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Mein Name ist Janice Parker und ich habe vor zwei Tagen in meinem Keller einen merkwürdigen Fund gemacht. Ich entdeckte ein kleines, vergilbtes Tagebuch mit wunderschönen Verzierungen, was einem Mädchen gehörte, welches interessante Erscheinungen gehabt haben sollte. Als ich das kleine Heft fand, nahm ich es hoch zu mir in die Wohnung und legte es in mein Regal neben dem alten Sessel. Heute will ich das Buch endlich zu Hand nehmen und es lesen.
31.01.1812
Heute hatte ich eine komische Erscheinung im Badezimmer. Irgendwie war hinter mir im Spiegel etwas Nebelartiges. Danach hatte ich furchtbar Angst, doch als ich Mama davon erzählte, meinte sie nur, dass das Einbildung gewesen sein musste. Doch ich bin mir sicher, dass es das nicht war! Natürlich glaubt mir niemand.
01.02.1812
Heute habe ich komische Geräusche aus dem Wohnzimmer vernommen. Habe mich um 4:00 Uhr morgens nach unten geschlichen und habe Mutter damit fürchterlich erschreckt. Als ich ihr sagte, dass ich etwas Merkwürdiges gehört habe, ist sie wütend geworden und meinte ich soll erwachsen werden…Ist es nicht erwachsen, wenn man an das glaubt was man sieht und hört, auch wenn es noch so unglaubwürdig für die Anderen ist?...
02.02.1812
Habe heute einen fremden Mann vor unserem Haus gesehen, er kam wieder gegen 4:00 Uhr. Als er mich erblickte hob er die Hand und hat mich angelächelt, obwohl ich ihn gar nicht kenne. Habe Mutter nichts davon erzählt, die meint nur wieder es wäre Einbildung gewesen, denn der Mann war genauso schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war.
03.02.1812
Ich habe Angst. Ständig ist ein lautes Murmeln von draußen zuhören, aber dort ist nichts! Ich weiß nicht was ich machen soll. Wenn ich zu Mama gehe, meint sie wieder ich soll endlich erwachsen werden. Keine Ahnung, was sie von einer 8-Jährigen erwartet. Ja, ich habe Angst. Und ich bin mir auch immer noch sicher, dass das was ich dort draußen wahrnehme real ist…ich werde meine Meinung nicht ändern…
04.02.1812
Habe wieder eine komische Gestalt im Spiegel erblickt. Bin aber nicht zu Mama, sondern zum Antiquitäten-Laden gelaufen. Dort wird man verstanden. Der alte Mann meinte, dass er bald zu mir kommen will und sich unser Haus genauer ansehen will. Hauptsache Mama ist nicht da. Der Mann meinte, dass er mir glaubte und, dass er auch selber schon „Geistererscheinungen“ hatte.
05.02.1812
Heute kommt der Mann zu mir… Mama ist ausgegangen. Habe das Haus für mich allein. Ich warte schon gespannt! Die Geräusche haben in den letzten zwei Tagen auch nicht nachgelassen. Aber keiner will sie hören, außer mir! Wieso glaubt mir niemand?
06.02.1812
Gestern ist der Mann erst ganz spät gekommen. Aber es hat doch etwas gebracht! Er meinte, dass er die Stimmen auch hören könne und, dass er sie auf einem Tonband aufnehmen wolle. Es war schon gruselig.
07.02.1812
Seit gestern haben die Geräusche aufgehört! Endlich wieder ruhig schlafen. Ob es das nun war und ich diese Laute nie wieder hören werde? Ich hoffe es.
10.03.1812
Seit einem Monat hatte ich die Geräusche nicht mehr gehört, aber heute ist mir plötzlich richtig kalt geworden im Zimmer. Und da wollte ich das Fenster schließen, da steht da wieder dieser Mann vor meinem Fenster! Aber diesmal habe ich mich geduckt, sodass er mich bestimmt nicht zu sehen bekommt. Er hat ständig auf das Fenster vom Schlafzimmer meiner Mutter geschaut und dann hat er sogar mit dem Finger darauf gezeigt. Was das wohl sollte?
