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Titel

Deva Moon

 

SEELENTIUM

 

Roman

 

Impressum

 

Copyright © 2021 Deva Moon

Herausgeber: Oliver Rapouch, Wien/Österreich

devamoon.sphaerenklang@gmail.com

Covergestaltung: Dream Design – Cover and Art

Erstveröffentlichung: Oktober 2021

Alle Rechte vorbehalten.

 

devamoon.com

 

Kapitel 1

 

Breakdown

 

 

Phönix Rydenheim – dieser Name war wie ein magischer Schlüssel, der seinem Träger mächtige Tore öffnete. Manche von ihnen sollten jedoch besser für immer verschlossen bleiben. Andere wiederum – gerade jene, nach deren Öffnung das Herz rief – ließen sich einfach nicht aufsperren. Egal wie oft man den Schlüssel auch im Schloss drehte, sie blieben verriegelt.

Der junge Mann betrachtete seine Hände im kalten Licht des Mondes – zuerst die Handrücken, dann die Handflächen. Beide Seiten waren von tiefrotem Blut bedeckt und fühlten sich an, als wären sie von einer zweiten Haut überzogen, die sich weder abstreifen noch reinigen ließ.

„Werde ich dieses alte Blut jemals wieder los?“, fragte er sich. Und weil er die Antwort auf diese Frage, die er sich jetzt schon seit vielen Jahren stellte, nicht kannte, starrte er weiter in die tiefe Nacht, die sich vor seinen traurigen Augen wie ein endloser Schleier ausstreckte.

 

Er stand allein auf der ausladenden Dachterrasse des üppig dimensionierten Penthouses, die stolz in den Nachthimmel ragte und jedem, der auf ihr verweilte, einen atemberaubenden Ausblick über die lebendig flimmernde Stadt offenbarte. Die funkelnden Pünktchen der Häuser, die Lichtschneisen, die die fahrenden Autos hinter sich herzogen, die flackernden Straßenbeleuchtungen und die aufdringlich blendenden Reklameschilder – sie alle zusammen versprühten eine bemerkenswerte Dynamik, die bezeichnend war für das kräftig pulsierende Leben dieser alten, aber stets mit der Zeit gegangenen Metropole. Phönix atmete tief die warme Luft der lauen Sommernacht ein, als könnte er dadurch wenigstens einen winzigen Teil dieses Lebensstroms in sich aufsaugen.

Lebendigkeit – das wäre doch mal schön. Das könnte er wirklich brauchen. Vielleicht wäre er dann endlich in der Lage, das quälende Gefühl in seinem Inneren zu vertreiben, das sich schon vor langer Zeit dort eingenistet hatte. Es verfolgte ihn auf Schritt und Tritt – wie ein dunkler Schatten, den man einfach nicht los wurde. Ein Geflecht von schweren Gedanken, dicht verwoben, wie ein um sich wucherndes Krebsgeschwür, das ihn beinahe jede Sekunde seines Daseins an eine finstere Vergangenheit erinnerte und ihm einredete, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte, dass irgendetwas ganz schrecklich schief gelaufen wäre, dass er schlicht und einfach falsch wäre …

 

„Phönix! Da bist du ja!“, durchschnitt eine Stimme plötzlich die nächtliche Ruhe. Gefolgt vom aufdringlichen Klacken teurer High Heels, die immer näher auf den jungen Mann zukamen. Die Dame, die diese extravagant hohen Schuhe an ihren Füßen trug, war in ein aufsehenerregendes Designerkleid gehüllt, das sich eng an ihren Körper schmiegte und dabei den Eindruck erweckte, als hätte es ein versierter Modeschöpfer aus Paris ihr direkt auf den Leib geschneidert. Jede einzelne Naht saß genau dort, wo sie hingehörte. Jede Körperrundung wurde mit dem höchstmöglichen Effekt in Szene gesetzt. Diese Frau wusste eben, wie man sich perfekt kleidete.

In seiner höflichen Wohlerzogenheit hätte Phönix sich eigentlich zu ihr umdrehen müssen, doch gerade jetzt zog sich sein Magen unter heftigen Krämpfen zusammen. Stattdessen fixierte er weiter die winzigen, leuchtenden Punkte der Stadt, die wie Glühwürmchen über dem Häusermeer blitzten.

Bald spürte er eine Hand auf seiner Schulter.

„Mein Schatz“, raunte die Dame vorwurfsvoll, „du beginnst schon wieder damit ...“

„Womit denn?“, fragte Phönix leicht gereizt.

„Du kapselst dich schon wieder ab. So als würdest du einfach nicht dazugehören. Dabei weißt du doch, dein Vater wünscht sich, dass du mit den Leuten sprichst. Diese Leute sind wichtig für das Geschäft. Dir ist doch klar, wie viel es für uns bedeutet, die richtigen Kontakte zu haben, oder etwa nicht?“

Mit einem tiefen Seufzer wandte sich der junge Mann jetzt seinem Gegenüber zu und bemühte sich zumindest um ein halbherziges Lächeln.

Ihr Gesicht hatte einen hellen, feinen Teint – als wäre es aus Porzellan. Ihre Lippen waren gekonnt mit pinkem Gloss umrandet und wirkten dadurch besonders sinnlich und voll. Über ihren Wangen wehte ein Hauch von Rouge und ihre blauen Augen unter den kräftig getuschten Wimpern fanden im schwarzen Eyeliner ihre vollendete Umrahmung.

„Ist es eine Maske, die sie da trug? Verbarg sich ganz tief dahinter etwas Wahrhaftiges, das ich einfach nur noch nie zu Gesicht bekommen hatte?“, fragte sich Phönix im Stillen.

„Du hast schon wieder diesen Ausdruck in deinem Gesicht. Du hast doch nicht etwa wieder an Stella gedacht?“

Phönix stöhnte genervt auf.

„Es ist schon lange her“, setzte sie fort. „Wann lässt du die Geister endlich einmal ruhen?“

„Mutter, lass gut sein!“, erwiderte er aufgebracht. „Du verstehst es einfach nicht! Und ich will jetzt nicht mit dir darüber streiten. Ich muss damit leben – nicht du.“

„Ich verstehe es sehr wohl, glaub mir. Aber das ist Vergangenheit. Das Leben geht weiter. Es ist, wie es ist – und daran kann man nichts ändern. Wir alle müssen nach vorne schauen.“

Sie warf ihren Kopf leicht zur Seite, strich sich lapidar eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schenkte ihm dann ein gut gemeintes Lächeln.

Phönix konnte mittlerweile selbst gar nicht mehr sagen, ob es an den Ereignissen mit Stella lag oder einfach an dem Gefühl, am völlig falschen Platz in dieser Welt zu sein. Sein ganzes Leben war für ihn eine große Unbekannte geworden, ein einziges Hinterfragen der Sinnhaftigkeit, ohne je eine Antwort auf irgendetwas zu bekommen.

„Sei nicht so“, flüsterte sie ihm zu und schüttelte den Kopf. „Das Leben ist zu kurz, um es mit Trauer über Vergangenes zu verbringen. Davon hat niemand was. Was zählt, ist das Morgen. Und da erwartet dich noch so einiges, mein Lieber, glaub mir! All die Möglichkeiten, die du hast ...“

Sie strich ihm über die Wange. „Jetzt komm schon! Die Party hat gerade eine wirklich gute Stimmung erreicht. Und mit dem Hummerparfait hat sich unser guter Francesco wieder einmal selbst übertroffen. So göttlich“, säuselte sie ihm begeistert mit einer übertriebenen Süße in der Stimme zu.

