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Ich sah meine Mutter wie sie weinend auf dem Sofa saß. Tränen rannen über ihre Wangen und ihre Augen färbten sich rot. Neben ihr saß mein Vater und versuchte seine Tränen zurückzuhalten. Ich war meinem Vater sehr ähnlich, denn wie er wusste auch ich nicht wie ich mich verhalten sollte, wenn ich jemanden weinen sah. Für uns beide war es sehr unangenehm. Meine Mutter sah mich an und brachte ein schwaches Lächeln zustande. Dann stand sie auf und nahm mich in den Arm. Dabei flüsterte sie mir ins Ohr. Sowas wie: „Das wird schon wieder.“ Und „Wir schaffen das zusammen Jack.“ Es machte mir Angst, dass ich spürte wie meine Augen sich mit Tränen füllten. Schon bald lagen meine Mutter und ich uns weinend in den Armen.
Mein Vater stellte sich neben uns und streichelte mir über den Rücken. Meine Mutter lies mich los und überließ mich den Armen meines Vaters. Die beiden fingen an sich zu unterhalten: „Bernhard der Typ vom Friedhof hat angerufen. Er wollte wissen wann wir die Trauerfeier veranstalten wollen.“ Bernhard, mein Vater, wurde wütend und schrie fast: „Das ist doch nicht zu glauben! Wir verlieren unseren Sohn und sind total am Trauern und die wollen jetzt schon von und wissen, wann wir von ihm Abschied nehmen wollen? Eine Unverschämtheit!“ Erschrocken über den Ton meines Vaters wich ich zurück. Er schien selbst erschrocken über seinen Tonfall zu sein und lief rot an.
Meine Mutter, Maria, nahm ihn in den Arm und ich fragte mich wie ich ohne meinen Bruder nur leben sollte. Mein Name ist Jack Nickelson und ich bin 14 Jahre alt. Mein Bruder hieß Jeff und wir hatten zwar öfters Streit, aber trotzdem liebten wir uns. Er war doch erst 7! Wieso sollten wir ihn so schnell verlieren?! Es klingelte an der Tür. Weil meine Eltern sich immer noch in den Armen lagen, ging ich zur Tür. Meine Großmutter schaute mich betroffen an. Sie sagte gar nichts sondern umarmte mich einfach. So war es auch besser. Ich wollte nicht reden. Über das was geschehen war. Den…Unfall!
Mein Bruder Jeff und ich hatten am Fluss gespielt. Unser Lieblingsort. Es war ein sonniger Tag und wir hatten beste Laune. Wir hatten den Ball von unserem Hund mitgenommen und spielten ausgelassen. Wir hatten uns den Ball über viele Meter zugeworfen und unser Hund war eifrig hinterher gerannt. Doch einmal warf ich zu weit und der Ball fiel in den Fluss hinter Jeff. „Ich suche mal einen Stock, dass wir ihn wiederholen können.“, rief ich ohne nachzudenken und lief, von meinem Hund Joy gefolgt, in den Wald. Vögel sangen in den dichten Baumkronen über unseren Köpfen. Ich fand schnell einen geeigneten Stock und machte mich auf den Rückweg zum Fluss. Als ich aus dem Wald heraus kam, war Jeff aber verschwunden. Ich rannte zum Fluss und das Bild was ich dann sah, hatte sich total in mein Hirn eingebrannt. Ich sah meinen kleinen 7-Jährigen Bruder in den starken Strömungen des Flusses, wie er sich versuchte an einer Wurzel im Wasser festzuhalten. Alles was ich getan hatte war geschrien. Ich hatte seinen Namen geschrien, geschrien, dass ich Hilfe holen würde. Doch als die Polizei und meine Eltern ankamen, war es zu spät. Jeff war in den Tiefen verschwunden. Meine Mutter kam aufgelöst aus dem Auto und schlug mich, was ich ihr nicht übel nahm. Sie hatte ja Recht! Es war dumm von mir gewesen Jeff allein am Fluss zurückzulassen, auch für noch so kurze Zeit! Das schlimmste an dem „Unfall“ war, dass ich ihn hätte verhindern können!
Ich hätte Jeff mit in den Wald nehmen können, oder ich hätte den dämlichen Ball einfach im Fluss gelassen und wir hätten einen neuen gekauft! Aber wie konnte ich nur so blöd sein und meinen kleinen Bruder allein am Ufer eines rasenden Flusses lassen?!
Die Schuldgefühle brachen über mich herein, als ich nun in den Armen meiner Großmutter lag. Natürlich hatte ich mich auch vorher schon schlecht gefühlt, doch nun wurde alles noch schlimmer. Ich hatte erst registrieren müssen, was passiert war. Mich von Oma Sally lösend drehte ich mich um und rannte in mein Zimmer. Ich konnte es nicht ertragen, dass ich schuld daran war, dass alle so traurig waren! Heulend vergrub ich mein Gesicht in meinem Kopfkissen. Was danach passierte wusste ich nicht. War ich wirklich eingeschlafen? Schließlich öffnete ich wieder die Augen und war wütend auf mich selbst. „Du Blödmann! Wie kannst du in diesem Moment einschlafen?“, sagte ich zu mir selbst. Einerseits war es verständlich, dass ich müde war, denn ich hatte die letzte Nacht kein Auge zugetan. Zu viele Albträume hatten mich verfolgt.