12.03.1812
Habe seit gestern eine schwarze Katze als Haustier. Sie heißt „Sternchen“ und ist soooo süß. Nur leider hat sie nur noch ein Auge… Aber sie ist trotzdem die süßeste Katze für mich. Seitdem sie da ist fühle ich mich insgesamt besser. Und Mama findet es auch gut, dass ich lange nicht mehr von den Geräuschen und so erzählt habe. Ob ich jetzt erwachsener geworden bin?
Die nächsten Seiten sind ganz verwischt und auch sehr vergilbt. Ich glaube, das kann ich nicht lesen… Aber ich will unbedingt wissen wie es weiter geht! Ich nehme jetzt einfach ein Tuch und wische wenigstens den Staub ein bisschen ab. Naja, viel gebracht hat es ja nicht…
Oh es klingelt. Wer besucht mich denn so spät am Abend? Ja, es ist Jeff.
„Was willst du denn so spät noch?“
„Es schüttet wie aus Kübeln, kann ich bitte reinkommen?“
„Wenn die so viel daran liegt….“
„Danke. Brrrr. Ist echt eklig draußen.“
„Weißt du Jeff…ich bin grade etwas beschäftigt.“
„Was machst du denn?“
„Ich habe unten im Keller ein altes Tagebuch von einem kleinen Mädchen gefunden. Ist echt ein altes Ding. Aber spannend ist es ja.“
„Ja? Darf ich mir das bitte mal ansehen?“
„Sicher.“
Kommt der hier rein und schaut sich einfach das Buch an. Wahrscheinlich lacht er mich gleich aus, weil ich mir so etwas anschaue. Und wie schnell seine Augen über das Papier wandern…jetzt ist auch er bei den vergilbten Seiten angelangt. Zu meiner Überraschung lacht er nicht…
„Und…was meinst du?“
„Was soll ich dazu meinen? Es ist ein kleines Mädchen mit Geistererscheinungen. Habe ich schon öfters was von gehört.“
„Tatsächlich?“
„Ja, müssen wir nur rausfinden, wie das Mädchen hieß, hm?“
„Wie willst du das herausfinden?“
„Ich habe einen Freund hier, der kennt sich mit so Geschichten gut aus. Vielleicht kann der uns sagen, wer dieses Mädchen war. Er wohnt in der Innenstadt. Wollen wir nicht mal hingehen?“
„Jeff, du weißt wie spät es ist?“
„Der ist garantiert noch auf, na los! Wenn dann sage ich sowieso, dass das alles meine Idee war. Einverstanden?“
„Einverstanden.“
Ich hätte ja nicht gedacht, dass Jeff das auch so interessiert. Gleich sind wir in der Innenstadt. Bin ja mal gespannt, was das für ein Kerl ist, dieser Freund.
Oh mein Gott, wenn das der da ist! – der sieht ja selber aus, wie ein Gespenst.
„Hi Jeff!“ – Oh nein, das ist er auch noch! Das Jeff so Leute kennt…
„Hallo. Meine Freundin hat hier etwas Interessantes gefunden. So ein altes Tagebuch von so einem Mädchen. Kennst du die vielleicht?“
Nun nahm der „Freund“ das kleine Taschenbuch in die Hand und las. Seine Gesichtszüge zeigten keinerlei Regung. Am Ende nickte er verständnisvoll.
„Das ist das Mädchen aus New York. Habe ich schon öfters von gehört. Ihr Name ist allerdings unbekannt. Bis heute wird noch spekuliert was damals wirklich mit ihr passiert ist.“
Nun ergriff ich das Wort: „Passiert? Was ist denn mit ihr passiert?“
Jeff sah mich an: „Hast du davon noch nichts gehört? Ist bis heute ja nicht aus der Presse raus! Die hatte Geistererscheinungen und wurde wenig später in die Psychatrie eingewiesen! Mit acht Jahren! Man fragt sich ja schon, was manche Menschen für Probleme haben.“ Er lachte leise. Doch ich fand das gar nicht lustig.
Jeffs Freund meinte: „Der ihr Tagebuch haben schon viele Autoren nachgeschrieben. Aber ich glaube fast, das was du da hast ist die Original-Version. Damit kannst du Millionen verdienen!“ Ich verdrehte die Augen: „Es geht hier nicht ums Geld! Ich will nur wissen, wie es mit dem Mädchen weiterging!“
Jeff mischte sich ein: „Na habe ich doch schon gesagt. Sie kam ins Irrenhaus. Und dort blieb sie ihr Leben lang! Dann gebar sie eine Tochter. Ich weiß aber nicht, ob die dann auch noch Kinder bekommen hatte…“ Ich grübelte. Das war ja echt spannend.
