Angst. Das Tier hatte bemerkt, dass jemand hier war und versuchte, mit einer Reihe kläglicher Laute auf sich aufmerksam zu machen. Als wollte es sagen: „Bitte hilf mir! Lass mich nicht allein!“

Lotus kniete sich nieder und strich mit ihrer Hand behutsam über das struppige Fell.

„Du armes kleines Ding. Hat dich jemand hier ausgesetzt?“, flüsterte sie.

Als das Kätzchen die Berührung ihrer Hand spürte, wurde sein Klagen augenblicklich leiser und verwandelte sich in ein leichtes Schnurren.

„Na also“, sagte Lotus, „ist doch gar nicht so schlimm.“

Sie hielt Ausschau, konnte aber weit und breit keine Menschenseele erkennen.

„Hier zurücklassen kann ich dich aber auch nicht. Nein, das kommt überhaupt nicht infrage!“

Sie packte den Karton mit dem Kätzchen und machte sich damit auf den Rückweg. Dabei dachte sie an eine ältere Dame, die in ihrem Haus wohnte und die jede Gelegenheit nutzte, um von ihrer Katze zu erzählen, die bereits vor vielen Jahren verstorbenen war. Das tat sie stets mit einem wehmütigen Seufzen. Zumindest wäre das Kätzchen bei ihr vorerst wunderbar aufgehoben, ehe sich Lotus weitere Gedanken um die Zukunft des jungen Fellballs machen konnte.

 

Anderthalb Stunden später, in denen sie von einem Ort zum anderen gehetzt war, stand Lotus im Büro ihrer Vorgesetzten, wo sie einen Hagel von Vorwürfen über sich ergehen lassen musste. Die aufgebrachte Stimmung von Frau Hokori entlud sich wie ein heftiges Gewitter über der bedauernswerten Lotus, die doch bloß dem armen Kätzchen helfen wollte.

„Es ist doch unfassbar! Wissen Sie, hätte ich Ihre Arbeitsmoral, dann würde es diesen Betrieb überhaupt nicht mehr geben. Denken Sie einmal genau darüber nach!“

„Ähm“, stammelte Lotus, wurde aber sofort wieder von ihrer tobenden Chefin unterbrochen.

„Und dass wir uns verstehen – die Stunde, die Sie heute zu spät gekommen sind … die werden Sie gleich wieder einarbeiten! Ist das klar? Haben Sie das verstanden?“

Lotus nickte stumm. Sie hatte all dem nichts mehr entgegenzusetzen. In einem hatte Frau Hokori schließlich recht – sie werde nicht dafür bezahlt, kleine, ausgesetzte Tierkinder zu retten.

 

Völlig zerknirscht schlich sie in ihr Büro und fühlte sich, als wäre eine Herde wilder Schafe über sie hinweg getrampelt. Doch immerhin verschaffte ihr der Gedanke, das hilflose Fellknäuel geschützt in der Obhut ihrer älteren Nachbarin zu wissen, zumindest Erleichterung.

„Also gut, an die Arbeit“, seufzte sie mit einem Blick auf den hohen Stapel an Akten, der sich auf ihrem Schreibtisch getürmt hatte. Und weil es damit nicht genug war, brachte ihr Kollege im Laufe des Vormittags noch eine weitere Ladung zur Bearbeitung herein. Es war Frau Hokoris indezent nachtragende Art, sie für ihr Zuspätkommen zu bestrafen.

Lotus versank förmlich in Anträgen, Umbuchungen, Kundenanfragen und Telefonaten. Doch dann meldete sich ihr Unterbewusstsein mit einem Gedankenblitz. „Der Arzttermin!“, schrie sie auf und ließ ihren Stift fallen. Sie griff zu ihrem Telefon.

„Praxis Dr. Mori, Sie sprechen mit Frau Tenshi. Was kann ich für Sie tun?“, flötete eine beruhigend sanfte Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.

„Guten Tag, mein Name ist Mounier. Mounier Lotus. Mir ist da etwas ganz Blödes passiert und ich müsste dringend meinen heutigen Termin um 13:00 Uhr nach hinten verschieben. Wäre das möglich?“

„Hm, lassen Sie mich mal schauen, was ich tun kann.“

Nach einer kurzen Pause antwortete die freundliche Dame: „Ja, da könnte ich Ihnen nur mehr 17:00 Uhr, kurz vor Ordinationsschluss anbieten. Wir sind schon ziemlich voll, wissen Sie?“

Lotus konnte gerade noch ein entnervtes Seufzen unterdrücken.

„Sehr gut, vielen Dank! Dann würde ich gerne diesen Termin nehmen, bitte!“, antwortete sie und verabschiedete sich schon einmal geistig von ihrem Nachmittag. Warum rotten sich unangenehme Ereignisse immer so gern zusammen und woher zum Teufel kommt eigentlich der Ausdruck „vom Pech verfolgt“?

 

Nachdem Lotus die Zeit zwischen verspätetem Arbeitsschluss und ihrem Arzttermin mit einer langen Jause im Park und ein paar kleineren Besorgungen totgeschlagen hatte, machte sie sich schließlich auf den Weg in den dicht bebauten Innenbezirk. Die Sonne hatte den ganzen Tag über keine Pause eingelegt. Kein Wölkchen trübte den blauen Himmel. Im Herzen der kleinen Stadt reihte sich ein Gebäude nahtlos an das nächste und aufgrund der fehlenden Grünflächen setzte sich die brütende Hitze hier fest wie in einer finnischen Sauna.

Endlich kam Lotus schnaufend bei der Praxis an. „Noch eine halbe Stunde länger und ich hätte ein Sauerstoffzelt benötigt“, dachte sie sich.