Auch in dieser Nacht schlief ich sehr unruhig. Um 4:00 Uhr morgens wurde mir plötzlich extrem kalt, trotz Decke. Zitternd stapfte ich ins Wohnzimmer, um mir noch eine Wolldecke dazu zunehmen. Komisch. Im Wohnzimmer war er gar nicht kalt. Verwirrt ging ich wieder ins Zimmer und merkte, dass das Fenster offen stand, obwohl ich es am vorherigen Abend zugemacht hatte. Oder hatte ich es gar nicht zugemacht? Konnte ja nicht sein, wenn es jetzt offen war. Ich erschrak. Denn das Fenster war beschlagen und an das Fenster hatte jemand: „Dich trifft keine Schuld.“ Geschrieben. Ich zog die Augenbrauen zusammen und wischte die Schrift blitzschnell weg.
Die Sache machte mir langsam Angst. Ich legte mich wieder in mein Bett und versuchte nicht mehr an das Fenster und die Kälte zu denken. Dinge, die ich nicht verstehe, versuche ich meist zu verdrängen und zu ignorieren. Und diese zwei Dinge waren ein absolutes Rätsel für mich. Irgendwie konnte ich es aber nicht vergessen. Deswegen stand ich noch einmal auf und ging ins Badezimmer, um mir das Gesicht zu waschen. Dort angekommen, nahm ich ein komisches Knistern neben mir wahr. Ich dachte mir, dass es von draußen kommen würde, doch als ich das Rollo hochmachte, sah ich nichts außer den Mond, der hell im schwarzen Himmel hinab leuchtete. Ich schüttelte den Kopf, legte mich wieder ins Bett und schaffte es endlich einzuschlafen.
Am nächsten Morgen, kam es mir so vor, als hätte ich die ganze Nacht kein Auge zugetan. „Vielleicht habe ich das alles nur geträumt.“, redete ich mir selbst ein. Was sollte es auch sonst für eine Erklärung dafür geben? Meine Mutter betrat das Zimmer. „Jack. Zeit zum Aufstehen. Du musst heute zur Schule!“ Ich seufzte und zog mich an. Niemals würde ich mich jetzt auf die Schule konzentrieren können. Ich war viel zu aufgewühlt, wegen gestern Nacht.
Irgendwie hatte ich die Schule überlebt. Zuhause angekommen, sah ich einen Zettel auf dem Küchentisch. Er war von meiner Mutter. Sie schrieb: Hey Schätzchen. Ich bin mit deinem Vater einkaufen. Essen steht im Kühlschrank. Sehen und heute Abend. Ich hab dich lieb. Missmutig ging ich zum Kühlschrank. Die Sache von gestern Nacht wollte einfach nicht aus meinem Kopf verschwinden. Ich nahm mir vor meinen Eltern von meinem Erlebnis zu erzählen, sobald sie nachhause kommen würden.
Der Kühlschrank war fast leer. Aber ich hatte sowieso keinen Hunger. Ich wollte reden! Irgendjemanden sagen, was mir nicht mehr aus dem Kopf ging. Also beschloss ich, meinen besten Freund Timo anzurufen. Beim dritten Tuten nahm er ab. „Timo. Ich muss mit dir reden. Können wir uns treffen?“ Er willigte ein.
In unserer Stadt gibt es einen alten, verschrotteten Bahnhof. Das war unser Lieblingsplatz. Schon vom weiten sah ich, wie Timo mich bereits erwartete. Anstatt mich zu begrüßen meinte er nur: „Was gibt’s?“ Wir setzen und auf die nun unbefahrenen Schienen und ich begann von der letzen Nacht zu berichten: „Also gestern Nacht war’s schon ein bisschen gruselig. Zuerst einmal war mir richtig kalt.“
„Das ist alles? Normal im Oktober. Da gibt es kältere Tage Jack.“ Ich verdrehte die Augen. Nie konnte er mich ausreden lassen. „Das ist ja auch noch nicht alles. Das Komische ist, dass es nur kalt in meinem Zimmer war. Ich war ihm Wohnzimmer und dort war es ganz normal. Und als ich wieder zurück ins Zimmer gegangen bin, war mein Fenster offen, obwohl ich es am vorherigen Abend ganz sicher geschlossen habe. Und das Schlimmste kommt noch: Das Fenster war beschlagen und jemand hatte ans Fenster geschrieben: Dich trifft keine Schuld.“ Timo schüttelte sich. „ Ist ja gruselig. Wer kann etwas an ein Fenster schreiben, das im dritten Stock liegt?`“ Ich nickte: „Ja eben! Und das ist noch nicht alles. Dann bin ich ins Bad gegangen und ich hatte andauernd das komische Gefühl beobachtet zu werden. Außerdem hab ich so ein komisches Knistern neben mir gehört. Ich dachte, dass es von draußen käme, aber da war absolut nichts!“
Timo schüttelte den Kopf. Es schien mir, als würde er mir glauben. „Das ist nicht normal. Vielleicht solltest du mal meine Tante besuchen.“ Mir war nicht sicher, ob das ein Witz sein sollte, aber ich glaubte, dass er das ernst meinte. Seine Tante war Geistervertreiber. Also jemand, der einen helfen soll, wenn man sich von Geistern verfolgt fühlt. Bis jetzt hatte ich dem ganzen Geisterscheiß keinen Glauben geschenkt. Aber jetzt wo er schon von Geistern anfing, bekam ich Angst. Timo lachte. „Du denkst doch nicht, dass ich das ernst meinte. Geister gibt es nicht Mann, das weißt du doch.“ Abwesend nickte ich. „Aber wenn’s doch ein Geist ist? Könntest du mir die Nummer von deiner Tante geben?“ Timo schaute mich ungläubig an. „Das kannst du doch nicht ernst meinen.“ Ich nickte nur. Oh doch, ich meinte das ernst.
