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Black Rain

Es gibt Orte, an denen sollte man zu bestimmter Stunde einfach nicht sein. Nur ein kleiner Moment, und die Schicksalsfalle schnappt erbarmungslos zu. Sie schert sich wenig darum, was man in seinem Leben falsch gemacht hat – oder auch richtig. Natürlich gibt es eine in Betracht zu ziehende Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Geschehnis fatal enden kann. Es sei denn, man trifft zur richtigen Zeit auf die richtigen Leute …

 

Es war die letzte Nacht eines ungewöhnlich warmen Aprils, als der dunkelgrüne Land Rover Pick-up die südwestenglische Küstenstraße verließ und röhrend eine bewaldete Bergroute in Angriff nahm. Ein lauer Luftstrom wehte durch das heruntergekurbelte Seitenfenster ins Innere der Fahrerkabine. Die eine Hand am Lenkrad, die andere beim Fenster raushängend, hielt Dylan das breite Ungetüm auf Spur, während sein Blick immer wieder prüfend über den Rückspiegel wanderte. Es war eine seltsame Angewohnheit von ihm, die keiner wirklich erklären konnte. Vielleicht nicht einmal er selbst. Möglicherweise hatte es auch damit zu tun, dass eine innere Unruhe in ihm wütete, seine Sinne wie Bestien in einer römischen Arena aufeinander losgingen. In seinem Kopf explodierten Gedanken und formierten sich anschließend wieder neu – allerdings in einer gänzlich anderen Gestalt, der ebenfalls kein allzu langes Leben beschert war.

Heute Nacht, so hatte er beschlossen, wäre es soweit. Heute würde er seine langjährige gute Freundin Maggie besuchen, ohne Vorwarnung, würde sie überraschen, würde ihr gestehen, dass er nicht länger Platons Konzept füreinander beanspruchen möchte, sondern mehr wollte. Er hatte sich lange Gedanken darüber gemacht, hatte versucht, die Furcht, mit dieser folgenschweren Entscheidung womöglich einen fatalen Vernichtungsschlag verantworten zu müssen, aus seiner Zukunftsvision zu verbannen. Er wollte nicht länger hinnehmen, dass sein Verstand etwas völlig anderes tat als sein Herz von ihm forderte.

„Wenn einem alles zu viel wird, gibt es nur eine Möglichkeit …“, fuhr es ihm durch den Kopf. Und diese hieß schlicht und einfach: „Handeln“.

Für diesen Anlass hatte er eine Auswahl an Cornish Pasties, die Maggie so gerne hatte, und zwei Flaschen Wein besorgt. All das lag hinter ihm in einem Korb, der sorgsam mit einer roten Decke ausgekleidet war.

Er atmete tief ein und wieder aus und wiederholte diesen kontemplativen Vorgang ein paar weitere Male. Dabei inhalierte er die Geruchsmischung aus Schmieröl und dem alten Leder der Sitzbank. Dylan liebte diesen Duft. Er machte seinen Wagen zu einem alten Vertrauten, den er unter hunderten anderen jederzeit blind wiedererkennen würde. Und in seiner jetzigen Situation, so hatte es den Anschein, würde er genau einen solchen Freund brauchen.

 

Der zunehmende Mond, dessen Schein sich tapfer durch die Baumwipfel kämpfte, warf sein Spiegelbild auf die polierte Motorhaube und verlieh dem Fahrzeug damit ein ganz eigenwilliges Schimmern.

Der zitternden Tachonadel fiel es schwer, sich zwischen 60 und 70 Meilen pro Stunde zu entscheiden. Es hätte aber auch wirklich keinen Unterschied gemacht. Dylan wäre so oder so gut beraten gewesen, den Fuß vom Gas zu nehmen. Nicht dass es die Maschine nicht ausgehalten hätte – nein, freudig gurgelnd hätte sie nur allzu gerne die Grenzen ihrer Pferdestärken erforscht. Doch niemand hatte mit dem rechnen können, was sich hier im nächsten Augenblick zutrug. Am wenigsten Dylan selbst.

 

„Klonk“, schlug etwas dumpf auf dem Dach der Fahrerkabine auf.

„Klonk … klonk … klonk“, ertönte das Geräusch wieder und wieder, mit zunehmend kürzer werdenden Intervallen.