Am nächsten Morgen ging ich in die Bibliothek, um dort eines der nachgeschriebenen Tagebücher auszuleihen. Obwohl ich mir doch sehr sicher war, dass niemand wirklich Ahnung davon hatte, was dieses Mädchen durchgemacht hatte..Auch die Autoren nicht. Die hatten Dokumentationen und Ähnliches gesehen und wollten es so aussehen lassen, als hätten sie den perfekten Durchblick auf die Sache. Doch die Einzige die wirklichen Durchblick hatte, war das Mädchen selbst. Dennoch huschte ich durch die Regale und fand schließlich das, was ich gesucht hatte.
Ich setzte mich an einen Schreibtisch und begann die Geschichte erneut nachzuempfinden. Das Buch war nicht sehr dick und gut geschrieben war es auch nicht wirklich. Obwohl es in der Ich-Form geschrieben wurde, ließ es der Autor nicht außer Frage, dass das alles erfunden und nicht real war! Enttäuscht klappte ich das Buch zu. Wie sollte ich denn dann mehr über die Geschichte erfahren?
Wieder zuhause setzte ich mich an den Computer und las einige Anzeigen aus den 90er Jahren. Doch keine fesselte mich so, wie das kleine, alte, vergilbte Tagebuch aus meinem Keller. „Wenn ich ja nur wüsste, wie sie hieß!“, sagte ich mir selbst. Weiter suchte ich im Internet nach Geistererscheinungen und mir stockte schließlich der Atem! Ich hatte die Geschichte des Mädchens aus New York gefunden. Und nicht nur das! Ich sah ein Bild von ihr, vor meinem Haus! Langsam rollte ich mit dem Stuhl nach hinten. Das würde dann auch erklären, warum das Tagebuch grade in meinem Haus lag. Aber wieso sollte grade ich es finden? Schon seit meiner Kindergartenzeit glaubte ich nicht an Gespenster. Schon immer war ich skeptisch, wenn mein Bruder versuchte mir damit Angst zu machen. Und jetzt sollte ich auf einmal mit einer WAHREN Geistergeschichte konfrontiert werden?
Schnell las ich mir den Abschnitt aus einer Zeitung durch. Tatsächlich. Das Mädchen war in die Psychatrie gekommen und sie hatte wirklich eine Tochter zur Welt gebracht. Doch auch eine neue Information stieß ich auch. Die Tochter hatte auch Kinder bekommen und die hatten wieder Kinder bekommen und so weiter. Ich druckte mir den Artikel aus und rannte aus der Bücherei. Ich wollte zu Jeff, um ihm zu zeigen, was ich entdeckt hatte. Als er öffnete, trat ich ohne ein Wort ein. Er las sich den Artikel durch.
„Wenn die Familie immer weiter geführt wurde, dann muss es doch auch heute noch eine ihrer Ur-Ur-Ur, was weiß ich Ur-Enkel geben! Janice! Wenn du sie findest, könntest du vielleicht mehr über dein Mädchen erfahren!“ Ich blieb trotzdem skeptisch. „Ja, nur das ich den Namen der Familie noch immer nicht kenne.“
Jeff lächelte: „Aber ich.“ Jetzt wurde ich aufgeregt. „Was? Wie heißt sie, wie hast du das rausbekommen, los sag schon!“ Er lächelte immer noch. „Ich bin die Liste der Irrenanstalten des Jahres 1813 durchgegangen! Sie heißt Emily Forrow, auch bekannt als das Mädchen aus New York.“ Ich ließ mich auf seine Couch fallen. „Den Familiennamen haben wir schon mal.“ Er nickte. „Wäre doch gelacht, wenn wir die nicht finden würden. Übrigens weiß ich, dass die „Whitelaw-Psychatrie“ einen eigenen Friedhof hat.“
Ich verstand nicht ganz. „Du meinst, die gibt es immer noch?“ Jeff nickte. „In New York. Schade, dass wir nicht einfach hinfahren können…“ Ich unterbrach ihn: „Fahren nicht, Fliegen schon.“ Und so saßen wir wenige Tage später im Flieger nach New York. Man muss sagen, die ärmsten Leute waren wir nicht. Der Flug zog sich in die Länge. Grade als der Pilot meinte, dass wir landen würden, wachte Jeff, der die ganze Zeit geschlummert hatte, gähnend auf.