Weil Timo meinen ernsten Gesichtsausdruck sah, schien er zu merken, dass das mein Ernst war und schrieb mir die Nummer auf. Gleich wenn ich nachhause kommen würde, würde ich anrufen. Plötzlich hatte ich es eilig und verabschiedete mich rasch. Wieder angekommen sah, ich die Schuhe meiner Mutter vor der Tür stehen. „Mist.“, murmelte ich und tapste auf Zehenspitzen in mein Zimmer, das Telefon in der Hand. Ich wollte nicht, dass meine Mutter wusste, dass ich an Geister glaubte, und sie auch noch vertreiben wollte. Das würde sie nur unnötig belasten.
Ich wählte die Nummer und wurde in die Warteschleife geleitet. Also glaubten doch mehrere Menschen an Geister. Nach fünf Minuten fing ich an ungeduldig zu werden. Meine Geduld war noch nie die Größte gewesen. Endlich nahm eine Sekretärin ab. „Guten Tag…ich bin Jack Nickelson und ich hätte gern Frau Sauer gesprochen.“ Die Sekretärin erwiderte: „So leid es mir tut Herr Nickelson, Frau Sauer führt keine Telefonate. Sie gibt ausführlich Sprechstunden.“ Mir war es zwar peinlich mit Frau Sauer persönlich zu sprechen, doch mir war auch bewusst, dass ich keine andere Wahl hatte. Gott sei Dank bekam ich einen Termin am morgigen Tag.
In dieser Nacht hatte ich das Gefühl, ganz gut zu schlafen. Doch wieder wurde ich um Punkt 4:00 Uhr ohne Grund aus dem Schlaf gerissen. Nicht einmal schlecht geträumt hatte ich. Wieder umgab mich eine seltsame Kälte. Nein diesmal würde ich nicht aufstehen. Ich wollte auf jeden Fall dabei sein, wenn irgendetwas geschehen würde. Im Bett sitzend wartete ich minutenlang, ohne zu atmen. Ich erschrak fürchterlich, als die Vase auf meinem Regal mit einem lauten Knall hinunterfiel und auf dem Boden in 1000 Teile zerschellte.
„Hallo?“, fragte ich flüsternd. Ich war mir plötzlich sicher, dass mir jemand geantwortet hatte. Denn zuerst hörte ich nur ein schnaubendes Atmen, welches schließlich in eine Antwort überging. Deutlich hörte ich ein Flüstern neben mir, welches meinen Namen sagte. „Jack.“, hauchte es. „Du brauchst dich nicht schuldig zu fühlen!“ Mein Herz schlug bis zum Hals. Flüsternd und mit stockender Stimme fragte ich: „Für was soll ich mich nicht schuldig fühlen?“ Doch niemand antwortete. Langsam redete ich mir ein, dass ich mir das alles nur eingebildet hatte. Wie sollte auch jemand antworten, wenn niemand im Zimmer war? Irgendwie hatte ich es geschafft mich wieder in den Schlaf zu zwingen.
Gähnend ging ich an den bereits gedeckten Frühstückstisch. Meine Mutter kam lächelnd in die Küche. „Na. Gut geschlafen?“, fragte sie und küsste mich auf die Wange. Benommen nickte ich, auch wenn es nicht der Wahrheit entsprach. Ohne Hunger zwang ich die Cornflakes in mich hinein. Früher als normal machte ich mich auf den Weg zur Schule. Ich wollte unbedingt Timo von der vergangenen Nacht erzählen. Ich hatte Glück. Timo stand bereits mit ein paar Mädchen vor dem Schulgebäude. „Timo ich muss mit dir reden.“, meinte ich. Er schaute mich nur gelangweilt an. Anscheinend wollte er vor den Mädchen cool rüberkommen. „Wieso?“, fragte er nur. Ich verdrehte die Augen. „Keine Zeit um cool zu sein komm‘ bitte einfach mit ok?“ Ein paar Mädchen kicherten. Timo lief rot an. Schließlich drängte er sich zwischen den lachenden Mädchen hindurch und folgte mir in die Ecke des Schulhofes. „Mann musste das sein?“ Er schien wütend. „Die Mädchen sind bis eben total auf mich abgefahren.“ Ich lachte kurz und meinte: „Na aber sicher. Doch nun wird es Zeit, dass ich zum Punkt komme. Diese Nacht ist nämlich schon wieder was Komisches passiert. Nur noch schlimmer als beim letzten Mal.“ Timo verdrehte die Augen. „Wegen so einem komischen Geisterkram stellst du mich vor den Mädchen bloß? Was ist nur los mit dir Jack?“ Er schien es nicht zu begreifen.
„Tatsache ist nur, dass dieser Geisterkram der Wahrheit entspricht Mann! Du musst mir glauben.“ Timo schüttelte den Kopf, murmelte etwas und ging davon. Na toll. Mein bester Freund glaubte mir nicht und hielt mich nun für einen Verrückten. Mir war klar, dass sich die ganze Geschichte recht ungläubig anhörte, aber es ist nun mal das, was passiert ist! Und nun hatte ich keinen mehr, dem ich davon erzählen konnte. Ich war auf mich allein gestellt.
Als ich von der Schule nachhause kam, war niemand zuhause. Ich setzte mich kurz an den Laptop und suchte im Internet nach Geistererscheinungen und Ähnlichem. Zum Beispiel las ich, dass in Italien einem Mädchen ihre verstorbene Großmutter drei Jahre nach ihrem Tod erschien! Da war es doch noch gut, dass ich, was auch immer es war, nicht sehen konnte. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass es ein Geist und nicht einfach nur meine Einbildung war. Ganz egal was Timo sagte. Um drei Uhr hatte ich den Gesprächstermin mit Frau Sauer, der Geistervertreiberin. Ich zog meine Jacke über und machte mich aus dem Haus.