„Was zum Henker …?“ murmelte Dylan und blickte irritiert aus dem Fenster.

„Platsch“ – war auch schon der nächste Treffer zu verzeichnen. Diesmal war es die Windschutzscheibe. Der junge Mann erschrak, als er erkannte, womit ihn der Himmel hier bombardierte. Aber konnte er wirklich seinen Augen trauen?

„Das sind doch nicht etwa …?“

Es waren tatsächlich dicke, braune Kröten, die in diesem Augenblick nur so vom Himmel niederprasselten und überall, wo sie auf den Pick-up trafen, eine ekelhaft schleimige Spur hinter sich her zogen. Im Kegel des Scheinwerferlichts füllte sich auch die Straße zusehends mit einer wabernden, braunen Masse.

Dylan trat in die Bremsen, doch der glitschige Teppich vor ihm hatte bereits die Reifen umschlungen und ließ den Land Rover in einem unberechenbaren Bogen über den Fahrbahnrand schlittern. Erst einige Meter später kam er im dichten Buschwerk des Waldes zu stehen.

„Verfluchter Mist! Das war verdammt knapp!“

Der Motor war noch am Laufen. Das robuste Fahrzeug zeigte kaum Spuren von seinem unfreiwilligen Ausflug in das Dickicht. Dylan legte den Retourgang ein und versuchte zurückzusetzen. Doch der Wagen rührte sich nicht vom Fleck. Er versuchte es auch nach vor, dann wieder zurück, vor und wieder zurück. Aber es war zwecklos. Die alten Reifen gruben sich tief in das lockere Erdreich. Sie fanden einfach keinen Grip. Er musste es einsehen – er war hier im finsteren Wald gestrandet.

 

Zumindest der Krötenregen hatte in der Zwischenzeit aufgehört. Das war immerhin etwas.

Aber wie zur Hölle sollte er den Wagen nun wieder auf die Straße bekommen?

Alleine schaffte er es auf keinen Fall – keine Chance.

Er zückte sein Telefon, das ihm allerdings nur ein verhöhnendes „NO SERVICE“ entgegen schmetterte. Hätte das mit Maggie nicht sollen sein? Vielleicht nicht heute? War es das, was ihm die Einöde hier klar machen wollte?

Während er hin und her überlegte was er nun tun sollte, hörte er im Hintergrund die Kröten, die immer noch auf dem Asphalt saßen. Unaufgeregt rumorten sie vor sich hin. Von Zeit zu Zeit ertönte ein dumpfes Platschen, gefolgt von einem leisen Rascheln – wieder einmal hatte es eine von der Fahrbahn in den Wald geschafft.

 

Dylan folgte dem Verlauf der wild gezogenen Schneise zurück zur Straße. Er blickte in die Höhe, ob nicht ein neuer Guss im Anmarsch wäre. Doch die Luft schien rein und krötenfrei. Er hockte sich hin und inspizierte den schmierigen Haufen, aus dem ihm gut und gerne fünfzig riesige Augenpaare entgegen starrten. An allen Ecken und Enden bewegte sich etwas. Kehlhäute blähten sich auf, um sich sogleich wieder zu senken. Gliedmaßen rührten sich im Zeitlupentempo. Augenlider schlossen sich und öffneten sich wieder. Es war ein unheimlicher Anblick. Die langsamen Bewegungen verliehen der Masse eine bizarre Lebendigkeit. Und über all dem lag ein Gestank, der grausam in die Nase stieg.

Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Wie habt ihr das nur gemacht, ihr verdammten kleinen Mistkerle?“

Anstelle einer Antwort beließen sie es jedoch beim Starren und blähten weiter ihre Hautsäcke auf.

Schließlich erhob Dylan sich wieder. Hier zu bleiben, dachte er sich, machte so gut wie keinen Sinn, denn auf die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwer mitten in der Nacht durch diese gottverlassene Gegend kurvte, hätte er nichts gewettet. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Straßenverlauf zu folgen und dabei zu hoffen, dass er irgendwann und irgendwo auf ein Haus treffen würde, in dem Menschen wohnten. Menschen, die ihm helfen würden. Der Weg deutete Ungewissheit, dennoch folgte er ihm.