Ich lächelte ihn an. „Wir sind gleich da.“
Der Flughafen war riesig. Weder Jeff, noch ich waren je in New York gewesen. Also kannten wir uns beide nicht sonderlich aus. Gott sei Dank hatte Jeff eine Stadtkarte dabei. „Also kurz ist das nicht…“, meinte er erschüttert. Erneut gähnte er. „Ich habe gar keine Lust auf so eine lange Fahrt.“
„Trotzdem, meinte ich, „wir sind ganz bestimmt nicht umsonst hierher geflogen, vielleicht wohnt Familie Forrow noch hier!“
Wir fuhren mit dem Bus. Das Haus an sich war sehr verfallen und rund herum wuchsen wilde Büsche. Einige Leute schauten uns schräg an, als wir grade an dieser Haltestelle ausstiegen. Jeff war es sichtlich unangenehm so angestarrt zu werden. „Na toll, meinte er, „Jetzt denken sogar die Leute aus New York, dass wir sie nicht alle haben!“ Ich wehrte ihn ab und öffnete das knarrende Tor. Wir traten in die Vorgarten, in dem der Friedhof lag. Verfallende, schiefe Grabsteine wohin man sah.
Jeff rückte nah an mich heran. „Von so einer Kulisse, kann jeder Horror-Film träumen…“ ich stimmte ihm zu. Ja, es war echt gruselig. Man fühlte sich von den Büschen und Bäumen regelrecht angestarrt. Zu allem Überfluss fing es auch noch an zu regnen. „Wollen wir uns nicht unterstellen, Janice?“, fragte Jeff zitternd. Ich schüttelte den Kopf und machte mich zu dem ersten Grabstein. Es würde ewig dauernd, zu allen Grabsteinen zu laufen. Es schien, als wären es Millionen Gräber. Dies bestätigte allerdings auch, wie alt diese Psychatrie und dieser Friedhof waren. Jeff schien genervt zu sein, denn er drehte sich um und stellte sich vor die Eingangstür. Er starrte durch die Glastür und beobachtete, wie die Arbeiter durch die Gänge huschten.
Ich lief weiter und las die nächsten fünf Grabsteine. Keiner der Namen kam mir bekannt vor. Auf einmal hörte ich wie mein Freund einen schrillen Schrei ausstieß. Ein blutiger Händeabdruck war alles was ich sah… Ich rief: „Was ist passiert?“ und lief zu ihm.
Mit großen Augen und offenem Mund drehte er sich um. Er sagte gar nichts, sondern ging die Treppen hinunter und lief zum Tor. Ich fasste seine Schulter an und drehte ihn zu mir. Er erschauderte erneut. „Da ist er schon wieder!!!“, schrie er und rannte Richtung Tor. Ich wandte mich zur Eingangstür und sah einen jungen Mann der mir mit frechem Grinsen entgegenblickte. Schnaubend lief ich Jeff hinterher. „Wer war das? Und wo kommt der Handabdruck her?“, fragte ich. Er sah mich an: „Wer das war? Ein kranker Mann! Wo der Handabdruck herkommt? Der Typ hat sich den Arm aufgeschnitten und hat seine blutige Ekel-Hand gegen die Tür geklatscht! Der hat sie doch nicht alle, mich so zu erschrecken!“ Ich seufzte. „Beruhige dich. Der ist da drin – wir hier draußen. Wahrscheinlich ist die Tür verschlossen, also kann der dir nix anhaben. Und wenn das einer von den Arbeitern sieht, wird der Typ wieder in sein Zimmer gebracht.“ Allmählich schien er sich zu beruhigen. Er seufzte auch und meinte: „Ja, ok. Dann lass und mal zurück gehen und sehen, wo Ms. Forrow begraben ist.“ Lächelnd nickte ich und wir gingen zurück. Der Regen war stärker geworden und es war kalt – sehr kalt.