Ein unwohles Gefühl überkam mich, als ich vor der Tür des Sprechzimmers stand. „Nein, du wirst jetzt nicht aufgeben. Du wirst weiterhin an das Geschehene glauben und alles Frau Sauer erzählen, egal ob das Timos Tante ist.“ Ich klopfte zweimal und als ein „Herein“ ertönte öffnete ich die Tür. Ich kannte Frau Sauer nur von Fotos aus der Zeitung. Sie sah ziemlich jung aus, hatte blondes, schulterlanges Haar und war schlank und klein. Sie trug einen Anzug, der wahrscheinlich für Männer bestimmt war. Sie saß an ihrem Computer und tippte schnell auf der Tastatur herum. Schließlich hob sie den Kopf und sah mich lächelnd an. „Jack?“, fragte sie freundlich. Woher kannte sie mich? Wahrscheinlich hatte Timo ihr auch ein Foto gezeigt. „Ähm…Hallo.“ Frau Sauer stand auf und gab mir die Hand. „Was ist denn los?“ Ich zögerte. „Naja. Ich hatte in letzter Zeit ein paar komische Nächte um ehrlich zu sein.“ Sie nickte. „Und was genau ist passiert Jack?“ An meinen Fingernägeln knabbernd, überlegte ich, wie ich es am besten in Worte fassen konnte. „Also. Vorletzte und letzte Nacht war mir um genau 4:00 Uhr morgens immer so kalt. Und vorletzte Nacht bin ich dann ins Wohnzimmer und hab mir eine Decke geholt. Als ich wiederkam…“ Ich erzählte ihr die Geschehnisse der beiden Nächte und die ganze Zeit über schaute mich Frau Sauer verständnisvoll an und stellte ab und an ein paar Fragen. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich verstand.
Schließlich fragte sie: „Also Jack. Ich denke, dass dir ein Geist, vermutlich ein Mensch den du kanntest, versucht etwas zu sagen.“ Ich nickte. „Ja, aber was denn zu sagen?“ War es wirklich möglich, dass ein bereits verstorbener Bekannter oder Verwandter von mir, mich heimsuchte, nur um mir zu erzählen, dass ich, woran auch immer keine Schuld trug? Die Sache klang eindeutig merkwürdig. Frau Sauer überlegte. „Fühlst du dich wegen irgendeiner Sache, die mit einem Verstorbenen zusammenhängt irgendwie schuldig?“ Ich dachte nach. Es fiel mir nur eine Sache ein und das war die mit meinem kleinen Bruder, an dessen Tod ich Schuld war. Anstatt etwas zu sagen, merkte ich wie mir Tränen über die Wangen rannen. „Jack. Was ist los?“, fragte Frau Sauer mitfühlend und streichelte meine Schulter. Schluchzend erzählte ich die Geschichte von dem Unfall mit meinem Bruder Jeff, wie er am Fluss gespielt hatte und dann einfach mitgerissen wurde. Frau Sauer nickte. „Ich verstehe. Jack, auch wenn du es mir jetzt nicht sofort glauben wirst, ich denke, dass dein kleiner Bruder Jeff dir versucht mitzuteilen, dass du dich deswegen nicht schuldig fühlen sollst.“
Ungläubig sah ich sie an. Nein, das konnte doch nicht stimmen! Irgendwie wurde ich wütend, weil ich der Sache keinen Glauben schenkte und mich plötzlich total an der Nase herum geführt fühlte. Ich stand auf. Keine Minute länger, wollte ich in diesem Zimmer sitzen. Frau Sauer sah mich verwundert an. „Was machst du Jack?“, fragte sie. Ich drehte mich um und meinte: „Gehen…Danke.“ Ich verließ das Zimmer und knallte die Tür zu. Das ungute Gefühl falsch reagiert zu haben überkam mich, als ich mein Zimmer betrat. Eigentlich konnte Frau Sauer ja nichts dafür. Sie hatte nur ihre Vermutung aufgestellt und ich war der, der die Hilfe gewollt, aber nicht angenommen hatte. „Jack. Du bist echt ein Arsch.“, sagte ich zu mir selbst. Ich setzte mich mit meinem Stuhl an das Fenster, das vorletzte Nacht beschlagen gewesen war. Und da wusste ich, dass es keine Einbildung war! Das hätte Timo sehen müssen, dann hätte auch er mir glauben müssen. Eine eigenartige Wut, staute sich in mir auf.
Wieso konnte mein bester Freund mir nicht glauben? Bis jetzt war ich auch immer für ihn da gewesen. Ja, ich hatte einen Hass auf Timo, auf seine komische Tante Sauer, aber vor allem auf mich, weil ich nicht im Kopf klar bekam was da genau vor sich ging. Ich boxte in mein Kissen. Das hatte ich früher immer gemacht, um mit Wut klarzukommen und ich muss sagen, dass sich auch jetzt eine gewisse Wirkung zeigte. Plötzlich klopfte es an der Tür. „Ja?“, rief ich.