 

Im dicht begrünten Innenhof des altehrwürdigen Wohnhauses überkam sie das Gefühl, als hätte sie jemand aus dem grauen Betondschungel direkt in eine verwunschene Oase entführt. Nichts ließ einen erahnen, dass hinter der unscheinbaren Häuserfront ein so ausgesprochen schönes Fleckchen Natur erblühte. Auf der grünen Wiese wuchsen Gänseblümchen und Löwenzähne, aber auch violette und weiße Lupinen sowie leuchtend gelbe Sonnenblumen, die ihre Köpfe stolz in Richtung ihrer Namensgeberin streckten. Dazwischen lugten Rittersporn und tiefroter Klatschmohn aus dem saftigen Gras heraus. Inmitten dieser natürlichen Idylle stand eine hölzerne Gartenlaube, üppig bewachsen von wucherndem Blauregen, der herrlich süß duftete und vom Gebrumm emsiger Insekten erfüllt war.

Lotus war nicht allzu oft hier, doch wenn sie diesen Ort besuchte, dann musste sie einfach kurz in den magischen Innenhof, wo sie einen Augenblick lang innehielt, dieses blühende Wunder bestaunte und so für einen Moment aus dem grauen Alltag flüchten konnte. Sie atmete tief ein, sog den angenehm lieblichen Duft der Blüten auf und fühlte beim Ausatmen wie der Stress der Arbeit allmählich von ihr abfiel. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

 

Dann passierte es plötzlich wieder. Lotus wusste erst einmal nicht, ob ihr ihre überhitzten Sinne einen Streich spielten, aber nachdem sie den feinen Lufthauch vor ihrem Gesicht vorüberziehen gespürt hatte und sich an das Gefühl erinnerte, erkannte sie ihn wieder – die weißen Flügel, die funkelnden Staub mit sich zogen und sich sanft rhythmisch auf und zu klappten … es war der Falter, der ihr bereits am Morgen begegnet war und der sie schließlich erst zu dem kleinen Kätzchen geführt hatte. Nachdem sie eine Weile die meditativen Flugbahnen beobachtet hatte, hörte sie auch dieses Mal wieder das geheimnisvolle Klingeln, das wie aus einer fremden Zwischenwelt zu kommen schien. Lotus rieb sich die Ohren und schloss dabei kurz ihre Augen. Und als sie sie öffnete, hatte sich das magische Wesen wieder in Luft aufgelöst – genauso plötzlich wie beim ersten Mal. Sie blickte noch suchend um sich.

„Falterchen, wo bist du hin?“, fragte sie. Hatte sie sich das alles doch bloß eingebildet? Sie konnte nur mehr mit den Schultern zucken, seufzte laut auf und verschwand dann ins Haus.

 

„Mounier … Mounier“, murmelte die junge Dame beim Empfangsschalter. „Ah … ja, da haben wir’s! Sie hatten ihren Termin verschoben. Deswegen mussten wir Sie woanders einschieben.“

„Ähm … ja“, entgegnete Lotus etwas schuldbewusst. „Es hatte etwas länger gedauert in der Arbeit.“

„Ja … ja, gut Ding braucht Weile“, lächelte die Dame und schüttelte dann den Kopf, als sie in den Tiefen ihres Computers stöberte. „Hmm, da ist was ziemlich durcheinander geraten. Sie waren zuerst bei meiner Kollegin eingeteilt und sind dann aber in meiner Schicht gelandet. „Hmm … hmmm“, grübelte sie weiter, während sie ihren Blick konzentriert über den vollen Terminkalender schweifen ließ. Schließlich fand sie endlich, wonach sie gesucht hatte, markierte eine Zeile und blickte dann zu der wartenden Patientin auf.

„Entschuldigen Sie bitte, ich bin neu hier und noch in der Einschulung. Deswegen dauert alles ein bisschen länger. Tut mir leid.“

Lotus zuckte mit den Schultern.

„Das macht doch nichts. Jeder muss einmal wo anfangen.“

Die Dame lächelte dankbar.

„Nehmen Sie doch bitte Platz. Ich werde sie dann aufrufen, sobald Sie dran sind. Und diesmal werden wir nichts mehr verwechseln.“

Lotus nickte verbunden und suchte sich einen Stuhl im hinteren Eck des Zimmers. Nachdem sie sich hingesetzt hatte, begann sie in ihrer Tasche zu kramen und fischte dann ein Buch hervor, das ihr die Wartezeit verkürzen sollte.

 

Zwei Kapitel hatte sie gerade durch, als ihr Name ausgerufen wurde. Der Arzt empfing sie freundlich. Es war ein älterer Herr mit einer dicken Brille und einem dichten, weißen Bart.

„Bitte, Frau Mounier, nehmen sie Platz.“

Im Grunde war sie hier zur Nachbesprechung einer Routineuntersuchung. Auch wenn Lotus diese Kontrolle für Zeitverschwendung hielt, da sie noch jung war, sich gesund fühlte und keinerlei Beschwerden hatte, kam sie jedes Jahr der Verpflichtung nach. War es ihr Hang zur Ordnung? Oder war es doch eine unbewusste Angst? Wie auch immer – sie hatte es sich jedenfalls zur Gewohnheit gemacht, einmal im Jahr zu Dr. Morizu gehen.

 

Da saß sie also, im Untersuchungsraum und musterte interessiert den Schreibtisch, auf dem sich ein kleiner Porzellanfisch befand. Er stand direkt neben einem üppig befüllten Stifthalter. Lotus fand das immer sehr spannend, denn sie war der Meinung, dass Schreibtische sehr viel über ihre Besitzer aussagen. Das war bei ihr nicht anders. Ihr neugieriger Blick wanderte weiter zu einem gerahmten Foto, als Dr. Mori sich demonstrativ laut räusperte. Lotus schaute ihm in die Augen, und sie erkannte darin sofort etwas, das sie bei ihm bisher noch nie gesehen hatte – Besorgnis. Sie spürte, die Angst, die wie ein gleißender Blitz in ihr Rückenmark fuhr und sich hinauf bis ins Gehirn fraß. Der Doktor hatte nun ihre volle Aufmerksamkeit.

„Stimmt denn etwas nicht?“, stammelte sie kleinlaut.

Dr. Mori runzelte seine Augenbrauen und warf noch einmal einen Blick auf das Blatt mit den Laborergebnissen. Langsam zog er die Luft zwischen seinen Zähnen ein.