Wir suchten und suchten, doch wurden einfach nicht fündig. Nass bis in die Haarspitzen gaben wir auf. „Die liegt hier nicht mehr, vergiss es.“, schnaubte Jeff. Hoffnungsvoll warf ich einen Blick auf die Gräber, die wir noch nicht abgesucht hatten. „Denk nicht mal dran! Die suche ich nicht mehr mit dir. Es reicht. Mir ist so verdammt kalt und Lust habe ich auch nicht mehr! Du kannst ja gerne weitersuchen, aber ich fahre ins Hotel!“, schrie er. Offensichtlich meinte er es ernst, denn er machte schon die ersten Schritte zum Tor. Auf einmal kam mir eine Idee. „Wir können drinnen ja mal nachfragen, ob jemand weiß, wo sie liegt!“ Jeff schüttelte den Kopf. „Aber da drin ist es warm und nass werden kannst du da drin auch nicht.“
„Ja, schon. Nur leider hast du die Kleinigkeit vergessen, dass dort Geistig-Verwirrte wohnen, die da einfach so rumlaufen! Keinen Schritt gehe ich mit dir da rein!“ Doch als er sah, wie ich allein zum Eingang ging, folgte er doch. Drinnen war es warm und es roch nach Krankenhaus…es war es ja auch mehr oder weniger ein Krankenhaus. Arbeiter liefen mit forschen Schritten und ohne uns anzusehen an uns vorbei in die Zimmer, die in dem Gang lagen. Irgendwo musste es doch eine Rezeption oder sowas in der Art geben. Und tatsächlich! Wenn man geradeaus dem Gang folgte, sah man eine junge Dame, die hinter einem Pult saß und telefonierte.
Als wir näher kamen lächelte sie kurz. Wenig später hatte sie aufgelegt. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie freundlich. „Mein Name ist Janice Parker und ich suche das Grab von einer Emily Forrow…ich habe gehört, dass sie hier liegen soll…stimmt das?“ Die Frau, welche bis eben noch ein freundliches Lächeln trug, setzte einen ernsten Gesichtsausdruck auf. „Ja, die liegt hier. Wieso suchen Sie denn das Grab von ihr? Es wird Ihnen nicht viel bringen, sich einen alten Grabstein anzusehen!“ Verwundert, dass sie Frau so frech geworden war, schaute ich Jeff an. Der hatte bis jetzt nur zugesehen und schien ähnlich bestürzt zu sein, wie hier mit Besuchern umgegangen wurde. Schließlich ging er auf die Frau zu: „Hören Sie mal, Madame! Es hat sie nicht zu interessieren, warum wir das Grab besichtigen wollen. Ihre Aufgabe ist es, es uns zu zeigen, verstanden?“ Überrascht sah ich ihn an. Ich wusste gar nicht, dass er so fließend Englisch sprach. Die Frau schien sichtlich gereizt zu sein und deutete zur Tür. „Verschwinden Sie! So lasse ich nicht mit mir reden!“, rief sie. Ein paar Mitarbeiter schauten uns fragend an, wanden sich aber schon bald wieder ihrer Arbeit zu.
Tatsächlich wandte sich Jeff um. Ich war schon kurz davor ihm hinterher zu gehen und ihm zu sagen, dass ich das Grab trotzdem sehen wollte, doch dann sah ich das er auf die schlaue Idee gekommen war, einfach jemand anders zu fragen. Er wählte den nächsten Mann, der mit einem Sandwich relativ langsam und entspannt durch den Gang lief. Anscheinend schien er grade unbeschäftigt.