Ich wunderte mich, als ich sah, dass es Timo war. „Darf ich reinkommen?“, fragte er zaghaft. „Ähm…klar?“, sagte ich schließlich. Timo kam zu mir und setzte sich auf das Bett, neben mich. Schließlich begann er: „Ich...Ich glaube dir Jack.“, meinte er. Verwundert sah ich ihn an. „Wieso?“ Es schien mir, als würde es ihm schwer fallen weiterzureden. „Naja. Weißt du? Ist so ein Gefühl.“, hauchte er fast. Doch ich spürte, dass da mehr dahinter steckte. „Timo? Was ist passiert?“, fragte ich. „Fein. Ich erzähl’s dir. Aber versprich mir vorher, dass du mich nicht auslachst und es mir glaubst ja?“ Ich nickte. „Als ich vorhin im Badezimmer stand, da… da habe ich…deinen Bruder im Spiegel gesehen.“ „Waaaas?“, fragte ich. Das konnte doch niemals stimmen! „Bitte Jack. Du hast gesagt du glaubst mir, also werd jetzt nicht sauer ja?“ Tief durchatmend beruhigte ich mich wieder – auch wenn das, was Timo da erzählte noch so unglaubwürdig war. „Na gut. Also…wie du hast meinen Bruder im Spiegel gesehen?“ Timo begann: „Also das war so. Ich hatte vorhin geduscht und…und grade als ich aus der Dusche komme und in den Spiegel sehe steht da einfach…Jeff. Ich weiß selbst nicht wie das möglich ist, aber ich schwöre dir, dass ich nicht lüge. Er sah so aus wie immer, bis auf das er irgendwie blass war und so…schleierhaft.“ Sollte ich ihm das wirklich glauben? Das was er da erzählte, war ja noch komischer, als das was ich erlebt hatte. „Ja aber…wie denn…und…Jeff ist doch tot!“, schrie ich. Timo zuckte mit den Schultern. „Und es wird noch schlimmer! Er sagte etwas. Ein bisschen unverständlich, aber verstanden hab ich’s trotzdem!“ Ich konnte es kaum erwarten. „Ja und was hat er gesagt?!“, rief ich aufgeregt. „Er meinte, dass du nicht Schuld bist, dass er in… den Fluss gefallen ist.“
„Das hat er gesagt?!“, platzte ich heraus. „Das ist doch unmöglich!!!“ Geistesabwesend nickte Timo und sagte: „Finde ich auch. Richtig unheimlich. Aber…du weißt doch, dass ich mir sowas nie ausdenken würde oder Jack? Ich mein’s ernst mann! Dein Bruder stand da und hat das gesagt! Ich weiß selber nicht wie das möglich ist, ich weiß nur, dass ich es gesehen habe und, dass ich eine Scheißangst habe Mann!“ Weil ich nicht wusste was ich sagen sollte, nickte ich einfach. Er hatte Recht, er würde sich so etwas nicht ausdenken. Und vor allem, würde er nach unserem sogenannten „Streit“ niemals zu mir kommen und mir noch was vorlügen. Nein, das was er sagte, musste wirklich der Wahrheit entsprechen.
An diesem Tag, beschlossen Timo und ich zusammen zu übernachten. Bei mir. Damit er selber mit ansehen konnte, was da genau vor sich ging. Bis 4:00 Uhr spielten wir Karten, suchten im Internet nach ähnlichen Vorfällen oder erzählten und gegenseitig Geistergeschichten. Die Sache ließ uns beiden keine Ruhe. Um genau 4:00 Uhr meinte Timo: „Boa ist das kalt hier. Mach‘ mal die Heizung an Mann.“ Ich schüttelte den Kopf und hob einen Finger an den Mund. „Damit wir jedes einzelne Geräusch hören.“, flüsterte ich. Timo nickte nur und nun saßen wir beide in meinem Zimmer und warteten. „Oh Mann.“, flüsterte Timo zitternd. „Hast du das auch gehört?“ Ich war verwirrt. „Nein…was?“ Timo schüttelte sich. „Das Atmen eben! Das warst nicht du Mann, das war verdammt nochmal Jeff!“
„Beruhige dich verdammt! Scheiße Timo! Das ist Einbildung!“ Timo verneinte: „Nein ist es nicht! Das ist Tatsache! Komm‘ schon. Wieso glaubst du plötzlich nicht mehr an den Geisterkram? Grade jetzt, wo ich auch anfange daran zu glauben?“ Ich zuckte die Schultern. „Das alles wirkt so unwirklich.“
Timo nickte. „Nur leider stimmt es. Also komm nicht vom Glauben ab und hör‘ genau hin!“ Ich lauschte, lauschte in die Stille. Bis ich sah, wie mein bester Freund aufstand und von links nach rechts zu laufen. „Was?“, flüsterte ich. Anstatt einer Antwort hob er nur den Finger an die Lippen. Was hatte er jetzt schon wieder? Inzwischen war es 4:03 Uhr. Drei Minuten warteten wir hier schon und warteten auf nichts. Plötzlich zog mein bester Freund mich mit sich. „Wo wollen wir hin?“, fragte ich, als er mich zur Tür zerrte. Er flüsterte: „Ins Bad.“ Verwirrt ging ich mit. Irgendeine Idee musste er ja haben.
Ich schloss die Badtür. „Und was jetzt?“, fragte ich ungeduldig. Ich wollte endlich wissen was er vorhatte. Auf dem Stuhl sitzend wartete ich auf eine Antwort. Doch stattdessen, sah ich nur Timo der kreidebleich in den Spiegel starrte. „Was zum…?“, sagte er schließlich. Deshalb stand ich auf und stellte mich neben ihn. Und dann sah auch ich, das was den sonst so gefassten Timo total durcheinander gebracht hatte. Ich sah mich und Jeff an jenem Tag an dem Fluss spielen. Und dann sah ich wie der Ball in den Fluss fiel. Und dann wie ich und mein Hund Joy Jeff allein ließen und in den Wald gingen. Ich durchlebte die Situation von Neuem und wieder und wieder tropfte eine Träne auf den Boden. Timo starrte gebannt in den Spiegel. „Oh mein Gott.“, stotterte er. Und dann sah ich wie Jeff allein am Fluss stand. Aber er beugte sich nicht über den Fluss und versuchte den Ball zu erreichen. Nein! Er stand da einfach nur rum und wartete, dass ich wiederkommen würde. Mit Joy und dem Stock! Aber wie war er dann in den Fluss gefallen? Schließlich sah ich wie unser Nachbar Herr Tiedemann an Jeff vorbei ging. Er fing an mit Jeff zu reden. Er fragte: „Was stehst du hier rum Jeff? So ganz allein?“ „Der Ball von Joy ist in den Fluss gefallen und Jack holt grade einen Stock zum Rausholen.“ Er lächelte. Herr Tiedemann lächelte auch. „Na aber das ist gar nicht so schlau von deinem Bruder dich hier allein zu lassen Jeff.“, meinte er schließlich.