 

Er war bereits einige Zeit unterwegs, als sich vor ihm hinter zwei mächtigen Tannen die Umrisse einer alten Holzhütte abzeichneten. Es war keine besonders große Hütte und aus ihren Fenstern drang nichts als Dunkelheit. Einzig hinter der winzigen Dachluke im oberen Stockwerk konnte er das schwache Flackern einer Kerze erkennen. Scheinbar war dieses Haus nicht unbewohnt. Neben der Hütte baumelten abgezogene Tierhäute unter einem knorrigen Baum. Sie waren wohl zum Trocknen aufgehängt worden. Dem Gestank nach, durften sie noch nicht allzu lange hier hängen. Dylan war zwar erleichtert über das erste menschliche Lebenszeichen in dieser dunklen Einöde, gleichzeitig konnte er aber auch seine Anspannung nicht verbergen, denn durch seinen Kopf geisterten nun Schauergeschichten, die sich abseits der urbanen Zivilisation in den finsteren Wäldern von Broomerson Green abgespielt haben sollen.

Aber was blieb ihm anderes übrig? Er betrat also die Veranda, deren hölzerne Dielen unter seinen Schritten spröde knarrten. Dann läutete er die gusseiserne Glocke, die von einer Schicht rauen Flugrosts ummantelt war. Aus dem Haus war kein Geräusch zu vernehmen. Also klopfte er noch mit der geballten Faust an das hölzerne Tor.

„Lass ihnen Zeit, immerhin ist es tiefste Nacht“, übte er sich in Geduld.

Und tatsächlich – eine Weile später konnte er bereits hören, wie sich jemand mit langsamen Schritten der Tür näherte.

„Wer um diese Zeit klopft, muss schon einen verdammt guten Grund haben“, meldete sich eine tiefe Stimme hinter der verschlossenen Tür.

„Darauf können Sie wetten, dass der verdammt gut ist“, erwiderte Dylan, „mein Wagen hat es vorgezogen, alleine im tiefen Wald zu übernachten. Ich bin von der Straße abgekommen. Und das war nachdem wir in den Krötenregen geraten sind.“

„Kröten?“, wiederholte die Stimme hinter der Tür.

„Schleimige Viecher, vom Himmel gefallen – aber leider waren die gar nicht engelhaft.“

„Die Kröten ...“, murmelte der Mann hinter der Tür und klang dabei überraschend unüberrascht. „Sind Sie allein hier?“

„Nur ich und mein Schatten. Hören Sie, ich weiß, dass ich nicht zur besten Zeit komme, aber könnten Sie mir bitte helfen? Das wird Ihnen sicher auf Ihr Himmels-Konto gutgeschrieben …“

Das Schloss klickte und die Tür öffnete sich einen Spalt. Dahinter kam ein hagerer Mann zum Vorschein, der mitten im Abend seines Lebens stehen musste. Sein schütteres, weißes Haar schien in alle Richtungen zu flüchten – er musste gerade aufgestanden sein. Auf seiner spitzen Nase saß eine altmodische Brille mit dicken Gläsern, die seine betagten, fahlen Augen so groß und rund wie die eines Uhus machten.

„Na dann kommen Sie mal rein!“ Er zog Dylan ins Haus, verriegelte die Tür und trat dann ans Fenster, wo er sich mit einem Blick nach links und dann nach rechts davon zu vergewissern schien, dass niemand dem Fremden gefolgt war.

„Danke. Übrigens, ich heiße Dylan.“

„So so … Dylan ...“

„Nach Dylan Thomas“, erklärte der junge Mann. „Meine Eltern hatten ein Faible für trunksüchtige Poeten. Sie dürften das irgendwie romantisch gefunden haben.“

„Henrik“, entgegnete der Alte und nickte einmal mit dem Kopf.

„Es geht wieder los, oder?“ ertönte eine Frauenstimme aus dem dunklen Flur.

„Ich fürchte, das kann sein“, entgegnete der Mann und seufzte. „Meine Frau, Amelia“, sagte er dann zu Dylan.

„Was geht los? Was meinen Sie?“, zeigte sich der nächtliche Gast irritiert.

