DAS LICHT AM ENDE DES TEICHS
Magische Wesen, so erzählt man sich, bewohnen die Kraftplätze der Natur. Wenn man den Ballast der Alltagsgedanken einmal zur Seite packt, wenn man ganz bei sich ist, dann kann man sie nicht nur flüstern hören. Nein, dann kann man sie auch sehen, kann ihnen zuschauen und sich einfach daran erfreuen, dass sie immer hier sind, immer an unserer Seite sind – wenn wir ihnen die Möglichkeit dazu geben …
Ein Meer aus funkelnden Sternen spiegelte sich auf der sanft wogenden Oberfläche des kleinen Teichs wider, den der stolz darüber prangende Mond in ein friedvolles Licht tauchte. Eine kaum wahrnehmbare Brise erfasste die lasch herunterbaumelnden Äste der alten Trauerweide und versetzte sie in einen anmutigen Tanz. Das Wippen der Zweige und die sanften Wellen des Wassers schufen ein romantisches Stillleben aus tanzenden Schatten im Mondlicht.
Mit einem Mal zeichnete sich ein heller Silberstreif über der idyllischen Spiegelung ab, gefolgt von den Bewegungen zierlicher, nackter Füßchen, die auf der Wasseroberfläche von einem Punkt zum nächsten tänzelten. Sie gehörten einem Wesen mit einem winzigen, schlanken Körper, der eine ganz eigentümliche Magie ausstrahlte. Aus dem Gesicht funkelten große, kindlich wirkende Äuglein, die von langen Wimpern umkränzt waren und vor Freude und Ausgelassenheit nur so sprühten. Leicht spitz zulaufende Öhrchen ließen die Vermutung nahe, dass dieses Geschöpf aus einer völlig fremden Welt stammen musste – einer Welt, die sich all ihren ursprünglichen Zauber und ihre Mystik bewahrt hatte.
Übermütig flatterte das Elflein mit seinen libellenartigen Flügeln, ehe es in die Höhe stieg und eine formvollendete Pirouette vollführte. Dabei kicherte es unbekümmert und verspielt.
„Fröschchen, mein Freund!“, rief es. „Wo bist du denn? Schläfst du etwa noch?“
In der Nähe des Ufers ertönte ein sattes Platschen, gefolgt von längerer Stille. Dann, mit einem Mal, tauchte der Frosch auf und kletterte geschickt auf ein Seerosenblatt, das neben der Elfe im Wasser trieb. Er musterte sie mit seinen riesigen Glupschaugen.
„Dass du immer so einen Krach machen musst, Alira“, ermahnte er sie mit tiefer Stimme.
Sie schlug zwei weitere Male kräftig mit ihren Flügeln, verdrehte die Augen und lachte dann herzhaft.
„Dass du immer so langweilig sein musst, mein lieber Frosch!“
Sie drehte sich noch ein weiteres Mal im Kreis und sprang dann mit einem Satz auf das Seerosenblatt, sodass es heftig schaukelte.
„Weißt du, woran ich vorhin gedacht hatte?“ Die kleine Elfe beugte sich zum Tier runter, verschränkte ihre Hände hinter ihrem Rücken und legte erwartungsvoll ihren Kopf schief.
Der Frosch schloss seine Augenlider und öffnete sie dann langsam wieder.
„Dass wir den Teich hinter uns lassen und in die weite Welt hinaus ziehen, um dort große Abenteuer zu erleben?“, antwortete er. Er klang so gelangweilt, als würde er jeden Moment einschlafen. „Dafür muss ich nun wirklich kein Hellseher sein. Immerhin denkst du dir das jeden Abend. Und wie du siehst, sind wir noch immer hier.“
Alira richtete sich wieder auf, verschränkte die Arme vor ihrer Brust und streckte ihr Kinn trotzig in die Höhe.
„Dafür gibt es aber auch einen ganz einfachen Grund“, entgegnete sie, streckte ihre Hand aus und deutete mit dem Zeigefinger direkt auf ihn. „Weil du einfach nicht mitmachen möchtest“, seufzte sie und senkte ihren Kopf. „Alleine möchte ich von hier nicht fortgehen.“
Der Frosch schnappte pfeilschnell nach einer Mücke, die sich in diesem Moment zu nah an ihn herangewagt hatte. Dann sprang er ins Wasser und tauchte in die Tiefe. Seine langen Hinterbeine bewegten ihn zügig durch das kühle Nass. Er schien die wunderbare Schwerelosigkeit zu genießen. Die Ruhe. Die Sorglosigkeit. Kurz bevor die Luft in seinen Lungen gänzlich aufgebraucht war, schoss er wieder an die Oberfläche und reckte seinen Kopf aus dem Wasser.