Mein kleiner Bruder lachte kurz. „Jack vertraut mir. Er weiß, dass ich schon ganz gut auf mich allein aufpassen kann.“ Tränenüberströmt lächelte ich. Ja, das hatte ich gewusst, aber allein lassen dürfen, hätte ich ihn trotzdem nicht. Herr Tiedemann lächelte auch: „Ach so ist das also.“ Er kniff meinem Bruder in die Wange. Das alles kam mir wahnsinnig komisch vor. Bis jetzt war es mir immer so vorgekommen, als würde Herr Tiedemann Kinder nicht besonders gut leiden können. Und was ich dann sah, werde ich mein Leben lang nicht vergessen, denn ich sah wie unser sonst so lieber Nachbar Jeff einen kräftigen Schubs in Richtung Fluss gab und noch dazu lachend zusah wie der kleine Junge im Wasser umher paddelte und nach Halt suchte.
„Was haben Sie gemacht Sie Fiesling?“, schrie Jeff glucksend. Es brach mir das Herz zu sehen, wie dieser alte Mann einfach meinem Bruder zusah wie er am Ertrinken war und dann auch noch sagte: „Dein Bruder Jack ist Schuld Jeff. Er hätte dich hier nicht allein lassen dürfen, dann wäre das nicht passiert.“ Und dann ging er einfach weiter. Und dann hörte ich noch wie mein Bruder schrie: „Mein Bruder ist nicht schuld! Sie hätte mich ja auch einfach in Ruhe lassen können Sie…“ Genau in dem Moment kamen ich und Joy mit dem Stock aus dem Wald. Dann verschwand das Bild im Spiegel und Timo und ich schauten in unsere verstörten und verängstigten Gesichter.
Ich glaube so viel hatte ich in meinem Leben noch nicht geweint. Sogar Timo hatte angefangen zu schluchzen. Nun wussten wie also wie das meinem Bruder zugestoßen war…es war kein Unfall gewesen! Geschockt sah ich zu meinem besten Freund, dessen Augen rot angelaufen waren. „Ich glaub’s nicht. Ehrlich Jack…das kann doch nicht der Wahrheit entsprechen. Ich meine…es gibt doch keine Spiegel, die eine bestimmte Situation widergeben…oder? Bitte sag‘ mir das wir eingeschlafen sind und das alles ein gottverdammter Traum war!“ Ich schüttelte den Kopf: „Das war kein Traum Mann. Das war mein Bruder, der versucht die Sache aufzuklären. Er will nicht das ich mich schlecht fühle, das wollte er noch nie…“
Nach diesem Desaster gingen wir erst einmal schlafen. Das heißt…wir wollten schlafen gehen. Doch wir konnten nicht. Wir saßen im Bett und redeten über das, was wir gesehen hatten. „Alter, das musst du der Zeitung melden. Dann können endlich mal alle Leute anfangen an Geister zu glauben!“ Ich erwiderte: „Du glaubst doch nicht ehrlich, dass ich zur Zeitung gehe und denen sage, dass mein toter Bruder einen scheinbaren Unfall aufgeklärt hat! Die denken doch dann, ich hab‘ sie nicht alle. Erst einmal will ich das meinen Eltern erzählen, auch wenn sie’s mir nicht glauben.“ Timo willigte ein.
Also tapsten wir um 5:00 Uhr morgens durch den langen Flur unseres Hauses bis hin zum Schlafzimmer meiner Eltern. Ich wunderte mich, als ich Licht brennen sah. Weil es trotzdem so still war, klopfte ich an. Meine Mum antwortete: „Jack?“ Gefolgt von Timo kam ich ins Zimmer. „Mum du wirst nicht glauben, was eben passiert ist…, ich stockte „Wo ist Dad?“ Maria, meine Mutter, antwortete: „Dein Vater hat gesehen wie unser Nachbar..du weißt schon Herr Tiedemann sich an unserem Autoschloss zu schaffen gemacht hat. Deswegen ist er runter gegangen. Er hat Herr Tiedemann aber natürlich nicht angesprochen. Also hat dein Dad sein Moped genommen und ist unserem Nachbarn hinterher gefahren. Keine Ahnung wann er wieder kommen wird. Und ans Handy geht auch niemand. Ich muss dir gestehen: Es macht mir ein bisschen Angst Jack. Er ist jetzt schon seit einer Stunde weg.“ Ich stutze und sah zur Uhr an der Wand. „Du meinst er ist seit 4:00 Uhr weg?“, fragte ich kleinlaut. Maria nickte. Timo und ich sahen uns an. „Mum hast du zufällig gesehen in welche Richtung Dad gefahren ist?“ „Ähm…ja. Das war in der Richtung zum Fluss.“
Erschrocken liefen wir nach draußen. Ich konnte es meiner Mum auch immer noch erzählen. Timo und ich rannten bis hin zum Fluss. Völlig außer Atem suchten wir das ganze Ufer ab. Aber da war keine Menschenseele. „Verdammt wo sind sie nur?“, fragte ich Timo. Er zuckte nur mit den Schultern. „Vielleicht im Wald?“ Gute Idee. Also rannten wir in den Wald. Als wir an eine Kreuzung kamen meinten wir, dass wir uns aufteilen sollten. Mein Kumpel ging nach links und ich nach rechts. In der Nacht wirkte der Wald viel bedrohlicher. In der Baumkrone über mir krähte klagend ein Rabe. Die vielen dunklen Bäume an denen ich vorbei ging, machten mir Angst. Ich erschrak fürchterlich, als mein Handy klingelte. Der Ton hallte in der Nacht laut, also bemühte ich mich schnell ranzugehen. Ein Schauder lief mir über den Rücken, als ich auf das Display starrte. Mein Dad rief mich an.