„Mein junger Freund, Sie haben Glück … großes Glück.“

„Ja, ich bin auch wirklich erleichtert, dass Sie mir aufgemacht haben, wo sie mich doch gar nicht kennen.“

„Da draußen ist jetzt nicht der richtige Ort für Sie. Nicht der richtige Ort für keinen Menschen. Nicht heute Nacht.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Wie ich bereits erwähnte, Sie können von Glück reden, dass Sie hierher gefunden haben, ehe die Sie gefunden hätten.“

„Wer sind die? Wovon reden Sie?“

„Hmm, Sie sind wohl nicht von hier, Sie wissen nichts davon“, der alte Mann räusperte sich, schaute mit ernstem Blick zu seiner Frau und wandte sich dann wieder Dylan zu, „die Wälder von Broomerson Green, so schön sie auch bei Tageslicht scheinen, haben eine weit zurückgehende Vergangenheit mit düsteren Geschehnissen. Es gibt einige Nächte im Jahr, in denen man nicht hier sein sollte. Es sind Nächte, in denen sich die Tore zu anderen, dunklen Dimensionen öffnen. Malefikanten ziehen dann ihre Pfade durch den Forst. Und heute ist so eine Nacht. Bhealltainn, die Feier des ankommenden Mai.“

Dylan runzelte die Stirn. Er hatte natürlich von dem heidnischen Fest gehört, hatte aber angenommen, dass niemand heutzutage das noch praktiziere. Immerhin hatten sich einige Jahrhunderte bereits darüber gewälzt.

„Der Bergpass von Knightsborough nach Coultsmith“, erklärte der alte Mann, „ist eine Aneinanderreihung einstiger Kultplätze des Paganismus. Ursprünglich wurden sie nach dem alten Wissen über die Ley-Linien angelegt. Sie wissen sicher, es gibt ein unterirdisches Netz von Linien, das die Erdenergie etwa über Felsen und speziell platzierte Megalithen an die Oberfläche leitet. Weil aber der Mensch zunehmend den Einklang mit der Natur missachtete und der fortschreitende Berg- und Straßenbau die positiven Ströme unterbrach, kam es vermehrt zur Freisetzung einer negativen Kraft. Wir nennen sie den „Schwarzen Strom“. Von vielen dieser Kultplätze sollte man sich heute also fernhalten, denn die in ihnen gespeicherte negative Energie, die oft einen plötzlichen Anfall von Schwindel und tiefer Depression auslöst, trieb schon so manchen Wanderer aus heiterem Himmel zu einer Verzweiflungstat. Ghuls und Hexen, die mit der Dunkelheit im Bunde stehen, werden von diesen Orten angezogen, also muss man auch vor diesen auf der Hut sein – besonders in einer Nacht wie dieser.“ Der Alte strich sich über seine buschigen Augenbrauen, während seine Frau mit gesenktem Haupt dastand und ihre Augen nach oben richtete. „Zudem gibt es in dieser Gegend auch einige Hexengräber.“

„Sprechen Sie von echten Hexen?“, unterbrach Dylan den Alten.

„Echte Hexen, unechte Hexen … Was weiß man schon? Fest steht, dass zur Zeit der Inquisition viele unschuldige Seelen den Tod fanden. Ihre körperlichen Überreste wurden fernab der Ansiedelungen verscharrt, weit weg von den Menschen, wo sie ihnen nichts Böses mehr antun können. Der Wald erschien den Menschen als idealer Platz dafür. Und was mit unerlösten Seelen passiert, muss ich Ihnen ja nicht weiter erklären, denke ich.“

 

Dylan war nun etwas mulmig zumute. Gerade noch war er besagten Bergpass entlang gewandert, ohne sich dabei etwas Böses zu denken.

„Die Kröten waren ein Zeichen“, setzte der alte Mann mit ernster Miene fort, „es ist denkbar, dass die Malefikanten Ihnen schon sehr, sehr nahe gekommen waren. Ich hoffe nur, dass Ihnen niemand gefolgt ist. Wir haben zwar gewisse Vorkehrungen getroffen, aber …“

„Was meinen Sie mit Vorkehrungen?“, fragte Dylan nervös. Er musste zugeben, das Gerede des alten Mannes nagte nun doch wie eine hungrige Ratte an seinem Nervenkostüm.