Die Elfe saß nun auf dem Seerosenblatt, mit angezogenen Beinen, um die sie ihre Arme geschlungen hatte. Ihre zarten Flügel wippten sanft. Ihr Kinn hatte sie auf die Knie gestützt und in dieser Pose betrachtete sie sehnsüchtig das runde Gesicht des vollen Mondes.
„Unverbesserliche Träumerin“, dachte der Frosch und ruderte mit kräftigen Zügen zu dem Seerosenblatt. Als er unmittelbar davor angekommen war, blieb er stehen und fixierte sein Gegenüber, mit zwei ulkigen Augen, die aus dem Wasser ragten.
„Fragst du dich denn nie, was hinter diesem Teich liegt?“, fragte die Elfe gedankenversunken.
Der Frosch blinzelte und schüttelte den Kopf.
„Nein, es ist doch wunderschön hier. Ein Paradies. Warum sollte ich von hier weg wollen?“
Sie blickte zum Himmel, zu den Sternen, und in ihren großen Augen spiegelte sich das Mondlicht.
„Vielleicht gibt es da draußen ja noch viel schönere Paradiese. Neue Welten, die wir gemeinsam erkunden könnten ...“ Sie riss überschwänglich ihre zierlichen Ärmchen in die Luft, sodass der Feenstaub ihres Gewandes in alle Richtungen wirbelte.
„Vielleicht“, entgegnete der Frosch. „Aber vielleicht liegt hinter diesem Ufer auch eine ganz schreckliche Welt und wir wünschten uns dann, nie von hier fort gegangen zu sein“.
Die Elfe seufzte und schüttelte ihren Kopf: „Aber wenn wir nur hier bleiben, werden wir das niemals herausfinden.“
„Und warum möchtest du das so unbedingt herausfinden? Fehlt es dir denn hier an irgendetwas?“
„Nein, nein – es ist herrlich hier.“
Sie beobachtete nun fasziniert eine Gruppe von Glühwürmchen, die gerade ihre natürlichen Laternen angeknipst hatten und nun wie winzige, grün leuchtende Lampions über dem Wasser schwebten.
„Es ist der Mond, der mich ruft, die Neugier, die mich anzieht. Es wäre einfach so aufregend, mein lieber Frosch! Etwas Neues! Ein Abenteuer! Ach, lass uns doch hinaus ziehen!“
Der Frosch tauchte kurz unter und schoss dann gleich wieder aus dem Wasser.
„Hör mal, für mich ist die Schlange, die drüben im Unterholz wohnt, schon Aufregung genug.“ Dabei kniff er seine Augen misstrauisch zusammen und warf einen flüchtigen Blick an jene Stelle, wo der unheimliche Feind seinen angestammten Unterschlupf hatte.
Der Elfe lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie erinnerte sich daran, dass sie einst in einem unachtsamen Moment diesem hungrigen Räuber beinahe zum Opfer gefallen wäre. Ihr Körper begann zu zittern.
„Auf diese Aufregung kann ich gut und gerne verzichten“, sagte sie und verschränkte ihre Arme ganz fest. „Aber Aufregung ist nicht gleich Aufregung. Ich meine dieses kribbelnde Gefühl von Abenteuer. Diese Vorfreude, nicht zu wissen, was auf einen zukommt. Sich überraschen lassen.“
„Ist das so?“, entgegnete der Frosch. „Weißt du denn wirklich, was morgen auf dich zukommen wird? Oder glaubst du nur, es zu wissen? Vielleicht reicht es auch, einfach nur den Blickwinkel auf das, was ist, zu verändern?“
„Grrrrr“, knurrte die kleine Elfe, sprang auf und stampfte mit ihrem Fuß auf dem Blatt, sodass es heftig zu schaukeln begann. „Vielleicht reicht es auch nur den Blickwinkel zu verändern ...“, äffte sie den Frosch nach. „Vielleicht bist du ja auch gar nicht so weise, wie du immer tust, Meister Frosch.“
Schmollend setzte sie sich wieder nieder und stützte ihr Gesicht in ihre Hände.
