Eine Fantasy-Kurzgeschichte
von Deva Moon
Copyright © 2016 Deva Moon
Herausgeber: Oliver Rapouch, Wien/Österreich
devamoon.sphaerenklang@gmail.com
Cover-Gestaltung: Sunbold Productions
Erstveröffentlichung September 2016
Alle Rechte vorbehalten.
www.devamoon.com
(Japanische Begriffe werden im Glossar im Anschluss an die Geschichte erklärt)
Wenn Rache das Herz vertilgt,
fallen die Blätter
auf blutigen Schnee.
Es war das Ende eines heißen Sommers und die kleine Stadt im Land der aufgehenden Sonne hatte sich bereits zum Schlafen niedergelegt. Das Licht des blutroten Mondes, der rund und satt über den Dächern thronte, verlieh den menschenleeren Straßen eine befremdliche Atmosphäre. All der Schmutz und die Hektik des Tages waren mit einem Mal unter den Teppich der Nacht gekehrt, und die Fassaden der angejahrten Häuser waren in ein warmes, mysteriöses Licht getaucht. Es roch nach frischem Tau und aus der Ferne hörte man die Vögel der Nacht schreien. Dieser Augenblick erweckte jedoch nicht den Anschein, als würde man ihm trauen können. Etwas Bedrohliches lag in der aufgeheizten Sommerluft. Etwas, das dieses beschauliche alte Stadtviertel in einen Platz der Sühne und der Betrübnis verwandeln sollte …
Die junge Frau stöckelte über die holprig gepflasterte Straße, vorbei an den Rollläden, die wie Augenlider zum Schlaf runtergefahren waren und den roten Papierlampions, die aneinandergereiht unter den Dachsimsen schaukelten, wo sie sich bemüht gegen die Dunkelheit wehrten. Die unsicheren Schritte der Frau ließen vermuten, dass sich noch ein paar Drinks eines langen Abends den Weg durch ihr Nervensystem bahnten. Häufig musste sie sich an einer Bank oder einer Hauswand abstützen, nur um nicht umzuknicken. Bei diesen Gelegenheiten zog sie sich dann den engen, schwarzen Rock zurecht, der während des Gehens immer wieder ihre Beine hochkletterte und dabei einen Blick auf ihre schlanken Oberschenkel preisgab.
Dass ihr ein wendiger Schatten anhaftete, der jedoch nicht ihre eigenen Bewegungen spiegelte, entzog sich zunächst ihrer Aufmerksamkeit. Plötzlich strich ein eiskalter Hauch über ihre nackte Schulter und ließ ihren Körper frösteln. Sie drehte sich erschrocken um, konnte aber nichts weiter erkennen, als einen riesigen Nachtfalter, der in der Ferne wie ein eroberungslustiger Verführer um eine Straßenlaterne schwirrte.
„Oh mein Gott, was war das?“, zeigte sie sich verstört. Ihr Herzschlag nahm an Fahrt auf, ihre Fantasie malte düstere Schüttbilder in schwärzestem Schwarz. Sie wollte diesen Ort, der sich so unbehaglich und seltsam anfühlte, so schnell wie möglich verlassen, denn ihr Gefühl sagte ihr, dass sie hier ihr Schicksal herausforderte.
