von
Deva Moon
Copyright © 2016 Deva Moon
Herausgeber: Oliver Rapouch, Wien/Österreich
devamoon.sphaerenklang@gmail.com
Cover-Motiv: Oliver Rapouch
Cover-Schriftarten: Endor, Aquiline Two
Erstveröffentlichung April 2016
Alle Rechte vorbehalten.
www.devamoon.com
Heiligenwald, 8. Dezember 2012
In meiner Kindheit hat mir meine Mum vor dem Einschlafen immer eine Geschichte vorgelesen. Manchmal hat sie mir auch eine Geschichte nacherzählt, die sie selbst als Kind von ihrer Mutter gehört hatte.
Irland, das Land ihrer Geburt – ein Land voller Mythen und Fabeln, Märchen und fantastischer Erzählungen. Tief in meine Bettdecke verkrochen, lauschte ich gebannt den Geschichten über Feen und Gnome, über Naturgeister, Helden und schöne Jungfrauen, Untote und Wechselbalge ... und über furchteinflößende Ungeheuer. Da gab es Dämonen, böse Geister, Ghouls und Hexen. Und es gab auch die Drachen. Mum erzählte mir damals, dass sie riesige Ungeheuer wären, die wie beschuppte Echsen aussahen. Sie erzählte mir, dass sie Feuer speien konnten und dass sie oft über einen sagenumwobenen Schatz wachten. In einigen Geschichten waren sie grausame Untiere, die dem Helden aus der Legende beinahe den Tod brachten. In anderen wiederum, waren sie magische Geschöpfe, rätselhaft und belesen, aber stets auch wild und unberechenbar ...
Einiges davon kann ich bestätigen – dass sie Feuer speien können, zum Beispiel. Auch was sie mir über ihre Gestalt erzählte, war nicht ganz unwahr. Sie wachen über unermessliche, menschliche Schätze – auch das kann man so sehen. Bei den vielen Bezwingern jedoch, die sich damit rühmten, einen Drachen getötet zu haben, bin ich im argen Zweifel. Auch, dass sie als schreckliche Untiere Vieh vernichtet und Land verbrannt hätten, kann ich nicht ganz glauben.
Aber um welche Geschichte auch immer es sich handelte, meistens war der Drache darin der Feind, der Widersacher, das Monster, die Trophäe des Helden.
In Wirklichkeit sind Drachen jedoch etwas ganz anderes. Ich weiß es, denn ich habe es erlebt ...
2.000 Watt Scheinwerferlicht ergossen sich über die unüberschaubar große, lodernde Masse von Menschen, die sich wie ein lebendig gewordener Teppich im Rhythmus der schweren Bässe auf und ab bewegten.
Die Luft, die sie in ihre Lungen sogen, war ein Gemisch aus Rauch, Alkohol und menschlichen Ausdünstungen.
Obwohl das Konzert unter freiem Himmel stattfand, hatten hunderte tanzende Körper die Temperatur vor der Bühne derart aufgeheizt, dass man das Gefühl hatte, mitten in einer Sauna zu stehen.
Der Sänger schien Energie in rauen Mengen absorbiert zu haben und wurde nicht müde, auf der Bühne auf und ab zu laufen. Schließlich riss er sich die kurze, schwarz-weiße Felljacke vom gestählten Körper und schleuderte sie mit einer kräftigen Bewegung ins Publikum, während er die letzte Wiederholung des Refrains in sein Mikrofon brüllte. Ein hysterisches Jubeln ging durch die Menge, eine Welle der Ekstase erfasste die verschwitzten Leiber und fegte auch über das Mädchen hinweg, das mit seiner besten Freundin hier war, beide aus voller Kehle schreiend und in blindem Rausch tanzend.
Die Jacke war irgendwo in den ersten Reihen verschluckt worden, einzig eine dichte Traube aus rangelnden Menschen ließ erahnen, wo das begehrte Kleidungsstück gelandet sein musste.
„Brrrooom – brrrooom!!!“ Das ohrenbetäubende Vibrieren der Bässe leitete einen neuen Song ein.
„Raven’s Cry!“
„Yeeaaahh!“, schrie das Mädchen mit maßloser Begeisterung in Richtung seiner Freundin, während es seine Bierflasche in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand schwenkte.
„Der Gig ist einfach Wahnsinn, Liza!“
„Ja, endlos geil!“, schrie Liza zurück und kreiste lasziv mit ihrem Körper zur Musik.
Der Sänger stand nun mit nacktem Oberkörper auf der Bühne, über seine Oberarme schlängelten sich mächtige Tribal-Tattoos und auf der Brust prangte ein grimmiger Wolf mit gefletschten Zähnen.
Seine tiefe, raue Stimme erweckte den Anschein, als hätte er sich schon durch so einige Fässer an Hochprozentigem durchgekostet – „Raven’s cry, through the darkest night!“
Die Menge tobte und jeder Einzelne stimmte in den Gesang mit ein. Das Mädchen spürte, wie sich sein Körper vom Tanzen und vom Alkohol aufgeheizt hatte, es spürte, wie das berauschende Hochgefühl in ihm emporschoss. Seine Sinne waren völlig überwältigt von diesem schweißtreibenden Auftritt.
Und plötzlich, inmitten dieses endlos scheinenden Rausches, dieses abgefahrenen Deliriums, übermannte es ganz ohne Vorwarnung ein Gefühl, das so heftig war, dass es selbst die elektrisierende Stimmung des Konzerts zerschmetterte und es zu Boden riss.
Eine glühende Klinge bohrte sich durch seine Brust und hinterließ ein Gefühl vergifteter Lähmung. Das Tosen der Musik war verschwunden, vor seinen Augen wallte Dunkelheit und dann spürte es mit einem Mal was es war – eine einzige schreckliche Gewissheit ...
„Aislinn! Hey, was ist mit dir? Geht es dir nicht gut? Ist dir schlecht? Verdammt, sag doch was!“
Liza beugte sich zu ihr hinunter. Die Menschen um sie herum waren ein kleines Stückchen zurückgewichen, nahmen aber ansonsten nicht weiter Notiz. Aislinn blickte zu ihrer Freundin auf.
„Liza! Mum und Dad ... sie sind tot!“
Eine mächtige Wolke aus aufgewirbeltem Staub und Erde zog sich über das dunkelgraue Wrack – ein trauriger Haufen aus zersprungenem Glas, zur Unkenntlichkeit zerfetzten Kunststoffteilen und bizarr verformtem Blech.
In der Luft lag der Geruch von Benzin, erhitzten Bremsbelägen, radiertem Gummi und frisch geschliffenem Metall. Eine Spur niedergemähter kleiner Bäume und entwurzelter Sträucher zeugte vom Todeszug des Wagens, der kopfüber in der tiefen Schlucht lag. Kein einziger Karosserieteil, keine Scheibe war unversehrt geblieben, nachdem sich das Ding mehrmals überschlagen hatte.
Nun war es gespenstisch still und auch die Insassen machten keine Anstalten mehr, aus dem völlig zerstörten Wagen zu kriechen, denn beide waren bereits tot.
Kurz zuvor hatte sich der dunkelgraue Rover noch die kurvige Straße des engen Gebirgspasses entlang geschlichen. Die Wolken hingen schwer am Himmel. Beinahe machte es den Eindruck, man müsse seinen Kopf einziehen, um sich nicht in der undurchdringlichen Wolkenmasse zu verlieren. Obwohl sie den Anschein erweckten, als wären sie durch und durch mit Wasser getränkt, gaben sie nur ein leichtes Nieseln frei, das die Landschaft in einen verschwommenen Schleier hüllte. Kein zweites Fahrzeug leuchtete an jenem Abend die verlassene Straße aus. Die Scheinwerfer durchdrangen die diesige Umgebung, während der Wagen über die regennasse Fahrbahn glitt.
„Und der kleine Maulwurfshügel vor eurem Küchenfenster ist ein Feenhügel, ja, ich weiß, Honey. Deine Mutter hat mir das schon mehrmals erzählt – mit verschwörerischem Blick und ehrfürchtiger Stimme. Allerdings war das meistens zu ziemlich fortgeschrittener Stunde und nach einigen kräftigen Irish Stouts“, meinte Johannes, während er seine rechte Hand an den Mund führte, als hielte er darin ein Pint-Glas, und lachte.
„Nein, Joe, ich meine es ernst! Sie hat am Telefon so besorgt geklungen, völlig aufgelöst, panisch. Mir kam es vor, als hätte sie wirklich riesige Angst!“
Shannon seufzte gequält.
Johannes blickte seine Frau aus den Augenwinkeln an. Sie wirkte ernsthaft beunruhigt. Er gab nicht viel auf mythologische Erzählungen und Märchen – schon gar nicht, wenn dieser Aberglaube grundlos Angst bereitete.
„Okay Shan, also deine Mum hat sich eingebildet, eine alte irische Todesbotin gehört zu haben. Könnte es nicht sein, dass es vielleicht doch irgendein anderes Geräusch war? Vielleicht ein wildes Tier oder ein Schaf, das sich verlaufen hatte?“
Shannon schüttelte den Kopf.
„Sie wurde in der Nacht von einem Heulen geweckt, das wie das Geschrei eines Säuglings klang. Als sie dann hinunter in die Küche ging, um zu sehen was da war, stand es direkt vor dem Küchenfenster und hatte sie angesehen. Weißes langes Haar, rot glühende Augen und nur mit einem weißen Nachthemd bekleidet.“
„Ach, das war doch sicher die alte Henriette von nebenan!“
„Johannes ...“, sagte Shannon abmahnend.
Johannes seufzte laut auf. Irgendwie nervte ihn dieses Gespräch unglaublich.
„Okay und die Legenden besagen, dass es ein schlechtes Omen ist, wenn man eine Banshee sieht oder hört? Oder mehr noch, dass dieses Wesen den baldigen Tod eines Familienmitglieds ankündigt? Shan, es tut mir leid – aber ich kann das einfach nicht glauben.“
Dazu äußerte sich Shannon nicht mehr und blickte beleidigt aus dem Seitenfenster.
„Hör mal“, lenkte Johannes ein, „selbst wenn es so wäre, was sollte das denn bringen? Gehen wir mal davon aus, dass es stimmt – was dann? Damit macht man sich nur selbst verrückt und genau das ist der Grund, weshalb ich mit alldem nichts anfangen kann. Ich finde es ja okay, wenn deine Mutter ein Töpfchen Milch für das kleine Feenvolk vor die Tür stellt oder den Maulwurfshügel im Garten nicht abtragen möchte. Aber Todesprophezeiungen? Das geht einfach zu weit, sorry!“
„Ach ich weiß doch auch nicht, Joe. Ich hab sie einfach noch niemals zuvor so hysterisch erlebt. Ich weiß selbst nicht genau, was das alles zu bedeuten hat“, erwiderte Shannon mit Unbehagen in ihrer Stimme.
„Nichts! Rein gar nichts! Wir sollten das alles einfach vergessen. In einigen Tagen hat sich das wieder gelegt und alles ist wieder in Ordnung.“
Sie legte geistesabwesend ihre Hand auf die seine, die auf dem Schalthebel ruhte. Ihre Hand war eiskalt.
„Vielleicht hast du ja recht. Lassen wir das.“
Dann sagte für längere Zeit keiner von beiden ein Wort, bis Shannon schließlich ihren Mann fragte: „Denkst du, unsere Tochter hat in unserer Abwesenheit eine wilde Party gefeiert und die Wohnung zerlegt?“
Sie bemühte sich, ein neues Thema aufzugreifen, um etwas gegen die drückende Stimmung zu tun, die sich im Wagen breit gemacht hatte.
„Sie hat auf jeden Fall eine Party gemacht! Was glaubst denn du? Hättest du das etwa nicht in ihrem Alter? Hättest du die Gelegenheit eines sturmfreien Wochenendes nicht ergriffen?“, erwiderte Johannes und wirkte spürbar erleichtert über den Themenwechsel.
„Hmm ... ich denke, ich hätte Gwen und Phoebe angerufen und wir wären schnurstracks ins Kilkenny Pub gegangen, wo ich eine Runde Bier ausgegeben hätte … oder vielleicht zwei, zur Einstimmung. Und dann ... naja, du weißt schon ...“, schmunzelte Shannon.
„Wunderbar!“, rief Johannes. „Das bedeutet, unser Heim sieht nun aus wie ein überquellender Flaschencontainer, in den Teppich sind unzählige Zigarettenlöcher eingebrannt und das Bad ist kaum mehr zu unterscheiden von einer Gefängnistoilette! Jetzt ist mir gleich viel wohler, Honey! Warum konnte sie nicht so lieb und klein bleiben? Erinnerst du dich noch, als sie ihr erstes Dreirad bekommen hatte? Oder an Miss Clover, die kleine, schneeweiße Katze? Sie hatte sie damals in der Tierhandlung gesehen und es war Liebe auf den ersten Blick. Geschlagene zwei Wochen hatte sie gebettelt, bis wir sie schließlich doch genommen haben.“
„Ja, und sie hat immer ihr Spielzeug auf das Dreirad gebunden, damit Miss Clover ihr folgt“, warf Shannon schmunzelnd ein. „Sie ist wirklich verdammt schnell groß geworden. Nächstes Jahr ist bereits ihr 18. Geburtstag!“
„Stimmt. Wahnsinn! Oder wir sind verdammt schnell ge...“ Johannes konnte seinen Satz nicht mehr beenden. Als er den Wagen um eine scharfe Kurve lenkte, fand die heitere Stimmung abrupt ein Ende. Ein eiskalter Schock fuhr ihm durch die Knochen. Sein Herz machte einen sprunghaften Satz, ehe es wie wild zu rasen begann. Er trat mit aller Kraft in die Bremse. Dann verriss er das Steuer.
Ein Felsrutsch hatte Tonnen von massivem Gestein auf die Straße hernieder donnern lassen und begrub beide Fahrspuren zur Gänze unter sich.
Ein gellender Schrei drang durch Shannons Kehle.
Der Rover kam ins Schleudern und Johannes verlor nun auch die letzte Kontrolle. Der Wagen brach seitlich aus und schlitterte mit hohem Tempo über das unbefestigte Bankett in die tiefe Schlucht ...
