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Schnittblumen

Nächtliche Dunkelheit hatte sich schützend über die Häuserzeilen einer schlafenden Stadt gelegt und hüllte die winterlichen Straßen in ein friedliches Kleid, während frischer Schnee die Sünden mangelnder Zurückhaltung zu bedecken versuchte und eine ungewöhnlich hohe Sternendichte von einem besonders kalten Abend erzählte.

 

Aus den Schaufenstern der geschlossenen Läden drang sanft schummriges Licht. Gerade einmal genug, um erste Silben der Aufmerksamkeit einzuleiten, ohne dabei plakativ zu sein. Eine Antithese zum nun fremden Gesicht des Tages.

 

Knirschend bohrten sich Schritte in den weißen Teppich, dessen Ausläufer bis in die finstersten Winkel der Stadt verliefen und damit Hässlichkeit und Schönheit für einen kurzen Moment zu Geschwistern machten. Schritte einer zarten Gestalt, die allein, aber nicht verloren, einen Fuß vor den anderen setzte. Gedankenverhangen. Sophie ließ den eben vergangenen Tag tropfenweise durch ihr Erinnerungsnetz sickern. Da war dieser seltsame Anruf im Büro von diesem Typen, der einfach nicht sagen konnte, was er wollte, der einzig und allein in Rätseln sprach. Und es lag weder an seiner Aussprache, noch an fehlender Lautstärke. „Sternchen“ war eines der Wörter, die er besonders oft in seinen Redefluss streute. Mehr war allerdings nicht in Sophies Erinnerung hängen geblieben, außer eben der seltsame Rahmen, der sich um diese Situation geschlungen hatte.

 

Dann war da noch das Mittagessen mit der Kollegin, Martine, die Sophie mit den ausführlichsten Details über das Heranwachsen vom frisch geschlüpften Nachwuchs niederredete. Ein großer Haufen Stolz schien da als Nachgeburt im Spiel gewesen zu sein. Nicht unbedingt das förderlichste Thema bei der Suche nach kulinarischem Genuss. Doch was soll’s – Sophie hatte sich ohnehin nur einen Salat bestellt und schob nun die grünen Blätter in Form eines Schmetterlings auf ihrem Teller zusammen.

 

Und schließlich erinnerte sie sich noch an die Blumen, die ohne Absender vor der Tür zum Büro lagen. Ohne Absender und ohne Adressat. Wie ein unachtsam weggeworfenes Stück Romantik, machtlos in seiner Schönheit – weil das Ziel scheinbar niemals erreicht worden ist.

 

Alle rätselten – Sophie, Martine mit dem Kinderstolz und auch all die anderen. Doch keiner hatte eine Antwort. Keiner konnte die Lösung finden. So versteckt war die. In jenem Moment. In ebenjenem Moment.

 

Gerne hätte Sophie ihren Namen auf einem Kärtchen gelesen. Gerne hätte sie dieses Zeichen der Wertschätzung entgegengenommen. Doch was man gerne hat und was die Realität einem serviert, sind oft zwei unterschiedliche Spielvarianten. Und Sophie hatte diesbezüglich schon länger keinen Lauf mehr gehabt.

 

Ihr Tag war also so konfus wie ihr momentanes Leben. Das musste sie sich leider eingestehen. Sophie zog weiter ihre Spuren durch die kalten Straßen, als plötzlich ein kleiner Schatten die Verfolgung aufnahm – geheimnisvoll und grazil in seiner Bewegung, beinahe lautlos. Sie warf einen suchenden Blick in alle Richtungen, doch im ersten Augenblick schien dieser Schatten keinen Körper zu haben. Sophie blickte weiter, versuchte schließlich auch Geräusche zu orten. Doch nichts. Es verging einige Zeit, bis ein unvorsichtig gesetzter Schritt dem Geheimnisvollen das Bedrohliche raubte und dahinter einen samtigen Urheber zu erkennen gab. Unter der Beobachtung von weit aufgerissenen Katzenaugen kullerte eine leere Getränkedose über den Weg. Und so schnell der Schatten erschienen ist, so schnell war er auch wieder verschwunden.