Hastig bog sie um die nächste Ecke, da erfasste sie erneut ein Windhauch, der ihr die langen, dunklen Haare ins Gesicht wehte. Und mit einem Mal spürte sie eine mächtige, unheimliche Präsenz, die aus einer der verlassenen Seitengassen zu kommen schien. Es fühlte sich an, als hätte sie eine verbotene Grenze überschritten, als sollte sie nicht an diesem Ort sein. Dasselbe Gefühl hatte sie vor ein paar Wochen schon einmal wahrgenommen. Ohne es zu wissen, war sie am Schauplatz eines schrecklichen Gewaltverbrechens vorbeigegangen und hatte erst im Nachhinein von der äußerst verstörenden Geschichte erfahren. Ein alter Fischer fand einen völlig ausgebluteten Körper mit offener Halsschlagader. Was die Sache mysteriös machte, war die Tatsache, dass ihm eine große Menge an Blut fehlte. Die Polizei ging von einem rituellen Mord aus, denn dem Opfer wurde das Zeichen des Mondes auf die Stirn gemalt – mit seinem eigenen Blut. Der dienstführende Inspektor gab an, dass es ähnliche Vorfälle bereits in der Vergangenheit gegeben hatte. Auch hier trugen die Opfer stets dasselbe blutige Symbol auf ihrem Gesicht – den Mond. Diese Fälle wurden jedoch nie aufgeklärt. Keine Tatwaffe, kein Verdächtiger – nichts. Dunkelheit schwebte über den Ermittlungen wie eine undurchdringbare Wolkendecke, und der Täter – davon musste man ausgehen – durfte ein pathologischer Fall gewesen sein.
„Möglicherweise hast du recht, vielleicht ist es die falsche Nacht, um hier unterwegs zu sein“, ertönte plötzlich eine tiefe Stimme hinter der jungen Frau.
Sie drehte sich erschrocken um und blickte in ein schmales Gesicht, aus dem ihr zwei leere, kristallblaue Augen entgegen starrten. Vor ihr stand ein groß gewachsener Mann, der einen weiten, schwarzen Mantel mit rotem Saum trug. Er musste Mitte dreißig gewesen sein, unter dieser unnatürlich bleichen Haut. Seine Statur war eher schmächtig, dennoch erweckte er absolut nicht den Anschein, als hätte er wenig Kraft in seinen Muskeln. Das lange, dunkle Haar war mit einem roten Seidenband zusammengebunden. Zudem trug er einen auffälligen, reflektierenden Gegenstand um seinen Hals – ein völlig zerbeultes tatemono in Form einer gehörnten Fratze. In seiner Gesamterscheinung wirkte er etwas aus der Zeit gerissen, als hätten ihn etliche Jahrzehnte überholt. Was aber noch stärker zur Geltung kam, war die Aggression und die Gewaltbereitschaft, die sein Körper ausstrahlte.
„Wer bist du?“, fragte die Frau verängstigt.
„Ich glaube nicht, dass es dir etwas sagen wird, wenn ich dir meinen Namen nenne, aber der Höflichkeit halber: Man würde mich Ataru nennen.“
„Würde?“
„Ganz recht. Würde. Würde ich den Kontakt zu Menschen suchen, so wäre das mein Name. Aber ich kann dir sagen, das kommt sehr selten vor. Und selbst dann bevorzuge ich es meist, ungenannt zu bleiben.“
„Was willst du von mir?“, stammelte die Frau.
Der geheimnisvolle Kerl wanderte mit seinem Blick langsam ihren Körper entlang, die Beine aufwärts über die unverhüllten Schultern bis zu ihren dunklen Augen, in denen die Angst gerade so ausgelassen tanzte.
„Wollen, wollen … das klingt so hart. So einseitig. Wieso gehst du davon aus, dass ich dir etwas antun möchte? Denkst du, ich hätte einen schlechten Charakter?“
„Nein, ich …“ Die Frau schluckte.
„Ach, lass es! Du hast nicht unrecht. Leider ist heute für dich wirklich die falsche Nacht …“
Er krempelte sich einen Ärmel seines Mantels hoch.
„Nein … bitte lass mich gehen!“, flehte sie ihn an. „Ich gebe dir meine Tasche! Du kannst alles haben!“
„Glaubst du ich wäre ernsthaft interessiert an diesen seelenlosen Gegenständen, die du mit dir herumträgst?“
Ataru riss ihr die Tasche aus der Hand und schleuderte sie blind gegen die nächste Hauswand, wo sich ihr Inhalt klimpernd über den Gehsteig ergoss.