Endlich nahm ich ab: „Dad? Wo bist du? Timo und ich sind im Wald und suchen dich.“ Mein Vater sagte mit erstickter Stimme: „Ich bin auf der anderen Seite des Flusses, also müsst ihr etwas laufen, aber bitte BITTE kommt hierher! Ach und noch etwas: Geht nicht getrennt Jack.“ „Was ist passiert?“, rief ich noch in den Hörer, doch ich hörte schon das gleichmäßige Tuten in der Leitung. „Verdammt.“, flüsterte ich und rief Timo an.
Timo und ich hatten abgemacht, dass wir uns wieder an der Kreuzung treffen, also wartete ich dort auf ihn. Der Wald machte mir Angst. Und ständig sah ich das Bild vor mir, wie ich total glücklich mit Joy nach einem Stock gesucht hatte. Genau hier! Der Wald hatte seine Wirkung auf mich stark verändert. Die Bedeutung, die er vorher für mich hatte war nur positiv gewesen, doch jetzt sah ich den Wald, als den Ort, der mich von Jeff getrennt hatte. Wäre ich nicht in den Wald gegangen dann wäre das alles nicht passiert. Endlich kam Timo. „Boa. Dieser Wald macht mir echt Angst. Diese verdammten Raben. Und die Bäume erst Brrr.“ Ich nickte.
„Also. Dein Dad hat gesagt er ist auf der anderen Seite, des Flusses. Wie kommt man denn da hin?“, fragte Timo. „Man muss durch den gesamten Wald durch.“, antwortete ich. Mein Kumpel stöhnte. „Nicht dein Ernst!“ Wir machten uns auf den Weg. Im Schnellschritt liefen wir zwischen den dunklen Baumstämmen hindurch. Gott sei Dank, fing es langsam an hell zu werden. Es war schon 5:30 Uhr.
Endlich waren wir angekommen. Wir waren am anderen Ufer des Flusses. Ich sah wie mein bester Freund in seiner Tasche umher kramte. „Suchst du was Bestimmtes?“, fragte ich flüsternd. Er antwortete er gar nicht, sondern zeigte nur auf die Taschenlampe, die er in seiner Jackentasche entdeckt hatte. „Siehst du da hinten?“ Er deutete zwischen zwei riesige Bäume. „Dazwischen ist doch irgendwie so ein schattenähnliches Ding. Könnte ein Mensch sein.“ Ich stimmte zu. Langsam liefen wir auf den Schatten zu.
Als wir genau zwischen den Bäumen waren, sahen wir allerdings nichts. „Jungs. Hier oben!“, hörte ich meinen Vater sagen. Wir drehten uns um und sahen weit oben meinen Vater in den Bäumen HÄNGEN! „Daaaad! Was ist verdammt nochmal passiert?“, schrie ich. „Das erzähl‘ ich euch wenn ich unten bin ja?“ Ohne Worte drum zu machen, schwang sich Timo auf den Baum, kramte in seiner Tasche und fand anscheinend das was er gesucht hatte. Ein Taschenmesser. Timo schnitt das Seil durch und half meinem Vater vom Baum runter. „Danke.“ Sagte mein Vater. „Also. Dann will ich mal loslegen. Unser Nachbar..“ Ich platzte dazwischen: „Ich weiß. Er wollte unser Auto klauen, du hinterher. Aber was ist dann passiert???“ Mein Vater antwortete: „Dieser Scheiß Kerl hat mich gesehen und wollte mich vom Baum schmeißen! Ich wäre auch nicht mehr ganz so munter, wenn ich nicht dieses Hakenseil hier in meiner Tasche gehabt hätte. Diesem Teil verdanke ich mein Leben. Jack. Das ist ein kranker Mann!“ Timo rief: „Das wissen wir! Dieser Kerl hat Ihren Sohn umgebracht!“ Mein Vater schrie erschrocken auf: „Was? Woher wollt ihr das wissen?“
Ich seufzte. „Das ist eine lange, total unrealistische Geschichte, die du mir aber trotzdem glauben musst ok?“ Mein Dad nickte. Und dann erzählte ich ihm was mich und Timo in dieser Nacht so schrecklich erschrocken hatte. Mein Dad kniff die Augen zusammen: „Ok ok. Ich hab dir gesagt ich glaub‘ dir also tu ich das auch, auch wenn ich absolut keine Ahnung habe wie das möglich ist. Aber nach dem Treffen mit Herr Tiedemann glaub ich’s sofort. Die Frage ist nur…was will der Mistkerl hier?“ Das war uns allen ein Rätsel. Mein Vater hatte zum Glück noch gesehen in welche Richtung unser Nachbar gelaufen war, sonst hätten wir ihn nie gefunden. Doch tatsächlich sahen wir Herr Tiedemann, wie er am Fluss hockte, die eine Hand im Wasser. „Was zum…?“, flüsterte Timo. Mein Vater gab uns ein Zeichen, dass wir einfach ruhig sein sollten. Dann nahm er sein Hakenseil und band Herr Tiedemann die Hände auf dem Rücken zusammen.