„Frau Mounier, wie soll ich es ihnen sagen … so wie es aussieht, deuten die Ergebnisse auf eine Stoffwechselerkrankung hin. Um es genauer auszudrücken – es ist Diabetes.“

„Diabetes?“, wiederholte sie bestürzt. Mit dieser Aussage hatte er sie völlig überrascht und sie versetzte ihr einen kräftigen Schlag direkt in die Magengrube, sodass ihr beinahe schlecht wurde. Sternchen tanzten vor ihren Augen und ein Rauschen machte sich in ihren Gehörgängen breit. „Aber …. aber wie kann das sein?“, stotterte sie. „Ich war doch letztes Jahr auch bei Ihnen. Und da war alles in Ordnung. Ich fühle mich auch vollkommen gesund. Ich habe doch überhaupt keine Beschwerden. Gar nichts.“

Dr. Mori zwang sich zu einem Lächeln, um sie zu beruhigen. „Wissen Sie, Frau Mounier, so etwas kann manchmal sehr plötzlich auftreten und sich dann rasch weiterentwickeln. Im Frühstadium haben die Patienten oft keine Symptome. Häufig spielen erbliche Vorbelastungen eine Rolle. Gibt es die in ihrer Familie?“

Lotus begann angestrengt zu überlegen, doch etwas zog sie fort – als hätte sich das Tor zu einer zweiten Dimension geöffnet, das sie langsam aber sicher in sich hinein sog.

„Meine Großmutter … sie hatte Diabetes … und meine Tante auch“, erinnerte sie sich.

„Mhm“, nickte der Arzt, „aber bevor wir uns jetzt Gedanken machen, welche Behandlung für Sie die beste wäre, möchte ich noch ein paar Tests durchführen. Nur um wirklich sicherzugehen, dass wir nichts übersehen haben und um das Ganze etwas genauer eingrenzen zu können. Verstehen Sie?“

„Natürlich“, hörte Lotus ihr zweites Ich antworten. „Ich danke Ihnen, Herr Doktor, dann machen wir das so.“

„Gut … und Frau Mounier, bedenken Sie eines: Heutzutage kann man diese Krankheit sehr gut behandeln. Zum Glück gibt es den medizinischen Fortschritt – man muss heute nicht mehr leiden. Also Kopf hoch, ja?“

Lotus nickte nur mehr gedankenverloren und verließ schlafwandlerisch den Raum.

 

Auf den aufgeheizten Straßen, wo gerade vorhin noch bunte Autos und farbenfroh gekleidete Menschen eine sommerliche Heiterkeit verbreitet hatten, hatte sich nun eine bedrohliche Kulisse aus lärmenden Motorengeräuschen, Fahrzeughupen und dem lauten Getratsche der vorbeischlendernden Fußgänger breit gemacht.

Lotus hastete eilig zur Haltestelle der Schwebebahn, um dem erdrückend dichten Getümmel zu entkommen und so schnell wie möglich wieder zuhause zu sein. Während der Fahrt starrte sie aus dem Fenster und ließ die Landschaft an sich vorüberziehen. Die Plexiglas-Scheibe trennte sie von den grünen Wiesen, den goldgelben Feldern und den bewaldeten Hügeln. Aber es schien sich auch noch eine unsichtbare Wand zwischen sie und die Welt geschoben zu haben. Da saß sie nun und fühlte sich elend, taub und grau – unfähig, die lebendigen Farben und die schöne Leichtigkeit des Sommers in ihr Herz zu lassen.

Das Gespräch mit dem Arzt hatte zwar nicht allzu lange gedauert, aber in ihrem Kopf wiederholte es sich nun in einer Endlosschleife. Und ganz egal wie oft sie die Platte abspielte, sie blieb jedes Mal genau an derselben Stelle hängen.

Um es genauer auszudrücken – es ist Diabetes … um es genauer auszudrücken – es ist Diabetes … um es genauer …

 

An ihrer Station angekommen, schlich sie gedrückt aus der Bahn und tappte langsam nachhause – vorbei an der kleinen Bäckerei, in deren Schaufenster immer die buntesten Törtchen funkelten. Vorbei am kleinen blauen Haus, das seinen entzückenden Erker wie eine Hundeschnauze in Richtung Straße streckte. Sie fühlte sich, als wäre die Welt über sie drübergetrampelt. Der schmale Weg, der durch das kurze Waldstück führte, hatte die Magie des Vormittags nun vollkommen verloren. Selbst hier war die Luft nun unangenehm aufgeheizt und stickig, und das knochentrockene Zirpen der Grillen ließ das Gefühl aufkommen, als wandere man durch einen Pinienwald an der katalanischen Küste, mitten im heißesten Hochsommer.

 

Als Lotus endlich in ihrer Wohnung angekommen war, sank sie erschöpft in ihrem Lesesessel nieder. Sie ließ den Tag in ihren Gedanken noch einmal vorüberziehen. So schön und verheißungsvoll hatte er begonnen, voller Vorfreude auf das Fest. Und dennoch hatte ihn eine Anhäufung unerfreulicher Ereignisse nun zu einem bösen Ungeheuer heranwachsen lassen, das einem unerbittlich die Kraft aus dem Körper zog.

Sie ging in ihr Schlafzimmer und musterte das feierliche Gewand, das sie sich für den Abend zurechtgelegt hatte. Wie ein durchsichtiger Geist hing das weiße Sommerkleid an ihrer Kastentür und schien sie zu verhöhnen. Ein ausgesetztes Kätzchen, zu spät in der Arbeit, der Wutanfall ihrer Vorgesetzten und, als wäre das alles nicht genug, auch noch die niederschmetternde Diagnose beim Arzt. Lotus ballte ihre Fäuste und stampfte wütend mit dem rechten Fuß auf dem Boden auf.

„Nein, nein, nein“, fauchte sie, „ich lasse mir von diesem miesen Tag nicht auch noch den Abend verderben! Nicht diesen Abend!“

 

Sie packte ihr Telefon und wählte Janus’ Nummer.