Jeff hielt ihn an und sprach in perfektem Englisch: „Entschuldigen Sie, Sir. Meine Freundin und ich suchen das Grab einer gewissen Emily Forrow. Wissen Sie wo sich dieses befindet?“ Der Mann grübelte kurz. Dann schien ihm etwas eingefallen zu sein. „Ich weiß das nicht, aber ihre Enkelin wird das wohl wissen. Sie trauert jeden Tag an ihrem Grab. Sie ist auf Zimmer 212, aber gehen Sie da bloß nicht alleine rein…Die ist nicht unbegründet hier, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Demonstrativ zeigte er sich einen Vogel. Diesmal sagte ich: „Sie meinen ihre Enkelin wohnt auch hier?“
Der Arbeiter lachte: „Aber ja. Die gesamte Familie hat hier bei uns gewohnt, weil sie alle „Geister“ sehen. Wenn Sie mich fragen, spinnen die total!“ Jeff lächelte: „Dankeschön.“ Wir gingen das Treppenhaus hinauf zu Zimmer 212. An dem Türschild stand ein Name. „Erica Forrow.“, flüsterten Jeff und ich im Chor. Leise klopfte ich, während er eine Arbeiterin suchte, die uns begleiten würde. Diese öffnete die Tür und legte einen Finger auf die Lippen. Wir nickten. Drinnen war alles hell beleuchtet. Einige Kerzen brannten. Und auf einem Bett saß schmunzelnd die alte Dame Erica Forrow und versuchte Müllkügelchen in den Papierkorb zu befördern. Sie schien uns gar nicht bemerkt zu haben. Die Arbeiterin nahm Erica’s Hände in die ihre. Die Frau blickte auf und schmunzelte erneut. „Wie kommt es, dass sie mich besuchen Ms. George?“
Ms. George, die Arbeiterin zuckte zusammen und flüsterte: „Besuch für Sie.“ Erica schien erfreut. „Für mich?“ Ms. George gab uns ein Zeichen, Erica die Hände zu geben. Fragend sah mich Jeff an. Ich zuckte mit den Schultern und tat es. Erica schaukelte hin und her und hatte meine Hände fest umgriffen. Sie flüsterte etwas, was ich nicht verstehen konnte und schließlich lachte sie. „Hallo meine Liebe Janice!“
Erschrocken riss ich meine Hände fort und taumelte zurück. Jeff schien geschockt und starrte mit großen Augen die alte Frau an, die ich noch niemals gesehen hatte. Die Arbeiterin, Ms. George, raunte mir ins Ohr: „Ms. Forrow erkennt die Leute an ihren Händen und kann sie sofort benennen. Keiner weiß, wie sie das schafft, aber es klappt einfach immer! Und sie meint, dass sie sofort bei Leuten erkennen könne, ob sie Guten oder Bösen Geistes sind…Und das alles, obwohl sie absolut blind ist!“ Ich wies Jeff darauf hin, ihr die Hand zu geben.
Er tat es und wieder schaukelte Erica Forrow hin und her. Wieder lachte sie und meinte: „Hast wohl keine Lust mehr, hm Jeff? Ist ja auch echt eklig draußen. Gut, dass ich hier drinnen bin.“ Verwirrt blickte mich Jeff an und flüsterte: „Woher zum Teufel weiß sie das?!“ Ich konnte nur mit den Schultern zucken. Ms. George redete langsam auf Erica ein. „Jeff und Janice suchen das Grab ihrer Oma…Emily.“ Erica wurde hellhörig. „Wieso?“, rief sie laut. Ich ging einen Schritt auf sie zu. „Ich habe das Tagebuch Ihrer Oma in meinem Keller gefunden. Es scheint, als habe sie früher in dem Haus gewohnt, wo ich jetzt wohne…In Deutschland?“ Erica schnaubte laut.
„Deutschland…ohja. Das könnte sogar stimmen. Sie hat dieses Haus so geliebt! Obwohl es so lange her ist, dass sie gelebt hat weiß ich, wie wichtig ihr ihr Haus war. Und wie gern sie gezeichnet hat. Vielleicht haben Sie einige ihrer Zeichnungen entdeckt, Janice?“ Ich dachte nach. Nein, Zeichnungen hatte ich nicht gefunden, aber das Tagebuch war wunderschön verziert gewesen.
„Also…was wollen Sie denn an dem Grab?“, fragte Erica tadelnd. „Also eigentlich wollten wir nur wissen, ob sie wirklich hier liegt. Aber jetzt wo wir Sie gefunden haben, wird das nicht mehr nötig sein…Wissen Sie wieso Ihre Oma hier eingewiesen wurde?“ Erica lachte: „Oh ja, Emily hat als Achtjährige ihre ersten Geistererscheinungen gehabt. Aber ich denke, dass werden Sie in ihrem Tagebuch gelesen haben. Dann als Neunjährige haben die Geister sie angegriffen, doch alle waren fest davon überzeugt, dass sie sich selbst verletzt habe. Ich allerdings glaube ihr und Sie, liebe Janice, tun das sicher auch.“ Jeff blickte mich mit einem schiefen Seitenblick an. Ja, innerlich glaubte ich schon irgendwie an diese Geschichten. Wieso wusste ich allerdings auch nicht. Ich nickte einfach nur.