„Nein, meine Schöne, ich habe es auf etwas ganz anderes abgesehen …“
Als er es ausgesprochen hatte, krallten sich seine groben Finger kaltblütig um ihren Arm und hielten ihn fest. Die andere Hand umklammerte ihre Kehle und schnürte sie brutal zusammen, sodass die Frau nicht mehr in der Lage war, auch nur irgendeinen Ton von sich zu geben. Verzweifelt versuchte sie noch, ihm das Gesicht zu zerkratzen, doch im nächsten Augenblick rammte er schon seine kräftigen Zähne in ihren zarten Hals und wurde eins mit ihrem warmen Blut. In dicken Bahnen rann der rote Lebenssaft ihren Hals entlang, tropfte über ihre Schulter und über ihre Bluse, wo er schließlich vom Stoff aufgesogen wurde.
Ataru befand sich in einem zügellosen Rausch, der von roher Gewalt, kaltem Hass und blinder Wut befeuert wurde. Er ließ die Frau zu Boden gleiten und labte sich an ihrem Hals. Und während er ihr das Leben Tropfen für Tropfen aus dem feingliedrigen Körper saugte, bemerkte er plötzlich, dass er mit seinem Opfer nicht alleine hier war. Irgendjemand … oder irgendetwas beobachtete ihn aus der Ferne. Er richtete sich zu bedrohlicher Größe auf und drehte seinen Kopf in die Richtung, in der er den heimlichen Zeugen vermutete. Dann erkannte er, wie am anderen Ende der Straße ein kleines Wesen hinter einer unachtsam weggeworfenen Holzkiste hervor lugte. Er schärfte seinen Blick und konnte nun feststellen, dass es ein Fuchs war. Das Tier hatte prächtiges, schneeweißes Fell. Es war ein edles Geschöpf mit schlanken Formen und einer spitz zulaufenden Schnauze. Seine kobaltblauen Augen waren auf Ataru gerichtet, und wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass sich ein paar dicke Tränen daraus befreit hatten und wie kleine Perlen hinab kullerten. Dieser weiße Fuchs … er schien zu weinen.
Ataru hielt inne. Er verspürte jäh ein seltsames Gefühl von funkensprühender Freude, das sich über das Innere seines kalten Körpers ergoss und ihn augenblicklich aus seiner Rage holte. Was ihn verwunderte, war die Tatsache, dass ihm diese Empfindung nicht fremd war. Er kannte sie von früher. Aber es war lange Zeit her, einige hundert Jahre womöglich, seit er diese Emotion zum letzten Mal wahrgenommen hatte. Er hatte dieses Gefühl längst vergessen.
„Warte!“, rief er und streckte seine blutverschmierten Finger aus, doch das lichte Wesen flüchtete bereits über die Straße, setzte dann zum Sprung an und erhob sich mit einem Satz in die Höhe. Als das Tier durch die Lüfte segelte, wurde Ataru bewusst, dass es mehrere Schwänze hatte, die nun schlangenartig hinter ihm her wehten. Bald schon war nur mehr ein heller Schein zu sehen und die Gestalt war hinter dem Sternen-Vorhang des Nachthimmels verschwunden. Ataru suchte in allen Richtungen, aber der Fuchs war fort. Lange Zeit starrte er noch gedankenverloren in den Himmel.
„Was war das eben?“, fragte er sich, konnte aber keine zufriedenstellende Antwort finden. Nachdem sich seine Verwunderung langsam gelegt hatte, beugte er sich erneut über sein frisches Opfer und vollendete sein grausames Werk. Danach schleifte er den leblosen Körper in einen Hauseingang, wo er ihn der Dunkelheit überließ, und machte sich wieder daran, in die finstere Nacht einzutauchen.
Ataru fühlte aber bald, dass sein Durst für heute noch nicht gestillt war. Mit gespitzten Sinnen machte er sich auf die Suche nach dem nächsten Blutmahl, schlich durch den labyrinthischen Kern der Stadt,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 08.01.2017
ISBN: 978-3-7396-9228-9
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