Es klingelte.

Es klingelte weiter.

Es klingelte durch.

Janus ging nicht ran.

„Das auch noch“, stöhnte Lotus.

Kurzerhand beschloss sie, sich direkt auf den Weg zu ihm zu machen. Sie wusste zwar, dass er dieses Wochenende an einem größeren Projekt für seine IT-Firma zu arbeiten hatte. Auch hasste er es, dabei gestört zu werden. Die beiden waren erst kurze Zeit zusammen, aber zumindest das hatte sie schon mitbekommen. Janus konnte auch Überraschungen nicht leiden – und spontane Unternehmungen genauso wenig. Wie seine geschätzten Computer alles in Nullen und Einsen aufteilten, hatte auch er selbst eine Vorliebe für ein kalkuliertes Leben. Lotus hatte das bereits akzeptiert. Auf eine bestimmte Art und Weise mochte sie diese Eigenheit von ihm sogar. Es vermittelte ihr zumindest eine Sicherheit, die in ihrem eigenen Leben stets zu kurz kam. Viel zu oft fühlte sie sich so, als säße sie in einem kleinen, schwankenden Boot auf stürmischer See. Und genau in diesem Moment war Sicherheit exakt das, was sie brauchte. Ja, sie hielt es für die beste Idee, zu Janus zu gehen. Er würde ihr helfen, ihre rastlosen Gedanken und ihre wild durcheinander gewürfelten Gefühle wieder zu ordnen. Mit dieser Hoffnung im Herzen machte sie sich auf den Weg zu seinem Haus, das zwar auch in Otogi lag, aber gute zwanzig Gehminuten von ihr entfernt war.

 

Gerade hatte sie den Garten durch das kleine Tor betreten, als mittlerweile schon zum dritten Mal an diesem äußerst merkwürdigen Tag jemand ihren Weg kreuzte. Da war es wieder – das geheimnisvolle weiße Flatterwesen, das sie aus irgendeinem unerfindlichen Grund zu verfolgen schien. Es flog genauso unbekümmert und lebendig wie die beiden anderen Male vor ihr her. Und auch diesmal verschwand es wieder mit einem seltsamen Klingeln im Nichts.

„Was zum Henker?“, murmelte Lotus und starrte noch eine Weile in die Richtung, in die der Falter fortgeflogen war. Doch sie sah bald ein, dass sie das Geheimnis heute nicht mehr lüften konnte. Sie schüttelte den Kopf und schlenderte über den Gartenweg zur Haustür. Allmählich hatte sie die Nase schon voll von diesen seltsamen Ereignissen und wollte nur noch eines – in Janus’ Armen versinken, ihm von ihrem schrecklichen Tag erzählen und daraufhin seine beruhigenden Worte hören: „Lotus, meine Liebe, hör mal, es gibt immer eine Lösung. Egal wie verwirrend und aussichtslos etwas auch erscheinen mag.“

Genau diese Worte, die er so gerne sagte, waren es nun, die sie unbedingt hören wollte. Ihr Finger hatte beinahe schon die Türklingel berührt, als sie Stimmen aus dem Haus vernahm. Im letzten Augenblick zog sie ihre Hand zurück.

„Seltsam“, dachte sie, „hatte er etwa Besuch? Wo er doch dieses wichtige Projekt abschließen wollte?“

Langsam schlich sie ums Haus, näherte sich dem Fenster seines Arbeitszimmers und wagte einen Blick hinein. Der riesige Bildschirm war abgedreht, der Arbeitsplatz verwaist. Die Stimmen konnte sie immer noch hören, doch die dicken Hauswände verschlangen alle Worte. Und während sie sich weiter die Wand entlang bewegte, regte sich ein unangenehmes Gefühl in ihrem Magen. War sie denn verrückt? Da schlich sie heimlich durch den Garten ihresFreundes, anstatt einfach anzuläuten – so wie es jeder normale Mensch tun würde. Doch ihr Gefühl sagte ihr, dass hier etwas ausgesprochen faul war.

 

Als Lotus zum Wohnzimmerfenster kam, wurden die Stimmen klarer. Vorsichtig lugte sie hinein und zuckte dann, wie vom Blitz getroffen, zusammen. Ihr Puls schnellte in die Höhe, ihr Herz peitschte das Blut durch ihre Adern. Sie hielt den Atem an und presste sich zitternd an die Hausmauer. Sie schloss ihre Augen, legte ihre Hand auf die Brust und versuchte, sich nur irgendwie zu beruhigen.

 

Lotus wusste nicht, wer die junge Frau war, die sich auf Janus’ Schoß räkelte. Doch beide hatten sichtlich eine Menge Spaß. Er hatte seine Hände um ihre nackte Taille gelegt. Sie nippte aus einem Glas Wein und bewegte ihren entblößten Oberkörper wie eine tänzelnde Schlange. Mitten durch die aufgeheizte Atmosphäre schallte ihr neckisches Lachen.

Lotus konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Das Bild hatte sich auf der Stelle in ihr geistiges Auge eingebrannt, ganz wie der Schnappschuss einer Kamera. Sie hörte die Frau ein weiteres Mal laut auflachen, und als hätte jemand einen Knopf gedrückt, riss Lotus sich jetzt von der Wand los und stürmte schnurstracks durch den Garten hin zur Tür.