„Naja … Grenzen … wir haben Grenzen abgesteckt“, antwortete der Alte. „Bisher wurden diese auch eingehalten. Sie müssen wissen, wir haben so etwas wie eine stille Übereinkunft mit denen getroffen. Niemand kommt dem anderen in die Quere. Zudem sollen Feldthymian und Widerton, beides sehr wirksame Kräuter, unter der Veranda dafür sorgen, dass das Böse keinen Fuß über diese Schwelle setzt.“

Sollten diese Geschichten wahr sein – und allem Anschein nach glaubte dieses alte Paar hier auch an all das – was sollte einen dazu bewegen, in einer solchen Gegend wohnen zu wollen? Dylan war besessen von dieser Frage, er konnte sie einfach nicht länger zurückhalten: „Wenn hier aber die erwähnten finsteren Mächte um sich greifen, wieso um alles in der Welt sind Sie dann noch hier? Warum sind Sie nicht schon längst woanders hin gezogen?“

„Ach, Junge“, seufzte der alte Mann, „dieses Haus, dieses Grundstück, gehört schon seit sehr vielen Generationen meiner Familie. Ich spreche von Jahrhunderten. So etwas gibt man nicht einfach so auf. Und wenn man ein paar Regeln befolgt, lenkt man keine Aufmerksamkeit auf sich. Wir müssen nicht unbedingt an den großen heidnischen Feiertagen hinausgehen. Und wir versuchen auch niemanden zu verärgern.“

Kaum hatte er das gesagt, hörte man plötzlich ein lautes Krachen und Poltern von der hölzernen Veranda. Irgendjemand war da draußen.

Der Alte löschte blitzschnell das Licht und deutete Dylan, von den Fenstern wegzugehen. Sie hielten den Atem an. Da war es wieder, das Gepolter, und es schien noch näher gekommen zu sein. Bald darauf ertönte ein markerschütterndes Röhren, gefolgt von einem grässlichen Schnaufen. Es hörte sich an, als befände sich ein Tier im Todeskampf. Und als Dylan doch einen vorsichtigen Blick durch das Fenster wagte, sah er es: Es war ein Rothirsch, der vor der Tür krankhaft und hektisch auf und ab stolperte. Da war keine Anmut in seiner Erscheinung. Das halbe Geweih fehlte ihm, und an jener Stelle, wo sich normalerweise sein rechter Hinterlauf befinden sollte, baumelte ein grotesk verwachsener Klumpen, der scheinbar nicht mehr mit dem Nervensystem verbunden war.

Der alte Mann war nun an das Fenster neben der Tür getreten und beobachtete das aufgebrachte Tier mit weit aufgerissenen Augen. Und plötzlich, als hätte ihn jemand zurückgerufen, war der Hirsch auch schon wieder von der Veranda verschwunden und flüchtete zurück Richtung Wald. Er blieb dabei immer wieder stehen, warf seinen Kopf schnaubend zur Hütte, drehte sich dann wieder um und tauchte schließlich hinkend in den Tiefen des Forsts unter.

Um das Haus hatte sich mittlerweile eine dichte Nebeldecke gebildet, die sich kniehoch in alle Richtungen ausbreitete. Eine Schar von Raben zog laut lärmend über den nächtlichen Himmel, während es völlig windstill geworden war. Allerdings schien ein übler Gestank das Grundstück mehr und mehr einzunehmen und erfüllte bald auch das Innere der Hütte.

„Was war das, und woher kommt dieser grässliche Geruch?“, fragte Dylan die beiden Alten, die nun völlig aufrecht im Raum standen und ihre Hände gefaltet hielten.

„Ich fürchte, sie wissen nun um Sie Bescheid“, sagte der Mann mit sorgenvoller Stimme. „Sie halten Sie für einen Eindringling. Vielleicht war es ein Späher, den sie geschickt haben.“

„Wir müssen Sie sofort verstecken“, mischte sich nun auch die Frau wieder ins Gespräch ein und trat an Dylan heran. „Kommen Sie schnell! Kommen Sie mit mir!“ Sie packte ihn beim Arm und deutete zur Kellertür. Dann schnappte sie eine Decke und einen Polster vom Wohnzimmersofa und drückte Dylan beides in die Hand.

„Bleiben Sie dort unten, bleiben Sie ganz still, und kommen Sie erst wieder rauf, wenn wir Sie rufen!“

„Aber … aber was ist mit Ihnen?“, stotterte dieser.