Und plötzlich spürte Phönix, wie es in ihm klick machte – so als würde sich in seinem Inneren ein Schalter umlegen. Es war schon immer so gewesen bei den Rydenheims – er musste funktionieren, um mit diesem Leben mithalten zu können. Da gab es einfach keinen Platz für persönliches Empfinden. Die Firma musste am Laufen gehalten werden, sie ist das große Gut. Schließlich ist sie ja auch diejenige, die alle ernährte. Das durfte er nicht vergessen. Aber gerade das fiel ihm seit jeher unglaublich schwer. Der Wert eines Menschen wurde hier bloß an seinem Nutzen für das Familienimperium gemessen. Und nichts anderes bekam Phönix von seinem alten Herrn zu spüren – dem Patriarchen, der alles steuerte. Tag für Tag musste er damit leben, dass er die Ansprüche seines Vaters wohl nie erfüllen wird können.

„Also gut, Mutter“, fasste er sich ein Herz. „Lass uns da rein gehen und die Leute aufschrecken.“

Sie gab ihm liebevoll einen Klaps auf den Arm und lächelte: „Das würdest du wohl gern machen! Untersteh dich!“

So sehr Phönix diese geheuchelte Scheinwelt aus Küsschen hier, Küsschen da und verlogenen Komplimenten auch verabscheute, war er letztendlich doch gefangen in dem Muster, das seine Herkunft ihm eingebrannt hatte. Das rohe Gesetz lautete nun einmal, dass der Schein nach Außen alles überstrahlte. Kein Platz für Schwäche, kein Platz für Bedauern.

Phönix hielt seiner Mutter den rechten Arm abgewinkelt und gentlemanlike entgegen. Sie hängte sich euphorisch ein und grinste zufrieden. Und während beide gemeinsam die Stufen hinunter trappelten, achtete er sorgfältig darauf, dass sie sich mit ihren hochhackigen Schuhen nirgends verhedderte. Gelernt ist schließlich gelernt. Sie dankte ihm seine Fürsorglichkeit mit einem übertriebenen Lächeln.

 

Kaum waren sie unten angekommen, löste sie sich auch schon wieder aus seinem Griff und schwirrte einer attraktiven, blonden Schönheit entgegen, die sich gerade ein Erdbeertörtchen in den Mund geschoben hatte und langsam ihre Lippen leckte.

„Gwendolyne!“, rief sie. „Was für eine Freude, dass du es doch noch zu uns geschafft hast!“ Dabei schlug sie ihre Hände ausgelassen vor ihrem Gesicht zusammen und schüttelte den Kopf. „Meine Güte, du siehst heute wieder mal zum Niederknien aus, meine Liebste! Wie du das immer machst! Unglaublich!“

Wie viele Konversationen wie diese hatte Phönix schon über sich ergehen lassen müssen? Und es kam ihm so vor, als wären es ständig dieselben langweiligen Themen. Mit dem einzigen Unterschied, dass sie jeweils von einer anderen Person zur Sprache gebracht wurden. Langsam ließ er seine Augen über die ausgelassen feiernde Menge schweifen, die ihre Euphorie mit einem endlosen Fluss auflockernder Getränke und dem beschwingten Klimpern der Live-Band weit über ihren Sättigungspunkt hinaus nährte.

Schließlich fiel sein Blick auf eine ganz bestimmte Person in einem sorgfältig abgestimmten Dreiteiler. Sie lehnte in aufrechter Haltung an einem der Stehtische etwas abseits vom Geschehen und wirkte dabei keineswegs verkrampft, sondern würdevoll und zudem bewundernswert selbstbewusst. Der stattliche Mann war gerade in ein Gespräch mit zwei Herren verstrickt, die anscheinend japanischen Ursprungs waren und dem Vernehmen nach hohe Funktionen bekleideten. Neben ihnen stand eine zierliche Dame, die scheinbar die Begleitung von einem der beiden war. Der kleinere von ihnen rückte sich alle halben Minuten seine Brille zurecht, die allzu beweglich auf seiner Nase saß, und verlagerte sein Gewicht ständig von einem Bein auf das andere. Sein Kollege wiederum senkte immer wieder den Kopf. Er schien damit eine Art Verneigung anzudeuten. Sein Mund erweckte den Anschein, als wäre er zu einem dauerhaften Lächeln eingefroren. Währenddessen musterte die Dame an seiner Seite ihr Gegenüber mit ihren großen Rehaugen und wirkte dabei alles andere als entspannt.

 

Leonard Rydenheim aber strahlte eine beneidenswerte Lässigkeit aus. Es war nicht die Art von Gelöstheit, die einen beschlich, wenn man ein Glas Scotch zu viel hatte. Nein, vielmehr war es die Zwanglosigkeit, die sich dann einstellte, wenn jemand das Gefühl hatte, alles in seiner Umgebung unter Kontrolle zu haben. Die gesamte Erscheinung dieses Mannes schrie eine eindeutige Botschaft geradezu heraus: Ich bekomme alles, was ich will. Und zwar immer. So einfach ist das.

 

Phönix musterte diesen Leonard Rydenheim unverhohlen. Er wusste nicht genau, ob er in jenem Moment Abscheu oder Bewunderung empfinden sollte. Vielleicht war ja auch eine Mischung aus beidem angemessen. Schließlich gab er sich einen Ruck und schritt auf ihn zu. Leonard nahm Phönix sofort wahr und nickte ihm mit einem wohlwollenden Augenzwinkern entgegen. Der junge Mann gesellte sich zu der kleinen Gruppe und stellte sich freundlich lächelnd neben den Herrn mit der Brille, der aus der Nähe betrachtet noch um einiges kleiner war.

„Da ist er ja!“, ergriff Leonard die Initiative. „Verehrte Miss Naoko, meine Herren … darf ich Ihnen meinen Sohn vorstellen – Phönix Rydenheim.“

Phönix wusste nur zu gut, dass jeglicher Handkontakt gegen die japanische Tradition verstieß und einem gesellschaftlichen Todesurteil nahekam. Deshalb neigte er seinen Oberkörper zu einer anmutigen Verbeugung. Auch der Kleinere verbeugte sich nun gekonnt wie ein Grashalm im Wind und schob sich gleich darauf wieder die Brille auf dem Nasenrücken zurecht.

„Es ist uns eine große Ehre, endlich den Sohn unseres werten Partners, Mr. Rydenheim, kennenzulernen.“

Der andere Mann verbeugte sich sogleich zweimal, brachte aber nicht mehr als ein raunendes Flüstern hervor. Ebenso Miss Naoko, die mit einer leichten Neigung ihres Kopfes nun zwar bewiesen hatte, dass sie keine Statue war, aber deren Körperspannung noch immer jener einer Leistungsturnerin glich, die sich gerade im Wettkampf befand.

„Mister Takahashi und Mister Ashida“, stellte Leonard die beiden Herren vor, „vertreten die Matsumura Corporation aus Tokio. Bisher waren unsere geschäftlichen Beziehungen immer sehr fruchtbar und ich freue mich wirklich darauf, auch in Zukunft noch weitere lukrative Kooperationen miteinander einzugehen, die zu einer Bereicherung unserer beider Unternehmen führen.“

Obwohl Phönix' nervöser Magen mittlerweile gefühlt auf die Größe eines Tennisballs zusammengeschrumpft war, spielte er seine Rolle gekonnt. Das jahrelange Training im Hause Rydenheim hatte seine Wirkung nicht verfehlt.

„Die Freude ist ganz meinerseits, Miss Naoko, Mister Takahashi, Mister Ashida. Da ich, wie Sie sicher bereits wissen, in naher Zukunft unsere Handelsbeziehungen zu Japan betreuen werde, blicke ich mit Freude einer guten Zusammenarbeit entgegen“, ließ Phönix sie in flüssigem Japanisch wissen.