Ein Außenstehender hätte meinen können, sie fliehe vor einer Meute böser Dämonen. Nicht ein einziges Mal drehte sie sich um. Sie rannte einfach darauf los, wohin auch immer ihre Füße sie trugen. Als sie bei der Straße angelangt war, rannte sie einfach über sie, ohne nach links und rechts zu schauen. Dabei erntete sie das wütende Hupen eines Autofahrers, der gerade noch im letzten Moment bremsen konnte und sie damit bloß um ein Haar nicht überfahren hatte. Doch das kümmerte sie überhaupt nicht mehr. Sie bog in die nächste Gasse ein und rannte weiter über das offenes Feld. Ihr Herz raste, die Luft in ihrer Lunge wurde immer dünner, in ihrem Kopf hämmerte es wie verrückt und ihr Blick wurde starr als hätte sie unsichtbare Scheuklappen. Dabei übersah sie ein Erdloch, blieb darin hängen und verrenkte sich den Fuß. Schreiend geriet sie aus dem Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Ein stechender Schmerz breitete sich explosionsartig von ihrem linken Knöchel bis hinauf zu ihrem Knie aus. Außerdem hatte ihr der Sturz an beiden Ellenbogen tiefe Schürfwunden beschert, die voller Erde waren und höllisch brannten. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

„Verdammt nochmal!“, brüllte sie gequält auf und schlug mit ihrer flachen Hand auf den Boden. „Was willst du von mir, du verfluchter Tag? Willst du mich umbringen?“ Sie schnaubte. „Was soll denn noch alles geschehen? Wann lässt du mich endlich in Ruhe?“

 

Einige Zeit später stand Lotus vor dem Fenster ihres Schlafzimmers. Sie war nun wieder einigermaßen gefasst, hatte ihre Wunden gesäubert und auch ihren angeschlagenen Knöchel mit Eis behandelt. Ohne das Sonnenlicht waren die Regenbogenkristalle farblos geworden, als hätte ihnen jemand ihren Zauber geraubt. Genauso stumm wie die Schmucksteine war auch ihr Telefon geblieben. Janus hatte sich auf ihre Anrufe nicht mehr zurückgemeldet. Aber den Grund kannte sie jetzt ja.

Sie blickte hinaus in den Himmel, wo sich bereits die Dämmerung ausgebreitet hatte. Ein paar erste ungeduldige Menschen hatten ihre Laternen bereits in die Lüfte steigen lassen.

Mit ihrem verstauchten Fuß, der bei jedem Auftreten höllisch schmerzte, war nicht im Entferntesten daran zu denken, den unwegsamen, steilen Hügel zu erklimmen, wo sie für gewöhnlich beim großen Kreuz ihren Lampion in den Himmel schickte. Sie versuchte es mit einer dicken Bandage. Doch der Schmerz ließ sich auch dadurch nicht bändigen.

„Aahh! Autsch!“, schrie sie auf, als sie noch einmal versuchte, aufzutreten. Dann ließ sie sich auf den Boden nieder, hielt sich den Knöchel mit beiden Händen und schluchzte verzweifelt.

„Es geht einfach nicht!“

Man konnte zwar überall im Dorf die leuchtenden Laternen steigen lassen, doch seit sie ein kleines Mädchen war, pilgerte sie stets zum Gipfelkreuz. Anders als die anderen Menschen wusste sie nämlich, dass es ein ganz besonderer Ort war, mit einer ganz eigenen, unvergleichlichen Magie, die nirgendwo sonst herrschte.

„Viele wissen es nicht, aber das hier ist der höchste Punkt weit und breit“, hatte ihr ihr Vater damals erklärt – damals, als sie noch ein kleines Kind war. „Und so werden deine Wünsche viel schneller im Himmel ankommen. Von hier aus müssen sie nämlich einen viel kürzeren Weg zurücklegen.“

 

Tatsächlich sollte es nun das erste Sommersonnenwende-Fest seit ihrer Kindheit sein, an dem sie nicht mit ihrer Laterne am Fuße des Kreuzes stand. Nach und nach füllten sich ihre Augen mit Tränen, die bald in schnellen Bahnen über ihre Wangen flossen und sich an ihrem Kinn sammelten. Wehmütig verfolgte sie die Flugbahnen der leuchtenden Lampions, die langsam am Horizont verschwanden.

 

Das Wochenende über verkroch sich Lotus in ihrem Bett und ließ die Welt draußen vor der Tür. Die Schürfwunden und der angeknackste Knöchel heilten zwar schnell ab, nicht so aber ihre inneren Verletzungen, die sie an jenem unheilvollen Tag davongetragen hatte. Ganz im Gegenteil – der Schock ließ nach und erlaubte ihr erst jetzt, die volle Bedeutung der Geschehnisse in ihr Bewusstsein sickern zu lassen. Von einem Tag auf den anderen hatte sich ihr Leben vollkommen verändert. Eine zermürbende Krankheit würde sie nun auf ewig begleiten. Und damit nicht genug, befand sie sich auch noch in einer Beziehung mit einem Mann, der sie unter dem Vorwand der Arbeit mit einer anderen betrog. Wie schnell sich das Schicksal doch wenden konnte. Wo einst ein blühender Rosengarten war, fand sie jetzt nur mehr welkes Laub vor.

 

Als sie Montagfrüh in ihrem Bett aufwachte, fühlte sie sich wie unter Tonnen von schwerem Gestein begraben. Sie war sich nicht sicher, ob sie jemals wieder aufstehen konnte. Doch gerade in diesem Moment pochte es an ihrer Wohnungstür. Unter hoher Anstrengung raffte sie sich doch auf und schleppte sich mühsam ins Vorzimmer.

Klopf, klopf, klopf …

„Ja, ja, ich komme ja schon …“

Sie öffnete die Tür und blickte ihrer Nachbarin aus der anderen Wohnungins Gesicht.

„Lotus, schau mal, sie hat sich schon erholt!“, raunte die ältere Dame und streichelte das Fellknäuel, das sie behutsam in ihrer Armbeuge hielt.

Es war das kleine Kätzchen, das sie gefunden hatte. Ihm schien es nun wirklich gut zu gehen. Aufgeweckt krallte es sich mit den kleinen Pfötchen in den Arm und schnurrte zufrieden.

„Sie sieht wirklich schon so viel besser aus! Da hast du sie aber rasch wieder aufgepäppelt“, entgegnete Lotus und strich mit der Hand über das flauschige Köpfchen.

„Miiiuuu“, entgegnete das Tierchen zufrieden mit einer noch nicht voll entwickelten Katzenstimme.