„Haben Sie keine Sorge um uns“, versuchte der alte Mann die angespannte Situation zu beruhigen, „die werden uns nichts tun. Erinnern Sie sich: Mehrere Jahrhunderte. An und für sich wissen wir, wie wir sie nicht erzürnen. Aber sie dürfen Sie hier nicht entdecken. Hören Sie? Das ist besonders wichtig! Sonst … Gnade uns Gott!“

Die Frau hatte inzwischen etwas aus der Küche geholt. „Falls Sie in der Nacht Hunger bekommen. Ich habe leider nur das.“ Sie streckte ihm eine Packung Gingerbread entgegen. „Aber jetzt schnell runter!“

Dylan hörte hinter sich die Tür ins Schloss fallen, allerdings auch, wie sie von Draußen versperrt wurde. Er hatte kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache. Irgendetwas stimmte nicht. Dann wurde es für einen Moment sehr ruhig.

Die Gedanken des jungen Mannes kreisten wieder um die vom Himmel gefallenen Kröten, dann um den dreibeinigen Hirschen. Da war etwas völlig Schockierendes im Blick dieses Tieres. Er hatte so etwas noch nie gesehen. War dieser Wald tatsächlich verhext? Und warum hatte er ausgerechnet diese verhängnisvolle Nacht ausgewählt? Schließlich musste er auch an Maggie denken. Wie schön hätte dieser Abend werden sollen. Und wie ist er nun tatsächlich verlaufen. Er muss sich hier in einem dunklen Keller verstecken, weil draußen das Böse auf ihn lauerte. Kann das wahr sein?

Nach einiger Zeit hörte er oben geschäftige Schritte. Das alte Paar hatte sich scheinbar nicht wieder schlafen gelegt. Stattdessen durften sie etwas in die Hütte tragen. Er konnte hören, wie sich die Eingangstür immer wieder öffnete und schloss. Dieser Vorgang wiederholte sich fortlaufend.

Dylan klopfte leise an die Kellertür. „Psst … haben wir es überstanden? Darf ich jetzt wieder raus?“

Doch eine Antwort blieb aus.

Durch die winzigen Ritzen in der Kellertür konnte er das Flackern von Kerzenlicht erkennen. Mehr konnte er jedoch nicht sehen. Plötzlich hörte er ein kräftiges Trampeln über ihm – und das in einem mehr oder weniger gleichmäßigen Rhythmus. Es klang tatsächlich ganz danach, als würde jemand tanzen.

„Hallo? Hören Sie mich nicht?“, versuchte sich Dylan nun mit einer lauteren aber alles andere als sicheren Stimme bemerkbar zu machen.

Doch er fand keinen Widerhall, sein nervöses Rufen blieb ohne jegliche Resonanz.

Er klopfte lauter und lauter, bekam es immer mehr mit der Angst zu tun. Bald schon hämmerte er gegen die Tür und schrie: „Hey! Lasst mich hier gefälligst wieder raus!“

Doch die zwei schienen ihn zu ignorieren. Stattdessen drangen unverständliche Laute nach unten. Dylan konnte nicht eruieren, in welcher Sprache sie redeten. Es musste ein uralter Akzent gewesen sein, den keiner auf dieser Insel mehr sprach – vielleicht heidnischen Ursprungs. Unterbrochen wurden die seltsamen Worte nur durch ein schauriges Brummen, das immer stärker wurde und bald darauf in ein animalisches Stöhnen überging. Es kam von der alten Frau und ebenso von ihrem Mann.

„Sie werden doch nicht etwa …?“ Dylan hatte nun gründlich die Schnauze voll. Er warf sich gegen die Tür und rüttelte an der Schnalle. Doch all seine Bemühungen zeigten keinen Effekt.

„Ich höre Sie doch!“, schrie er verzweifelt. „Ich höre doch Ihre Schritte, ich höre Sie reden! Ich weiß nicht, was für kranke Spiele Sie da oben treiben, aber verdammt nochmal, sperren Sie gefälligst auf!“

Augenblicklich wurde es ruhig und das nächste, was Dylan vernehmen konnte, war das Wetzen von Messerklingen. Dann öffnete sich die Tür …

 

„Den Wagen hat jemand ganz schön eingebaut“, stellte der junge Police Officer fest, als er den grünen Land Rover im Wald inspizierte. „Muss sich gestern Nacht ereignet haben. Also Blutspuren sind keine zu finden, und auch die Türen sind verriegelt. Ich denke, der Fahrer hat es ohne große Schäden überstanden, vielleicht ist er sogar unverletzt geblieben. Er wird das Fahrzeug zurückgelassen haben, um es bei Tageslicht zu bergen. Was meinst du?“