 

Sophie überlegte sich, wie es wäre, könnte sie auch so schnell verschwinden. Einfach mal rasch einen Schritt in ein anderes Leben machen. Einfach mal fort sein. Für eine Weile ein anderes Leben leben. Sie ließ einen schwelgerischen Seufzer über ihre gefrorenen Lippen gleiten und setzte dann schließlich ihren Heimweg fort. Vorbei am Antiquitätenhändler mit dem abgewetzten Barockstuhl im Schaufenster. Vorbei am Tabakladen mit der flirrenden Leuchtreklame, die mit ihren unregelmäßigen Zuckungen die Symphonie der Idylle zerschnitt. Vorbei am kleinen Park mit dem Holzbänkchen, auf dem gefühlte 9.872 Liebesbekenntnisse geflüstert wurden. Eines davon galt Sophie. Einst. Doch die Jahre vergingen, und mit der Zeit verschwand auch die Bedeutung dieses einen unhaltbaren Gefühlsausbruchs.

 

Als Sophie schließlich vor ihrer Wohnung ankam und nach den Schlüsseln kramte, regte sich für einen Moment im inneren Wind der Sentimentalität ein zarter Zweig, der sanft über ihre linke Herzkammer strich. Auf und ab. In beruhigender Langsamkeit. Auf und ab. Mit einer Sanftheit, die sich sehr verhalten gab. Fragmente der Vergangenheit schwirrten ihr durch den Kopf. Doch das satte Klicken des Türschlosses bereitete dieser Kurzreise ein jähes Ende.

 

Drinnen angekommen, schlüpfte sie sofort aus ihrem Wintermantel, an dem noch die gesamte eisige Kälte von draußen hing.

 

Sophie ging in das Schlafzimmer, wo sie bereits erwartet wurde. Zwei leere Augen blickten in ihr Gesicht. „Ach, das war ein seltsamer Tag heute. Vor dem Büro hat jemand einen Blumenstrauß liegen gelassen. Ganz frisch und wunderschön war der noch. Du hättest ihn sehen sollen.“ Ihr Gegenüber verzog keine Miene. Wie üblich. Aber sie war es gewohnt, reaktionslos empfangen zu werden. Über viele Jahre ging das schon so. Er hatte ihr nichts zu sagen. Oft schwiegen sie einander stundenlang an. Ein stilles Nebeneinander-Her-Leben, ohne sichtbare Höhepunkte. Aber auch ohne Szenen, die große Dramatik aufkommen ließen. Dafür mit viel Vertrautheit. Immerhin war er stets für sie da, hatte immer ihre Tränen aufgefangen, wenn es ihr mal nicht so gut ging, konnte ihr die Unruhe nehmen, wenn sie mal wieder in einer Lebensphase voller Ungewissheit steckte, war ihr Begleiter durch schlaflose Nächte.

Das wusste Sophie auch. Und das wusste sie auch zu schätzen.

 

Er beobachtete ihren Lebenswandel, sah andere kommen und gehen und war dabei die einzig fixe Konstante in ihrem bewegten Leben. Er war ihr Anker, wenn ihre Erwartungen und ihre Erlebnisse sich wieder mal durch mehr als bloß ihre Mitten voneinander unterschieden.

Er brauchte kein Meister der Analyse zu sein, denn das Muster war kein Gestaltwandler. Tiefe wurde zu einem Wort ohne jegliche Bedeutung. Stattdessen lag Fatalität träge in der abgestandenen Luft, die von Phrasenstammlern eingesaugt und in Stößen wieder abgesondert wurde – verbraucht und fern jeder Ordnung.

 

Und weil er immer da war, weil er lautlos hinnahm, seine starren Augen nicht abwenden konnte, ist man als Leser versucht, seinen Stolz in all seiner Gesamtheit zu hinterfragen. Kann man Selbstlosigkeit in diesem Kontext vor ein Fragezeichen stellen? Ist Gewohnheit in Wahrheit ein Panzer, der nicht nur den Körper verhüllt, sondern auch die Augen und letztendlich die Seele? Ist Stillstand ein Protagonist des Ewig-So-Weiter-Machens? Benötigt, um berechtigt zu sein?

 

Zwar hätte er Sophie nie Blumen geschenkt. Zwar hätte er sie nie „Sternchen“ genannt. Zudem konnte er ihr auch niemals einen lebenssituativ weiterführenden Rat geben. Aber das war auch nicht seine Bestimmung. Sein verfilztes Fell, die abstehenden Zwirnfäden und die bereits mehrmals wieder angenähten Knopfaugen erzählten instinktiv Geschichten einer langen Vergangenheit als Seelentröster. Denn auch wenn Teddybären keine eigene Seele haben mögen, so bieten sie doch manch menschlicher ein geborgenes Zuhause.

 

Impressum

Texte: Deva Moon
Bildmaterialien: Deva Moon
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2016

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