„Ich habe sie am Freitag gleich einmal gebadet. Ja, wir wollen doch sauber sein, gell? Das ist doch nichts, wenn man schmutzig durchs Leben gehen muss.“ Sie blickte dem Kätzchen verliebt in die Augen. „Und der Tierarzt hat mir eine spezielle Aufbaunahrung gegeben. Das dürfte ihr auch geholfen haben.“

Liebevoll fuhr sie über das cremefarbene Fell und ihre alten Augen glänzten förmlich vor Glück.

„Ich habe schon fast vergessen, wie schön es ist, wenn man für jemanden sorgen kann und so viel Dankbarkeit zurückbekommt. Es vertreibt meine Einsamkeit und bringt so viel Freude in mein Leben. Ich bin dir so dankbar dass du mir das kleine Ding gebracht hast!“

„Das ist schön! Ich freue mich, dass sie bei dir so ein gutes Zuhause gefunden hat. Da können andere Katzen nur neidisch werden.“

„Naja“, kicherte die Dame, „aber ich möchte dich nicht länger aufhalten. Du musst ja schließlich zur Arbeit und hast bestimmt noch genug zu tun. Ich wollte dir nur kurz zeigen, dass es der Kleinen schon besser geht. Und übrigens, ich habe ihr einen Namen gegeben. Cremepuff! So hatte meine frühere Katze geheißen, die schon lange verstorben ist. Sie war auch cremefarben, ganz ähnlich wie sie hier.“

Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand wieder in ihrer Wohnung.

Lotus seufzte erleichtert auf, als sie die Türe wieder schloss.

„Cremepuff … ich bin so froh, dass es doch etwas Gutes hatte für die kleine Cremepuff.“

 

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, klingelte das Telefon.

„Janus?“, schoss es ihr durch den Kopf.

Doch auf dem Display konnte Lotus dann sehen, dass es die Praxis von Dr. Mori war. Ihr Herz begann schneller zu schlagen.

„So ein früher Anruf?“, fragte sie sich. „Bitte lass es nicht die nächste Hiobsbotschaft sein. Ich habe wirklich genug …“

Sie nahm all ihren Mut zusammen.

„Ha-hallo?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

„Frau Mounier? Guten Morgen! Hier ist Fräulein Tenshi, Praxis Dr. Mori. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so früh störe.“

„Nein, nein, also … kein Problem. Ich war schon wach. Ich bin keine Langschläferin“, entgegnete Lotus und lachte dabei ein wenig übertrieben. Es war bei ihr ständig so – immer wenn sie nervös war, fing sie an, unnötiges Zeug zu reden. Doch man konnte es ihr nicht verdenken, denn der Schreck saß ihr noch tief in den Knochen, und alleine der Gedanke an die Praxis brachte ihren Puls zum Rasen.

„Wie soll ich sagen, Frau Mounier“, druckste die Sprechstundenhilfe herum, „es ist mir wirklich ganz unangenehm, aber ich muss da jetzt ein blödes Missverständnis aufklären.“

Lotus blieb stumm und Fräulein Tenshi fuhr gleich fort.

„Bei Ihrem letzten Besuch in unserer Ordination gab es eine blöde Verwechslung der Akten. Wir hatten Ihren Befund mit dem einer älteren, zuckerkranken Patientin vertauscht. Nachdem uns das aufgefallen war, hatte mich Dr. Mori heute Morgen sofort angewiesen, sie zu informieren. Also ich sag’s gleich frei heraus: Sie sind vollkommen gesund! Mit Ihren Werten ist alles in bester Ordnung. Es war unser blöder Fehler und das tut uns wirklich unheimlich leid.“

„Wie?“, stammelte Lotus perplex. „Sie meinen …?“

„Ich verstehe, dass Sie irritiert sind. Immerhin handelt es sich bei Diabetes um keine leichte Krankheit. Aber Sie sind nicht krank! Unsere neue Mitarbeiterin hat etwas durcheinander gebracht. Sie ist noch in ihrem Probemonat und muss noch eingeschult werden. Ich bitte um Verzeihung. Ich glaube die Terminverschiebung hat sie ein wenig verwirrt.“

Jetzt erinnerte sich Lotus wieder daran, dass sie die Dame beim Empfang nicht gekannt hatte. Sie hatte ihr sogar erzählt, dass sie neu war.

„Ich … ich habe also keine Zuckerkrankheit?“, fragte Lotus, nur um wirklich sicher zu gehen, dass sie auch alles richtig verstanden hatte.

„Nein, haben Sie nicht! Sie sind wirklich kerngesund! Ich möchte mich noch einmal aufrichtig bei Ihnen entschuldigen. Die falsche Diagnose hat Sie sicher ernsthaft belastet. Und das auch noch am Wochenende, wo man sich doch endlich einmal entspannen möchte. Deshalb habe ich Sie auch gleich angerufen.“

Auf einmal fühlte Lotus, wie ein gigantischer Mühlstein von ihrem Herzen fiel. Sie konnte den gewaltigen Aufprall, den der Stein erzeugte, richtig spüren. Als würde er ihr Leben erneut erschüttern – diesmal aber mit einer positiven Auswirkung, die das Dunkel mit einem kräftigen, freundlichen Licht vertrieb. Unglaubliche Erleichterung machte sich in ihr breit, umschmeichelte ihr Herz, pumpte Glücksgefühle in ihren gesamten Körper und ließ sie befreit aufatmen.