Die Entscheidung, sie gleich in ihrer Landessprache anzureden, schien sogleich ihren Zweck zu erfüllen.

„Oh! Ohoho! Sie sprechen ja ausgezeichnet Japanisch!“, lobte Mr. Takahashi ihn bewundernd mit weit aufgerissenen Augen.

Sowohl er als auch sein Begleiter waren geschmeichelt von der Tatsache, dass Phönix sich bemühte, ihre Sprache zu lernen. Leonard lächelte ihn kaum merklich an und erhob dann sein Glas zuprostend.

„Kampai! Trinken wir auf unsere gute Zusammenarbeit!“

Nach einigen weiteren Minuten der Höflichkeitsbekundungen und des vorsichtigen Abtastens seiner Gegenüber, ereilte Phönix plötzlich ein Gefühl, das er nur allzu gut kannte. Leider war es kein gutes, denn es versprach Unheil. Er fühlte nun, wie ein leichter Schwindel seine Wirbelsäule entlang kroch, hinauf bis in seinen Kopf. Sein Herzschlag steigerte sich dramatisch. Vor seinen Augen begann alles zu verschwimmen.

„Verdammt, muss das ausgerechnet jetzt passieren?“, schoss es ihm durch den dröhnenden Kopf. „Jetzt, wo ich doch gerade im Begriff war, diese unangenehme Situation zu einem meisterhaften Ende zu bringen? Ich war doch schon auf der Zielgeraden.“

Phönix nahm einen kräftigen Schluck Wasser und atmete tief durch. Er hoffte, damit dem drohenden Schwindel Einhalt gebieten zu können. Aber wie es doch so ist mit Wünschen und der knallharten Realität …

„Bitte entschuldigen Sie mich“, stammelte er.

Leonard quittierte den schlagartigen Aufbruch mit einer hochgezogenen Augenbraue. Das Verhalten seines Sohnes schien ihm gerade gar nicht zu passen. Aber wenn Phönix nicht wollte, dass er in den nächsten zehn Minuten inmitten dieser illustren Gesellschaft ein zusammengekrümmter, röchelnder Haufen auf dem Boden war, musste er sofort etwas tun. Er raste in das untere Stockwerk. Ein Anflug von Glück wollte es, dass ihm auf dem Treppenabgang seine Mutter entgegen kam.

„Es passiert schon wieder – schon wieder ein Anfall! Bitte ruf schnell Doktor Miller an!“

Seine Mutter reagierte geistesgegenwärtig, brachte ihn in das Schlafzimmer im unteren Stockwerk und verständigte dann über ihr Mobiltelefon den Arzt.

„Doktor Miller! Ach wie gut, dass ich Sie erwische! Lilia Rydenheim hier. Mein Sohn … er hat schon wieder einen Anfall! Schicken Sie mir bitte auf der Stelle einen Wagen vorbei! Und zwar schnell und unauffällig. Kein Blaulicht, keine Sirenen! Hören Sie? Das ist wichtig, ja? Er muss so rasch wie möglich ins Krankenhaus!“

 

Nichts durfte großes Aufsehen erregen, denn wenn Phönix' Mutter eines wichtiger war als ihr eigener Sohn, dann war es ihr Ruf in der Gesellschaft. Und da hatte ein krankes, schwaches Individuum einfach keinen Platz. Gelebter Darwinismus. Sie warf ihr Telefon auf das Nachtkästchen und hastete ins anliegende Badezimmer. Bald kam sie zurück mit einem kleinen Päckchen in Händen, in dem sich eine sauber verpackte Spritze befand. Jahrelange Routine leitete ihre Finger, als sie flink den Oberarm ihres Sohnes abband und dann mit einem gekonnten Schwung die Kanüle in seine Vene rammte. Die Frau, die hier so beschäftigt war, war die wahrhaftig echte Lilia, die in diesem Moment aus ihrer Rolle einer makellos inszenierten Society-Dame hinausschlüpfte und nun schlicht und einfach eine sich sorgende Mutter war.

„Atme! Du musst atmen, mein Schatz! Halte durch! Hilfe ist bald da!“, versuchte sie ihn zu beruhigen und löste gleichzeitig die Armpresse, damit die Medikation unverzüglich in seinen Blutkreislauf schießen und dort ihre Wirkung entfalten konnte.

Phönix krümmte sich auf dem Bett zusammen. So sehr er sich auch darum bemühte, seine Muskeln ruhig zu halten, krampften und zitterten sie dennoch als stünden sie unter Strom. Das Atmen fiel ihm unglaublich schwer, er konnte spüren, wie sein Herz raste und unregelmäßig pochte. Die ganze Zeit über kämpfte er darum, nur ja nicht das Bewusstsein zu verlieren. Der Raum verschwamm vor seinen rot unterlaufenen Augen, in denen zahlreiche Äderchen geplatzt waren und ihn wie ein Monster aus einem Horrorfilm erscheinen ließen. Eine mächtige Übelkeit arbeitete sich aus seiner Magengegend hinauf, und es kostete ihn erhebliche Anstrengung, sie irgendwie in Schach zu halten. Er konzentrierte sich auf seinen Atem, und damit gelang es ihm zumindest ein wenig, sich von den Schmerzen abzulenken, die von seiner Wirbelsäule ausgingen und sich Zentimeter für Zentimeter durch seinen gesamten Körper fraßen. Das Letzte, was er noch wahrnehmen konnte, war das Gesicht von Doktor Miller, wie er sich über ihn beugte und ihn fragte: „Phönix, kannst du mich hören?“ Die Worte hallten völlig verzerrt durch seinen Gehörgang. Und im nächsten Augenblick breiteten sich dichte Nebelschwaden im gesamten Raum aus, die alles in eine geisterhafte, undurchdringbare Wolke hüllten.

 

Phönix wurde vom hellen Sonnenlicht geweckt, das sich tapfer durch das dicke Glas des Fensters kämpfte und das sterile Krankenzimmer in ein warmes Licht tauchte. Die Geräte, deren wichtige Aufgabe die Überwachung seiner Körperfunktionen war, surrten leise und monoton vor sich hin. Neben ihm baumelte ein Infusionsbeutel an einem wackeligen Galgen. Die Symbolik dieses Bildes war grotesk. Langsam verschwand die klare Flüssigkeit Tropfen für Tropfen in seiner angezapften Vene. Phönix fühlte sich unsagbar müde. Sein Oberkörper schmerzte, als hätte jemand während der letzten vierundzwanzig Stunden unentwegt auf ihn eingedroschen – wie auf einen Sandsack.

 

Er rief sich seine letzten Erinnerungen in Gedanken und seufzte dann gequält. „Versager!“ Dieses einzige, übermächtige, aufdringliche und verhasste Wort brannte sich fest in sein Bewusstsein ein.

Er hätte doch bloß eine einzige Aufgabe erledigen müssen – sich mit den Leuten zu unterhalten, sich von seiner besten Seite zu zeigen, neue Kontakte zu knüpfen und sein jugendliches Äußeres erfolgreich zu vermarkten. Aber nichts – er hatte wieder einmal versagt. Sein Körper hatte ein weiteres Mal vorzeitig schlapp gemacht, noch ehe die Mission erfüllt war.

Phönix wandte seinen Blick zum Fenster, doch selbst das freundlich strahlende Licht der Morgensonne konnte seine finsteren Gedanken nicht vertreiben.

 

Bald fielen ihm zwei Stimmen auf, die zunächst nur gedämpft durch die geschlossene Tür drangen.