Der massige Geröllhaufen, der die Straße versperrt hatte, stand allerdings noch nicht still. Nach und nach konnte man erkennen, dass sich am Rande einer der kleineren Steine zu bewegen begann. Dann folgte ein zweiter und noch einer und noch ein paar weitere. Plötzlich schien der ganze schwere Haufen zu Leben zu erwachen. Die Felslawine ächzte und polterte und bewegte sich dabei langsam Richtung Abgrund. Doch nur auf den ersten Blick erschien sie wie eine Ansammlung zersplitterter Gesteinsbrocken. Bei näherer Betrachtung hingegen konnte man zwischen den Spalten kleine Gesichter erkennen. Und mehr noch – Füße und Bäuche. Es waren kleine, kugelige Gestalten, die sich zwischen dem Geröll bewegten. Immer mehr dieser winzigen, bizarren Wesen kämpften sich nach und nach an die Oberfläche. Sie begannen in der Steinlawine zu schaufeln und zu graben, bis diese gefährlich wankte und man aus ihrem Inneren ein bedrohliches Brodeln vernehmen konnte.
Irgendetwas stimmte nicht mit diesen Wesen. Ihre kleinen Gesichter waren hassverzerrt und in ihren winzigen Äugelein loderte eine unbeschreibliche Bosheit ...
Die Regentropfen liefen quer über das große Busfenster, in kleinen, dünnen Bächen. Durch die Lautsprecher klang leise die Musik eines bekannten Radiosenders, die vom Stimmengewirr zahlreicher Schüler, welche morgens alle zur selben Zeit in die Schule fuhren, übertönt wurde. Neben Aislinn saß ein Mädchen, das sich über seinen Sitz nach hinten gebeugt hatte und lauthals mit seiner Freundin tratschte. Der Oktober war ins Land gezogen. Die Bäume, die den Straßenrand säumten, hatten ihre Blätter bereits abgeworfen und standen gespenstisch im morgendlichen Dämmerlicht. Die Busfahrt zur neuen Schule dauerte gut eine halbe Stunde. Früher, als Aislinn noch bei ihren Eltern in Innsbruck gelebt hatte, brauchte sie nicht einmal zehn Minuten zur Schule. Was für ein Unterschied. Es kam ihr vor, als wäre das vor langer, langer Zeit gewesen. Tatsächlich war Aislinn aber erst vor drei Wochen nach Heiligenwald zu ihrer Großmutter gezogen. Der schreckliche Unfall ihrer Eltern hatte sich vor knapp fünf Wochen ereignet und doch war er für sie so weit weg.
Als der Bus schließlich in der Stadt anhielt, war Aislinn so tief in Gedanken versunken, dass sie beinahe vergaß auszusteigen. Erst als um sie herum alles zu wuseln begann, die meisten Schüler ihre Sitze verließen und zu den Ausstiegen drängten, löste sie sich aus ihrer Starre, schüttelte sich, schulterte ihren Rucksack und presste sich mit den anderen durch die offene Bustür. Ein tuschelnder Strom von Schülern bewegte sich von der Haltestelle weg, eine steile Straße hinauf. Die Geschäftslokale entlang des Wegs waren eben im Begriff ihre Schaufenster zu erleuchten und ihre Türen aufzuschließen. Auf halber Höhe der Straße befand sich ein mächtiges Gebäude. Ein roter, aufdringlicher Schriftzug sprach es beinahe wie eine Drohung aus: „Bundesrealgymnasium“.
Aislinn huschte in einer Traube von Mädchen durch die schweren Flügeltüren. An der Garderobe legte sie ihre Winterstiefel und ihre Felljacke ab. Die grauen, metallenen Kästchen, in denen die Schüler ihre Sachen verstauten, erweckten in ihr den Eindruck, aus einem Gefängnis oder sonst einer düsteren Anstalt entwendet worden zu sein. Als sie den Klassenraum betrat, war ihre Sitznachbarin bereits da und hatte die Unterlagen für die erste Stunde sorgfältig vor sich ausgebreitet. Sarah war immer eine der Ersten.
„Morgen“, sagte Aislinn teilnahmslos.
„Hi Aislinn“, entgegnete Sarah und lächelte ihr freundlich zu.
Es war jene Art von Lächeln, die zwar Höflichkeit, aber keine offene Wärme ausstrahlte.
„Sag mal, Aislinn, bei der Mathe-Hausübung ... hast du da das Ergebnis für die dritte Aufgabe? Ich bin ewig gesessen, aber ich hab es einfach nicht gerafft.“ Sarah verdrehte dabei die Augen.
„Ich hab die Hausübung noch gar nicht gemacht. Keine Zeit“, antwortete Aislinn – was eine glatte Lüge war. Sie hatte schlicht und einfach keine Lust gehabt und schob sämtliche Aufgaben bis zum letzten Drücker vor sich her. An sich war Aislinn immer eine gute Schülerin gewesen, besonders in ihren Lieblingsfächern Englisch und Biologie. Aber auch sonst hatte sie sich nie wirklich schwer getan im Unterricht. Der Umstieg in eine neue Schule, mitten im Semester, machte ihr jedoch zu schaffen. Obwohl der Lehrstoff, generell gesehen, sehr ähnlich war – schließlich hatte sie ja in Innsbruck auch ein Realgymnasium besucht – war es doch eine starke Umstellung. Neue Lehrer, andere Prüfungsmethoden, unterschiedliche Vorkenntnisse – alles Dinge, mit denen sie nun zu kämpfen hatte.
Was jedoch noch mehr auf ihr lastete, war ein Gefühl der Schwere, das sie seit dem Unfall ihrer Eltern begleitete und das sich nicht so einfach abschütteln ließ. Aislinn sank seufzend auf ihren Stuhl nieder.
Sarah hatte sich mittlerweile wieder ihren Unterlagen zugewandt. Sie war nicht sehr redselig, und Aislinn schätzte das sehr, denn meistens hatte sie auch gar keine Lust, sich über irgendwelche Belanglosigkeiten zu unterhalten. Überhaupt erschien ihr mittlerweile vieles ohne Bedeutung. Manchmal wunderte sie sich sogar darüber, welch völlig nebensächlichen Dingen sie in der Vergangenheit Beachtung geschenkt hatte. Es war seltsam, dass ihr das erst jetzt auffiel.
Psychologie, Philosophie und Pädagogik. Es hätte genauso gut Geographie sein können oder Bildnerische Erziehung. Der Unterricht spulte sich herunter wie ein langatmiger Film. Als ein Stapel weißer Blätter durch die Reihen der Schüler gereicht wurde, stöhnte Aislinn gequält auf. Wieder einmal ein Versuch, den Unterricht „lebendiger“ zu gestalten.
„... wurde von Hermann Rorschach erstellt, um die gesamte Persönlichkeit zu erfassen. Dabei bezieht sich die Auswertung auf fünf verschiedene Hauptaspekte ...“ Aislinn hörte nur mit einem Ohr zu, während sie sich ein Blatt vom Stapel nahm und diesen dann an Sarah weiterreichte.
„... das vorliegende Material soll nur als Demonstration dienen, in der Praxis werden natürlich spezielle Serien von Tintenklecks-Mustern angewandt ...“
Aislinn tropfte die indigoblaue Tinte gleichgültig in die Mitte des dicken, weißen Papierbogens und faltete anschließend das Blatt.
Ein Raunen und Gekicher ging durch die Klasse, als die Schüler ihre Blätter auseinander falteten. Aislinn inspizierte die verlaufene Tintenspur und versuchte darin etwas zu erkennen. Die feuchte Farbe glänzte dunkel im grellen Licht der Neonröhren, als sich das tiefe Blau in ein schimmerndes Grün verwandelte. Die Tinte trocknete unnatürlich schnell und hinterließ einen bröseligen Film auf dem Papier. Es hatte fast den Anschein, als wäre es die ledrige Haut eines Reptils, übersät mit kantigen Schuppen. Aislinn strengte ihre Augen an. Sie fuhr mit dem Finger über die Konturen und fühlte plötzlich ein Zucken, das durch ihren gesamten Körper fuhr.
„Was zur Hölle ist das bloß?“, fragte sie sich stumm. Und nach und nach erkannte sie den Umriss eines Kopfes. Es war der Kopf eines furchteinflößenden Ungeheuers, der ihr nun entgegenblickte. Aus seinem weit aufgerissenen Maul ragten bedrohlich spitze Reißzähne. Die Kreatur hatte mächtige Flügel, die mit unzähligen Stacheln besetzt waren.
Dann hatte Aislinn das Gefühl, von feurigen Augen angestarrt zu werden. Doch so furchterregend dieses Monster auch schien, sie spürte gleichzeitig eine groteske Faszination, die sie an das Untier band. Sie konnte es sich nicht erklären. Einerseits spürte sie Angst, andererseits fühlte es sich an wie ein Teil von ihr selbst. Doch was hatte sie zu tun mit Terror und Verderben? Welche Botschaft wollte sich ihr hier zu erkennen geben?
Erschrocken klappte Aislinn das Blatt zusammen und ließ es unter ihren Büchern verschwinden. Dann blickte sie verstört durch die Klasse.
Sie hielt Ausschau, ob sich irgendwo im Raum ein Geschöpf der Unterwelt eingeschlichen hatte. Doch Fehlanzeige. Und auch die Pforte zur Hölle blieb dieses Mal anscheinend geschlossen.
Aislinn fuhr mit der Hand über ihre Stirn und atmete tief durch.
„Haallooo? Jemand zuhause?“ – Sarah fächelte Aislinn mit ihrem Blatt von der Seite an.
„Ähhm ...“
„Könntest du meine Notizen jetzt mit der Liste vergleichen, Aislinn?“, riss Sarah sie mit einem Ruck in die Realität zurück.
„Oh ... natürlich“, stotterte Aislinn noch leicht irritiert und nahm Sarahs Blatt zur Hand.
„Und deine?“ Sarah blickte sie fragend an.
„Meine ...?“, zauderte Aislinn.
„Deine Notizen! Aislinn, ich möchte wirklich mal wissen, in welchem Elfenreich, oder wo auch immer, du gerade bist.“
„Ach, um ehrlich zu sein, ich konnte rein gar nichts in diesem Fleck erkennen. Anscheinend bin ich eine Person mit ziemlich wenig Fantasie“, entgegnete Aislinn selbstkritisch.
„Hmm, so wie du immer abdriftest, glaube ich, dass deine Fantasie schon sehr blühend ist. Sie aber mit anderen teilen zu wollen, ist halt eine andere Sache“, spielte Sarah den Ball zurück.
Aislinn konnte dem nichts mehr hinzufügen und machte sich an die Analyseliste, während ihre Sitznachbarin nur mehr mit den Schultern zuckte und sich kopfschüttelnd wieder in ihr Psychologie-Lehrbuch vertiefte.
Der restliche Unterricht verlief ziemlich ereignislos und Aislinn war erleichtert, als sie das Läuten um 13 Uhr endlich vom Schulalltag erlöste.
Zuhause angekommen, erwartete sie bereits ihr Lieblingsessen – Mohnnudeln. Als Aislinn noch ein Kind war, hätte sie allein von Mohnnudeln leben können. Da ihre Mutter, Shannon, keine Meisterin der österreichischen Küche war, blieb es einzig und allein Sache der Oma, Aislinns Appetit auf Mehlspeisen zu stillen. Und so war ein Besuch bei der Großmutter stets mit der Erwartung verbunden, einen Teller voll mit dieser dampfenden, süßen Köstlichkeit zu verputzen.
Doch heute stocherte Aislinn nur lustlos darin herum. Eine Zeit lang beobachtete die Großmutter schweigend ihre Enkelin, bis sie sich schließlich ein Herz fasste und bekümmert fragte: „Linn, hast du denn heute gar keinen Hunger? Normalerweise verschlingst du die Nudeln als hättest du drei Tage nichts gegessen.“
„Ich weiß nicht, Oma. Hab keinen Appetit. Ich bin den ganzen Tag schon total müde. Ich glaube ich sollte mich etwas hinlegen“, antwortete Aislinn und seufzte.
„Aber Aislinn, mein Kind, du musst doch etwas essen, sonst fällst du noch vom Fleisch!“
„Ich kann wirklich nicht, Oma. Ich ... ich kann nicht ...“, stammelte Aislinn.
„Naja, du hast sicher einen anstrengenden Schultag hinter dir. Ruh dich ein Weilchen aus, ich kann sie dir ja später wieder aufwärmen.“
Ihre Großmutter strich ihr sanft durchs Haar und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, ehe Aislinn auf ihr Zimmer verschwand.
Obwohl sich Oma größte Mühe gab, vor Aislinn Stärke zu beweisen, litt sie sehr unter dem Verlust ihres geliebten Sohnes und ihrer Schwiegertochter.
Vergangene Woche kam ihre Freundin Hermine zu Besuch. Gemeinsam bereiteten sie in der Küche Kaffee und Orangenkekse vor, als Aislinn unbemerkt vorbeihuschte. Dabei konnte sie ihre Oma in der Küche klagen hören.
„Weißt du, Hermi, dass ich mein einziges Kind verlieren muss, ist ein sehr schweres Schicksal, das mir der liebe Gott auferlegt hat. Zuerst der Toni und jetzt mein Hannes. Das ist schon grausam.“
Aber ihre Großmutter versuchte stark zu sein für das Einzige, was ihr nun geblieben war – ihre Enkelin Aislinn.
Den ganzen Nachmittag verbrachte Aislinn in einem Dämmerzustand, der alles andere als gemütlich war. Sie wälzte Gedanken, fiel in unruhigen Schlaf, erwachte, starrte an die Decke, schlief wieder ein und wachte wieder auf. Mehrere Male wiederholte sich dieser Zyklus, bis schließlich die Nacht angebrochen war und das Licht des Vollmondes gespenstische Schatten in ihr Zimmer warf.
Aislinn schluckte und machte einen Schritt auf dem wankenden Seil, das über einen weiten Abgrund gespannt war. Sie blickte nach unten, doch da war nichts zu erkennen außer einer undurchdringlichen Schwärze. Ihre Beine zitterten und das Seil schwankte gefährlich in alle Richtungen. Hinter sich hörte sie ein lautes Knistern, das sich plötzlich in ein bedrohliches Stampfen verwandelte. Ihr Verfolger lag ihr dicht auf den Fersen. Sie machte noch einen Schritt vorwärts. Ihr Herz hämmerte und schlug schmerzhaft gegen ihre Brust, als wollte es jeden Moment herausspringen. Dann verlor sie den Halt und stürzte in die Tiefe, in das schwarze Nichts. Sie schrie mit aller Kraft, doch die Dunkelheit, die sie nun umgab, war unglaublich dicht, fühlte sich fast lebendig an und verschluckte den Schall ihrer Stimme. Auf einmal hörte sie ein Geräusch, das rhythmisch auf und ab schwoll. Es klang wie das Schlagen mächtiger Schwingen. Ein Riesenvogel? Nein, ihr Verstand verwarf die Idee wieder. Ein Engel! Das musste es sein! Er holte sie nun, wie er ihre Eltern geholt hatte. Doch sie wollte noch nicht sterben! Das Flügelschlagen kam unaufhaltsam näher, hatte sie schon fast erreicht. Dann schrie sie erneut aus voller Kehle ...
Keuchend fuhr Aislinn in ihrem Bett auf. Ihre Decke war völlig nass geschwitzt. Ihr Herz raste. Es war immer wieder derselbe Albtraum, der sie in der Nacht aus dem Schlaf riss. Verstört stand sie auf und ging leise in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Auch wenn sich ihr Herz allmählich beruhigte, verflog die Angst, die ihr aus dem Traum heraus gefolgt war, nur sehr langsam.
Im nächsten Moment kam ihre Großmutter in die Küche. Sie hatte in der Regel einen leichten Schlaf und war von den Geräuschen geweckt worden.
„Hattest du schon wieder einen Albtraum, Linn?“ Die Großmutter tätschelte ihr auf die Schulter und Aislinn begann zu schluchzen.
„Oma ... ich ... ich weiß einfach nicht ... nicht mehr weiter. Ich ... ich kann einfach nicht mehr! Ich habe große Angst!“
Aislinn weinte und weinte und Großmutter schloss sie fest in ihre Arme. Schließlich brachte sie ihre erschöpfte Enkelin wieder zurück ins Bett und redete ihr beruhigend zu: „Versuch doch noch ein wenig zu schlafen, meine Kleine. Du brauchst morgen nicht in die Schule zu gehen, ich werde dich krank melden. Gut, Linni? Ruh dich jetzt erst einmal aus.“
Als Aislinn am nächsten Tag erwachte, war es beinahe schon Mittag. Schlaftrunken schlurfte sie in die Küche, wo ihr die Großmutter bereits ein kräftiges Frühstück aus Spiegeleiern, Speck und Schwarzbrot zubereitet hatte.
„Setz dich, meine Liebe!“, forderte sie das gähnende Mädchen auf. „Ein ordentliches Frühstück bringt dich sicher wieder auf Touren.“
Aislinn versuchte ein Lächeln aus sich heraus zu pressen. Immerhin gab sich ihre Oma wirklich Mühe.
„Hmmm“, begann die alte Dame dann, „da gibt es etwas, worüber ich mit dir reden muss.“
„Worüber willst du reden, Oma?“
„Nun ja, deine andere Großmutter, Aeryn, hat mich aus Irland angerufen.“
„Und?“, gab sich Aislinn betont desinteressiert. Man musste wissen, sie hatte zu ihrer irischen Linie so gut wie keinen Kontakt. Es störte sie auch nicht im Geringsten, dass es so war. Nicht, dass sie einander verfeindet gewesen wären, keineswegs, aber sie fühlte sich einfach mehr mit ihrer Oma in Heiligenwald verbunden – und nicht mit dem eigenartigen Clan auf der Grünen Insel.
„Aislinn, ich weiß, dass ihr nicht das innigste Verhältnis zueinander habt, aber Aeryn schien sehr dahinter zu sein, dich wiederzusehen. Auch sie hat der Verlust ihrer Tochter schwer getroffen und ich kann mir gut vorstellen, dass die Gefühle in ihr völlig durcheinandergebracht wurden. Ich weiß, wie eine Mutter sich in einer solchen Situation fühlen muss. Manchmal denkt man sich auch, man hätte sich in der Vergangenheit anders verhalten sollen und bedauert getroffene Entscheidungen.“
Aislinn blickte sie immer noch trotzig an.
Ihre Oma fuhr fort: „Aeryn wollte bereits beim Begräbnis mit dir reden, aber du warst damals nicht in der Verfassung, auch nur mit irgendjemandem zu sprechen. Gib ihr doch die Chance, dich zu sehen. Ich glaube auch, dass es für dich gut wäre, einmal von hier wegzukommen, etwas Anderes zu sehen, ein Tapetenwechsel – nur übers Wochenende.“
Aislinn überlegte. Die Sache mit dem Wegkommen hatte sie aufhorchen lassen. Sie hatte die hiesigen vier Wände tatsächlich schon völlig mit ihren Tränen getränkt und früher war sie doch auch gerne gereist, hatte sich gerne die Welt angesehen.
„Hmm, vielleicht hast du recht und ich komme unterwegs auf andere Gedanken“, entgegnete sie.
„Prima!“, klatschte die Großmutter in die Hände. „Ich werde Aeryn gleich Bescheid geben und mich um einen Flug kümmern. Und ich werde dir Geld mitgeben, damit du dir drüben auch etwas Neues zum Anziehen kaufen kannst. Es ist wirklich höchste Zeit, mal ein bisschen auf dein modisches Auftreten zu schauen.“
„Na, na, Oma, das sagst ausgerechnet du in diesem Blümchenkleid?“, konterte Aislinn schnippisch mit einem Augenzwinkern.
„Also ich darf das. Ich bin ja kein junges Reh mehr, mir pfeift keiner mehr nach.“
Aislinn musste kichern. „Na gut, Oma, dann darfst du deine Blumenwiese weiterhin tragen.“
Hanna nickte schmunzelnd: „Aber jetzt iss mal in Ruhe dein Frühstück. Ich kümmere mich um alles andere.“
Aislinn war sehr dankbar, dass ihre Großmutter sich so darum bemühte, ihre Enkelin auf andere Gedanken zu bringen, so froh über die Wärme und die kleinen Freuden, mit denen sie ihr stets aufwartete. Vielleicht war eine kurze Flucht jetzt genau das Richtige. Motiviert setzte sie sich an den Tisch und legte sich das Spiegelei auf ihr Brot. Und während sie zufrieden kaute, entwuchsen ihren Gedanken Bilder von grünem Gras, weidenden Kühen, rätselhaften Wegkreuzen und kleinen Kobolden.
In der Ankunftshalle des provinziellen Airports hatte sich eine kleine Traube wartender Menschen gebildet. Aislinn blickte in Gesichter, aus denen man Aufregung und Vorfreude herauslesen konnte. Als sie gemeinsam mit den anderen Fluggästen die Halle betrat, hellten sich die Mienen der Wartenden schlagartig auf und gaben mit einem freudigen Lächeln zu erkennen, wie groß die Wiedersehensfreude sein musste. Wiederum andere begannen den Ankommenden euphorisch zuzuwinken und konnten es kaum erwarten, einander in die Arme zu schließen.
Aislinn ließ ihren Blick über die Menge schweifen, als beobachte sie einen Horizont über dem Meer. Schlussendlich hielt sie bei einer Person an, die etwas abseits am Rande stand. Es war eine ältere Dame, schätzungsweise Mitte Sechzig, die einen langen, dunkelroten Mantel aus Samt trug, das Oberteil eng um den Körper geknöpft, was die zierliche Gestalt der Frau betonte. Ihre Füße steckten in schwarzen Schnürstiefeln, die eine Hommage an die Viktorianische Zeit zu sein schienen. Ihr weißes Haar verbarg sich unter einem dunklen Hut mit breiter Krempe. Nur eine einzelne, lange Strähne hatte sich befreit und hing lose in das betagte, aber dennoch zarte Gesicht. Sie musste in ihrer lang vergangenen Jugend eine wahre Schönheit gewesen sein.
Die schmalen, fein gezeichneten Lippen bogen sich nun zu einem Lächeln, vermochten allerdings nicht, die Aufmerksamkeit vom markantesten Detail ihres Gesichts abzuwenden: ihren Augen. Diese strahlten in einem faszinierend hellen Blau – Aquamarinen gleich.
Aeryn – rätselhaft, eigenartig und unnahbar. Schon seit ihrer Kindheit hatte Aislinn dieses Bild von ihrer Großmutter der mütterlichen Linie. Die paar Male, die sie einander tatsächlich begegnet waren, konnte sie an einer Hand abzählen. Umso mehr wunderte sich Aislinn, dass Aeryn seit dem Tod ihrer Eltern ganz erpicht darauf war, ihre Enkelin zu sehen. Schon mehrmals hatte sie in Heiligenwald angerufen, hatte nachgefragt, wann Aislinn denn nun endlich einmal nach Irland kommen würde. Hanna war immer schon die liebevolle, fürsorgliche Oma gewesen – genau so, wie man sich nun einmal eine Oma vorstellt. Aber Aeryn? Sie hatte sich bisher nie besonders für ihre Enkelin interessiert. Wieso dann auf einmal jetzt?
„Hallo Aeryn!“, begann Aislinn etwas unsicher das Gespräch. „Danke für die Einladung. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Ich ... ähm ... ich freue ... ähm ... ich bin froh, hier etwas Urlaub machen zu können – die letzte Zeit war für mich sehr anstrengend. Du weißt ja, das neue Zuhause, der Umstieg in eine andere Schule ... aber sonst geht es mir gut. Und dir?“
Was für ein bescheuerter Einstieg, dachte sich Aislinn sogleich. Zudem fand sie, dass ihr Englisch vielmehr wie das eines blutigen Anfängers klang, als wie ihre zweite Muttersprache. Doch bevor sie sich noch weiter darüber ärgern konnte, hob Aeryn schon ihre Hand und legte diese sanft auf Aislinns Wange. Die glasklaren Augen der alten Dame schienen das Mädchen zu durchdringen und jeden Zug an ihm zu studieren. Bis in die einzelnen Kammern seiner Seele schien dieser Blick durchzusickern, um dort alles zu erforschen.
„Ach Aislinn, es steckt viel von Sinann in dir ... viel von den Nightingales.“
Unerwartet stieg eine mächtige Welle des Zorns in Aislinn auf. Sollte sie nun etwa den Ersatz für ihre tote Mutter spielen?
„Ich bin ganz und gar nicht wie meine Mutter!“, wehrte sich Aislinn aufgebracht.
Aeryn musterte sie ruhig. „Ich wünschte nur, es wäre so. Das würde so vieles einfacher machen.“
Was sollte das denn nun wieder heißen? Langsam fragte sich Aislinn, ob diese Reise vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war. Sie schluckte die Wut, zu der sich nun auch eine Portion Verwirrung gemischt hatte, hinunter und versuchte ein Lächeln von sich zu geben. Doch es wirkte vor allem zwanghaft, man konnte es sehen. Dennoch ging ihre Strategie auf, denn Aeryn hörte nun auf, wie eine Sphinx in Rätseln zu reden. Sie wechselte auf ein weniger verfängliches Thema, ging auf das ewig nasse Wetter in Irland zu dieser Jahreszeit ein und fragte Aislinn über ihre Schule aus. Die Autofahrt zu Aeryns Haus auf dem Land dauerte beinahe zwei Stunden und währenddessen regnete es unentwegt. Einzig das satte Grün der irischen Wiesen, das am Autofenster wie ein Werbebanner vorbeizog, brachte Farbe in die graue Umgebung.
Aeryn schaffte es, das Gespräch mit wenigen, aber dafür aufmerksam eingestreuten Fragen in Gang zu halten. Sie verstand es, ihre Enkelin aus der Reserve zu locken, sodass Aislinn schon sehr bald wie aus dem Nähkästchen plauderte.
Als sie schließlich bei dem kleinen Cottage angekommen waren, war es bereits dunkel geworden. Das zweistöckige Landhaus, vor dem sie nun standen, war – wie auch seine Bewohnerin – etwas in die Jahre gekommen. Über die archaische Naturstein-Fassade rankten sich kräftige Efeu-Triebe bis hinauf zum Dach – wie ein schützendes Netz. Die hölzernen Stufen der Treppe, die in den zweiten Stock führte, knarrten unter Aislinns Gewicht. Wie viele tausende von Schritten hatten sie wohl schon über sich ergehen lassen müssen? Der einstmals weiße Verputz der Wände war mittlerweile grau geworden und zeigte an manchen Stellen beachtliche Risse in der dahinter liegenden Wand. Die Räume waren mit rustikalen Holzböden ausgelegt. Darauf lagen Teppiche, die vor langer Zeit in kräftigen Farben gestrahlt haben mussten. Über die Jahre hatten sie einen großen Teil ihrer Leuchtkraft allerdings eingebüßt und waren stellenweise so stark durchgewetzt, dass man die beigen Unterfasern hervor blitzen sah. Um die alten Holzfenster, deren abgelöste Farbe wie Schuppen auf die Fensterbretter gefallen war und über deren Glas sich ein milchiger Schleier gezogen hatte, hingen Vorhänge, die bestimmt schon seit einigen Jahrzehnten nicht mehr in Einrichtungskatalogen zu finden waren.
Vom offenen Kamin, der sich im Wohnzimmer befand, zog sich eine verrußte Spur den Abzug und die Wand darüber entlang. Daneben, in der Küche, stand eine klapprige Kredenz, die mit altem Porzellangeschirr gefüllt war. Abgeschlagene Stellen an den Tellerrändern ließen die Vermutung aufkommen, dass auch an ihnen der Zahn der Zeit genagt hatte.
Trotz all dieser Alterserscheinungen, war das Haus von einer liebevollen, heimeligen und zugleich mystischen Aura beseelt. Von der Decke rund um den Kamin baumelten dicke Bünde aus Wildkräutern, die hier zum Trocknen aufgehängt worden waren und einen intensiv-würzigen Duft verströmten. Zu diesem mischte sich das süße Aroma von Rosenblüten und Orangenschalen, die in kleinen Schälchen über alle Räume verteilt standen. Vor der Eingangstür bewegten sich mehrere Windspiele im Hauch der Luft und gaben dabei ein leises, meditatives Klingeln von sich.
Wer das Holz der Türinnenseite genauer inspizierte, konnte eine komplexe Abfolge von Symbolen erkennen, die irgendjemand irgendwann einmal hinein geritzt hatte – keltische Kreuze, ein Kessel und diverse Spiralen. Blüh- und Grünpflanzen zierten die Plätze vor den Fenstern, während cremefarbene, flauschige Schaffelle auf den hölzernen Stühlen zum kuscheligen Verweilen einluden. Blitzende Kristalle, ein Stück Eschenholz, Tarotkarten, die an eine Zigeuner-Wahrsagerin erinnerten, und eine beachtliche Sammlung an verschiedenen Musikinstrumenten lagen hier verteilt. Verspielte, bunte Landschaftsbilder, bestickte Zierkissen und mehrere Regale voller Bücher machten Aeryns Haus zu einem besonderen Ort, der einen detailverliebten Besucher stundenlang in seinen Bann ziehen konnte.
Aislinn durchstreifte neugierig jeden Raum. Obwohl sie als Kind schon einmal hier zu Besuch gewesen war, konnte sie sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern.
Aeryn bereitete unterdessen in der Küche das Abendessen vor. Bald schon stieg der Duft einer herzhaften Kürbiscremesuppe in Aislinns Nase und wenn sich ihr Geruchssinn nicht täuschte, war da auch noch ein frischer Apple-Crumble mit Zimt im Ofen.
„Essen ist fertig!“, rief Aeryn. Und Aislinn, die bereits einen knurrenden Magen hatte, huschte rasch in die Küche. Als beide bei Tisch saßen, war eine entspannte, angenehme Atmosphäre eingekehrt, die Aislinn den schlechten Start von vorhin auf dem Flughafen schnell vergessen ließ.
„Und du hast wirklich dreißig Jahre an derselben Schule unterrichtet?“, staunte Aislinn. Die Zahl kam ihr astronomisch hoch vor.
„Ja, so ist es. Dreißig lange Jahre Geschichte und Musik“, gab Aeryn lächelnd zur Antwort.
„Warum hast du uns eigentlich so gut wie nie in Österreich besucht?“ fragte Aislinn nun ihr Gegenüber. Sie konnte sich einfach nicht erklären, weshalb Aeryn nie sehr präsent in ihrem Leben war, wo doch Shannon ihre einzige Tochter war.
„Als Sinann deinen Vater kennenlernte und bei ihm eine zweite Heimat fand, war ich überglücklich. Ich freute mich für sie. Ich wollte, dass sie ihr eigenes Leben lebt, dass sie frei und glücklich ist. Ich wollte mich da nicht allzu sehr einmischen“, erklärte Aeryn den Umstand. Und während sie sprach, bogen sich ihre Schultern leicht nach vorne, als wäre in dem Moment ein schweres Gewicht auf ihren Rücken gelegt worden. Aislinn hatte das Gefühl, als würde die alte Dame etwas vor ihr verbergen wollen – ein Geheimnis, etwas, das sie nicht auszusprechen wagte. Aber aus irgendeinem Grund spürte das Mädchen nun auch, dass Aeryn es nicht bloß aus großmütterlicher Höflichkeit hierher eingeladen hatte. Nein, es steckte noch etwas anderes dahinter ...
„Hat Sinann dir etwas von deinen Wurzeln erzählt, von der Familie der Nightingales?“
Dass Aeryn den Namen ihrer Tochter in seiner ursprünglichen Form aussprach, verlieh ihm etwas Geheimnisumwittertes, etwas Mystisches.
Aislinn schüttelte ihren Kopf: „Nein, nur dass die Nightingales einer alten irischen Blutlinie entstammen, die einige Künstler und Musiker hervorgebracht hatte und dass du einen Hang zum Abergläubischen ...“ – Aislinn stockte, weil ihr sofort bewusst wurde, dass diese Aussage vielleicht zu dreist klang – „ich meinte ... hmm ... einen Hang zur volkstümlichen Tradition hast“, verbesserte sie sich räuspernd.
„Ja, ich bin eine alte, schrullige Lehrerin mit einer Vorliebe für irische Volksmärchen, die den Faerys Milch und Kekse vor die Türe stellt“, schmunzelte Aeryn, ehe sie weitersprach.
„Als ich deine Mutter zur Welt brachte, lebte ich zusammen mit deinem Großvater auf einer kleinen Insel vor der irischen Westküste. Wir waren Teil einer kleinen Dorfgemeinschaft, jeder kannte jeden, und die Nightingales hatten großes Ansehen auf dieser Insel. Sie waren nicht bloß begabte Musiker und Schriftsteller, sondern auch sehr gläubige Leute – nicht christlich, sondern dem ursprünglichen Glauben angehörend.“ Aeryn suchte einen Augenblick nach den richtigen Worten, dann setzte sie fort: „Tatsächlich waren die Nightingales Druiden.“
Der Wind pfiff nun wieder durch die Windspiele vor dem Haus und versetzte sie in eine zarte, melodiöse Klangwolke, wie als wollte er Aeryns Worten damit Dramatik verleihen. Forschend blickte die alte Dame ihre Enkelin an und suchte nach einer Reaktion auf ihre Worte. Als Aislinn merkte, dass Aeryn gespannt auf eine Antwort wartete, senkte sie ihren Blick und richtete ihn auf das Stück Apple-Crumble, das vor ihr auf dem Teller lag. Sie fühlte sich plötzlich stark unter Druck gesetzt und hatte wieder das Gefühl, als ob Aeryn ihr etwas Wichtiges mitteilen wollte. Aislinn spürte, dass sie ihre Worte jetzt mit Bedacht wählen musste.
„Das klingt spannend. Wie haben sie denn ihren Glauben gelebt? Was bedeutete es, dieser druidischen Tradition anzugehören?“, gab sich das Mädchen interessiert. Aislinns wissenschaftlich orientierter Geist rebellierte und wollte kritisch eine hitzige Diskussion über mangelnde Beweisbarkeit führen. Doch sie brachte ihn dazu, stumm zu bleiben. Etwas an Aeryn machte sie neugierig, obwohl sie nicht genau definieren konnte, was es war.
„Es bedeutet, die Welt mit etwas anderen Augen zu sehen, als es die meisten Menschen tun. Es bedeutet, die Sinne zu erweitern, um zu erkennen, was hinter dem Offensichtlichen liegt. Und es bedeutet, sich in dieser größeren Welt, die ihre eigenen Vorzüge wie auch Gefahren kennt, sicher zu bewegen.“
„Das ist mir zu abstrakt, zu philosophisch“, antwortete Aislinn unverblümt und ehrlich.
Aeryn lächelte milde, doch hinter ihrer Mimik verbarg sich etwas Schmerzvolles.
„Das wundert mich nicht. Deine Eltern waren begabte Wissenschaftler und zu einem gewissen Teil war es auch meine eigene Schuld, dass Sinann nie an unsere alte Tradition angeknüpft hatte. Wie solltest du es dann tun?“ Die alte Dame nippte an ihrer Teetasse, um ihre Stimme, die nun etwas heiser geworden war, zu ölen. „Ich möchte nicht mit dir über deine Überzeugungen streiten. Ich denke nur, dass ich vor langer Zeit einen Fehler begangen hatte und ich bitte dich, mir jetzt aufmerksam zuzuhören.“
Die Augen der alten Frau glänzten hypnotisch im Lichtschein der Kerze. Aislinns Herz klopfte schneller – sie hatte das Gefühl, dem Geheimnis ihrer Familie näher zu kommen.
„Cuchulain Nightingale war die Liebe meines Lebens. Er war ein so ungewöhnlicher und sensibler aber zugleich auch unheimlich starker Mann. In seiner Familie fand ich den Halt und die Liebe, die ich mir immer gewünscht hatte. Die Tradition der Familie war mir anfänglich zwar unheimlich und fremd, doch mit der Zeit konnte ich mich mit ihr anfreunden und bald wurde sie für mich wie eine zweite Natur. Es war, als ob meine Augen zuvor nicht scharf gesehen hätten, als wäre mein Blick trüb gewesen. Doch je mehr ich mich in diese Familie einlebte, desto mehr entdeckte ich diese magische Welt, deren Verständnis so ursprünglich und so natürlich war, dass ich mich wunderte, wieso ich das nicht schon früher für mich selbst erkannt hatte.“
Mit einem tiefen Seufzer senkte Aeryn ihre Augen und starrte auf den Tisch. Dann setzte sie fort: „Schließlich wurde Sinann, deine Mutter, geboren und mein junges Glück schien vollkommen. Doch schon wenige Monate nach der Geburt begannen mich albtraumhafte Visionen heimzusuchen. Wo ich zuvor noch helfende Geister und die fürsorglichen Kräfte der Natur wahrgenommen hatte, sah ich nun eine dunkle Bedrohung, die meine Tochter in Zukunft verfolgen würde.
Cuchulain versuchte mich zu beruhigen, redete mir zu, Vertrauen zu haben – Vertrauen in den Weg des Schicksals und in die Kraft unseres gemeinsamen Kindes. Doch wie kann eine Mutter ruhig bleiben, wenn sie ihre neugeborene Tochter in Gefahr sieht?“
Aeryns Stimme zitterte leicht. Sie nahm einen weiteren Schluck vom heißen Kräutertee. Aislinn hatte gebannt zugehört. Sie war fasziniert, was für eine unglaubliche Geschichte hinter der zurückhaltenden Großmutter aus Irland steckte.
„Ich fasste einen folgenschweren Entschluss. Ich würde mein Kind nicht diesen dunklen Mächten überlassen, die seine Zukunft bedrohten. Wenn die Nightingales ihre magischen Kämpfe austragen wollten, dann war das deren Sache – aber ohne meine Tochter! Sie sollte von dieser Last unbehelligt bleiben. Also verließ ich deinen Großvater und Inishbofin, unsere Insel, um mit Sinann hierher zu ziehen. Ich dachte, sie wäre damit weit weg von der Familienmagie und der unsichtbaren Bedrohung. Ich kappte jegliche Verbindung zu den Nightingales und war bis vor kurzer Zeit auch der festen Überzeugung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Obwohl ich den Mann, den ich so sehr liebte, verlassen musste, hatte ich doch meine einzige Tochter gerettet.“
Aeryns Stimme brach und die ansonsten so gefasste Frau verfiel in ein leises Schluchzen. Es hatte den Anschein, als hätte sie diese Geschichte noch niemals zuvor auch nur irgendwem erzählt, als würden diese Worte lange in ihr geschlummert haben, um nun, beladen mit der schweren Kraft alter Emotionen, endlich herauszubrechen.
„Du musst nicht weitererzählen“, versuchte Aislinn ihr Gegenüber zu beschwichtigen. Auch wenn sie nie eine besonders tiefe Bindung zu Aeryn aufbauen konnte, tat ihr die alte Dame leid. Letztendlich war sie doch ihre Großmutter und als sie nun mit ansehen musste, wie diese leise vor sich hin schluchzte, erwachte in ihr das Mitgefühl.
„Doch, Aislinn, ich muss dir diese Geschichte erzählen, denn ich habe viel zu lange geschwiegen ...“ Aeryn schluckte angestrengt, ehe sie wieder ihre Fassung erlangte. „Du musst wissen, vor dem Unfall deiner Eltern sah ich eine Banshee – eine Todesbotin. Von diesem Moment an wusste ich, dass Sinann nun doch wieder Gefahr drohte. Als ich sie anrief und ihr davon erzählte, versuchte sie mich zu beruhigen und schob es auf meine alten, leicht reizbaren Nerven, was ich selber auch nur zu gerne geglaubt hätte. Doch dann geschah der Unfall und ich erkannte, dass es ein Fehler gewesen war, dass ich damals mit Sinann davon gelaufen war. Ich hatte sie damit ihrer Wurzeln entrissen. Vielmehr hätte ich sie in dieser Tradition stärken müssen, um sie zu schützen. Sie war nun einmal in diese Familie hineingeboren worden und ich hätte mehr darauf vertrauen müssen, dass sie stark genug war, diese Herausforderung auch zu meistern.“
Aislinn hatte lange zugehört, ohne etwas zu sagen. Doch nun reichte ihr Verständnis nicht mehr weiter aus.
„Aber das könnte doch auch ein Zufall gewesen sein. Ich meine ... was hat dieser Unfall damit zu tun, dass du damals fortgegangen bist?“, warf sie zweifelnd ein.
„Einfach alles“, erwiderte Aeryn mit ernster Miene. „Ich erzähle dir das nicht, um mein Gewissen zu erleichtern. Und schon gar nicht, um dich mit der Vergangenheit zu belasten. Aislinn, ich erzähle dir das, weil auch du jenes Erbe der Nightingales in dir trägst! Ich habe Angst um dich, denn noch immer sehe ich diesen dunklen Schatten, der über unserer Linie schwebt. Und ich weiß jetzt, dass es der beste Schutz wäre, dieses Erbe auch anzunehmen, anstatt davor davonzulaufen. Ich erzähle dir das, weil ich der Überzeugung bin, dass es das Beste für dich wäre, dich so bald wie möglich mit den alten Traditionen vertraut zu machen – zu deinem eigenen Schutz!“
Die alte Dame schaute ihre Enkelin ernst und durchdringend an.
„Aber Aeryn“, stammelte Aislinn hilflos, „ich kann das alles nicht glauben, ich verstehe es einfach nicht! Was soll eine alte, druidische Linie mit einem zufälligen Autounfall in der Gegenwart zu tun haben? Ich meine ... das klingt einfach alles so ... wie soll ich sagen ... an den Haaren herbeigezogen. Dad meinte immer, dass der Glaube an etwas wichtig sei, egal ob Gott oder Wissenschaft. Und für mich ist Glaube etwas, was einem innerlich Kraft gibt, aber was bestimmt nichts mit so etwas Realem wie einem Unfall zu tun haben kann. Nur weil ich daran glaube, fällt ein Apfel auch nicht von unten nach oben – das wäre gegen die Schwerkraft.“
„Mrraaauuuu!“, machte es plötzlich.
Aislinn zuckte zusammen. Der Schatten einer mittelgroßen Katze huschte über das Fensterbrett vor dem Küchenfenster und gleich darauf starrten zwei grün leuchtende Augen durch die Glasscheibe ins Innere. Aeryn drehte sich um. „Sweeney! Wo bist du denn gewesen?“ Die alte Dame stand auf und ging zur Eingangstüre, um den nächtlichen Besucher herein zu lassen. „Mraaauu!“ Sweeney hatte langes, silbrig graues Haar und eine schwarze Nase. Im Vorbeigehen strich er mit seinem Fell über die Beine der alten Dame.
„Na, mein Freund? Kündigst du etwa die Toten an?“, fragte Aeryn die Katze. Sweeney schnurrte unvermittelt, gab aber keine hörbare Antwort.
„Und dass du, Aislinn, diesen Tag für deinen Besuch gewählt hast, ist auch ein merkwürdiger Zu-fall.“ – Aeryn sprach die Wortsilben seltsam getrennt aus, so als würde Aislinn eben etwas zugefallen sein.
„Komm, ich möchte dir zeigen, dass es Dinge gibt, die das Gesetz der Schwerkraft nicht erklären kann.“
Mit ihrem gekrümmten Zeigefinger deutete Aeryn ihrer Enkelin, dass sie ihr ins Wohnzimmer folgen solle. Aislinn erhob sich langsam, spürte aber einen inneren Widerstand in sich aufkeimen. Was wollte sie ihr zeigen? Was um Himmels Willen würde jetzt kommen?
Aeryn setzte sich an den Tisch im hinteren Teil des Wohnzimmers und zündete eine große, weiße Kerze an. Sie hielt ein winziges Stück Kohle in die Flamme und legte es dann in eine kleine, graue Steinschale. Mit ruhigen und sicheren Bewegungen streute sie verschiedene Kräuter und Salze auf die Kohle, die die Essenzen in einem rauchigen Schwall verglühen ließ. Sogleich zog sie ein kleines Foto von Shannon hervor und platzierte es in einer hohlen Kristall-Druse aus violettem Amethyst, die sie vor sich auf den Tisch gestellt hatte. Aislinn stand immer noch in der Tür und beobachtete misstrauisch das Treiben der alten Dame.
„Komm, setz dich!“, forderte Aeryn das Mädchen auf. „Heute begehen wir Samhain. Weißt du, was das bedeutet?“
Aislinn schüttelte den Kopf.
„Heute stehen die Tore zur Anderswelt weit offen und damit ist es besonders einfach, Kontakt mit den Toten aufzunehmen.“
Aislinn winkte ab: „Ähmm ... nein, Aeryn, ich glaube nicht an so etwas.“
„Nun, wenn der Apfel ohnehin nicht nach oben fallen kann, dann kann ja auch nichts passieren, außer dass du eine alte Frau hier vor einer Kerze sitzen und beten sehen wirst. Oder etwa nicht?“
Aislinn hatte dieser recht logisch erscheinenden Aussage nichts entgegenzusetzen. Wenn es ihr wichtig war, weshalb nicht? Oma ging auch zu Allerheiligen auf den Friedhof und betete.
„Was soll's?“, dachte sich Aislinn. „Dann tue ich ihr eben diesen Gefallen.“
Sie nahm Platz. Auch Sweeney gesellte sich bald dazu und sprang auf Aislinns Schoß, um es sich dort schnurrend gemütlich zu machen.
Aeryn schwenkte die Kristall-Druse durch den Rauch und murmelte dabei leise vor sich hin. Dann legte sie ihre Hände flach auf den Tisch und schloss ihre Augen. So saß sie nun eine halbe Ewigkeit völlig regungslos da.
„Aha“, dachte Aislinn, „spannend ... war es das jetzt ...?“
Nach einer Weile öffnete Aeryn wieder ihre Augen. Sie schaute Aislinn bestimmt an und lächelte dann zufrieden: „Sie ist hier.“
Aislinn runzelte die Stirn. „Wer ist hier?“
„Deine Mutter“, antwortete Aeryn und begann nun über das ganze Gesicht zu strahlen.
Aislinn schüttelte entnervt den Kopf. „Es tut mir leid, Aeryn, aber ich sehe niemanden und ich höre auch niemanden. Ich respektiere ja deinen Glauben und die alten Traditionen und all das, aber das geht mir jetzt zu weit.“
„Deine Tochter nimmt dich nicht wahr, Sinann. Bitte zeige dich ihr, damit auch sie dich erkennen kann“, sprach Aeryn, als wäre noch eine dritte Person in diesem Raum, die sich womöglich hinter dem Vorhang versteckte. Doch nichts geschah.
Aislinn seufzte. Die Situation erschien ihr immer lächerlicher. Sie hatte sich auf ein gemütliches Wochenende in Irland gefreut, vielleicht mit ein wenig Sightseeing oder einem schönen Spaziergang – aber nun saß sie da, in diesem uralten Haus, und schaute einer betagten Frau dabei zu, wie sie vermeintliche Geister beschwor.
Ihre Ungläubigkeit wurde schlagartig erschüttert, als die Flamme der weißen Kerze plötzlich hoch aufflackerte und den Raum stark erhellte. Mit einem dumpfen Knall flog ein dickes Buch mit schwerem Einband aus dem Bücherregal neben ihr auf den Boden. Aislinn erschrak. Sie starrte auf das Buch, das nun aufgeklappt auf dem Teppich lag. Sie wusste in diesem Augenblick nicht, was sie davon halten sollte, aber sofort setzte ihr scharfer Verstand ein: „Ist vermutlich nicht ganz reingeschoben worden und nun ...“
Plötzlich begannen die Seiten des Buches zu zittern und wie von einem kräftigen Luftstrom erfasst, flatterten sie bald hin und her, bis zu einer bestimmten Stelle, an der das Buch aufgeschlagen liegen blieb. Aislinn scheuchte die schlafende Katze, die sich von dem Ereignis in keinster Weise beeindrucken hatte lassen, von ihrem Schoß und stand auf. Sie beugte sich über das Buch und musterte es aufmerksam. Dann sah sie die Überschrift, die in fetten, schwarzen Lettern vom Kopf der Seite prangte: „Das Märchen von der Katze mit den schneeweißen Pfötchen“
Aislinn fuhr auf und sah Aeryn mit einem ungläubigen Blick an.
„Wie ... das ... das war mein Lieblingsmärchen, als ich noch klein war. Mum musste es mir wieder und wieder vorlesen“, stammelte sie.
Die alte Dame nickte milde und lächelte. „Ja, Aislinn, sie ist hier!“, wiederholte sie noch einmal ihre Worte von vorhin.
In Aislinns Kopf begann es zu rattern. Ihre Mutter? Hier? Ein Geist? Dann meldete sich wieder ihre Logik zu Wort. Vielleicht ein Trick? Aber weshalb sollte sich Aeryn so viel Mühe geben, Aislinn mit einer derartigen Finte von übernatürlichen Kräften zu überzeugen? Das ergab doch keinen Sinn. „Geister sind Unfug!“, schrie der Verstand in ihrem Kopf. „Die Alte ist vielleicht einfach nur verrückt!“
Aber was, wenn sie die Wahrheit sagte? Wenn ihre Mutter tatsächlich hier war und der Unfall gar kein Zufall war?
Vor Aislinns Augen begann alles im Zimmer zu verschwimmen. Ihr Körper begann heftig zu schwanken. Mit einer raschen Bewegung konnte sie sich gerade noch am Stuhl festhalten.
„Nein ...“, weigerte sich Aislinn dann vehement, „ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber eines weiß ich mit Sicherheit – dass es dafür eine ganz einfache und logische Erklärung gibt. Ich habe mir diesen Hokuspokus von dir angesehen und jetzt habe ich genug davon. Es fällt mir ohnehin schon schwer, den Tod von Mum und Dad zu akzeptieren und damit fertig zu werden. Aber eines ist gewiss: das hier“, bei den Worten deutete sie auf den Tisch, die Kerze und das Buch, „hilft mir dabei nicht weiter. Ich hatte gehofft, dass mich ein kurzer Urlaub hier ablenken könnte, aber nun bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass es wohl ein Fehler war, hierher zu kommen.“
Aislinns Stimme war kalt wie Eis. Mit strengem Blick sah sie Aeryn nun direkt in die strahlend blauen Augen. So unangenehm dieses verständnislose Starren auch war, die alte Frau wandte ihren Blick nicht von ihrem Gegenüber ab. Plötzlich wurde der Ausdruck in ihren Augen unendlich traurig.
„Es tut mir leid, Aislinn, es war dumm von mir, dir diese alten Geschichten zu erzählen.“
Aislinn hatte einen stahlharten Panzer um ihr Herz gelegt und die Trauer in Aeryns Augen vermochte nicht, ihn auch nur ein klitzekleines bisschen zu durchdringen.
„Es war vielleicht einfach der falsche Zeitpunkt, um uns näher kennenzulernen, Aeryn. Ich habe im Moment wirklich keinen Kopf für so etwas und ich denke, es wäre das Beste, wenn ich morgen wieder nachhause nach Heiligenwald fahre.“
Aeryn sah sie betroffen an, nickte aber schließlich. „Ich verstehe dich Aislinn, und ich respektiere deinen Entschluss, morgen wieder abzureisen. Es tut mir leid, dass ich dir das zugemutet habe“, antwortete sie entschuldigend.
„Ist schon gut“, erwiderte Aislinn, „ich werde mich jetzt ein wenig hinlegen. Es war ein langer Tag und ich bin schon sehr müde.“
Aeryn nickte wieder. „Ja, tu das. Bitte schlaf gut und mach dir keinen Kopf, es ist wirklich meine Schuld … einfach ganz allein meine Schuld.“
Und Aislinn verschwand die Stufen hinauf Richtung Schlafzimmer.
Eine kleine, hölzerne Schale, gefüllt mit Lavendel, Meersalz und kleinen Stückchen Zedernholz, stand auf dem Nachttisch und verströmte einen beruhigenden Duft im Zimmer. Der Kater Sweeney hatte sich am Fußende des Bettes zusammengerollt und schnurrte leise.
„Wenigstens dein Herz habe ich für mich gewonnen“, flüsterte Aislinn dem flauschigen Fellball leise zu. Sie wickelte sich fest in die warme Decke und lauschte dem Regen, der im sanften Rhythmus auf das Dach trommelte. Der erlösende Schlaf wollte jedoch nicht kommen. Ihre Gedanken kreisten um Aeryns Erzählung und die darauffolgende Séance. Sie konnte sich das alles nicht erklären. „Schluss jetzt!“, mahnte sie sich selbst. „Der Unfall ist einfach ein belastendes Ereignis, sowohl für Aeryn, als auch für mich. Und wenn dann zwei ganz unterschiedliche Weltbilder aufeinander prallen, kommt eben nichts Gutes dabei raus. Beim nächsten Mal werden wir einen besseren Start haben“, beruhigte sie sich innerlich. Kaum hatte sie das akzeptiert, entkrampfte sich ihr rasender Kopf wieder und es dauerte nicht lange, da war sie auch schon in das Land der Träume getaucht.
Das Frühstück am darauffolgenden Tag verlief ruhig und friedlich. Ebenso der Vormittag. Die Gespräche zwischen Aislinn und Aeryn plätscherten an der Oberfläche dahin, wie gesättigte Fischotter in einem See, doch beide spürten, dass der Konflikt des Vorabends noch schwer in der Luft hing – wie eine giftige Wolke. Aeryn hatte den vorzeitigen Rückflug für den späten Nachmittag arrangiert und obwohl Aislinn noch wütend auf Aeryn war, schätzte sie es doch, dass sie sie wie eine Erwachsene behandelte. Sie konnte auch wirklich froh darüber sein, dass sie ihre Entscheidung nicht hinterfragte, sondern schlicht und einfach respektierte.
Hanna war am Telefon anfangs sehr überrascht, als Aislinn ihre verfrühte Rückreise ankündigte. Das änderte sich jedoch ein wenig, nachdem ihre Enkelin ihr versichert hatte, dass nichts Schlimmes vorgefallen war, sondern, dass sie sich mit Aeryn einfach nicht so gut verstanden hatte. Hanna wusste selbst ganz gut, dass Aeryn eine höchst eigenartige Persönlichkeit war, mit der nicht jeder konnte.
Auf dem Flughafen standen sich die alte Dame und das Mädchen ein letztes Mal einander gegenüber.
„Aislinn, es ist schade, dass der Abend gestern so verlaufen ist. Ich hatte ehrlich nicht die Absicht, dich nach allem, was passiert war, so aufzuwühlen ... ich ... ich wollte nur ...“, Aeryn brach den Satz ab und probierte es mit einem neuen: „Ach, du sollst nur wissen, dass ich dich sehr lieb habe, so wie ich deine Mutter sehr geliebt habe. Hab eine gute Heimreise, pass gut auf dich auf ... und noch etwas – grüße Hanna ganz herzlich von mir!“ Diese Worte wurden von einem aufrichtigen und offenen Lächeln begleitet.
„Danke, Aeryn, werde ich machen. Und dir auch alles Gute.“
Aislinn bemühte sich um eine freundliche Miene. Letztendlich war sie aber heilfroh, als sie mit ihrem Gepäck endlich in den Boarding-Bereich verschwinden und diese angespannte Situation hinter sich lassen konnte. „Phew“, seufzte sie leise vor sich hin, „dieser Kurzurlaub hat mir mal nichts gebracht. Hoffentlich hab ich zumindest in Heiligenwald meinen Frieden.“
Sie zog ihren kleinen Handgepäck-Koffer hinter sich her und wurde bald verschluckt von einer brummenden, tuschelnden und kichernden Schlange aus Menschen, die geschäftig mit ihren Tickets fächelten.
Zurück blieb eine alte Frau in einem dunkelroten Samtmantel, die beunruhigt an einem ihrer Mantelknöpfe drehte und dabei nachdenklich in die Ferne starrte.
Finstere Nacht und herbstlicher Nebel hatten sich wie ein seidener Schleier über das Cottage gelegt. Rund um das Häuschen herrschte Totenstille und aus den angelaufenen Fenstern drang ein bewegtes Flackern von Kerzen, das tapfer gegen die Dunkelheit antanzte.
Drinnen saß Aeryn auf dem Holzboden. Sie hatte ihre Handflächen zusammengefaltet und verharrte regungslos. Ihre Augen waren geschlossen, während ihr Brustkorb sich langsam aber gleichmäßig auf und ab senkte, sich in einem Moment stattlich aufblähte, um dann im nächsten wieder tief in sich zusammenzufallen. Ihr Atem war schwer, aber umso kräftiger.
Daneben hatte es sich Sweeney auf der Couch gemütlich gemacht und schleckte scheinbar zufrieden über seine pelzigen Pfoten. Dass die alte Frau hier auf dem Boden kauerte, schien ihn nicht im Geringsten zu irritieren. Hin und wieder hielt er inne und starrte in die Ferne. Doch es dauerte nicht lange, da war er schon wieder völlig in seine Pfotenpflege vertieft.
Aeryn saß hier schon lange, doch plötzlich nickte sie mit dem Kopf, öffnete ihre Augen und richtete sich langsam auf. Sie steuerte auf das Kästchen neben der Couch zu, öffnete eine Lade und fischte schließlich ein kleines Glasfläschchen heraus, das mit einem Korken verschlossen war. Sie öffnete den Verschluss und begann behutsam, den Inhalt auf den Boden zu streuen. Ein weißlich-graues Pulver rieselte aus der Flasche. Es war Asche.
Sie zog einen Kreis, sorgfältig und dabei streng bedacht, nur ja nichts zu verschütten. Als sie schließlich fertig war, griff sie in eine andere Lade, wo sie vier Bündel aus getrockneten Kräutern hervorkramte. Aeryn platzierte die Bündel innerhalb des Kreises, sodass jedes in eine andere Himmelsrichtung zeigte. In die Mitte legte sie schließlich ein Foto von Aislinn. Als nun alles an seinem Platz war, hielt sie wieder kurz inne, ehe sie begann, etwas vor sich hin zu murmeln. Für den gemeinen Zuhörer dürften ihre Worte unverständlich gewesen sein. Wer allerdings mit dem keltischen Dialekt vertraut war, konnte vernehmen, dass sie spezielle Wächter anrief und um Schutz bat – nicht für sich, sondern für ihre Enkelin.
„Ihr erleuchteten Wesen der Anderswelt, ich rufe euch herbei, weil ich die Ankunft von Unheil spüre. Eine rohe, archaische Macht, die sich nicht zu erkennen geben möchte und stets im Schatten lauert, hat es auf die Nachkommenschaft der Nightingale-Linie abgesehen. Aislinn droht Gefahr. Deswegen bitte ich euch, mit unserer Welt in Verbindung zu treten und eure Energie dahingehend zu leiten, dass sie dem Auge des Bösen fern bleibt. Ein magischer Schutz, der sie verborgen macht, unsichtbar vor der finsteren Bedrohung. Darum bitte ich euch.“
Kaum hatte sie es fertig ausgesprochen, da erhellte sich plötzlich der Raum. Eine Kugel aus weißem Licht strahlte auf die alte Frau hernieder. Es war ein wohlig warmes Licht, sehr hell und sehr friedlich. Dennoch musste Aeryn ein wenig die Augen zusammenkneifen und auch Sweeney widmete nun seine volle Aufmerksamkeit diesem außergewöhnlichen Schauspiel. Es war ihm nicht ganz geheuer, aber er wusste, dass er nichts zu befürchten hatte. Die Kugel wurde eins mit dem Aschekreis und so schnell sie erschienen war, war sie auch schon wieder fort.
Zurück blieben eine zufrieden lächelnde alte Frau und ein erstarrter Kater mit stark geweiteten Pupillen.
„Mrau?“, blickte Sweeney Aeryn fragend an, ehe er sich wieder daran machte, weiter über seine Pfoten zu schlecken.
„Habt Dank, ihr Wesen der Anderswelt, für euer Erscheinen und für euren magischen Schutz. Ich vertraue euch das Schicksal meiner Enkelin an. Und nun entlasse ich euch wieder in eure Heimat“, verabschiedete sich die alte Frau, sammelte zuerst das Foto und dann die Kräuterbündel ein und kehrte schließlich auch den Aschekreis weg.
Gleich darauf setzte sie sich abermals auf den Boden, schloss ihre Augen und driftete erneut ab in einen Zustand der völligen Entrücktheit.
„Ihr wart nicht ganz auf derselben Wellenlänge, Aeryn und du, hmm?“
„Überhaupt nicht“, antwortete Aislinn ihrer Oma, während beide bei Kaffee und einem selbstgebackenen Marmorgugelhupf am Küchentisch saßen. Sie war gerade erst vom Innsbrucker Flughafen angekommen.
„Ach, Aeryn“, seufzte Hanna, „man konnte noch nie genau wissen, woran man bei ihr ist. Versteh mich nicht falsch, sie hat ein gutes Herz. Aber nichtsdestotrotz ist es schwierig, ihren rätselhaften Charakter zu deuten.“
„Hat meine Mum denn oft über Irland gesprochen?“, wollte Aislinn von ihrer Großmutter wissen.
„Hin und wieder. Man konnte immer erkennen, dass ihr Herz an diesem Land hing. Wie hätte es auch anders sein sollen? – Immerhin war das der Ort ihrer Geburt, ihre Heimat.“
Aislinn nickte.
„Da war es dann auch nicht weit hergeholt, dass sie dir einen irischen Namen gab. Weißt du eigentlich, was dein Name, Aislinn, bedeutet?“ fragte die Oma.
„Ja klar, Mum hat es mir mal gesagt. Es bedeutet Traum.“
Großmutters Blick schweifte gedankenverloren in die Ferne, so als blickte sie durch Aislinn hindurch.
„Genau, es bedeutet Traum. Ein wunderhübscher Name. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, an dem ich damals ins Krankenhaus gekommen bin und du schlummernd bei deiner Mutter im Bett gelegen bist. Und sie hat dann gesagt: ‚Sieh nur, das ist meine kleine Aislinn. Mein Gefühl sagt mir, dass sie eine besondere Begabung hat. Wenn sie träumt, kann sie die Grenze zwischen den Welten überschreiten.‘ Mein Kind, ich weiß, dass es für dich gerade alles andere als leicht ist, aber du darfst den Mut nicht verlieren! Es kommen wieder bessere Zeiten, das verspreche ich dir! Ich vermisse deine Eltern auch sehr. Shannon war ein richtiger Sonnenschein und Hannes, ja mein Hannes, war auch immer so ein herzensguter Junge. Versuche einfach weiterzumachen und irgendwann, du wirst sehen, scheint die Sonne dann auch wieder für dich.“ Ihre Großmutter lächelte sie an.
„Oma, ich verstehe einfach nicht warum. Ständig stelle ich mir die Frage, warum es gerade Mum und Dad passieren musste. Es fühlt sich einfach so falsch an. Ich habe das Gefühl, dass das alles ein einziger großer Fehler war, dass – wenn es ein Schicksal gibt – es einen Fehler gemacht haben muss. Ich meine ... ach, ich weiß es nicht, es stimmt einfach nicht ... es ist nicht richtig.“
Aislinn spielte mit ihrer Kaffeetasse. Ihre Großmutter hatte ihr aufmerksam zugehört.
„Manchmal passieren Dinge im Leben, da weiß man nicht auf Anhieb, was sie bedeuten – doch irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem sich der Sinn zu erkennen gibt. Manchmal kommt es aber auch vor, dass man es viel später noch immer nicht weiß. – Frage nicht nach dem Warum. Versuche weiterzumachen, und vielleicht erfährst du dann irgendwann später den Grund für alles. Aber die Antwort lässt sich auf keinen Fall erzwingen, Linn! Damit machst du es dir nur selbst schwerer.“
„Ich finde es einfach nur unglaublich ungerecht, Omi!“ entgegnete Aislinn nun etwas gereizt. „Warum haben manche Menschen ein langes Leben und nie passiert ihnen etwas Schlimmes, während es gleichzeitig andere unglaublich hart trifft? Es ist einfach ungerecht!“
Ihre Großmutter seufzte: „Man kann als Außenstehender nicht in andere hinein sehen. Wer weiß, wie sehr sie leiden, was sie – obwohl es äußerlich nicht den Anschein hat – mitmachen müssen oder mussten? Viele halten ihr Leid verborgen. Versuche dich nicht so sehr mit anderen zu vergleichen, Linn! Schau auf dich und versuche jetzt das Beste aus der Situation zu machen, gut?“
Aislinn verfiel in ein langes Schweigen. Die Gedanken in ihrem Kopf begannen sich langsam zu ordnen und ein Gefühl der Ruhe breitete sich aus.
„Na gut, ich werde mir deinen Rat zu Herzen nehmen, Omi.“
„Das freut mich, mein Mädchen!“ Die Oma zwinkerte ihr aufmunternd zu.
„So, jetzt muss ich aber ins Bett. Es ist schon spät und ich bin eine alte Frau, da brauch ich meinen Schlaf! Und du solltest es auch nicht den Vampiren gleichtun.“
Es folgte ein großmütterlicher Kniff in die Wange und Aislinn machte sich auf den Weg in ihr Zimmer. Im Gehen wandte sie sich noch einmal an ihre Großmutter: „Danke, Oma. Für deine Unterstützung. Für deinen Rat. Für alles!“
„Schon gut, mein Kind. Und jetzt schlaf gut.“
„Du auch, Oma!“
Das Gespräch mit der Großmutter konnte ihr etwas von der inneren Unruhe nehmen.
In den nächsten Tagen wich die bisherige Schwere einer vorübergehenden Leichtigkeit. Oft waren es nur kleine Fenster, die man einen winzigen Spalt öffnen musste, um eine neue Perspektive hinein zu lassen. Dann sah die einst so verfahrene Situation mit einem Mal ganz anders aus. Denn die Perspektive brachte Hoffnung mit sich, und diese zeigte sich meistens in einem neuen, schönen, manchmal aufregenden Gewand.
Leider war der innere Friede nur von kurzer Dauer. Schon bald spürte Aislinn wieder eine treibende Rastlosigkeit, die ihre Gedanken in jeder freien Minute besetzte. Manchmal hatte sie das Gefühl, als müsse sie nur lange genug über den Unfall ihrer Eltern nachdenken, um auf alles eine Antwort zu bekommen. Aber die Erleichterung, die Lösung, die ihrer Seele Frieden geben würde, wollte sich einfach nicht einstellen.
Auch wenn Aislinn nach ihrer kurzen Irland-Reise beschlossen hatte, die dort vorgefallenen Geschehnisse erst einmal in einen hinteren, verstaubten Winkel ihres Unterbewusstseins zu kehren, kamen diese wie auf magische Weise immer wieder zum Vorschein. „Sie ist hier ...“, hallte Aeryns Stimme durch ihre Erinnerung.
Eines Nachmittags saß Aislinn im Bett, ihr Notebook auf ihren Knien, und tippte „Inishbofin“ in die Suchmaschine. Das Internet spuckte ein paar Treffer aus, die auf den ersten Blick wenig spannend erschienen. Es fand sich nichts über die Nightingales, weder über Druiden noch über sonst irgendetwas „Magisches“, das in Zusammenhang mit der kleinen Insel stünde. „Wie ich befürchtet hatte“, seufzte Aislinn, während sie nun schon die dritte Seite der Suchergebnisse anklickte, als plötzlich ein Treffer genau das lieferte, was sie zwar nicht erwartet, aber insgeheim doch erhofft hatte ...
„... als ich mit meinem Gatten bei einem Spaziergang den weitläufigen Garten der Nightingales, einer der wohlhabendsten und einflussreichsten Familie der Insel, bewunderte, sah ich sie. Sie tanzten auf dem Wasserspiegel des weit angelegten Teichs. Und ich versichere Ihnen, das waren Feen! Wasserfeen. Sie waren sehr klein, keine vier Inches groß, und sie bewegten sich auf dem Wasser, als wäre es fester Boden. Ich sah sie als Erste und machte dann Finn, meinen Gatten, auf sie aufmerksam. Hätte nur ich sie gesehen, ich hätte es nicht geglaubt, aber da auch er sie wahrnehmen konnte, waren sie wohl nicht bloß nur Einbildung. Ich kramte sofort meine Kamera hervor und schoss einige Bilder. Wir ließen sie gleich nach dem Urlaub entwickeln. Leider aber war auf keinem einzigen der Fotos etwas zu erkennen. Auf mysteriöse Weise waren sie alle überbelichtet worden ...“
Aus einem Interview mit Mrs. O`Leary (Name geändert) über ihre Reise nach Inishbofin im Frühjahr 1988
Aislinn las sich den kurzen Text noch ein weiteres Mal durch und fuhr sich grübelnd durch das Haar. Der Auszug stammte aus dem Buch „Eire – Bräuche, Legenden, Magie“, geschrieben von einem gewissen Prof. Dr. James Westwood, einem irischen Folkloristen. Westwood war ein erfolgreicher Buchautor und hatte einen Doktortitel in Geschichte. Außerdem war er gebürtiger Ire.
Aislinn hatte nun seine Website ausfindig gemacht und musterte interessiert das Foto, das den Professor vor einer beeindruckend hohen Bücherwand zeigte.
Für einen 62-jährigen Akademiker war er ungewöhnlich leger gekleidet. Es waren nicht allein die Jeans, die er anhatte. Noch mehr ins Auge stach das bunte Hemd mit dem Paisley-Muster, das er unter einem braunen Cord-Sakko trug. Die Krönung war allerdings ein giftgrüner Schal, den er sich locker um den Hals geworfen hatte. Das war beinahe schon zu aufgelegt als Symbol seiner Heimatverbundenheit und veranlasste Aislinn unwillkürlich, für eine ganz kurze Zeit die Augen zusammenzukneifen. Ganz wegreißen konnte sie sich von dem Foto jedoch nicht so rasch. Deswegen bewunderte sie noch sein lockiges Haar, das von kräftig grauen Strähnen durchzogen war und in alle Richtungen abstand. Und mit seiner Nickelbrille schien er Sympathie für John Lennon oder Mahatma Gandhi bekunden zu wollen.
„Wenn ich ihn rein oberflächlich einschätzen müsste, würde ich sagen, dass er wohl in den Hippie-Siebzigern hängengeblieben sein muss“, dachte sich Aislinn grinsend. Doch sie fand es gut, dass er seinen ganz eigenen Stil auch im steifen universitären Betrieb beibehielt.
Gleich am darauffolgenden Tag zog es sie nach der Schule in die lokale Buchhandlung. Dort bestellte sie eine Ausgabe von „Eire“. Als sie jedoch ein paar Tage später das Buch endlich in Händen hielt und darin fieberhaft nach weiteren Hinweisen über Inishbofin suchte, machte sich Enttäuschung in ihrem Gesicht breit. Das Buch beinhaltete zwar viele zusammengetragene Berichte über ganz Irland, doch bis auf den kleinen Absatz, den sie bereits aus dem Netz kannte und einige demografische Eckdaten, war darin nicht viel mehr über die kleine Insel zu finden.
Ihren Recherchen nach, war Dr. Westwood allerdings die einzige Quelle, die überhaupt auch nur irgendetwas über Inishbofin und speziell die Nightingales geschrieben hatte. Sie musste also herausfinden, ob er noch mehr wusste. Und im nächsten Moment stolperte sie in der Rubrik „Aktuelles“ über folgende Information: „Mystisches Keltentum, Vortrag von Dr. James Westwood, Freitag, 18.11.2011, 20:00 Uhr, Auditorium Maximum der Universität Wien“
„Volltreffer!“, schrie Aislinn erfreut auf. „Das nenne ich aber ein Glück, dass er gerade jetzt mit einer Vortragsreihe durch die europäischen Hauptstädte tourte!“
Sie notierte sich den Termin und klappte dann zufrieden ihr Notebook zu. Dann wanderte ihr Blick zum gerahmten Bild ihrer Eltern, das auf ihrem Nachtkästchen stand. „Wenn ich nur gewusst hätte, wie wenig Zeit uns noch bleiben würde, Mum. Ich hätte noch so viele Fragen an dich gehabt.“
Ein bedrückendes Gefühl breitete sich in Aislinns Brust aus und machte es ihr schwer Luft zu holen. Bevor dieser Druck aber vollends von ihr Besitz ergreifen konnte, atmete sie kräftig aus und zwang sich ruckartig, nicht länger auf das Bild zu starren.
„Ich bin sehr gespannt, was Sie mir sagen können, Dr. Westwood“, sprach sie zu sich selbst. „Hatte meine irische Großmutter zu viel vom falschen Räucherwerk eingeatmet? Oder ist tatsächlich etwas dran an der Geschichte von Inishbofin?“
Bis zu dem Vortrag musste sie sich allerdings noch gedulden. Dr. Westwood würde erst in acht Tagen in Wien sein. Und obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte und sie spürte, dass es ihr an Energie fehlte, entschied sie sich, sich doch einmal um die schulischen Verpflichtungen zu kümmern. Denn wenn sie auf die Stimme ihrer Vernunft hörte, musste sie erkennen, dass es wohl das Beste war, sich im Moment mit Mathematik und Physik und all den anderen Problemfächern auseinanderzusetzen, wenn sie das Schuljahr nicht wiederholen wollte. Aislinn hatte sich in der Schule zwar nie richtig schwer getan, aber sie war realistisch genug, um sich selbst einzugestehen, dass an ihr kein verkanntes akademisches Genie verloren gegangen war.
Die Zugfahrt nach Wien zog sich dahin und dauerte gefühlsmäßig beinahe eine halbe Ewigkeit. Wie so oft hatte die Zeit die seltsame Eigenschaft angenommen, sich zu dehnen, wenn man sich ihren raschen Ablauf herbeisehnte. Umso aufregender gestaltete sich die Fahrt vom Bahnhof zur Hauptuniversität. Straßenbahnen, Busse und Autos verstopften die Verkehrswege der Großstadt. Reklamen und Lichter tauchten die Straßen in hellen Schein, und Weihnachtsmärkte ergänzten mit vielen bunt erleuchteten Hütten das geschäftige Bild der Stadt. Im direkten Vergleich mit Wien wirkte Innsbruck wie ein kleines Dorf. Beinahe hätte Aislinn ihre Station verpasst, so überwältigt war sie von all den neuen Eindrücken, die nun geballt auf sie einwirkten.
Als sie endlich im riesigen, gut besuchten Hörsaal angekommen war, konnte sie gerade noch einen Platz in den hinteren Reihen ergattern, von wo aus sie dann ungeduldig wartete, bis Dr. Westwood endlich das Podium erklomm. Kurz nach 20:00 Uhr war es dann soweit. Der Professor entführte sie in eine lang vergangene Epoche, in eine Zeit bevor noch das Christentum über Europa hinweg gefegt war und bevor die Legionen Cäsars ihre gierigen Hände Richtung Norden ausgestreckt hatten. Dr. Westwood hatte eine ganz besondere Art vorzutragen. Mal klang es so, als würde er eine Geschichte, die ihm sein Nachbar erzählt hatte, direkt weitererzählen, dann wiederum untermauerte er Mythen und Theorien mit knallharten Fakten, die selbst einen hartgesottenen Naturwissenschaftler ins Wanken bringen konnten. Die Mischung aus Logik, direkten Erfahrungswerten und erzählerischer Leidenschaft rückte das Keltentum während der anderthalb Stunden, die der Vortrag dauerte, in ein neues Licht, dem man sich nicht so leicht entziehen konnte. Dennoch fieberte Aislinn dem Ende seiner Ausführungen entgegen, hatte sie doch geplant, ihn noch im Hörsaal abzupassen und in ein Gespräch über die Nightingales zu verwickeln.
Schließlich und endlich fand der Vortrag ein Ende, das von tosendem Applaus begleitet wurde. Wie auf ein Zeichen kämpfte sich Aislinn vor zum Rednerpult.
„Dr. Westwood!“, sprach sie ihn aufgeregt an. „Dr. Westwood, entschuldigen Sie bitte!“
Der Professor blickte auf, während er seine Unterlagen zusammensammelte. „Wie kann ich Ihnen helfen, junge Dame?“, fragte er freundlich. Seine dunklen Augen strahlten lebhaft, schienen noch beseelt vom Thema des Vortrags zu sein. Statt einer Antwort legte sie das dicke Buch „Eire“ vor ihn auf das Pult und schlug es dort auf, wo sie zuvor ein Lesezeichen zwischen die Seiten geklemmt hatte. „Ich habe Ihr Buch gelesen und wollte Sie fragen, ob Sie noch mehr Informationen über diese Insel, Inishbofin, und die Familie der Nightingales in Erfahrung bringen konnten? Viel steht über sie ja nicht drinnen.“ Aislinn tippte mit ihrem Finger auf die Seite.
Dr. Westwood schien verwundert. „Inishbofin“, sagte er ehrfürchtig und nachdenklich. „Also, ich denke, ich habe noch einige Unterlagen über die mysteriöse Insel, weitere Reiseberichte, einige Zeitungsausschnitte – alles Material, das ich aufgrund des Umfangs nicht in die Endversion des Buches aufgenommen hatte.“ Sein Blick blieb fragend. Ganz offensichtlich wollte er den Grund ihrer Neugier erfahren. „Verzeihen Sie“, entschuldigte sich Aislinn, dass sie sich noch nicht bei ihm vorgestellt hatte. „Mein Name ist Aislinn, Aislinn Katz–Nightingale. Ich bin eine direkte Nachfahre des Nightingale-Clans aus Inishbofin.“
Westwood runzelte die Stirn und rückte seine Brille zurecht. „Also der Reisebericht stammt von einer Dame, die ich damals dazu interviewt hatte. Ich erhebe keinerlei Anspruch auf die Richtigkeit der Aussagen, die sie ...“
„Nein, nein“, unterbrach ihn Aislinn prompt, „Sie verstehen mich falsch, ich bin nicht hier, um den Inhalt ihres Buches in Frage zu stellen. Ich bin hier, weil ich ein bisschen Ahnenforschung betreiben möchte. Meine Mutter wurde in Inishbofin geboren, und meine Großmutter lebte dort auch einmal. Aber ich kam hier in Österreich auf die Welt und wuchs hier auf. Ich habe nur wenig ... eigentlich gar keinen Kontakt zu den Wurzeln der mütterlichen Seite.“ Während sie versuchte sich zu erklären, dachte sie darüber nach, wie lächerlich ihm das Ganze erscheinen musste. Aber hätte sie ihm sagen sollen, dass sie sich nicht ganz sicher war, ob ihre Großmutter, Aeryn, nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte? Und dass sie deswegen auf der Suche war nach objektiven Ansätzen Außenstehender, welche die Mythen über Inishbofin erklären konnten? „Nun, es gibt keine Verbindung mehr zu meinen Vorfahren auf der Insel, aber als ich Ihr Buch gelesen hatte, fand ich den Auszug sehr spannend und schürte die Hoffnung, dass Sie vielleicht noch ein wenig mehr Informationen über die Insel und über die Nightingales hätten“, fuhr Aislinn fort und beobachtete erleichtert, dass sich der Funke des Misstrauens in seinem Blick wieder verflüchtigt hatte und der zuvor dagewesenen Begeisterung Platz machte.
„Die Mythen um Inishbofin sind unglaublich faszinierend. Auffällig ist, dass sich die Augenzeugenberichte jener Personen, die dort Übernatürliches gesehen haben wollen, alle sehr gleichen“, erklärte Westwood, während er seine Unterlagen in eine unhandliche, zerschlissene Ledertasche stopfte. „Die meisten Menschen berichten von kleinen Feen, oder elfenartigen Wesen, zu Wasser oder in der Luft, manche beflügelt, manche ohne Flügel. Eigenartigerweise traten sie sehr häufig in der Nähe des Nightingale-Anwesens in Erscheinung.“
„Es gab noch mehr Berichte?“, fragte Aislinn überrascht.
„Es gab ein paar, ja. Und alle standen sie immer in Verbindung mit den Nightingales. Im Zuge meiner Recherchen hatte ich seinerzeit sogar versucht, ein Interview mit Cuchulain Nightingale, dem Oberhaupt der Familie, zu bekommen. Nur leider lehnte er mein Ansuchen mehrmals ab.“ Westwood seufzte.
„Cuchulain ...“, wiederholte Aislinn den Namen in ihren Gedanken. Ein Kribbeln lief ihr über den Rücken und stellte ihr die Nackenhaare auf. Cuchulain – das war ihr Großvater, Aeryns Mann ...
„Auf der Insel hatte ich in Erfahrung bringen können, dass die Nightingales schon seit vielen Generationen archaische traditionelle Riten durchführten und innerhalb der Familie weitergaben. Nur, wie gesagt, zu der Familie selbst konnte ich keinen Kontakt aufbauen, und die restlichen Bewohner von Inishbofin waren, so wie es Inselbewohner nun einmal oft sind, ziemlich zugeknöpft. Sie wollten nicht zu viel preisgeben und zogen es vor zu schweigen. Eine ältere Dame berichtete mir einst, dass ihr Sohn an einer schweren Gehirnhautentzündung erkrankt war und dass die See an jenen Tagen viel zu unruhig war, um auf das Festland überzusetzen, wo man ihn in ein ordentliches Krankenhaus hätte bringen können. In ihrer tiefen Verzweiflung brachte sie den Siebenjährigen zum Anwesen der Nightingales. Sie schwor mir, dass ihr Sohn es der Familie zu verdanken hat, noch am Leben zu sein. Aber natürlich sind solche Geschichten schwer zu verifizieren. Fakt ist jedoch, dass die Nightingale-Familie auf Inishbofin hohes Ansehen genoss und dass sie die altirischen Traditionen pflegten“, schloss Dr. Westwood seine Erzählung.
„Das ist eine spannende Geschichte. Denken Sie, dass etwas dran ist an diesen Stories?“
Der Professor zuckte mit den Schultern. „So etwas ist schwer zu beantworten. Seit zwanzig Jahren erforsche ich nun schon diese alten Traditionen. Und glauben Sie mir, manchmal habe ich Dinge gesehen und erlebt, die ich mir beim besten Willen nicht erklären konnte.“
Aislinn musste nun an das Buch denken, das in Aeryns Haus vor ihr auf dem Boden gelegen hatte und dessen Seiten plötzlich wie von Geisterhand durchgeblättert wurden. „Was für Dinge?“, platzte die Neugier aus ihr heraus.
„Dinge, die es nach unserer derzeitigen wissenschaftlichen Lehrmeinung eigentlich gar nicht geben dürfte“, antwortete Westwood. „Aber hören Sie, junge Dame, es ist schon relativ spät. Morgen früh muss ich nach Berlin weiterfliegen. So gerne ich dieses Gespräch auch fortsetzen möchte, ich muss mich nun leider von Ihnen verabschieden.“
Ihre Enttäuschung stand Aislinn ins Gesicht geschrieben. Sie nickte und ließ ihre Schultern hängen. „Selbstverständlich, Dr. Westwood, ich möchte Sie nicht weiter aufhalten“, zwang sie sich dennoch zu einer höflichen Antwort.
Dem Professor entging das natürlich nicht, und er ließ sich erweichen. „Schreiben Sie mir doch eine Nachricht per E-Mail. Dann werde ich Ihnen Kopien von meinen Recherchen über Inishbofin zukommen lassen.“
„Das würden Sie wirklich tun? Das wäre großartig!“, strahlte das Mädchen.
Westwood nickte gutmütig. Mit einem festen Händedruck verabschiedete er sich bei seiner Zuhörerin. „Machen Sie es gut, Frau Katz-Nightingale! Auf Wiedersehen.“
„Danke, Herr Dr. Westwood, vielen Dank! Ich werde Ihnen schreiben.“
Der Professor verschwand seitlich durch den Bühnenausgang und ließ seine Zuhörerin, versunken in einer raunenden Menge, zurück.
Wieder in Heiligenwald, machte sich Aislinn sofort daran, die Nachricht an Dr. Westwood zu verfassen. Große Erwartungen steckten in ihr. Ihre Hoffnung, das Verlusttrauma durch nähere Beschäftigung mit der Familienlinie auflösen zu können, war groß und motivierte sie zu schnellem Handeln. Doch nachdem sie die E-Mail abgeschickt hatte, hieß es für sie erst einmal warten. Das erschien ihr äußerst unangenehm, aber sie konnte daran eben nichts ändern. Nun lag es an Professor Westwood, sein Wissen mit ihr zu teilen. Und Professoren waren in der Regel sehr beschäftigt.
Je länger Aislinn wartete, desto mehr geriet die Aufbruchsstimmung wieder in Vergessenheit und machte Platz für die altgewohnten Gedanken. Bald schon hatte sie die Depression wieder eingeholt und hielt sie auf dem Boden fest wie ein kräftiger Ringkämpfer, der kein Erbarmen mit seinem Gegner hatte.