„Ich … ich danke Ihnen, Frau Tenshi … für Ihren Anruf … für die Richtigstellung. Ja, klar … Fehler können passieren. Wir sind schließlich alle nur Menschen.“

„Ich bin froh, dass Sie das so locker nehmen, Frau Mounier.“

„Es stimmt schon, was Sie sagten. Es hat mich wirklich irrsinnig belastet. Naja, eine Krankheit fürs Leben ist halt schon etwas Einschneidendes. Aber umso erleichterter bin ich jetzt, dass es sich bloß um eine Verwechslung gehandelt hatte.“ Sie hielt kurz inne. „Und … und ich bedanke mich für Ihren frühen Anruf.“

„Selbstverständlich, Frau Mounier. Nochmals danke für Ihre Nachsicht mit unserer neuen Mitarbeiterin. Ich wünsche Ihnen eine ganz wundervolle Woche!“

 

Lotus ließ sich auf ihre Couch fallen. Sie hatte das Gefühl, als hätte jemand eine dunkle Bedrohung, die über ihr lauerte, mit einem einzigen Fingerschnippen weggezaubert. Wie ein Unglück doch alles über den Haufen werfen konnte. Wäre sie nicht zu spät zur Arbeit gekommen, dann hätte sie ihren Termin nicht verschieben müssen. Dann wäre sie bei Frau Tenshi gelandet und das Ganze wäre erst gar nicht passiert. Doch bevor sie ihre Gedanken weiterspinnen konnte, brummte ihr Telefon. Eine Nachricht war eingegangen. Womit wartete das Universum denn jetzt schon wieder auf?

 

Guten Morgen, meine Liebe! Wie geht es dir? Hast du das Wochenende schön verbracht beim Lampion-Lichterfest? Und hast du dich eh auch gut erholt? Sorry, dass ich mich erst jetzt melde, aber du weißt ja, dass ich diesen verdammten, wichtigen Auftrag erledigen musste. Das war so ein Stress. Aber pfuh, ich hab’s geschafft. Ich schicke dir einen Kuss!

Janus

 

Sie konnte sich gerade noch zurückhalten, sonst hätte sie ihr Telefon mit voller Wucht gegen die Wand geschleudert.

„Wichtiger Auftrag“, äffte sie ihn wütend nach. Der Zorn hatte ihr Blut zum Brodeln gebracht. Wie konnte man nur so ein verlogener Mistkerl sein? Und dann auch noch so eiskalt?

Lotus lief in ihrem Wohnzimmer auf und ab und ballte ihre Fäuste. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken wie wilde Affen. Warum hatte sie ihn nicht sofort zur Rede gestellt? Dann hätte sie diese blöde Geschichte schnell und sauber abschließen können. Aber wie es bei ihr so oft der Fall war, hatte sie sich einfach vollkommen überfordert gefühlt – von der Situation, aber vor allem auch von ihren Emotionen. Neben ihre Wut gesellte sich nun auch das Gefühl von Scham. Sie schämte sich dafür, dass sie weggelaufen war, dass sie Janus vertraut und ihn völlig falsch eingeschätzt hatte.

„Ich hätte es doch erkennen müssen“, warf sie sich selbst vor und fuhr sich kopfschüttelnd durch die Haare.

 

Irgendwann musste sie aber einsehen, dass ihr diese Aufregung auch nichts brachte. Lotus sank in ihr Sofa und begann zu tippen …

 

Hallo Janus,

der letzte Freitag war sehr hart für mich. Es war ein einziger, nicht enden wollender Unglückstag. Deswegen hatte ich dich auch angerufen. Als du nicht abgehoben hattest, bin ich dann ganz einfach zu deinem Haus gegangen, weil ich ganz dringend jemanden zum Reden brauchte. Dort habe ich aber leider feststellen müssen, dass es nicht die Arbeit war, die dich beschäftigt hatte. Vielmehr war es der Besuch, den du hattest. Du weißt, ich habe deinen Wunsch, nicht gestört zu werden, immer respektiert. Und wäre es nicht so ein schlimmer Tag für mich gewesen, dann wäre ich nie auf die Idee gekommen, zu dir zu gehen. So gesehen hatte das alles aber letztlich doch etwas Gutes. Ich habe erkannt, dass du mein Vertrauen schamlos ausgenutzt hast. Du musst auch nicht versuchen, es abzustreiten, denn ich stand direkt vor deinem Wohnzimmerfenster und konnte alles sehen. Und eigentlich kann ich mir auch keine Erklärung vorstellen, die diese Situation in ein anderes Licht rücken würde. Deswegen erspare mir – und auch dir selbst – bitte Zeit und Nerven und melde dich nie wieder bei mir.

Lotus

 

Eine Beziehung per Textnachricht zu beenden erschien ihr für gewöhnlich zwar äußerst schäbig, doch angesichts seines widerwärtigen Verhaltens, hielt sie es diesmal für angebracht.

Sie las die Nachricht noch ein paar Male durch, denn sie wollte sichergehen, dass alles darin stand, was sie ihm noch zu sagen hatte. Dann ging sie auf Senden. Sie legte das Telefon weg und ging ins Bad, wo sie sich geruhsam die Zähne putzte, das Gesicht wusch und die zerzausten Haare kämmte. Das Telefon blieb stumm. Auch als sie im Schlafzimmer war und sich ihr Gewand für den heutigen Tag zurecht legte, kam keine Nachricht. Wie auch? Wie hätte er sich aus dieser Misere herausreden können? Er war erwischt worden. Und sein Schweigen bestätigte alles. Janus war nicht dumm. Er war vieles, aber wirklich nicht dumm. Er wusste genau, wann eine Schlacht verloren war und wann es besser war, sich zurückzuziehen. Eine ganze Weile starrte Lotus noch auf das dunkle Display. Dann atmete sie tief ein und seufzte: „Was für eine Enttäuschung.“

 

Bald spürte sie das Verlangen zu frühstücken. Dass ihre alte Nachbarin mit dem kleinen Kätzchen vorbeigeschaut hatte und dabei auch noch vor wiedergefundenem Glück strahlte, zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht. Und dann war da auch noch der Anruf aus Dr. Moris Praxis. Beides zusammen schenkte ihr jetzt einen Schwall neuer, positiver Energie. Die Dinge waren wieder ins Lot gebracht worden. Dinge, die ihr sehr an die Substanz gingen. Nur die Sache mit Janus … naja. Aber das Leben ist eben nicht immer perfekt.

 

Lotus öffnete das Küchenfenster und ließ die frische Morgenluft hinein. Sie machte sich einen schwarzen Kaffee, der so stark war, dass er vermutlich Herzrasen bei einem Toten verursacht hätte. Dann setzte sie sich an den Küchentisch, nippte an der dampfenden Tasse und blätterte in der Zeitung, die sie vorhin von der Türmatte aufgeklaubt hatte.