Sein Partner, der um einiges älter war, atmete tief durch. „Ich würde mir wünschen, dass du recht hast“, antwortete er schließlich. „Weißt du, mein Junge, ich habe in den Wäldern von Broomerson Green schon so einige verrückte Dinge gesehen. Und ich kann dir sagen, das hier ist kein versöhnlicher Ort.“

„Was redest du, du alter Schwarzmaler?“, schüttelte der junge Mann lachend den Kopf. „Lass uns zu der Hütte fahren, an der wir vorhin vorbei gebraust sind. Du weißt schon, dort, wo diese dunklen Rauchschwaden aus dem Schornstein gekommen sind. Vielleicht haben die ja was gesehen.“

„Rob“, sagte der Ältere mit ernster Miene, „halte dich von diesem Haus fern!“

„Aber …“

„Die werden nichts gesehen haben dort. Die haben noch nie etwas gesehen. Und wir sind an diesem Ort nicht willkommen. Es gibt eine stille Übereinkunft, dass wir dieses Grundstück nicht betreten.“

„Aber wir sind von der verdammten Territorial Police Force! Für uns gibt es kein Zutrittsverbot.“

„Du magst recht haben … was unsere Welt betrifft. Aber dieses Haus … es steht in einem anderen territorialen Raum. Es ist nicht unsere Welt dort. Ich habe die Geschehnisse rund um dieses Haus viele Jahrzehnte mit verfolgt, und ich kann dir eines sagen: Es geht dort nicht mit rechten Dingen zu. Die schriftlichen Aufzeichnungen aus vielen Jahrhunderten, die wir in unserem Archiv haben, werfen ein unheimlich düsteres Licht auf dieses Grundstück. In den frühen Achtziger Jahren hatte ich mit einem Fall von gewalttätigem Missbrauch und Vergewaltigung zu tun. Das Opfer war eine junge Frau, Abigail Whisker, sie war erst 21 Jahre alt.“

„Was ist damals geschehen?“

„Niemand hat es jemals herausgefunden. Abigail wurde mehrere Tage in dem Haus festgehalten und grausam gefoltert. Doch irgendwann gelang es ihr zu fliehen. Sie ging zur Polizei und erstattete Anzeige. Ich erinnere mich noch an ihre Wunden, die an ihrem ganzen Körper zu finden waren. Ich war es, der sie seinerzeit verhört hatte. Und ich hatte noch nie zuvor einen Menschen gesehen, der so unglaubliche Angst hatte. Sie erzählte mir von Blutopfern, dunklen Kutten, Hornmasken, einem antiken Athame und magischen Sprüchen in einer ihr unbekannten Sprache, die sehr archaisch klang. Angeblich führte das alte Ehepaar, das in dem Haus wohnte, okkulte Rituale mit ihr durch. Als wir sie jedoch einander gegenüberstellten, konnte Abigail sie nicht identifizieren. Sie hatte die Gesichter der Menschen, die da vor ihr standen, nie gesehen. Weil sie immer mehr das Gefühl hatte, dass ihr niemand glaubte, und weil ihre seelischen Qualen immer unerträglicher wurden, nahm sie sich eines Tages das Leben. Sie stürzte sich von den Klippen an der Südküste.“

„Das klingt ja wie aus einem Horrorfilm“, zeigte sich der junge Polizist bestürzt. „Und man hat nie …?“

„Nein, Rob, ihre Peiniger wurden nie überführt. Ich glaubte Abigail damals. Sie hatte sich das bestimmt nicht selbst angetan, sie war nicht verrückt. Aber es gab nie Beweise gegen das alte Paar. Was das Ganze noch mysteriöser macht, ist die Tatsache, dass sie damals bereits ein hohes Alter erreicht hatten. Bis heute gab es allerdings nie eine Sterbeanzeige mit dieser Adresse. Für unsereins erscheint es unmöglich, dass die beiden heute noch leben. Aber ich sage es dir, die Leute, die dort wohnen … das sind keine freundlich gesinnten Leute. Und sie haben einen Draht zu den dunklen Mächten. Der alte Mann, die alte Frau, sie beide zusammen … man sagt, es handle sich um ein Hexenpaar.“

 

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Tag der Veröffentlichung: 25.02.2017

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