Die Wochen vergingen, und langsam fiel der erste Schnee. Klirrende Kälte setzte ein und lockte die Menschen zurück in ihre warmen Stuben. Die stille Zeit zog ins Land. Tannenkränze wurden vor die Türen gehängt. Lichterketten ließen beleuchtete Rentiere und Engel auf den Fensterbrettern tänzeln. Ein Duft von Zimt, gebratenen Äpfeln und Lebkuchen lag in der Luft. Wieder einmal stand Weihnachten vor der Tür.
Eine Woche vor dem großen Fest hatte Großmutter einen wunderschönen Christbaum besorgt und ihn als Überraschung für Aislinn schon im Wohnzimmer aufgestellt. Als Aislinn von der Schule heimkam, präsentierte die Oma stolz den Baum.
„Wir können ihn gemeinsam aufputzen, Linni! Ist er nicht prächtig?“
Doch durch Aislinns Kopf schossen nur schmerzhafte Erinnerungen. Ihre Mutter, wie sie sorgfältig die glitzernden Kugeln aufhängte. Ihr Vater, der fröhlich ein Duett mit Bing Crosby zum Besten gab. „Iiii'm dreaming of a whiiite Christmaaas ...“. Aislinn schluckte, dann drehte sie sich um und rannte, ohne ein Wort zu sagen, auf ihr Zimmer. Sie warf sich in ihr Bett und vergrub ihr Gesicht in ihrem Kopfpolster. Am liebsten hätte sie vor Zorn und Verzweiflung lauthals aufgeschrien: „Warum? Waaruumm nur?“
Tränen kullerten über ihre Wangen, vermochten jedoch nicht, die Trauer, die sich in ihr festgesaugt hatte, herauszuwaschen. Mehrere Stunden lag sie da und starrte in die Leere. Sie wartete bis sich der drückende Schmerz allmählich lockerte, lauschte ihrem Atem und dem rhythmischen Ticken der Wanduhr, die über ihrem Bett hing. Irgendwann, sie wusste nicht genau wie viel Zeit tatsächlich vergangen war, stand sie wieder auf, verließ ihr Zimmer und gesellte sich zu ihrer Großmutter ins Wohnzimmer. Diese war in ihrem schweren Ohrensessel versunken und las in einer Zeitung.
„Tut mir leid, das von vorhin“, sagte Aislinn dumpf.
Ihre Oma legte die Zeitung weg und blickte sie mitfühlend an. „Ist schon in Ordnung, Mädchen, schon in Ordnung.“
Großmutter hatte eine endlose Geduld. Nie verlor sie die Nerven, auch wenn sich ihre Enkelin oft unmöglich benahm.
Aislinn bereute ihre Vergangenheit. Wenn sie doch nur gewusst hätte, wie wenig Zeit ihr mit ihren Eltern noch vergönnt war. Die Gedanken drehten sich ständig im Kreis. Gefühle von Zorn, Verzweiflung, Schmerz und Schuld wechselten sich pausenlos ab. Weihnachten, das Fest der Liebe, war für sie in diesem Jahr eine Zeit, in der sie innerlich durch die Hölle ging.
Sie spürte, wie sich in ihr eine riesige Lücke auftat. Ein Loch in ihrem Herzen, das sie nicht zu schließen vermochte. Eine Leere in ihr, die ihre Eltern hinterlassen hatten. Das erste Weihnachten alleine. Oft weinte sie sich in den Schlaf, weil sie nicht anders konnte. Sie vermisste ihre Mum und ihren Dad einfach so sehr, dass nichts auf dieser Welt sie trösten konnte. Aislinn quälte sich durch die Tage. Einer erschien ihr so sinnlos wie der andere. Am liebsten wäre sie morgens gar nicht mehr aufgestanden.
Als die Weihnachtsferien vorüber waren, freute sie sich schon auf die Schule. Sie wollte sich nicht mehr mit dem Tod ihrer Eltern beschäftigen, sie wollte sich ganz anderen Dingen zuwenden.
Sie stürzte sich also in die neuen Aufgaben, die ihr die Schule nun auferlegte. Sie lernte, um nicht nachdenken zu müssen, sie lernte, um nicht fühlen zu müssen. All das tat sie, um dieser schrecklichen Qual, die in ihrem Inneren entflammt war, zu entfliehen.
Aislinn trug eine Maske der Gleichgültigkeit. Wegen ihrer verschlossenen Art hatte sie in der Schule noch keine neuen Freunde finden können, obwohl sie nun schon seit mehreren Monaten das Bundesrealgymnasium in Nestritz besuchte. Mit Sarah, ihrer Sitznachbarin, kam sie gut aus. Aber das war es auch schon wieder.
Vielleicht wäre Sarah eine gute Freundin geworden, doch Aislinn blieb distanziert und Sarah war nicht die Art Mensch, die aktiv nach einer Bindung suchte, wenn sie sich nicht von selbst ergab. So pflegten sie oberflächliche Gespräche über den Unterricht und die Lehrer, doch hatten sie in ihrer Freizeit noch nie etwas gemeinsam unternommen.
Auch vor ihrer Großmutter zog Aislinn sich immer mehr zurück. Wenn die Oma sie fragte, ob sie gemeinsam einkaufen gehen oder ob sie mal wieder einen Sonntagnachmittag zu einem Kaffeeklatsch-Nachmittag machen, lehnte Aislinn meistens ab.
Eines Tages kam doch noch eine Nachricht von Prof. Westwood eingetrudelt. Aislinn hatte schon gar nicht mehr damit gerechnet, dass er ihr noch zurückschreiben würde. Umso aufgeregter war sie, als sie die E-Mail öffnete. „Sehr geehrte Frau Katz-Nightingale“, las sie. „Bitte verzeihen sie mir die verspätete Antwort. Die Vortragsreise hat meinen Zeitplan gehörig durcheinandergebracht. Nichtsdestotrotz sende ich Ihnen hiermit die gewünschten Informationen, die ich über Inishbofin und die Nightingales zusammentragen konnte. Mit besten Grüßen, James Westwood.“
Dr. Westwood hatte ein paar schriftliche Dokumente und Zeitungsartikel in den Anhang gelegt, durch die Aislinn sich nun neugierig klickte.
„Der Leuchtturm, der keiner war“, titelte einer der Zeitungsausschnitte aus dem Jahr 1907. Aislinn las den Artikel weiter. Eine gewisse Sensationslüsternheit war aus den Zeilen zu lesen:
„Ein Jahrhundertsturm und haushohe, schiffsmordende Wellen, – das wurde einer Fähre vor der Westküste Irlands mit 58 Menschen an Bord beinahe zum tödlichen Verhängnis. Die See zeigte sich von einer außergewöhnlich rauen Seite an diesem unheilvollen Abend des 22. Oktobers 1907. Man konnte Neptun in rasender Wut wähnen. Dennoch folgte die Fähre vor der Westküste Irlands dem Kurs ins Verderben. Die Besatzung war von der Wetterlage vollends überrascht worden. Als das Schiff zu allem Unglück auch noch in eine dichte Nebelwand geriet, schien die eisige Hand Gevatter Tods bereits in greifbarer Nähe. Die Fähre befand sich kurz vor der kleinen Insel Inishbofin, die in dieser Nacht ein völliges Opfer des Nebels geworden war. Niemand nahm davon Kenntnis, in welch todbringender Falle man sich bereits befand. Denn heimtückische Felsen säumten den Meeresring rund um das Eiland. Selbst ansässige erfahrene Seemänner hätten sich in jener Nacht nicht aufs Meer gewagt.
Doch plötzlich tauchte wie aus dem Nichts ein gleißend heller Lichtkegel auf, der die Nebelsuppe durchschnitt. Das langgezogene Riff, das sich vor ihnen befand, rückte endlich in des Kapitäns Blickfeld und veranlasste ihn augenblicklich dazu, den Kurs zu ändern. Im letzten Moment hatte die Lichterscheinung immenses menschliches Leid abgewendet.
Der Ursprung des mysteriösen Lichts, blieb jedoch im Verborgenen. Denn über einen Leuchtturm verfügte die Insel nicht. Lokale Augenzeugen wollen leuchtende Gestalten auf der höchsten Klippe Inishbofins gesehen haben, die wild durcheinander tanzten.
Aus dem Galway Daily Chronicle, 24. Oktober 1907
Die Informationen, die Dr. Westwood ihr geschickt hatte, waren zwar spannend zu lesen, und Aislinn ging sie auch alle sorgfältig durch, dennoch fühlte sie mit einem Mal, dass ihr all die Beschäftigung mit der Vergangenheit ihre Mutter nicht zurückbringen würde. Sie konnte sich noch so viel über Inishbofin und die Nightingales weiterbilden, doch im Grunde änderte das nichts an der Situation, in der sie gefangen war. Alte Geschichten und Zeitungsartikel konnten einen Menschen nicht wieder lebendig machen. Im Gegenteil, die Auseinandersetzung mit der Familienhistorie erweckte alte, schwere Energien in ihr zum Leben und ließ die Trauer um den menschlichen Verlust nur noch stärker werden. Ihre Mutter war in ihren Gedanken präsent, doch sie konnte nicht mit ihr reden. Es war mehr Last als Erleichterung. Und dieser Gedanke nahm sie so nun so sehr in Beschlag, dass sie beschloss, das Ganze sein zu lassen. Sie klappte ihr Notebook zu, stand auf und verließ den Raum.
Aislinn stand vor dem großen, alten Spiegel mit dem schlichten, hölzernen Rahmen. Das schwache Licht der milchigen Deckenleuchte im Bad verlieh ihrer von Natur aus hellen Haut einen fast durchsichtigen Teint. Sie bürstete ihr langes, rotes Haar. Wie ein Tuch aus Seide fiel es über ihren Rücken, tief hinunter bis zur Taille. Dann band sie es mit einem Haargummi straff zusammen. Mit wenigen geschickten Handgriffen verteilte sie das Make-Up über Nase und Wangen und verdeckte damit ihre rötlichen Sommersprossen. Sie hatte sie immer gemocht, aber nun fand sie, dass sie ohne Sommersprossen älter aussehen würde und mittlerweile gefiel es ihr nicht mehr, wie ein junges Mädchen zu wirken. Sie fühlte sich alt und irgendwie verbraucht. Sie tuschte sich die rötlichen Wimpern, um das Blau ihrer Augen stärker zu betonen. Abschließend trat sie einen Schritt zurück und blickte noch einmal prüfend in den Spiegel. Doch plötzlich befiel sie ein seltsames Gefühl, als würde sie eine Fremde im Spiegel betrachten. „Wer ist das? Das bin doch nicht mehr ich!“, raste es durch ihren Kopf. „Reiß dich zusammen und mach dich jetzt nicht lächerlich – wer sollte das denn sonst sein?“, antwortete die Stimme ihrer Vernunft streng. Sie schüttelte das merkwürdige Gefühl gewaltsam ab und versuchte sich auf den bevorstehenden Tag zu konzentrieren. Irgendwie gelang es ihr auch, und als hätte sie ein wild gewordenes Tier wieder fest im sicheren Käfig eingeschlossen, atmete sie erleichtert auf, ging aus dem Badezimmer und ließ „die Fremde“ hinter sich.
Aislinn stürzte sich wieder in den Schulalltag. Das Lernen schien ihr nicht nur eine sinnvolle Tätigkeit, sondern auch eine wirkungsvolle Methode der Ablenkung zu sein, und die harte Arbeit machte sich letztendlich bezahlt. Sie hatte innerhalb kürzester Zeit bis zum Ende des Semesters ihren Notendurchschnitt deutlich angehoben. Sämtliche Tests und Schularbeiten beschloss sie mit einem „Sehr gut“.
Doch allzu mächtig, wie sie sich erhofft hatte, war diese Form der Ablenkung doch nicht. Die Schatten aus ihrem Innersten drängten weiterhin mit aller Macht an die Oberfläche und sie wurde immer öfter von Albträumen heimgesucht.
Als die Semesterferien begonnen hatten, war für die meisten Schüler die Zeit des Feierns angebrochen und alle amüsierten sich auf diversen Partys. Wieder andere fuhren mit ihren Familien oder Freunden auf Skiurlaub. Aislinn hingegen bereitete sich stur auf das nächste Semester vor. Sie hatte sich viel vorgenommen, was ihre schulischen Ziele anging. Dabei fühlte sie sich wie bei einem Marathon, bei dem sie Angst hatte, stehen zu bleiben, weil sie befürchtete, ansonsten nie wieder weiterlaufen zu können.
Man konnte in ihren Augen lesen, dass ihr die Albträume nachts den Schlaf raubten. Zudem hatte sie in den letzten Wochen einiges an Gewicht verloren, weil sie beim Essen kaum einen Bissen runter bekam. Eines Morgens stand sie auf und trottete in die Küche um sich einen Kaffee zu machen.
Von einer Sekunde auf die andere begannen sich die Küchenkästchen auf und ab zu bewegen, so als würde sie auf einem schwankenden Boot auf hoher See stehen. Die Sonnenstrahlen, die durch das Küchenfenster hindurch schienen, flirrten, und für einen Moment glaubte Aislinn sogar das Tosen des Meeres um sich herum wahrzunehmen. Ihr Herz raste wie wild und ihr wurde plötzlich schrecklich übel. Sie griff nach der Tischkante, erreichte aber nur mehr den Zipfel des Tischtuches. Und während sie zu Boden brach, riss sie einige Tassen und eine Teekanne mit sich. Aus dem Augenwinkel sah sie noch das entsetzte Gesicht ihrer Großmutter, bevor sie das Bewusstsein verlor.
„Aislinn! Linn! Um Himmels Willen, wach doch auf!“
Es dauerte einige Augenblicke, bis sie die Laute, die an ihre Ohren drangen, zuordnen konnte und zaghaft die Augen aufschlug. Ihre Großmutter stand zitternd über sie gebeugt und war kreidebleich. Sie reichte ihr hastig ein Glas kaltes Wasser.
„Trink, mein Kind! Trink schon.“
Aislinn nahm einen vorsichtigen Schluck. Vor ihren Augen schwirrten leuchtende Pünktchen. Ihre Großmutter stützte sie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2016
ISBN: 978-3-7396-7781-1
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