Dann wandte sich die alte Frau an Jeff: „Wieso begleitest du Janice, wenn du dieser Sache sowieso keinen Glauben schenkst?“ Jeff wusste nicht mehr wohin er schauen sollte. Irgendwie war es ihm peinlich von einer fremden Frau, auf seine Gedanken angesprochen zu werden.
Doch er fasste sich ein Herz und sagte: „Um Janice zu unterstützen…und irgendwie, jetzt wo ich mit Ihnen gesprochen habe, glaube ich sogar ein Wenig daran…es ist schon krass, wie Sie sofort wussten wer wir waren und so.“ Erica lachte: „Na schön, dass ich dich ein wenig umkehren konnte, mein Freund. Und wenn du das sehen würdest was ich sehe, würdest du nie wieder auf die Idee kommen, dass es Geister nicht gibt! Weißt du? Hier überall um dich herum, um mich herum, um uns alle herum sind Gespenster. Doch das sind nicht jene Gespenster, aus Horror-Filmen. Es sind friedliche Geister, die Leuten wie mir zeigen, dass es nicht nur uns Menschen von heute gibt, sondern auch die Leute, die damals gelebt haben und das sie trotzdem hier um uns herum existieren.“
Das sagte sie so glaubwürdig und überzeugt, dass ich ihr sogar das glaubte. „Haben Sie denn schon mal jemanden aus der Vergangenheit gesehen, den sie kannten?“, fragte ich schließlich zögernd. Erica nickte. „Oh ja. Meine Oma sogar. Jedes Mal wenn ich bei ihr vor dem Grab sitze, sehe ich sie und wir reden. Es ist schön, verstanden zu werden. Aber leider sitze ich trotzdem hier drinnen, weil es immer noch Leute gibt, die glauben ich sei verrückt.“ Jeff, Ms. George und ich nickten gleichzeitig. „Wären Sie so freundlich uns das Grab zu zeigen?“, fragte ich vorsichtig. Erica lächelte und nickte. „Sicher. Wenn ihr Glück habt, sehr ihr ja vielleicht sogar auch meine Oma.“
Wir folgten ihr nach draußen. Der Regen platschte unter unseren Schuhen. Erica lief ganz nach rechts. Es sah so aus, als ob sie dabei war den Friedhof zu verlassen und in den Wald gehen würde, doch kurz bevor der Wald anfing, weit entfernt von den anderen Gräbern, sah ich das Grab von Emily Forrow. Erica kniete sich in den Schmutz und schloss die blinden Augen. „Was machen Sie da?“, fragte ich. Erica legte einen Finger an den Mund. „Du musst ganz leise sein, sonst verliere ich sie wieder.“ Ein paar Minuten standen wir alle in einem Halbkreis um das Grab herum und niemand sagte etwas. Erica schien aber trotzdem mit ihrer Oma in Verbindung zu stehen. Wie machte sie das nur? Sie gab uns allen, die nie an Geister geglaubt hatten, das Gefühl, dass dort Leute waren, die wir einfach nur nicht mit unseren Augen sehen konnten. Doch auf irgendeine Weise sahen wir sie doch. In unseren Köpfen.
Ich sah mich um und hatte plötzlich das Gefühl, auf dem leeren Friedhof nicht mehr allein zu sein! Ich hatte das Gefühl, dass alle meine Verwandten, die tot waren, um mich herum standen und mich herzten. Und ich wusste, dass es Jeff und Ms. George genauso ging. Erica hatte etwas mehr Glauben in unser Leben gebracht und das war auch schön so. Doch ob es Geister nun wirklich gibt, wird uns allen weiterhin verborgen bleiben.
Seit meinem Trip nach New York sind Jeff und ich weiterhin in Kontakt mit Erica geblieben. Wir glaubten ihr weiterhin, doch natürlich wurde sie nicht entlassen. Ich bin mir aber dennoch sicher, dass sie sich verstandener fühlt, wie zuvor. Jeff und ich recherchierten jetzt in unserer Freizeit öfter über Geistererscheinungen und Ähnliches.
Und obwohl ich wusste, dass ich allein in meinem Haus war, kam es mir trotzdem so vor, als würde Emily Forrow mit mir dort leben. Sie hatte ihre Spuren in dem Haus hinterlassen und war irgendwie niemals ausgezogen, auch nicht als der Tod sie nahm. Wahrscheinlich wird sie auf Ewigkeiten hier verweilen….

Nina D. 18.11.2012

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.11.2012

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