Mit einem kraftvollen Satz sprang der Frosch aus dem Wasser und landete in der Mitte des Seerosenblatts. Dabei versuchte er, im Sprung möglichst viel Wasser aus dem Teich mitzunehmen, das er dann frech über die Elfe spritzte. Dicke Tropfen ergossen sich über ihre blasse Haut und ihr lavendelfarbenes Haar. Sie benetzten auch ihre zarten Flügel.
Erschrocken schwirrte die Elfe in die Höhe. Doch der Schreck hielt nicht lange an, und bald schon wich er einer kindlichen Heiterkeit. Die kleine Elfe lachte lauthals auf. Sie ließ sich ein wenig sinken, drehte sich dann mit ihren Flügeln zum Frosch hin und schlug mit ihnen so fest sie konnte. In vielen Bahnen fielen die Tropfen auf den Frosch.
„Hast du vergessen, dass ich schon nass bin?“, reagierte er auf ihren Versuch, ihn zu necken.
Etwas außer Atem landete sie wieder auf dem Blatt, ließ sich neben dem Frosch nieder und grinste bis über beide Ohren. Wo sie eben noch beleidigt schmollte, strahlte sie nun wieder voller Energie und Tatendrang.
„Komm, lass uns die jungen Kaulquappen besuchen! Vielleicht haben ja welche schon ihre ersten Beinchen bekommen“, rief sie ungeduldig.
„Also gut, bei dem Abenteuer bin ich dabei“, antwortete der Frosch, verschwand mit einem beherzten Satz im Wasser und tauchte dann in die finstere Tiefe hinab. Allein eine glucksende Wasserblase verriet, dass er gerade noch auf dem Blatt gesessen hatte.
Auch Alira stieß sich ab und schwirrte kichernd in die Höhe. Sie musste sich beeilen, wenn sie ihren Freund, den Frosch, noch einholen wollte.
„Eines Tages“, schwor sie sich in Gedanken, „werde ich ihn schon noch dazu bringen, mit mir unsere kleine Welt hinter uns zu lassen und zu erkunden, was es in der Ferne noch so zu entdecken gibt.“
Der blasse Schein des Mondes warf geheimnisvolle Schatten auf die hölzerne, alte Fensterbank und tauchte alles in ein mysteriöses Licht. Der einst glänzende Lack war abgeblättert und tiefe Furchen hatten sich in das angejahrte Holz, das darunter zum Vorschein kam, gefressen. In der Mitte des Fensterbretts ruhte einsam und verlassen eine alte Schneekugel. Sie war bedeckt von einer dicken Staubschicht. Vermutlich war sie schon länger von keiner Menschenhand mehr geschüttelt worden. Und so schlummerte sie vergessen dahin. Viele Jahre schon, womöglich Jahrzehnte. Dennoch hatte sie ihren Zauber nicht verloren. Er musste wohl einfach nur geweckt werden.
Im Inneren der Kugel, da war ein kleiner Teich mit einer Trauerweide. Am Rande des Teichs konnte man einen kleinen grünen Frosch sitzen sehen. Und in der Mitte des Wassers schwebte ein wunderschönes, magisches Wesen – ein Elflein mit blasser Haut, lavendelfarbenem Haar und Flügeln, die jenen einer Libelle ähnelten.
Wie winzig ihr geheimes Reich letztendlich tatsächlich war, wussten weder die verträumte Elfe noch ihr kleiner Gefährte, der Frosch.
Sie hatten hier ihre eigene kleine Welt, die niemand ins Wanken brachte. Perfekt für den Moment. Für einen Moment aber, der ewig dauern würde. Geschützt vor den Wirren und Stürmen eines äußeren Universums, gleichzeitig jedoch fern jeder Veränderung. Und ist Veränderung nicht letztlich das, was uns Bereicherung bringt? War es also ein Segen? Oder war es ein Fluch? Oder war es für die beiden schlussendlich einfach völlig irrelevant? Immerhin waren sie zwei grundverschiedene Seelen, die in einer Schneekugelwelt ihr gemeinsames, friedliches Zusammensein gefunden hatten.
Tag der Veröffentlichung: 01.12.2020
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