Eine Frau liegt im Bett. Neben ihr steht ein Tischchen auf dem verschiedenen Medikamenten und Verpackungen gestappelt sind. Die Tabletten sind im chaotisch Durcheinander und beinahe aufgebraucht.
Eine halbvolle Teekanne steht daneben. Der Tee ist bereits kalt.
Sie seufzt schwer. Ihre Gliedmaßen schmerzen.
Sie denkt an früher. An eine Zeit, in der sie noch willkommen war- hier, in dieser Welt.
An ihren Mann. Und ihre Kinder?
Wo sind sie?
Ihr Kopf schmerzt.
Die Krankenschwester hat ihn mit zwei schweren Polstern gestützt.
Die Frau meldet sich nicht. Sie bleibt einfach stumm und erträgt ihr Leid. Traut sie sich oder schmerzt es, wenn sie redet?
Das Sprechen fällt ihr wirklich sehr schwer. Lieber erträgt sie den Schmerz, der langsam weiter von ihrem Nacken ausgeht, als dass sie die Stimme gebrauchen könnte.
Sie schließt die Augen.
Wieviele Stunden sind vergangen, seit die letzten Besucher hier waren?
Sie hört fröhliche Stimmen neben sich.
Ihre Zimmerkollegin hat Besuch von ihrer lieben Familie bekommen.
Geschrei von Kindern.
Ein freudiges und erwartungsvolles „Hallo liebste Lotte, schön, dich zu sehen. Wie geht’s dir denn..!?“
Umarmungen, erstaunte und wiederholende Feststellungen über ihren Gesundheitszustand und Küsse lassen erkennen, dass sie sehr vermisst wird. Zuhause warten die Lieben bereits sehnsüchtig.
Die stumme Frau spürt einen Stich in ihrem Herzen.
Sie hat schon lange keine Stimmen mehr vernommen, die nach ihrem Wohlergehen fragten.
Bis auf die eiskalten und gezwungenen Aussagen der Krankenpflegerinnen, wenn sie morgens zum Waschen in ihr Zimmer treten. Gequält und gelangweilt versteht sich.
Die Waschung ist die einzige Möglichkeit, menschliche Nähe zu bekommen. Doch die Schwestern sind weder feinfühlig noch zärtlich. Notdürftig schrubben sie mit einem Waschlappen über die bereits faltige und dünne Haut.
Blumen schmücken den grauen und leeren Raum, der nach Desinfektionsmitteln und Erbrochenen riecht.
Sie sind schön, doch die Erinnerung schmerzt damit noch mehr...
Früher hat ihr ihr Mann immer Blumen geschenkt. Beinahe jedes Monat.
Ein lieber Mann. Doch wo ist er?
Sie hat ihn schon lange nicht gesehen. So scheint es ihr.
Eine Schwester betritt das Zimmer. Ihre Mundwinkel hängen steil bergab.
Sie ist genervt und stöhnt angestrengt, als sie die alte Frau bei der Hüfte nimmt und unsanft umdreht. Ein Polster wird bedeutungslos zwischen ihre Beine geklemmt.
Na endlich...
Wenn sie noch jünger, noch voller Leben und Hoffnungen gewesen wäre, dann hätte sie die Krankenschwester nicht so wortlos davon schreiten lassen.
Sie hätte um mehr Achtung und Respekt gebeten.
Doch die Zeit war anders. Nun war sie froh um eine kleine Aufmerksamkeit.
Und wenn sie noch so armselig war.
Stunden verschmelzen, Minuten verstreichen, Sekunden sterben...
Die Frau liegt regungslos in ihrem Bett.
Wieviele Stunden sind vergangen, seit sie jemand besucht hat?
Bald kommt die Krankenschwester wieder. Angewidert
Sie wirft die Decke gefühllos auf die andere Seite.
Dann ein finsterer Blick, der sag: Lass mich in Ruhe und stirb endlich, du alte Frau.
Danach zieht sie die Frau aus.
Das Zimmer stinkt. Die Exkremente der alten Frau sind über das ganze Bett verschmiert. Die Windel, die sie trug, hat dem nicht stand gehalten. Mit ekel verzerrtem Gesicht wischt sie mit einem trockenen Tuch über ihr Hinterteil.
Dann beschimpft sie die Frau als Ferkel. Sie zeiht ihr frische Sachen an und geht.
Wieviele Stunden sind vergangen?
Die Frage quält sie erneut.
Wird sie je wieder jemand besuchen?
Wie schauen ihre Enkelkinder aus? Sie hat die Gesichter vergessen.
Ihre Namen... Wie hießen sie... Sie hat sie vergessen.
Nun erinnert sie sich nur noch an einen Brei verschiedener Gesichtszüge.
Wieviele Stunden sind vergangen?
Monotone Stille.
Wieviele Stunden sind vergangen, fragt sie erneut
Es vergeht keine Stunde seit diesen drei Monaten, in denen sie nicht diese Frage stellt.
„Es sind schon zu viele Stunden vergangen.“, flüstert eine Stimme,
„komm...“ und ein vertrauter Mann streckt seine Hand aus...
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2011
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