„Du setzt ihn einfach zu stark unter Druck! Verstehst du nicht, dass diese schrecklichen Schübe gerade dann passieren, wenn er einer extremen Stresssituation ausgesetzt ist?“

„Ach komm schon, Lilia, ich bitte dich! Weißt du denn überhaupt, was Stress ist? Stress ist, wenn du in den Lauf einer 45er Magnum blickst oder wenn sich ein hungriger Bengalischer Tiger die Zähne nach dir ableckt – alles schon erlebt. Aber glaub mir, ganz sicher nicht, wenn man sich einfach mit netten Leuten auf einer Party unterhält.“

„Leonard, du weißt genau, was ich meine! Du behandelst ihn doch so, als wäre er einer deiner beliebigen Geschäftspartner. Aber er ist dein Sohn, Herrgott nochmal! Und er ist erst siebenundzwanzig! Du könntest dich ruhig ein bisschen mehr um ihn kümmern – oder besser gesagt um uns. Wie soll ich das bitte alles alleine schaffen? Ich bin doch mit meinen Nerven auch schon völlig am Ende. Sieh mich an!“, beklagte sich Lilia vorwurfsvoll.

„Geht das jetzt schon wieder los! Du fühlst dich alleine gelassen und vernachlässigt. Und unsere Beziehung ist vollkommen kaputt. Du musst dich mit der Krankheit unseres Sohnes alleine herumschlagen … Und wer bezahlt denn nun diese sündhaft teure Privatklinik? Wer finanziert denn ein eigenes Forschungsprojekt, damit irgendwann einmal vielleicht eine Heilmethode für diese praktisch unbekannte Krankheit gefunden wird? Wer ermöglicht ihm denn, dass er trotz allem einen kometenhaften Aufstieg in der Geschäftswelt hinlegen kann? Ja, er ist mein Sohn! Und ich setze alle Hebel in Gang, um ihn zu fördern! Und jetzt wirfst du mir so etwas vor!“

Leonards Stimme klang zwar im Großen und Ganzen immer noch kontrolliert, doch mittlerweile konnte man bereits einen leicht genervten Unterton heraushören.

 

Mutter und Vater hatten einander wieder in den Haaren, und wie so oft ging es dabei wieder einmal um ihn – das schwache schwarze Schaf des Rydenheim-Clans. Phönix kannte die Diskussion nur allzu gut. Er hatte sie sich in den vergangenen Jahren oft genug anhören müssen. Er griff nach dem Kästchen, das über seinem Bett baumelte und drückte den Rufknopf, um eine Pflegerin auf sich aufmerksam zu machen. Nur ein paar Sekunden später öffnete sich auch schon die Tür und hinein trat eine resolut wirkende Krankenschwester in weißer Uniform, gefolgt von seinen Eltern, Leonard und Lilia.

„Herr Rydenheim, wie geht es Ihnen? Haben Sie gut geschlafen? Kann ich Ihnen etwas bringen?“, fragte die Schwester freundlich.

„Ähm, wie wäre es mit einem neuen Körper? Ginge das?“

„Ach, Herr Rydenheim, leider muss ich Sie da wirklich enttäuschen. Gerade eben, vor ein paar Minuten, haben wir den letzten hergegeben.“

„Das ist echt schade“, entgegnete Phönix. „Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als weiter in diesem maroden Torso am Leben zu bleiben.“

„Sieht ganz so aus. Aber ich kann Ihnen sagen, da gibt es weitaus Schlimmeres. Und ich habe schon viel gesehen in meinem Leben als Krankenschwester. Unter uns gesagt“, sie hielt sich eine Hand vor den Mund und flüsterte ihm nun zu, „dieser Körper, den wir vergeben haben, der war auch nicht besonders attraktiv.“

Beide grinsten einander an.

„Na gut, dann würde ich einfach nur gerne etwas trinken“, erwiderte Phönix und räusperte sich trocken.

„Das ist sehr gut, Herr Rydenheim. Würde ich auch so machen. Nur Single Malt-Whisky kann ich Ihnen keinen anbieten. Den brauchen wir Schwestern nämlich in der Nachtschicht. Aber überlegen Sie mal, wie wäre es stattdessen mit einer Kanne Tee? Schmeckt auch nicht sooo schlecht und hat vielleicht sogar ein bisschen mehr Heilwirkung. Also rein körperlich gesehen.“

Phönix nickte schmunzelnd. Ihm gefiel es, wie schlagfertig die Schwester auf seinen Unfug einging.

„Da sage ich 'Ja'. Das klingt verlockend. Ich vertraue da voll und ganz auf Ihr Urteil und hoffe, dass ich nicht enttäuscht werde.“

Die Schwester schenkte ihm ein fürsorgliches Lächeln und Phönix war gerührt von ihrer Freundlichkeit. Wie viele klagende und jammernde Patienten musste sie hier wohl jeden Tag betreuen? Dennoch hatte sie ihren Humor nicht verloren.

„Ist notiert und kommt sofort!“, sagte sie und verschwand sogleich durch die Tür.

 

Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, öffnete sich dann auch schon der Bühnenvorhang für das seltsame Schauspiel, in dem seine beiden Eltern die Hauptrollen spielten. Erster Akt, erste Szene: Auftritt Herr und Frau Rydenheim. Und bitte …

„Mein lieber Schatz, wie geht es dir? Hast du noch Schmerzen?“ Lilia konnte die Dramatik in ihrer Stimme nicht wirklich im Zaum halten.

Phönix schüttelte verneinend den Kopf.

„Nein, nein, es geht, so wie es gerade ist“, antwortete er, obwohl sein Brustkorb immer noch schmerzte, als hätte ihn jemand in einen Schraubstock gespannt und dann kräftig am Hebel gedreht.

„Wir kriegen das schon hin. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir diese leidige Krankheit endlich besiegen können. Kein Grund, sich Sorgen zu machen“, mischte sich Leonard sogleich ein, mit einer Selbstsicherheit, die so ziemlich jeden um den kleinen Finger gewickelt hätte. Selbst Phönix hatte sich davon überzeugen lassen – damals, vor sieben Jahren, als sich die Symptome seiner Erkrankung zum allerersten Mal gezeigt hatten. Aber die vielen Jahre voller Anfälle und Schmerzen, die etlichen Krankenhausaufenthalte und Kuren hatten seine Hoffnung auf Heilung deutlich schwinden lassen.

Nichtsdestotrotz antwortete er: „Ja, Vater, ich bin überzeugt, es wird bald eine Lösung geben.“ Er wollte einfach keine weitere Diskussion vom Zaun brechen, die schließlich auch niemandem etwas gebracht hätte, wo doch alle Standpunkte so festgefahren waren wie ein alter Karren im Dreck.

„Siehst du?“, Leonard grinste zufrieden in Richtung seiner Gemahlin. „Das ist die richtige Einstellung. Nur so kann man Erfolg haben im Leben!“

 

Inzwischen war die Schwester mit einer Kanne frisch aufgebrühtem Kräutertee zurückgekehrt, die sie nun neben das Bett stellte. Phönix nickte ihr dankend zu.

„Jetzt ist erst einmal das Wichtigste, dass es dir gut geht“, sagte Lilia, schenkte ihrem Sohn etwas Tee ein und reichte ihm die Tasse. „Du weißt ja, dass du dich entspannen solltest. Mit der richtigen Ernährung – und vor allem mit positivem Denken – geht es dir dann sicher ganz schnell wieder viel besser! Du wirst schon sehen!“

Leonard schüttelte den Kopf und schaffte es dabei nicht, den genervten Ausdruck in seinem Gesicht zu unterdrücken. Doch diesmal hielt er sich zurück und schwieg.

„Du kennst doch Marie? Eine gute Freundin von mir. Sie schwört auf die Entgiftungskur mit kolloidalem Silber. Vielleicht solltest du das ja auch mal versuchen ...“

Und während seine Mutter so vor sich hin plapperte, driftete Phönix' Aufmerksamkeit langsam davon. Er hatte die oberflächlichen Ratschläge und das substanzlose Gerede von Überzeugung und Erfolg schon hunderte Male über sich ergehen lassen müssen, und so fiel es ihm zunehmend schwerer, stets so zu tun, als würde es ihn wirklich interessieren.

Mitten im Fluss ihres Monologs wandte sich Phönix abrupt seiner Mutter zu.

„Okay, stopp! Darf ich einfach etwas sagen? Ich bin total müde und höre nur jedes dritte Wort. Silber ist vielleicht gut gegen Werwölfe, aber ich glaube nicht, dass das gerade mein Problem ist.“ Er gähnte demonstrativ. „Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich jetzt wirklich gerne weiterschlafen.“

Lilia hielt abrupt inne und war deutlich beleidigt. Aber klar, das überspielte sie nun wieder.

„Natürlich, mein Schatz! Nimm dir so viel Ruhe wie du brauchst! Und bald wirst du wieder fit sein! Soll ich dir denn noch irgendetwas bringen lassen?“

„Nein, danke! Weißt du, die haben hier auch Personal. Also sollte ich irgendwann aufwachen und irgendetwas brauchen, dann kann ich ja jederzeit die freundliche Krankenschwester rufen.“

„Eine Pflanze vielleicht?“, legte Lilia nach. „Damit du wenigstens ein bisschen Grün hast in diesem schrecklich sterilen Zimmer.“ Sie blickte übertrieben gequält durch den Raum. „Diese kalte Atmosphäre hier. Einfach furchtbar. Warum müssen Krankenhäuser denn immer so frostig sein? Wie soll hier denn wirklich jemand gesund werden? Hat sich das irgendwer schon einmal überlegt?“ Sie schüttelte aufgebracht ihren Kopf.

„Lilia, Schätzchen“, unterbrach Leonard, „das ist kein Urlaubsressort. Wir sind hier in einer Klinik. Du brauchst dich also nicht wundern, dass hier eben eine andere Stimmung herrscht als auf den Fidschi-Inseln. Komm jetzt, lassen wir den Jungen schlafen! Er hat doch klar und deutlich gesagt, dass er müde ist.“

Unverstanden blickte Lilia ihren Mann an, ehe sie sich dann doch seufzend umstimmen ließ.

„Also gut, dann gehen wir halt“, murrte sie.

Phönix nahm die Barriere zwischen seinen Eltern ziemlich deutlich wahr. Sie schien in diesem Augenblick so unüberwindbar zu sein, als wären sie beide eine ganze Galaxie voneinander entfernt. Und nicht das erste Mal in seinem Leben fragte er sich, wie es wohl dazu kommen konnte, dass ausgerechnet diese zwei Sonnensysteme einander begegnet waren, und dann zu allem Überfluss auch noch beschlossen hatten, ihren Weg gemeinsam zu gehen.

Leonard nickte seinem Sohn noch einmal väterlich zu. Nachdem die beiden das Zimmer verlassen hatten, sank Phönix mit einem tiefen Seufzer in sein Kissen und wurde bald vom Schlaf eingeholt.

 

Ein paar Stunden waren vergangen, die Sonne prangte inzwischen rötlich am Horizont, war aber noch nicht gänzlich untergegangen, als Phönix wieder erwachte und einen unangenehm brennenden Schmerz an der Vene seines linken Arms spürte. Er warf einen prüfenden Blick auf die Infusion. Obwohl der Beutel immer noch zur Hälfte voll war, kamen keine Tropfen mehr in die Kammer.

„Na großartig! Ein Fünf-Sterne-Badezimmer mit vollautomatischer Klospülung, aber einen ordentlichen Venflon können sie nicht legen“, ärgerte er sich. Er tastete nach seiner Vene und versuchte sie mit massierenden Bewegungen zu motivieren. Im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür und die Krankenschwester betrat den Raum.

„Brauchen Sie vielleicht etwas, Herr Rydenheim? Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie.

„Eigentlich … schon“, antwortete er leicht angerührt, ohne seine Aufmerksamkeit von dem dünnen Plastikschlauch unter seiner Haut abzuziehen. „Dieses Ding hier … es sieht so aus, als wäre es verstopft. Könnten Sie mir denn bitte ...“

Er hatte der Krankenschwester bisher keine große Beachtung geschenkt, doch als er sich ihr nun zuwandte, musste er mitten im Satz innehalten. Jetzt erst erkannte er die einnehmende Schönheit der Dame, die ihm gegenüberstand. Ihre blasse Haut schien unglaublich zart und erinnerte an feinsten Alabaster. Aus den leicht schräg gestellten Augen blickten tiefdunkelbraune Pupillen, die nicht nur unfassbar ausdrucksstark waren, sondern gleichzeitig auch etwas total Geheimnisvolles in sich trugen. Ihre grazilen Wangenknochen verliehen ihrem Gesicht eine faszinierende Exotik, während ihr seidiges, schwarzes Haar harmonisch über ihre Schultern floss und dabei an einen dunklen Wasserfall erinnerte.

Beim Anblick dieses außergewöhnlich reizenden Geschöpfs kamen ihm sofort Gedanken an eine unnahbare, betörend schöne Geisha in einem Teehaus zur Zeit des vorindustriellen Japans.

„Ähm … es tut mir leid, ich hatte eigentlich Schwester Martha erwartet. Ist sie denn heute nicht mehr zuständig?“, fragte Phönix, nur um sich sofort wieder über seine blöde Frage zu ärgern, die ihn jetzt womöglich vollkommen unhöflich erscheinen ließ. Ja, er musste zugeben, er hatte seine Fassung verloren. Aber wer konnte es ihm verdenken? Schuld daran war immerhin dieses zauberhafte Wesen vor ihm, das ihn vom ersten Blick an vollkommen in seinen magischen Bann gezogen hatte.

„Ich enttäusche Sie nur ungern, aber leider müssen Sie sich nun mit mir zufriedengeben. Ich bin heute für die Nachmittagsdienste in diesem Trakt zuständig. Schwester Martha ist gerade in einer anderen Abteilung. Unser Rad, Sie müssen verstehen ...“ Die Schwester lächelte sanft. „Also Sie meinten Ihr Venenzugang wäre verstopft?“ Sie trat nun an das Krankenbett heran und machte sich geschickt daran, den Venflon wieder gängig zu machen.

Phönix folgte ihren flinken Handbewegungen. Dabei musste er sich ständig zusammenreißen, damit er sie nur ja nicht allzu lange anstarrte.

„Bloß nicht zu creepy wirken“, dachte er sich, ehe er sie anredete. „Verzeihen Sie mir, Sie machen das wirklich sehr gut. Ich würde gerne Klatschen, aber ich glaube das wäre keine so gute Idee gerade.“

Sie schmunzelte still in sich hinein.

„Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?“, fuhr Phönix nach einer kurzen Pause fort.

Die Krankenschwester sah ihn fragend an.

„Ich möchte mich nicht in die Nesseln setzen, doch ich frage mal ganz frei heraus: Hat Ihr Stammbaum vielleicht irgendwelche Wurzeln in Asien?“

Sie hielt kurz inne, schaute ihm einen Moment tief in die Augen, und richtete dann ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Kanüle.

„Es sind die Augen, oder?“, fragte sie ihn mit einem sanften Lächeln.

„Hmm, die auch, da haben Sie recht. Aber ich meinte viel eher die gesamte Ausstrahlung“, antwortete Phönix.

Die Krankenschwester nickte milde.

„Mein Vater … er stammt aus Nagoya. Kennen Sie Nagoya? Es liegt auf Honshu, der Hauptinsel Japans. Und es ist die Heimatstadt der Chunichi Dragons, wenn die Ihnen etwas sagen ...“

Home Run! Phönix Augen begannen zu leuchten. Seine Bewunderung für das Land der aufgehenden Sonne hatte schon vor langer Zeit sein Herz erwärmt, und gerade jetzt war er besonders froh, dass er sich die Landessprache beigebracht hatte.

„Hajimemashite“, begrüßte er sie höflich und deutete mit seinem Kopf eine leichte Verbeugung an.

„Hajimemashite, Herr Rydenheim!“, entgegnete sie verblüfft. „Jetzt bin ich aber überrascht. Sie sprechen tatsächlich Japanisch?“ Verwunderung und Freude teilten sich den Platz in ihrem Gesicht.

„Ein bisschen. Aber bitte – einfach nur Phönix. Sonst habe ich das Gefühl, dass ich mich sofort an den nächsten Rollator krallen muss, um damit die Gänge unsicher zu machen. 'Haltet den verrückten Alten!', würden sie alle schreien. 'Er versucht schon wieder zu fliehen!'“

Die Pflegerin musste lachen, und ihr Lachen klang hell und klar, aber keineswegs aufdringlich.

„Also gut, dann sage ich besser Phönix. Und bitte lauf nicht weg!“ Sie senkte ihren Kopf zu einer Verbeugung. „Es ist mir eine Freude, dich kennenzulernen. Mein Name ist Yukina.“

„Yukina – das ist ein sehr hübscher Name“, entgegnete Phönix strahlend.

„Übersetzt bedeutet er die Schneeblume.“

„Was ihn nur noch schöner macht“, merkte er an. Tatsächlich erinnerte ihr zarter Teint an eine weiße Blume, die einen trostlosen Ort wie dieses Krankenhaus sofort in etwas Behaglicheres verwandeln konnte.

„Aber wie kommt es, Herr Ryden... ähm ich meine Phönix, dass du meine Sprache sprichst?“

„Hmm“, überlegte er, „Japan hatte mich schon immer unglaublich in seinen Bann gezogen. Schon seit ich ein kleiner Junge war. Dieser krasse Gegensatz zu unserer Kultur, der respektvolle Umgang miteinander, die vielen jahrtausendealten Traditionen, die auch heute noch mit großer Sorgfalt gepflegt werden … natürlich auch die Animes …“

Yukina grinste und nickte. „Ja, ja – die Animes …“

„Und was hat dich hierher verschlagen, in das alte Herz Europas?“

Sie richtete den Schlauch an einer gebogenen Stelle gerade und mit einem Mal begann die Infusion wieder regelmäßig zu tropfen. Dann regelte sie die Geschwindigkeit noch ein wenig herunter, indem sie behutsam am kleinen Rädchen drehte.

„So, alles wieder im Fluss“, bestätigte sie schließlich den Erfolg der Operation.

Phönix nickte zufrieden. „Vielen Dank, Yukina! Ähm … ja … also warum …?“

„Warum ich hier bin?“ Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Das ist eine sehr direkte Frage.“

Phönix schluckte. Hatte er es jetzt übertrieben mit seiner Neugier? Hatte er sie jetzt verschreckt?

Aber als sie nach einer kurzen Pause schließlich doch noch zum Reden ansetzte, verspürte er Erleichterung.

„In Japan habe ich viel Zeit mit meiner alten Großmutter verbracht. Sie war eine sehr weise Frau, die mich viel über das Leben gelehrt hat. Sie hatte immer gesagt, dass es für jede Handlung den richtigen Zeitpunkt gäbe. Der Zeitpunkt, an dem alles passt und an dem das eine zum anderen führt – automatisch und unaufgefordert. Aber man weiß nicht im Vorhinein, wann dieser Punkt kommen wird. Und so kann man sein ganzes Leben damit verbringen, sich darin zu üben, diesen Zeitpunkt auch zu erkennen, wenn er einmal da ist. Es ist eine Sache der Achtsamkeit und der inneren Offenheit.“ Sie lächelte freundlich. „Aber jetzt muss ich auch einmal nach den anderen Patienten sehen. Jedenfalls, Phönix, hat es mich gefreut dich kennenzulernen“, schloss sie freundlich und ließ ihren Patienten irritiert im Krankenzimmer zurück.

 

Bei jeder anderen Frau hätten diese Worte wohl aufgesetzt gewirkt, aber bei Yukina strahlten sie etwas vollkommen Authentisches aus, als hätte sie die fernöstliche Philosophie direkt in die Wiege gelegt bekommen. Phönix starrte verwundert auf die Tür, durch die das faszinierende Geschöpf verschwunden war. Diese kurze Begegnung mit Yukina hatte seine düstere Stimmung schlagartig vertrieben, und bei dem Gedanken, dass sie nun seine neue Betreuung für den Nachmittag war, spürte er ein freudiges Kribbeln tief in seinem Inneren, eine herzliche Wärme.

„Nimmt das düstere Leben des jungen Phönix Rydenheim nun etwa eine positive Wende?“, fragte er sich selbst. „Dagegen hätte ich absolut nichts einzuwenden.“

 

Als er etwas später endlich seinen Blick von der Tür abgewandt hatte, überlegte er sich, was er nun mit diesem angefangenen Nachmittag tun solle. Ein wenig belangloses Fernsehen wäre vielleicht das Richtige jetzt. So griff er nach der Fernbedienung und klickte sich durch Unterhaltungsserien mit halblustigen Pointen und umso kräftigeren eingespielten Lachern, Kochsendungen, in denen dicke Köche mit Schnurrbärten herzhaft in den Töpfen rührten, bis er bei einer Dokumentation über moderne Höhlenmenschen hängengeblieben war, die von einem Sprecher vorgetragen wurde, der mit seiner monotonen Stimme scheinbar alles und jeden in Tiefschlaf versetzen konnte. Auch eine große Gabe in unserer dynamischen Zeit. Vielleicht lag es aber auch an der Infusion, dass Phönix' Augenlider nun immer schwerer wurden. Hin und wieder fuhr er auf und versuchte dann, sich aufs Neue zu konzentrieren. Aber es half alles nichts – der Schlaf war jetzt unweigerlich dabei, Besitz von ihm zu ergreifen.

 

Inmitten dieser Phase, in der er die Pforte zur Welt des Schlummers durchschritt, öffnete er noch ein weiteres Mal langsam seine Augen, bemerkte nun aber schemenhafte Umrisse, die sich vor ihm auftaten. Das konnte doch nicht sein. Die Schwestern werden anderes zu tun haben, als ihn im Schlaf zu beobachten. Und von seinen Eltern hätte er das noch viel weniger erwartet.

Phönix schärfte seinen Blick und stieß ein zaghaftes „Hallo?“ hervor. Doch niemand antwortete ihm.

Allmählich zeichnete sich vor ihm eine dunkle Silhouette ab. Sein Herz machte einen heftigen Satz, der ihm für einen Moment den Atem abschnürte. Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken und bahnte sich seinen Weg über die Wirbelsäule bis in seine Arme und Finger. Phönix hatte doch keinen Besuch erwartet. Er hatte auch niemanden reinkommen gesehen – und schon gar nicht gehört. Aber er irrte sich nicht – er war tatsächlich nicht mehr alleine in seinem Zimmer …

 

Auf einem der Stühle für die Besucher saß eine mysteriöse Gestalt einfach nur still da und rührte sich nicht. Weil sein Blick noch verschwommen war, kniff Phönix die Augen zusammen, um das eingeschränkte Sichtfeld dadurch vielleicht ein wenig schärfen zu können. Jetzt konnte er sehen, dass sein Gegenüber einen schlichten schwarzen Anzug über einem weißen Hemd trug. Um den Hemdkragen war eine schmale schwarze Krawatte gebunden, mit einem einfachen Four-in-Hand-Knoten. Die dunklen Schuhe liefen Spitz zusammen, ihr glattes Leder verzichtete auf jede weitere Exzentrik, ganz zugunsten einer schlichten Eleganz.

Das Wesen saß einfach nur da, ohne jede Bewegung, die Arme auf den Sessellehnen ruhend. Phönix' Blick wanderte zum Kopf des mysteriösen Besuchers. Und jetzt musste er wirklich schlucken. Er traute seinen Augen kaum, denn so etwas hatte er noch nie gesehen. Was war das nur für ein furchteinflößendes Ding? Aus dem Anzug ragte der Kopf eines … ja was war es denn? Eines Raubvogels? Glänzend schwarze Federn sprießten aus dem Vogelhaupt und vereinten sich über den Schultern zu einem gefiederten Kragen. Aus dem Gesicht ragte ein kräftiger Schnabel aus dunkelgrauem Horn, der leicht geöffnet stand. Lidlose schwarze Augen ohne ersichtliche Pupillen blickten Phönix starr an.

Die Hände schienen jedoch die eines Menschen zu sein. Oder doch nicht? Ein genauerer Blick ließ ihn jetzt erkennen, dass aus den Nagelbetten nicht etwa Fingernägel herauswuchsen. Nein, es waren die kräftigen, spitzen Klauen eines Vogels. Sie waren ebenso dunkelgrau wie sein Schnabel, und alle waren gleichmäßig gebogen.

So eingeschränkt Phönix' Sehsinn gerade war, so sehr schärfte sich seine Wahrnehmung von Gerüchen, und er bemerkte nun den herben Duft von Weißem Salbei und Zedernholz sowie die balsamische Note von Copal-Harz.

 

Spielten ihm hier seine medikamentös durchgeknallten Gedanken einen Streich? Oder hatte es vielleicht etwas mit diesem Krankenhaus zu tun? Kurz zuvor hatte er sich noch über den lieblichen Besuch von Yukina gefreut, nun aber musste er sich fragen, ob er nicht im Schreckenskabinett des Dr. Phibes gelandet war. Auch kannte man ja die Schauergeschichten von Gebäuden, die auf alten Indianerfriedhöfen erbaut worden waren. Er konnte nur sehr hoffen, dass das hier nicht der Fall war.

Waren es vielleicht die Geister der Vergangenheit, die nun von ihm die lange ausstehende Buße einforderten für die Geschehnisse um Stella?

Er atmete mehrmals ein und aus und versuchte jetzt bloß nicht zu hyperventilieren.

„Was auch immer es ist, es ist nicht real! Ich bilde mir das doch nur ein!“

Phönix nahm einen Schluck vom kalten Tee und rieb sich die Augen. Doch es änderte nichts an dem, was er vor sich sah.

„Ach, das muss es sein!“, stieß Phönix sich mit der Hand auf den Kopf. „Das erklärt es!“ Es musste daran liegen, dass Yukina die Infusion wieder zum Tröpfeln gebracht hatte. Zuerst die Pause, dann der Schwall. Womöglich war das einfach zu viel auf einmal, und sein Körper dankte es ihm nun mit bizarren Halluzinationen. Phönix richtete sich auf und zog den Tropf näher an sich heran. Dann drehte er das kleine Rädchen so lange, bis es den Schlauch abklemmte und das Tröpfeln völlig zum Stillstand kam.

„Was du siehst, hat ganz und gar nichts mit deinen Medikamenten zu tun“, tönte es plötzlich aus dem Schnabel der Kreatur. Die Stimme klang tief und melodisch. Es war eine schöne, wohlklingende Stimme, und sie erschien durchaus menschlich – also nicht gerade das, was er sich von einem Raubvogel erwartet hatte.

„Fang jetzt bloß nicht damit an, mit deinen Hirngespinsten zu reden!“, rügte Phönix sich selbst. „Das Mittel wird irgendwann abklingen und dann war's das mit diesem verrückten Horus-Verschnitt.“

Doch der Vogel ließ sich davon nicht beeindrucken. „Horus? Nein, nein, das ist sehr weit daneben. Talarith lautet mein Name. Und ich würde mich dir hier an Ort und Stelle niemals auf diese Art zeigen, wenn es nicht von so großer Dringlichkeit wäre. Es geht hier um mehr als dir wirklich bewusst ist.“

Phönix runzelte die Stirn. Hatte dieses Ding nun wirklich mit ihm gesprochen? Er schüttelte den Kopf.

„Große Dringlichkeit?“, wiederholte er. „Wovon zum Teufel redest du?“

Der Vogel blickte ihn ernst an.

„Es scheint ganz so, als hätte dein Bewusstseinszustand Probleme damit, diese Informationen zu verkraften. Aber glaub mir, es bleibt dir keine andere Wahl, denn uns läuft die Zeit davon. Dir läuft die Zeit davon, Phönix. Du spürst es doch selbst, oder etwa nicht? Du spürst doch, wie dein Körper schwächer und schwächer wird.“

Phönix schüttelte den Kopf und hämmerte mit den Ballen seiner Hand dagegen.

„Das kann doch alles nicht wahr sein! Nein, das passiert jetzt nicht wirklich!“, redete er sich mantraartig ein.

„Ich hatte mir schon gedacht, dass du so reagieren würdest“, entgegnete Talarith. „Dein Geist ist voller Angst. Du begegnest der Welt und dem, was du in ihr siehst, mit Furcht und Sorge. Aber vertrau mir, ich bin nicht dein Feind. Ganz bestimmt nicht. Ich bin alles andere als das. Und ich möchte dir helfen!“

Phönix atmete schwer. „Nein, nein. Du bist doch bloß ein Produkt meiner Angst! Das macht dieses verdammte Beruhigungsmittel mit mir!“

Er vergrub seinen Kopf im Polster und hielt seinen Arm vor die Augen. Aber die Stimme wollte einfach nicht verstummen.

„Phönix, du verstehst das vollkommen falsch! Das bin ich nicht. Ich bin dein Schutzgeist, ich bin dein Freund. Und ich bin hier, um dich zu leiten. Denn wie ich sehe, befindest du dich auf dem falschen Weg. Du entfernst dich immer mehr von deiner eigentlichen Bestimmung. Und du tust das aus einem ganz einfachen Grund: Du hast Angst, dich auf sie einzulassen. Du hast Angst, sie zu akzeptieren. Du fürchtest dich davor, die Erwartungen anderer Menschen zu enttäuschen. Aber es ist dein eigenes Leben, und noch hast du die Möglichkeit in deiner Hand. Noch kannst du umkehren, bevor es zu spät ist. Und das ist es, was du nun zu tun hast – du musst deinem Schicksal folgen! Egal, was die Furcht in deinem Inneren dir einredet.“

 

Mit einem Mal erinnerte sich Phönix wieder an die Party im Penthouse, wo der Anfall seinen Anfang genommen hatte. An all die Menschen, die anwesend waren. Seine Eltern. Ihre Erwartungen an ihn. Die oberflächlichen Gespräche. Den Glanz. Den Schein. Und wie unwohl er sich gefühlt hatte in dieser inszenierten Feier des Lebens. Welches Leben denn? Und da war er wieder – der Gedanke, dass irgendetwas falsch war. Bloß – er wusste nicht was. Auch jetzt in diesem Moment nicht.

„Beweise es mir! Gib mir einfach einen einzigen verdammten Beweis, dass ich nicht bloß fantasiere!“, brüllte Phönix.

Der mysteriöse Gast starrte ihn einen Augenblick lang durchdringend an. Es hatte den Anschein, als wolle er ihn damit prüfen. Dann aber fuhr er fort: „Einen Beweis willst du also? Nun gut, wie wäre es damit: Ihr zweiter Vorname lautet Katharina – nach ihrer Mutter, ihrer verstorbenen Mutter.“

Phönix runzelte die Augenbrauen.

„Katharina? Wovon zur Hölle redest du? Wer soll das sein? Ich kenne keine Katharina!“

Doch eine Antwort auf seine Frage bekam er nicht mehr. Stattdessen begann Talariths Körper sich langsam aufzulösen. Seine Silhouette verschwamm wie ein Wald im dichten November-Nebel. Und bald war der Vogel schließlich völlig verschwunden.

Phönix überkam ein eigenartiges Gefühl, als würde er augenblicklich in einen tiefen Krater fallen, ohne irgendwo Halt finden zu können. Tatsächlich aber saß er bloß regungslos in seinem Bett. Was immer es auch gewesen war – die seltsame Kreatur war fort. Zurück blieb nur ein vereinsamter Stuhl.

 

Es dauerte eine Weile, bis sich Phönix' Herzschlag wieder beruhigt hatte. Und selbst als es endlich soweit war, verharrte er noch lange in derselben Position auf seinem Bett und dachte angestrengt über das nach, was hier gerade geschehen war. Doch alles Denken half nichts. Er kam einfach auf keinen grünen Zweig. Schließlich gab er es auf.

„Das ist doch alles Schwachsinn! Ein verfluchter Horrortrip, nichts weiter ...“

Ein letztes Mal noch ließ er seinen Blick prüfend durch das Zimmer schweifen, um sich auch wirklich zu vergewissern, dass niemand außer ihm hier war, dass alles an seinem Platz war.

Er schüttelte den Kopf, griff nach der Fernbedienung und verschwand erneut in die bunte Unterhaltungswelt, die in den Tiefen des Fernsehers auf ihn wartete.

 

Am nächsten Tag meldete sich sein Magen bereits knurrend zu Wort, als Yukina ins Zimmer kam und ihm das Mittagessen ans Bett brachte. Entgegen seiner Erwartungen, war das Essen in der Klinik wirklich gut und absolut nicht zu vergleichen mit dem berüchtigten Schlangenfraß, den man sonst aus Krankenhausküchen kannte. Ein weiterer Vorteil des Daseins als ein Rydenheim – wer es sich leisten konnte, stand eben über den Dingen und ersparte sich damit eine unglaublich fade Kartoffelsuppe mit Würstchen. Aber selbst der herzhafte Duft des Lammbratens in Rosmarin-Sauce konnte Phönix' Appetit nicht wecken. Er starrte nur abwesend aus dem Fenster und dachte über die Visite von heute Morgen nach.

Die Werte verhießen nichts Gutes, und die niederschmetternde Prognose, die ihm der Arzt überbracht hatte, war nur schwer zu verarbeiten. Wie sollte er es auch anders aufnehmen, dass er in seinen jungen Jahren bereits mit einem Bein im Jenseits stand? Wie schnell doch alles vorbei sein konnte, bevor es überhaupt erst so richtig begonnen hatte.

Als er aber Yukina sah, versuchte er, sich nichts davon anmerken zu lassen, so gut es eben ging.

„Belastet dich etwas?“, fragte sie ihn einfühlsam und stellte das Tablett mit seiner Mahlzeit auf den Beistelltisch.

„Sehe ich denn wirklich so schlecht aus, dass du mir diese Frage stellen musst? Konnte ich das Bild eines vitalen, jungen Draufgängers, der vor Lebensfreude nur so sprüht, nicht überzeugend rüberbringen? Naja, dieser verführerische Krankenhauskittel ist mir da auch nicht wirklich eine große Hilfe, muss man schon sagen.“ Dabei verzog er das Gesicht und presste ein zerknirschtes Lachen hervor.

Doch die freundliche Krankenschwester ließ sich von seinem Galgenhumor nicht aus dem Konzept bringen und blieb weiterhin ernst.

„Weißt du, Zynismus ist oft nur tief verborgener Zorn.“

„Und das Helfersyndrom von Menschen in Sozialberufen ist oft nur der Spiegel der eigenen Hilflosigkeit“, konterte Phönix hart und unüberlegt.

Yukina zuckte kurz zusammen, sah ihn dann aber bestimmt an.

„Lieber stelle ich mich mit Mut und Tatendrang der eigenen Hilflosigkeit, als dass ich mich von ihr in die Knie zwingen lasse.“

Aus ihr sprach nicht die geringste Aggression. Sie hatte ihre Worte ehrlich gewählt und verfolgte mit ihnen keinen Angriff auf den Patienten, der mit seinem Inneren gerade sichtlich im Ungleichgewicht war.

Phönix begriff nun sofort, dass seine Aussage unangemessen und dämlich war.

„Bitte entschuldige, das war wirklich nicht fair von mir. Du hast absolut recht mit dem, was du sagst. Es ist nur … die Neuigkeiten, die mir der Arzt heute Morgen mitgeteilt hatte, waren wirklich alles andere als gut.“

Er sah ihr einen Moment lang tief ins Gesicht, richtete dann aber seinen Blick wieder aus dem Fenster. Schließlich wollte er nicht, dass sie ihn so sah – so hilflos und verängstigt. Was sollte sie sich denn von ihm denken? Er wollte stark sein, dynamisch, ein echter Mann eben. Er wollte sein Leben im Griff haben. Er wollte erfolgreich sein. Stattdessen aber hatte ihn eine unheilbare Krankheit im Würgegriff, die ihn zunehmend schwächte und ihm, so wie es nun aussah, einen frühen Tod bescheren würde. Einiges hatte er doch noch vorgehabt in seinem Leben, vieles wollte er noch erreichen. Aber manchmal ist das Leben einfach ein ziemlich gemeiner Spielverderber.

„Ich bin in Kyoto aufgewachsen. Ein sehr beschaulicher Ort“, begann Yukina zu erzählen. „Bei meiner Großmutter. Sie war wirklich eine sehr beeindruckende Frau und immer ein Vorbild für mich. Bis zu ihrem Tod war sie lebensfroh und voller Hoffnung. Kein Unglück konnte groß genug sein, um ihren Lebenswillen zu brechen. Selbst als sie als junge Frau aus dem zerstörten Hiroshima fliehen musste – damals, nachdem die Bombe gefallen war.“ Yukina schloss traurig ihre Augen.

Phönix seufzte und schüttelte betreten den Kopf. „Aber wie lebt es sich so in Kyoto?“, fragte er.

„Kyoto ist eine reizende Stadt, voller Erinnerungen an das alte Japan. Sie ist voller Geheimnisse und Wunder. Wohin man auch geht, auf den kleinen Gässchen, im ehemaligen Geisha-Distrikt, durch die kaiserliche Parkanlage oder entlang des Flusses – überall atmet man Geschichte.“ Ihre Begeisterung für die ehemalige Kaiserstadt ließ jegliche Melancholie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 05.10.2021
ISBN: 978-3-7487-9639-8

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