Auf einmal hielt sie inne. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken und verpasste ihr eine Gänsehaut, die für eine ganze Vogelschar gereicht hätte.

In der Zeitung las sie die Schlagzeile: Heftiger Blitzschlag steckte Gipfelkreuz in Brand.

Das Foto darunter zeigte ein riesiges Kreuz, das in Flammen stand.

 

Es hätte ein fröhliches Fest in Otogi werden sollen – der Abend der Sommersonnenwende. Doch das diesjährige Lampion-Lichterfest wurde von einem unerklärlichen Witterungsphänomen heimgesucht. Zur Dämmerstunde herrschten noch herrliche Wetterbedingungen. Keiner hätte je geahnt, was diese Nacht mit sich bringen würde. Gegen 23:00 Uhr – der Himmel war sternenklar und es gab nicht die geringsten Anzeichen, dass ein Gewitter im Anmarsch war – schlug ein gewaltiger Blitz in das hölzerne Gipfelkreuz auf dem Wolfshügel ein. Hunderte feiernde Menschen, die gerade ihre Laternen in den Himmel steigen ließen, wurden Zeugen dieses unerklärlichen Ereignisses. Es war unglaubliches Glück, dass zu diesem Zeitpunkt niemand in der Nähe des Kreuzes war, denn die starke elektrische Entladung hätte vermutlich jeden im Umkreis von einhundert Metern auf der Stelle getötet.

 

Lotus’ Finger begannen so stark zu zittern, dass sie das Papier zerdrückten. Als sie sich des Ausmaßes dieses Unglücks bewusst wurde, musste sie sofort die Kaffeetasse abstellen. Auf einmal spielte ihr Unterbewusstsein einen Film in ihrem Kopf ab. Wie im Zeitraffer zogen die Ereignisse des vergangenen Freitags an ihr vorbei. Das herzzerreißend schreiende Katzenkind, das jemand ausgesetzt hatte – der verpasste Zug – der Ärger in der Arbeit – die schockierende Diagnose beim Arzt – ihr Freund Janus, der sie so schamlos hintergangen hatte – und schließlich auch noch der verstauchte Knöchel, der ihrem Plan für den Abend den endgültigen Todesstoß versetzt hatte. All diese unangenehmen Vorfälle ergaben nun ein Muster. Das eine führte zum anderen. Einzig und allein dieser mysteriösen Verkettung negativer Ereignisse hatte sie es zu verdanken, dass sie an besagtem Abend nicht unter dem hölzernen Gipfelkreuz stand und ihre Laterne in den Himmel schickte – so wie sie es die letzten zwanzig Jahre immer gemacht hatte. Denn schon damals, als sie noch ein siebenjähriges Mädchen war und mit ihrem Vater zum ersten Mal einen Lampion von oben aufsteigen ließ, hatte sie sich gewünscht, niemals ein Laternenfest zu verpassen. Daran hatte sie sich gehalten. Zwanzig Jahre lang kehrte sie immer wieder an diesen Ort zurück. Bis zu diesem verhängnisvollen Freitag.

 

Mit einem Mal wurde ihr Körper von einem eigenartigen Schwindelgefühl heimgesucht, als würde ihre Wahrnehmung gerade zu einem Schleier werden. Ihre Haut kribbelte, in ihren Ohren begann es zu rauschen, und das nächste, was sie bemerkte, war ein lautes Klingeln. Aber Moment einmal, dieses Geräusch kannte sie doch? Und ehe sie sich versah, löste sich aus dem Foto mit dem brennenden Kreuz eine weiße Silhouette heraus, die sich langsam und mäandernd, beinahe hypnotisch, über das Bild bewegte. Lotus staunte nicht schlecht. Es war der geheimnisvolle weiße Falter, der am Unglückstag mehrmals ihren Weg gekreuzt hatte. Mit pochendem Herzen und weit aufgerissenen Augen starrte sie das mysteriöse Insekt an, verfolgte die Bewegungen der Beinchen und der Fühler. Dann breitete der wunderschöne Schmetterling seine Flügel aus und verteilte dabei glitzernden Staub über die Zeitung, der sich wie eine magische Wolke über dem Bild ausbreitete. Er setzte zum Flug an, stieg auf, drehte ein paar Runden durch Lotus’ Küche und verschwand schließlich durch das offene Fenster.

Lotus schaute dem Tier noch eine Zeit lang nach. Und plötzlich fühlte sie, wie eine herzerwärmende Mischung aus Staunen, Demut, Freude und großer Erleichterung ihre Innenwelt durchflutete und ihr gleichzeitig das Gefühl größter Zufriedenheit schenkte.

„Danke! Ich danke dir vielmals …“, flüsterte sie in den Wind.

Sie wusste zwar nicht, welche Mächte am Werk waren, doch es war da etwas, das man mit unseren weltlichen Theorien nicht erklären konnte. Davon war sie überzeugt. Inmitten widrigster Umstände hatte ihr das Universum doch noch Frieden gebracht. Einen Frieden, an dessen Existenz sie schon nicht mehr geglaubt hatte. Auch wenn sie wie zwei Antagonisten erscheinen, liegen Glück und Unglück manchmal nahe beieinander und können uns in ihrer Intention vorerst einmal ganz schön täuschen. Es liegt an uns selbst, daran zu glauben, dass alles aus einem bestimmten Sinn geschieht und dass aus Negativem Positives erwachsen kann.

So verwirrend und unverständlich die Dinge in unserem Leben oft sein mochten, in einem war sich Lotus in diesem Augenblick sicher – auch der Zu-fall, auf den wir Menschen uns immer wieder so gerne ausreden, basiert in Wahrheit auf einem höheren Plan, der unser Leben erst so einzigartig und vollkommen macht. Wir dürfen nur dem inneren Zweifel in uns keine Bühne geben.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.06.2022

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /