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Teil Eins


Es war ein Donnerstag an dem meine Frau Joanna, meine Tochter Lilly und ich, Bryan, in das neue Haus zogen. Es war Ende Winter und das Wetter trist und grau, normal für diese Jahreszeit, und dennoch waren wir alle drei super gelaunt. Joanna und ich waren ein sehr junges Paar und Lilly war früh gekommen. Wir waren erst überfordert mit einem Kind gewesen, deshalb meinte meine Schwiegermutter, wir sollten doch bis wir besser mit der Situation klar kamen, zu ihnen ziehen. Die Idee hatte mir von vorne herein nicht besonders zugesagt, doch meine Frau war einfach nicht umzustimmen. Sie meinte es wäre die perfekte Chance unsere Beziehung zu bessern, zu dieser Zeit war es nicht so leicht für uns, da ihre Eltern Lilly nehmen könnten, wenn wir mal Zeit für uns wollten. Nun das mit der Beziehung zwischen Joanna und mir kam dann auch wieder in Ordnung. Allerdings schienen meine Schwiegereltern einen Hass auf mich zu entwickeln, wenn sie sahen, wie ich mit Lilly umging. Eigentlich hatte ich nie Kinder gewollt und Lilly war auch eher eine Überraschung gewesen (Wir waren erst zwei Monate zusammen gewesen.). Aber trotzdem war ich fest davon überzeugt, dass ich das richtig gut hinbekam. Lilly ist jetzt sechs. Als sie zur Welt kam war Joanna 17 und ich 18. Wie konnte man von einem 18-Jährigen auch erwarten, dass er sofort der perfekte Vater war? Naja, auf jeden Fall war das Verhältnis zwischen meinen Schwiegereltern und mir ziemlich gespannt. Also haben wir nun endlich entschieden umzuziehen, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen.

 

Und es war ein prächtiges Haus! Es waren zu Fuß nur fünf Minuten bis in die Innenstadt und groß war es auch…nein RIESIG! Dafür hatten wir aber auch alle mal genug bezahlt. Lilly riss die Autotür auf und flog förmlich zum Haus. Sie rüttelte an der Tür. „Schätzchen, Daddy hat die Schlüssel.“, meinte meine Frau lachend. Lilly drehte sich zu mir und meinte: „Daddy…Schlüssel.“ Unser Hund Lucky rannte bellend zur Tür und wedelte mit der Rute. Ich lachte. Lilly riss die Augen auf als sie die riesigen Treppen sah und Joanna hauchte ein ‚Oh mein Gott‘. Ich hatte die beiden überraschen wollen und hatte ihnen deswegen nur Bilder des Hauses gezeigt und war ganz allein zur Besichtigung gefahren. „Du hast wirklich nicht übertrieben Bryan, das ist…gigantisch!“, stotterte meine Frau. Ich schlang meine Arme um ihre Taille. „Ich weiß. Ich will dir beweisen, dass wir das schaffen, mit der Kleinen. Das wir alles gemeinsam schaffen.“ Sie lächelte und gab mir einen Kuss. „Aber das brauchst du mir doch nicht zu beweisen.“ Lilly kam aus der Küche auf uns zu gerannt. „Aber wo ist denn mein Zimmer?“, fragte sie bestürzt. Sie klammerte sich an Joanna (Sie war eindeutig ein Mama-Kind). „Schatz, gehst du mit Daddy und er zeigt es dir?“, flüsterte meine Frau. Lilly nickte, aber zog ihre Mami am Ärmel mit.

Meine Tochter und ich hatten leider nicht das beste Verhältnis. Ich liebte sie von ganzem Herzen, doch ich wusste nicht wie ich es ihr zeigen sollte. Es gibt die Art von Mensch, denen die liebevolle Art angeboren ist, die sich alle zwei Minuten zu ihren Kindern hinunter beugen und ihnen sagen, wie sehr sie sie lieben. Nun…diese Art von Mensch war ich nicht. Wenn meine Tochter Probleme hatte oder irgendetwas in der Schule, im Kindergarten gewesen war, dann war sie schon immer zu ihrer Mutter gegangen und nicht zu mir. Vielleicht hatte sie als Baby gespürt, dass ich nicht wirklich glücklich mit einem Kind war.

Im oberen Geschoss stand die großartige Glasvitrine. Fast alles in dem Haus war aus Holz, alles sehr altmodisch eingeräumt. So auch diese Vitrine. Ihr Rahmen war aus wunderschönem Holz und das Glas war perfekt gesäubert, obwohl das Haus so lange leer stand. Meine Tochter rannte auf das Möbelstück zu. „Schau mal Mami, die ist ja wunderschön! Darf ich die mit in mein neues Zimmer nehmen?“ Sie strahlte. Joanna sah mich mit einem fragenden Blick an. „Warum nicht,,, erwiderte ich, wir wissen ja ohnehin nichts damit anzufangen und in Lilly ihrem Zimmer ist genug Platz.“ Lilly schlang ihre Arme um mich. „Danke Daddy!“ Ich war erstaunt, weil sie so selten meine Körpernähe suchte. Es freute mich, dass ich sie damit so glücklich machen konnte und meinte: „Bitte mein Schatz. Hier ist dein Zimmer. Gleich rechts.“ Sie öffnete die Tür. „Ist das schön und groß!“, schrie sie. Meine Frau legte den Kopf auf meine Schulter und küsste mich auf die Wange. „Du bist ein toller Dad.“, flüsterte sie.

Als wir die etlichen Kartons aus dem Auto ins Haus geschleppt hatten, war es schon dämmrig geworden. Doch Lilly wollte unbedingt noch einmal nach draußen gehen, am Teich spielen. „Kaufen wir dann auch Fischchen für den Teich?“, fragte die Kleine. Ich lächelte. „Ganz viele.“ Und so ließ ich sie nach draußen gehen. Für mich war nun ein bisschen Entspannung nötig. Schließlich war es ja auch anstrengend gewesen die vielen Sachen zu schleppen. Ich ließ mir ein Bad ein. Meine Frau räumte grade ihre Küche ein, ihr Revier, wie sie es nannte. Sie mochte es nicht, wenn andere Leute irgendetwas in ihrer Küche veränderten, also ließ ich sie wenigstens dieses Zimmer allein einräumen. Ich zog mich aus und setzte mich in die Wanne. Sofort merkte ich wie das wärmende Wasser eine entspannende Wirkung auf mich hatte. Ich seufzte.

Ein paar Minuten hatte ich verträumt im Wasser gesessen, bis ich meine Tochter von draußen schreien hörte. Ich sprang auf, griff nach einem Handtuch und war blitzschnell draußen. „Lilly, was ist passiert?“, rief ich erschrocken. „Sue hat mich fast in den Teich geschubst!“, murmelte sie traurig. „Sie meinte sie wäre meine Freundin und dann schubst sie mich einfach…“ Ich stockte. „Sue?“ Meine Tochter nickte. Verwirrt sah ich mich nach dem Mädchen um, entdeckte allerdings keins. Ich beschloss es einfach gut sein zu lassen, nahm meine Tochter auf den Arm und ging wieder ins Haus. Ehe wir drin waren, war Lilly auch schon zu Joanna gerannt und hatte ihr von Sue erzählt.

Spät abends, als Lilly schon lang im Bett war, saßen meine Frau und ich auf der Couch. Der Fernseher funktionierte noch nicht und irgendwie stand eine merkwürdige Stille im Raum. Joanna brach sie. „Wer ist Sue? Die Kleine meint sie wäre von Sue geschubst worden, ein Mädchen das in der Nähe wohnt.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, Liebling. Als ich nachsah, war nirgends ein anderes Mädchen zu sehen. Und direkte Nachbarn gibt es auch nicht. Sue hätte also extra durch den Wald laufen müssen, um hierher zu gelangen.“
„Vielleicht hat sie mitbekommen, dass jemand neues eingezogen ist und war neugierig.“
„Fein, das kann sein. Das erklärt allerdings nicht, warum sie unsere Tochter in den Teich schubsen will.“
„Morgen früh werde ich Lilly noch einmal darauf ansprechen.“
Und somit endete das Gespräch über Sue.

Als wir ins Bett gehen wollten, warf ich noch einen kurzen Blick in das Zimmer meiner Tochter. Sie schlief friedlich. Ich ging zu ihr und küsste sie auf die Stirn. Irgendwie war ich ja doch froh, dass ich sie hatte. Vielleicht hatte ich in manchen Situationen einfach nicht zu schätzen gewusst, dass sie mein Fleisch und Blut war. Nun ging ich zu meiner Frau ins Bett. Sie hatte bereits das Licht ausgeschaltet und war im Halbschlaf. Ich zog mich aus und schlüpfte unter die Decke. Beim Einschlafen dachte ich an Lilly und Sue…

Am nächsten Morgen wachte ich sehr spät auf, weil der vorherige Tag so anstrengend gewesen war. Ich gähnte und drehte mich auf die Seite, wo meine Frau normalerweise lag. Doch sie war anscheinend schon auf. Wahrscheinlich kaufte sie ein paar Sachen für das Frühstück. Stattdessen lag an meiner Seite Lucky und leckte mir über das Gesicht. Ich lachte und stand Immer noch schläfrig auf und schlüpfte in meine Hausschuhe. Das gesamte Haus war still. Die Zimmertür meiner Tochter war angelehnt. Normalerweise schlief Lilly nur mit geschlossener Tür (Sie sagt, damit die bösen Geister nicht zu ihr kommen, wenn sie schläft). Ich spähte durch den Spalt. Das Bett war gemacht, meine Tochter nicht im Bett. Vielleicht war sie mit Joanna einkaufen gefahren.

Als ich nun aus dem Fenster sah, sah ich allerdings meine Tochter allein draußen spielen. Ich sah, dass sich ihr Mund bewegte. Vielleicht redete sie mit sich selbst oder sang ein Lied. Das tat sie nicht allzu selten. Im Flur hatten wir bereits einige Familienfotos hingehangen. Als ich nun die Treppenstufen hinunter ging, sah ich, dass alle Bilder auf dem Kopf hangen. Ich war zwar leicht verwirrt, doch ich dachte mir, dass das bestimmt nur meine Tochter gewesen war, um uns zu ärgern. Nein, das was mich wirklich stutzig machte, war nun wie ich Lilly draußen mit jemanden sprechen hörte, den ich nicht sah.
„Ich habe dir gesagt, was passiert, wenn du es nicht tust.“
„Ja, aber ich kann das einfach nicht! SUE, bitte!“
Da war er wieder der Name… Mit beschleunigten Schritten lief ich zu der Kleinen hinüber.

„Lilly! Mit wem hast du da grade geredet?“, fragte ich sie. „Das war Sue, Daddy. Sie lässt mich einfach nicht in Ruhe. Heute Morgen hat sie schon ganz früh geklopft und gesagt sie muss mit mir reden.“
„Oh und über was habt ihr nun geredet?“
„Das darf ich dir nicht sagen. Sonst ist Sue noch wütender.“
Irritiert sah ich mich um. So schnell hätte das Mädchen niemals weg sein können, selbst wenn sie da gewesen wäre. „Was hältst du davon, wenn wir reingehen und schon mal den Tisch decken, bevor Mami wieder nach Hause kommt?“ Meine Tochter nickte und so machten wir es dann auch.

Als ein paar Minuten später meine Frau durch die Tür kam, sah ich wie ihr Blick auf die Bilder fiel, die alle auf dem Kopf hingen. „Lilly, Schatz. Lass sowas doch bitte, ja? Das sieht doch nicht hübsch aus.“
„Aber ich war das nicht. Wenn sie so verkehrt herum hängen, sieht man gar nicht wie glücklich wir auf den Fotos sind.“, erwiderte sie. Meine Frau strich der Kleinen mit den Fingern durch das Haar. Währenddessen warf sie mir einen besorgten Blick zu. Doch von dem Gespräch, das unsere Tochter im Vorgarten hatte wusste sie in dem Zeitpunkt noch nichts.

Am nächsten Morgen, es war Lillys erster Schultag in der neuen Schule, beschloss ich meine Frau über den gestrigen Vorfall zu informieren. „Joanna, ich denke mit Lilly stimmt in letzter Zeit irgendetwas nicht.“
„Du meinst sicher wegen den Bildern. Weißt du, sie war es bestimmt und hat sich nur geschämt und…“
Ich unterbrach sie: „Ich meine nicht die Bilder. Ich meine das wegen einem Gespräch, dass sie gestern Morgen im Vorgarten hatte…allein.“
„Hat sie Selbstgespräche geführt? Das mache ich auch hin und wieder.“
„Nein. Keine Selbstgespräche. Ich hörte noch eine andere Stimme, aber es war niemand zu sehen! Und als ich sie darauf ansprach meinte sie, es wäre Sue gewesen und sie dürfe mir nicht sagen, um was es ging, weil Sue sonst noch wütender werden würde.“
Meine Frau runzelte die Stirn. „Und du hast da tatsächlich jemanden reden gehört?“ Ich nickte. „Naja, dann solltest du vielleicht erst einmal darüber nachdenken, ob mit dir alles in Ordnung ist.“ Sie kniff mich in die Seite. Ich fragte mich, ob sie den Ernst der Lage überhaupt verstand. „Joanna! Unsere Tochter hat anscheinend…“ Ich wusste nicht wie ich es ausdrücken sollte. „Ja, sie hat eine imaginäre Freundin. Und spricht für sie mit verstellter Stimme, damit es echter erscheint. Genau das hast du gehört.“ Grade wollte ich etwas einwenden, als das Telefon klingelte. Es war die Schule. Lillys neue Klassenlehrerin Frau Schiel war am Telefon und sprach aufgeregt und mit weinerlicher Stimme irgendetwas über einen schrecklichen Unfall.

Sofort stiegen wir ins Auto ein und machten uns auf den Weg. Als wir ankamen, war auf dem Schulhof ein riesiger Tumult. „Da sind sie ja endlich!“, sprach Frau Schiel und kam auf uns zu. Ihr liefen Tränen über die Wangen, sie schien völlig verwirrt. Mit einem Winken gab sie uns das Signal ihr zu folgen. Wir kamen zu einem Klassenzimmer, an dessen Tür die Polizei bereits gelbe Absperrbänder gehangen hatte. „Ihre Tochter ist da drin und kommt einfach nicht heraus. Sie sagt andauernd, dass sie das nicht wollte.“ „Was nicht wollte?“, fragte ich. Die Lehrerin zeigte bloß auf die Tür, also trat ich ein. Ich fand Lilly hinter einem umgefallenen Tisch sitzend. Meine Frau war mir gefolgt und spähte nun ebenfalls über die Tischkante auf unser Kind, welches mit ihrem Lieblingskleid auf dem Boden kauerte, welches mit vielen rötlichen Fleckenübersät war. „Oh mein Gott.“, sprachen Joanna und ich im Chor. „Was ist passiert?“, fragte ich Lilly und versuchte ruhig zu klingen.

Erst jetzt schien die Kleine überhaupt bemerkt zu haben, dass wir neben ihr standen. Sie brach in Tränen aus, fiel mir sofort um den Hals, als ich mich neben sie hockte und schluchzte immer wieder: „Ich wollte das doch alles gar nicht.“ Ich streichelte ihr braunes Haar und flüsterte beruhigende Dinge, wie ‚das wird schon wieder‘ in Ohr. Da wurde sie plötzlich hysterisch. „Wie soll denn das wieder gut werden?“, kreischte sie. „Ich habe meiner ersten Freundin hier sehr weh getan.“ Ich dachte sie meinte, sie habe ihre Gefühle verletzt, doch die Fleckenauf Lillys Kleid, die wie Blut aussahen, wiesen leider auf etwas Anderes hin. Nun stand Frau Schiel in der Tür. „Ihre Tochter hat Melanie…etwas schreckliches angetan.“, stotterte sie. Ich wurde wütend, weil niemand mir sagte, was wirklich passiert war. Ich sprang auf, marschierte auf Frau Schiel zu und keifte: „Könnten Sie mir nun bitte endlich erklären, was es heißt, wenn meine Tochter dieser Melanie etwas Schreckliches angetan hat?!“ Offensichtlich wirkte das Schreien, denn die Lehrerin wurde ganz blass um die Nase und schrie dann: „Sie hat Melanie erstochen! Beim Mittagessen!“ Joanna taumelte zurück und suchte Halt bei einem Stuhl. Diese Worte schienen sie genauso zu schocken wie mich.

Plötzlich stand ein Arzt in der Tür. Er meinte: „Wir werden Ihre Tochter nun mit in unsere Klinik nehmen. Sie muss nun unter psychiatrischer Behandlung stehen.“ Mit starrem Blick sahen wir zu, wie der Mann meine weinende und schreiende Tochter auf den Arm nahm und aus dem Zimmer trug. Ich war zu schockiert um auch nur einen Satz heraus zu bringen. Meine Frau saß nur keuchend und schluchzend auf dem Stuhl. Langsam ging ich zu ihr und nahm sie in den Arm. Dieser Tag hatte sich wie ein Traum angefühlt, völlig unwirklich und nicht real. Alles verschwamm vor meinen Augen. Dann die Erkenntnis: Meine Tochter hatte ein kleines, unschuldiges Mädchen schwer verletzt, vielleicht sogar umgebracht. Ein Mädchen…so ein kleines, unschuldiges Mädchen, wie das, was sie selber war.

Nach ein paar Minuten baten uns ein paar Polizisten den Raum nun zu verlassen. Anschließend klärten sie uns über den genauen Tatvorgang auf. Lilly hatte glücklich und gelassen mit Melanie am Tisch gesessen. Sie hatten sich gleich am ersten Tag sehr gut verstanden. Als Melanie ihre neue Freundin umarmen wollte, nahm meine Tochter ein Messer und rammte es ihr in der Umarmung mehrfach in den Bauch. Ich sah in meinem inneren Auge, die zwei Mädchen spielen und lachen. Und plötzlich, Blut, Verzweiflung, Schreie, Angst. Alles kam mir ein vor wie ein schrecklicher Scherz. Der Polizist sah betreten zu Boden. „Melanie ist leider an den Stichverletzungen verstorben.“ Meine Frau schlug die Hände vors Gesicht. Wir wollten doch ein neues Leben anfangen, ihren Eltern beweisen, dass wir auch ohne deren Hilfe klar kamen. Doch nun war das Verhalten unseres einzigen Kindes vollkommen außer Kontrolle geraten. Und nun war dieses Kind weg. In einer psychatrischen Einrichtung. Einfach so. Das Bild von dem fröhlichen Morgen trat wieder in mein Gehirn. Lilly hatte gesagt wie sehr sie sich auf die Schule freute und, dass sie unbedingt viele neue Freunde kennen lernen will. Und sie hatte eine Freundin gefunden….

Zuhause angekommen saßen wir einfach nur regungslos herum. Keiner von uns wusste, was er sagen sollte. Ich musste raus aus diesem Haus. Gleich in den ersten Tagen geschahen schreckliche Dinge. „Gehe kurz rüber in die Stadt ein wenig bummeln.“, sprach ich zu meiner Frau. Diese nickte nur. „Bring Äpfel mit.“ Auch sie hatte das Geschehnis schwer getroffen. Sie sprach völlig emotionslos. Nun nickte ich und verließ mit langsamen Schritten das Haus. Der Waldboden war ein wenig feucht, es hatte über die Nacht geregnet. Vögel zwitscherten und nur ein, zwei Autos fuhren zügig an mir vorbei. Ich erreichte die Stadt schon bald. Ich sah Menschen lachen und reden, Kinder spielen, Hunde über die Wiese tollen. Und doch war das alles für mich ein verschwommenes, unbedeutendes Gemälde. Ein Gemälde, was eine unbekannte Person gemalt hatte, es mochte schön sein und doch interessierte es niemanden. Mit Musik versuchte ich auf andere Gedanken zu kommen. Laute Musik donnerte durch meinen Walkman auf meine Ohren ein. Und doch musste ich ständig an meine kleine Tochter denken, die einfach nicht mehr sie selbst zu sein schien. Mit langsamen, merkwürdigen Schritten schlich ich durch die unzähligen Einkaufsgassen. Es gab hunderte von Antiquitätsläden. Ich fand, dass diese Läden eine unruhige Wirkung auf mich hatten. Wahrscheinlich durch die vielen Geistergeschichten, die mir mein Großvater, als ich klein war, dauernd erzählt hatte. „Geister brauchen auch ein Zuhause.“, hatte er gemurmelt, als wir zusammen mal an einem Antiquitätsgeschäft vorbei liefen. „Tja, und hier wohnen sie.“ Er hatte laut gelacht, so laut, dass er husten musste. All das kam mir nun in den Kopf, als ich die vielen Geschäfte sah.

Ich sah ein großes Leuchtschild über meinem Kopf aufleuchten. „Hereinspaziert!“, stand dort geschrieben. Als ich in das Schaufenster blickte, sah ich viele alte Gegenstände. Sogar ein vergilbtes Taschentuch lag dort ausgestellt. Irgendwie wurde ich neugierig und betrat das Gebäude. Kaum war ich eingetreten, schoss ein alter, kleiner, dürrer Mann aus einem Hinterzimmer, welches mit einem Vorhang verdeckt war. Er begrüßte mich. „Schönen guten Tag! Sagen Sie, kann ich Ihnen behilflich sein, suchen Sie etwas Bestimmtes?“ Er lächelte. Ich überlegte. „Nein, suche ich nicht. Ich wollte mich nur ein wenig umsehen. Was haben Sie denn alles da?“ Der alte Mann lachte. „Alle möglichen Antiquitäten. Heute Morgen habe ich was ganz neues bekommen. Eine tolle, alte Glasvitrine, in bestem Zustand!“ Ich dachte an die wunderschöne Vitrine, die wir in Lillys Zimmer gestellt hatten. Ich erwiderte: „Na, dann zeigen Sie mir die doch mal.“ Sie sah der von uns wirklich unwahrscheinlich ähnlich. Ich sah in das spiegelnde Glas. Der Mann stand direkt neben mir und doch sah ich seinen Anblick nicht in dem Glas. Verwirrt sah ich ihn an. Er fing an hämisch zu lachen. Ich zog die Augenbrauen zusammen. Aus den Gedanken riss mich eine Frauenstimme. „Hallo, kann ich Ihnen helfen?“ Ich drehte mich um und sah eine junge Frau, die eine Zigarette in der Hand hielt. „Nein, ich habe mir nur Ihre schöne Vitrine angesehen. Ihr Mitarbeiter hat sie mir gezeigt.“ Die Verkäuferin schien irritiert. „Mitarbeiter? Vitrine? Es tut mir leid, aber ich arbeite hier seit Jahren alleine und so etwas wie eine Vitrine besitzt meine Sammlung hier nicht.“ Ich warf ihr einen merkwürdigen Blick zu und wandte mich um. Der Mann, sowie die Vitrine waren spurlos verschwunden. „Entschuldigung, ich muss jetzt gehen.“, sagte ich schnell und verließ den Laden. Auf dem Rückweg kaufte ich Äpfel und hatte ständig das Bild von dem Mann und der Vitrine vor Augen. Wieso fing ich an mir Sachen einzubilden?

 

Zuhause angekommen bereitete meine Frau Joanna gerade das Abendessen zu. Es war schon dämmrig geworden und wir hatten in der Küche nur eine nackte Glühbirne hängen, die wenig Licht spendete. Trotz allem sah ich, dass Joanna wieder geweint hatte. Ich ging zu ihr und küsste ihren Nacken. „Es wird alles gut, Liebling.“, flüsterte ich. Sie wandte sich um und fuhr mich an: „Dann sag mir mal wie, Bryan! Unsere Tochter ist ein verdammtes Monster! Sie ist erst sechs und steht unter psychiatrischer Behandlung!“ Obwohl ich sie verstehen konnte, hatte ihr Ton mich ebenfalls wütend gemacht. Ich konnte ja schließlich auch nichts dafür. „Das weiß ich doch selbst, deswegen brauchst du nicht gleich wieder einen Schuldigen suchen! Weil wenn du das tust, fällt deine Entscheidung immer wieder auf mich, ich bin an Allem schuld! Ich wüsste auch gern wie das alles passieren konnte, Joanna, nur eine Erklärung habe ich nicht. Genauso wie ich für Sue keine Erklärung habe oder für das, was mir eben im Antiquitätsladen passiert ist!“ Meine Frau schaute verwundert. „Was ist denn passiert?“, fragte sie mich. Und dann erzählte ich ihr auch von diesem Vorfall.

Wie immer war ich in ihren Augen verrückt geworden. „Du bildest dir in letzter Zeit so viele Dinge ein, Bryan! Ich weiß nicht wer eher in Behandlung gehört, du oder unser Kind!“ Ich verdrehte genervt die Augen und stapfte die Treppen hoch, die zu Lillys Zimmer und zum Schlafzimmer führten. Völlig fertig setzte ich mich auf das Bett unserer kleinen Tochter. Direkt gegenüber stand die große Vitrine. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich beobachtet. Wieder starrte ich in das Glas. Doch was ich sah, war nicht, das was ich normalerweise sehen sollte, sondern meinen Großvater und mich auf der Straße. Da kam wieder der Satz. „Geister brauchen auch ein Zuhause. Tja, und hier wohnen sie.“ Der Antiquitätsladen, an dem wir vorbei gingen, sah diesem, in dem ich heute gewesen war, täuschend ähnlich. Und nun dachte auch ich, dass ich den Verstand verloren hatte. Wahrscheinlich hatte Joanna die ganze Zeit recht und ich sah Dinge, die es nicht gab.

Weil ich einsichtig geworden war, schlurfte ich nach unten in die Küche. Meine Frau saß allein am Tisch und aß Nudeln. Noch immer rollten Tränen über ihre Wangen. „Joanna, es tut mir leid.“, murmelte ich und nahm Platz gegenüber von ihr. Sie unterbrach mich. „Nein, mir tut es leid, Liebling. Du hast Recht, ich habe nur wieder einen Schuldigen gebraucht. Du bist nicht verrückt, sondern das alles was hier passiert, ist verrückt. Lass uns doch morgen Lilly besuchen, ja? Ich will sehen wie es ihr geht.“ Ich stimmte ihr zu und zusammen aßen wir.

 

Am nächsten Tag fuhren wir schon früh in die psychiatrische Einrichtung. Es sah von außen, sowie von innen wie ein ganz normales Krankenhaus aus. Es war ein spezielles Krankenhaus, in dem nur Kinder eingeliefert wurden. In der Rezeption saß eine Frau, die uns freundlich ansah. Sie grüßte uns. Ich sagte: „Wir wollen unsere Tochter Lilly besuchen. Sie wurde erst gestern eingeliefert.“ Die Frau setzte einen besorgten Blick auf. „Oh ja, ich weiß von welcher Lilly Sie sprechen.“ Meine Frau fiel ihr ins Wort: „Hat sie Fortschritte gemacht?“, rief sie. Die Empfangsdame druckste merkwürdig herum und führte uns einfach zum Zimmer. Bevor sie die Tür öffnete, sagte sie: „Sehen Sie selbst.“ Im Zimmer waren alle Vorhänge zugezogen und es herrschte eine drückende Luft. Nur eine Nachttischlampe brannte, die ein schauriges Licht ins Zimmer warf. Neben der Lampe saß zusammengekauert unsere, sonst so lebensfrohe, Tochter und sang leise ein Kinderlied. Es war ein schreckliches Bild. Sie hatte eines ihrer Blumenkleider an und man sah durch ihre knochigen Beine die Kniescheibe hervorstehen. Ihre Augen waren dunkel unterlaufen, ihr Haar wirkte struppig und strähnig. Sie sah sich einfach selbst nicht mehr ähnlich. Joanna schluchzte leise und vergrub ihr Gesicht in meiner Brust. Auch mir tat es weh Lilly in so einem Zustand sehen zu müssen. Eine Schwester betrat das Zimmer. „Guten Morgen. Sie müssen die Eltern der Kleinen sein.“ Wir nickten. Die Schwester sprach weiter: „Mir ist nicht klar, wie ein Kind nach einem Tag schon derartige Veränderungen annehmen kann. Sie hat viel Gewicht verloren, obwohl sie ganz normal das Essen zu sich genommen hat.“ Doch dies wollte ich von meiner Tochter selbst hören. „Lilly, ist alles in Ordnung? Schmeckt dir das Essen hier nicht? Wenn nicht, kann ich dir gerne unten etwas im Kiosk kaufen, die haben da auch die Schokoriegel, die du so magst. Crunchy oder wie die heißen.“ „Crispy.“, flüsterte eine unheimliche Stimme. Ich schluckte laut. Dann hob Lilly langsam den Kopf und sah mich mit einem leeren Blick aus toten Augen an. „Wie geht es Lucky?“, fragte sie mich. Unser Dalmatiner Lucky, war bei diesem Aufruhr leider etwas unter gegangen. Da er die meiste Zeit draußen verbrachte, war ich mir sicher, dass es ihm gut ging. „Er ist ok.“, sagte ich zögerlich. Ein merkwürdiges Grinsen umspielte die Lippen meiner Tochter. „Gut.“, murmelte sie immer wieder. „Gut.“ Mein Blick wanderte auf Joanna. Ich sah, dass sich Tränen in ihren Augen bildeten. Sie fing plötzlich an zu schluchzen und schrie immer wieder „Oh Gott!“. Ich wollte sie beruhigen, doch sie schlug meine Hand weg, als ich sie zu mir ziehen wollte. Die Schwester führte sie langsam nach draußen.

Schließlich war ich allein mit Lilly. Früher hätten wir jetzt tausend Themen zum Reden gehabt, auch wenn sie ein Mama-Kind war. Meistens redeten wir über Vergangenes. Wie sie bei einem Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Spiel gewonnen hatte oder wie sie mit ihren Freundinnen gespielt hatte. Wir redeten einfach immer über schöne Dinge. Doch nun fiel mir überhaupt nichts Schönes mehr ein. Dennoch brach ich die Stille und fragte: „Und? Darfst du hier überhaupt Gummibärenbande schauen? Das wird dir doch sicherlich fehlen.“ Langsam verneinte sie. In diesem Moment sank ihr Kopf auf ihre angezogenen Knie. Sie schien bewusstlos zu sein. Erschrocken sprang ich zu ihr. Ihre Augen waren so nach oben gerollt, dass nur weiß zu sehen war. Ich schrie vier, fünfmal nach der Schwester. Sie und meine Frau stürmten zusammen durch die Tür. Nun weinte auch ich. Ich hatte Angst, dass meine Tochter nicht nur bewusstlos, sondern womöglich tot war!

 

Doch nach ein paar Minuten öffnete sie die Augen wieder und ihr Gesicht nahm wieder ein vertrautes Aussehen an. Nun sah sie wieder wie meine kleine Tochter Lilly aus und nicht wie ein Monster oder dergleichen. Meine Frau weinte ein paar Tränen der Freude und fiel ihr um den Hals. „Mami? Was ist denn los?“, fragte Lilly irritiert. Meine Frau war zu überwältigt davon, dass es ihr besser zu gehen schien und konnte nicht antworten. Also ergriff ich das Wort: „Es…schien dir nicht so gut zu gehen. Aber nun ist alles wieder in bester Ordnung.“ Ich lächelte, die Kleine auch. Doch dann sanken ihre Mundwinkel. „Daddy…ihr müsst ganz schnell nach Hause gehen! Habt ihr Lucky im Auto oder ist er allein zuhause?“, fragte sie mit zitternder Stimme. Meine Frau beendete die Umarmung und starrte verwirrt von einem zum Anderen. „Er ist zuhause, wieso fragst du?“, meinte ich. Meine Frau warf ein: „Und wieso sollen wir nach Hause gehen?“ Joanna schien regelrecht aufgebracht, wütend, dass unsere Tochter uns nicht länger sehen wollte. Lilly sprang aus dem Bett, drehte mich sanft in Richtung Tür und schob mich darauf zu. So etwas kannte ich von ihr überhaupt nicht.

„Ihr werdet es verstehen, wenn ihr es seht. Jetzt geht.“ Tränen schossen in ihre Augen und sie fügte ein weinerliches „Bitte.“ Hinzu. Also schnappte ich die Hand von meiner Frau und zog sie ebenfalls auf den Flur. Ich winkte unserer Kleinen kurz zu. „Bis bald Daddy, kommt mich bald wieder besuchen.“ Sie sah so fürchterlich traurig aus, dass mir das Herz in der Brust zersprang. Sie musste ihre Gründe gehabt haben uns gebeten zu haben zu gehen. Und diese Gründe waren nicht, dass sie uns nicht sehen wollte, keine Zeit mit uns verbringen wollte. Es hatte etwas Anderes auf sich. Da war ich mir vollkommen sicher. Und sicher war ich mir auch, dass es etwas mit Lucky, unserem Hund zu tun hatte. Also machten wir uns auf den Weg. Meine Frau noch völlig aufgelöst neben mir sitzend fuhr ich mit 90 Stundenkilometern durch die Stadt. Wenn ich nervös war, drückte mein Fuß automatisch etwas ausgiebiger auf das Gaspedal.

 

Zuhause angekommen rasten wir beide in das große Familienhaus. Doch unser Hund war nirgends zu finden. Joanna suchte in jedem seiner Körbchen, in seiner Hütte im Vorgarten, in seinen Verstecken, wo er manchmal draußen hinter Büschen lag. Jedoch schien es schier unmöglich unseren Dalmatiner zu finden. Abends war ich noch ein bisschen draußen zugange. Ich schnitt die Hecke etwas kürzer, in der Hoffnung, Lucky habe sich dort verhangen und fand keinen Weg dort heraus zu gelangen. Doch es war einfach rätselhaft. Als ich die Suche schon aufgegeben hatte und mich mit einem Bier als Entspannung an den See saß, sah ich etwas weißes im Wasser schwimmen. Ich ging stand aus dem Liegestuhl auf und ging langsam darauf zu. Ja, es war weiß, nein, schwarz und weiß. Eine schreckliche Ahnung trat mir in den Kopf. Eigentlich nicht bloß eine Ahnung. Ich wusste was dort auf und ab im Wasser schwamm und blutige Spuren hinter sich herzog. Es war unser Hund. Unser treuer Gefährte, der uns seit vier Jahren ein wundervoller Freund gewesen war.

Als die Dunkelheit herein brach saß Lilly auf ihrem Bett und dachte an ihre Familie. Eigentlich hatte sie sie nicht wegschicken wollen. Aber irgendetwas in ihr hatte sie dazu gedrängt. Ein Bild in ihrem Kopf. Von Lucky. Ihrem süßen Dalmatiner. Lilly fand ihn so besonders süß, weil er ein weißes und ein schwarzes Ohr hatte. Sie wusste nicht warum, aber vorhin, als ihre Eltern sie besucht hatten, war ihr eine unerklärliche Ahnung in die Gedanken gestiegen. Eine Ahnung, dass Lucky etwas zugestoßen war. Und allein das war der Grund gewesen, dass sie ihre Eltern gebeten hatte nachhause zu fahren. Hoffentlich hatten sie es nicht falsch verstanden und waren wütend oder enttäuscht. Plötzlich sah sie einen Schatten an der Wand, der langgezogen auf sie zukam. Sie erschrak zwar für einen Augenblick, wusste aber ohnehin, um wen es sich handelte. „Sue, was willst du?“, fragte Lilly und seufzte. Eine schaurige Mädchenstimmt erklang. „Ich wollte dir lediglich Bescheid geben, dass ich deine Arbeit vollendet habe. Du wolltest ja auch nicht hören. Alles muss man selber machen.“ Ein hämisches Lachen erfüllte den Raum. „Und nun wirst du wohl die Konsequenzen tragen müssen.“ Lilly schluchzte leise und fragte mit klagender Stimme: „Was wirst du jetzt tun?“ Sue kicherte erneut. „Ich werde jetzt das Kommando übernehmen. Und du wirst sehen, ich mache dich zu der Art von Person, mit der deine Eltern rein nichts mehr zu tun haben wollen.“ Lilly schluckte. Wie meinte Sue das? Konnte sie wirklich von nun an entscheiden, was sie mit Lillys Körper tat? Konnte sie ihre Stimme nun als ihre eigene benutzen? All das schien das schlimmste für Lilly zu sein, was passieren konnte. Sie brach in Tränen aus und fragte immer wieder: „Warum? Warum ich?“ Sue hatte zuvor bereits ihren Körper kontrollieren können, als sie Lillys Freundin ermordet hatte. Anscheinend wollte sie einfach nicht, dass es ihr gut ging. Nur aus welchem Grund konnte sie dies nicht ertragen?

 

Joanna saß weinend auf der Couch, als ich hereintrat. Ich hatte Luckys Kadaver draußen im Garten vergraben und hatte einen großen Stein, als Grabdenkmal verwendet. Gerne hätte ich meiner Frau tröstend zugeredet, doch mir fiel einfach nichts Aufmunterndes ein. Also schwieg ich einfach und ließ mich mit einem lauten Seufzer neben sie auf die Couch fallen. Schluchzend wandte sie sich zu mir. „Was soll denn jetzt noch passieren, Bryan?“, fragte sie mit vorwurfsvoller Stimme. Ich wusste nicht, was sie immer darauf brachte, dass das alles meine Schuld war. Aber für sie schien es offensichtlich zu sein. „Das können wir doch alles gar nicht gebrauchen! Wir wollten ein neues, glückliches Leben hier beginnen. Stattdessen wird es hier nur noch schlimmer.“ Obwohl ich wirklich wütend war, dass ich wieder einmal die Schuld für alles abbekam, murmelte ich nur: „Ja, es wird immer schlimmer.“

Am nächsten Morgen hatte das Krankenhaus, indem unsere Tochter war, schon früh angerufen. Die Krankenschwester schien aufgebracht. Joanna war am Hörer und fragte immer wieder: „Was ist denn los?“. Doch statt einer Antwort wurde nur in das Telefon gebrüllt: „Kommen Sie einfach schnell!“. Meine Frau schüttelte den Kopf. „Und ich dachte immer man muss freundlich sein, um Krankenschwester zu werden.“

 

Wir stiegen in unseren Ford. Die Fahrt dauerte in etwa 20 Minuten. Und in all dieser Zeit pflegte es Joanna nur mit mir zu reden, wenn sie an meinen Fahrkünsten etwas auszusetzen hatte. „Fahr nicht so schnell, da kriegt man ja Angst! Fahr doch dem armen Mann dort nicht so nah auf!“ und sonst noch einiges, was meine Laune auf den Tiefpunkt beförderte. Mich machte es traurig zu sehen, dass wir in dieser schweren Zeit nicht mehr zusammen halten konnten, denn jetzt brauchten wir uns gegenseitig am meisten. Nach einer Fahrt, die wie eine Ewigkeit schien, kamen wir endlich ans Ziel. Die Krankenschwester, die schon am Telefon so ungehalten gewesen war, erwartete uns bereits. An ihrem Gesichtsausdruck konnte man sehen, dass sie sehr besorgt war. „Ihre Tochter…sie…“ Sie schien nicht die richtigen Worte zu finden. „Unsere Tochter was?!“, schrie ich sie an. Ich wurde richtig hysterisch. Wieso konnte denn niemand Klartext reden? Meine Frau fasste mir vorsichtig auf die Schulter. Als ich mich umdrehte, sah sie mich strafend an. „Ist doch so.“, meinte ich.

Die Schwester rückte nun endlich mit der Sprache heraus: „Ihre Tochter ist gestern Abend scheinbar in eine Art Koma gefallen. Sie ist nicht mehr ansprechbar. Die Ärzte konnten allerdings nichts Genaueres feststellen.“ Ungläubig schüttelten meine Frau und ich den Kopf. Wie konnten wir nur auf einmal so viel Pech haben? Als wir ins Zimmer kamen, sahen wir unsere kleine Tochter auf dem Bett liegen. Ihre Augen waren geschlossen und sahen ziemlich geschwollen aus, als hätte sie die ganze Nacht geweint. Ich fing an wie wild an ihren Schultern zu rütteln. „Lilly!!!“, rief ich ununterbrochen. Doch unsere Kleine zeigte keinerlei Reaktion. „Verdammt, was machen wir denn jetzt?“, wollte ich von Joanna wissen. Sie schien sich in einer Schockstarre zu befinden, denn selbst weinen konnte sie nicht mehr. Sie schüttelte nur immer wieder den Kopf und ich konnte sehen, dass sie stark bezweifelte, dass unsere Tochter in den nächsten Stunden gesund aufwachen würde. Man sah ihr an, dass sie gar anzweifelte, ob unsere Lilly überhaupt jemals aufwachen würde. Doch eigentlich hatte Lilly nie gesundheitliche Probleme gehabt, sie war ein gesundes, junges Mädchen. Also wie konnte sie nun urplötzlich in ein Koma verfallen? Dies alles schien mir so unglaublich ungerecht.

 

Unsere Tochter wurde auf die Intensivstation verlegt und wir besuchten sie jeden Tag. Nachts schliefen wir entweder im Krankenhaus in ihrem Zimmer oder versuchten so lange Fernsehen auf dem Sofa zu schauen, bis uns die Langeweile zum Schlafen zwang. Es vergingen Wochen und es gab keine Lebenszeichen von Lilly.
In dieser Nacht wachte ich im Bett auf. Manchmal war ich so müde, wenn ich zu Bett ging, dass ich mich gar nicht mehr entsinnen konnte, wie ich dorthin gekommen war. Als ich mich nach links drehte, lag dort allerdings niemand. Wo war Joanna? Ich entschloss nach unten zu gehen, um nach ihr zu schauen. Ich knipste das Nachtlicht an. Gerade, als ich aufstand fing die Lampe an zu flackern. Ich zog eilig meinen Bademantel an und suchte in den Schränken nach einer passenden Glühbirne ehe die flackernde Lampe ganz den Geist aufgab. Zwischen tausenden kleinen Glühbirnenkartons wühlte ich mich hindurch. Als ich endlich eine passende Lampe entdeckte, ging das Licht komplett aus. „Scheiße!“, rief ich. „Das kann doch echt nicht wahr sein!“

Ich drehte mich vom Schrank weg und wollte grade nach einer Taschenlampe suchen, als die Nachttischlampe plötzlich wie durch ein Wunder wieder funktionierte. Sogar ganz ohne Flackern. „Auch gut.“, meinte ich schließlich genervt und machte mich auf den Weg zum Wohnzimmer. Im Flur sah ich einen langen Schatten an der Wand. Ich hielt es für meine Frau. „Joanna komm, lass uns ins Bett gehen. Es bringt Lilly auch nicht zurück, wenn wir jede Nacht auf dem Sofa schlafen.“ Sie reagierte überhaupt nicht. Ich ging auf den Schatten zu und lief um die Ecke, wo ich nun meine Frau erwartete. Allerdings war dort keine Person. Dort war niemand. Entgeistert schaute ich den Schatten an, der noch immer unverändert an der Wand klebte. Auf den zweiten Blick fiel mir nun auch auf, dass der Schatten eher dem, eines Kindes ähnelte. Sofort schoss mir Lillys Name in den Kopf. Womöglich war das der Geist unserer Tochter und wollte mit uns Kontakt aufnehmen. „Komm mit nach unten zu Mami.“, flüsterte ich dem Schatten zu. Doch stattdessen drehte sich der Schatten um und ging geradewegs auf das Zimmer meiner Tochter zu. Ich lief hinterher. Als ich die alte Vitrine wieder sah stockte mir der Atem. Wie viele Wochen waren wir nicht mehr in diesem Zimmer gewesen?


Aus irgendeinem Grund glaubte ich, dass ich wegen dieser Vitrine so ungern Lillys Zimmer betrat. Der Schatten lief genau auf die Vitrine zu uns verschwand darin. „Aber…was? Lilly, wo gehst du hin? Jetzt hat dich deine Mum doch gar nicht gesehen.“ Schnellen Schrittes lief ich nach unten, um Joanna von der Geschichte mit dem Schatten zu erzählen. Wie erwartet fand ich sie zusammen gerollt auf dem Sofa liegend.

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Tag der Veröffentlichung: 17.12.2017

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