„So Sie Mistkerl.“, meinte mein Dad. „Was haben Sie hier zu suchen, noch dazu mit meinem Auto?“ Herr Tiedemann sagte gar nichts und versuchte sich mit aller Kraft von dem Seil zu lösen. Doch es klappte nicht, das Seil saß zu fest. Jetzt wo ich den alten Mann, der meinen Bruder umgebracht hatte sehen musste, liefen mir erneut die Tränen über die Wangen. Ich ging schluchzend auf ihn zu und gab ihm einen vollen Schlag ins Gesicht. Mein Vater ließ es zu. „Was wollen sie hier um die Uhrzeit an dem Fluss? Und wieso nehmen sie nicht ihr gottverdammtes, eigenes Auto?“ Ich hörte Herr Tiedemann lachen: „Was sucht ein Mann im Fluss, wenn er vor ein paar Tagen einen kleinen Jungen in den Fluss geschubst hat? Kann man sich das nicht denken?“
Ich spürte wie meinen Vater eine rasende Wut überkam. Doch mein Vater war schon immer der Meinung, dass Gewalt keine Lösung war. Nein, er würde ihn nicht schlagen, auch wenn er noch so wütend und verletzt war. Stattdessen griff mein Vater sein Handy und rief die Polizei. Als sie eingetroffen waren, erzählten wir ihnen, dass unser scheinbar netter Nachbar der Mörder meines Bruders war! Mir war klar, dass sie uns auf’s erste nicht glauben würden. Doch einen guten Punkt hatte die Sache auch. Mein Onkel, mütterlicherseits, war nämlich Polizist. Und so redete ich ihm ein, dass er uns glauben sollte. „Bitte, du musst uns glauben! Der Kerl hat es eben selbst gesagt! Dad und ich…wir würden dich niemals anlügen! Warum denn auch? Es geht um Jeff. Du weißt doch wie sehr wir ihn geliebt haben.“, bettelte ich. Ich merkte, wie mein Onkel erweichte. Ja er wusste, wie sehr wir Jeff geliebt hatten und auch jetzt noch liebten. Er nickte und legte Herr Tiedemann Handschellen an.
„Sie werden lange sitzen.“, sagte mein Vater hasserfüllt und dann wurde der Mörder meines Bruders in das Polizeiauto gezogen. Dad und ich waren wahnsinnig erleichtert. Doch eines war uns immer noch verschwiegen geblieben. Was hatte Herr Tiedemann im Fluss gesucht? Die Leiche von Jeff war nie gefunden wurde, dabei wurde der Fluss mehrmals durchsucht. „Warum grade hier?“, fragte ich meinen Vater und Timo. Beide zuckten mit den Schultern. Plötzlich sahen wir meinen Onkel mit ein paar weiteren Polizisten, wie sie auf uns zu kamen. „Wollen wir doch mal sehen was der Mistkerl da gesucht hat. Aber Jack, Bernhard (mein Vater). Ich denke ihr habt heute Nacht genug durchgemacht. Geht nachhause und ruht euch aus. Wir melden uns, wenn wir was gefunden haben.“ Wenn auch wiederwillig fuhren wir nachhause. Unser Auto hatten wir ja wieder. Doch wieso hatte Herr Tiedemann unser Auto genommen? Nein, für mich war es mit dieser Nacht noch nicht erledigt. Herr Tiedemann hatte eine Frau. Vielleicht wusste sie mehr?
Wir klingelten Sturm. Schnell schwang die Tür auf und Frau Tiedemann stand im Morgenmantel in der Tür. Sie war mir schon immer symphatisch gewesen – Doch bis jetzt hatte ich auch gedacht, dass Herr Tiedemann ein einfacher, alter Mann war. Mein Dad meinte: „Wissen Sie vielleicht mehr davon, was ihr Mann mit unserem Auto vorhatte?“ Frau Tiedemann wollte die Tür schon wieder zuknallen, doch dann sah sie die zwei Polizisten, die uns begleitet hatten und meinte, wir sollten doch ruhig hereinkommen. Die Wohnung zeigte keine auffälligen Merkmale. Eine ganz normale Rentnerwohnung würde ich sagen.
Die alte Dame deutete auf das Sofa. Wir sollten Platz nehmen. Der eine Polizist begann: „So. Nun erzählen Sie mal. Was hatte Ihr Mann denn mit dem Auto, der Familie Nickelson vor?“ Unsere Nachbarin stotterte: „Ich…Ich weiß nicht.“
„Ma’am. Sie machen sich strafbar, wenn Sie hier nicht die Wahrheit sagen.“, erwiderte der Polizist. Frau Tiedemann blickte eingeschüchtert zu Boden. Dann erzählte Sie: „Mein Mann hat sich verändert. Als wir hier eingezogen waren, das war vor zwei Jahren, war er so liebenswürdig und hilfsbereit. Doch als er Jeff Nickelson traf, änderte sich den Verhalten schlagartig. Ständig redete er von ihm und spielte er auf unserer Wiese, hat er ihn immer vertrieben. So kannte ich ihn gar nicht. Als er mir an jenem Tag erzählte, was er getan hatte, hatten wir einen schrecklichen Streit, weil ich nicht glauben konnte, dass mein lieber Ehemann zu so etwas fähig sein konnte. Doch er drohte mir, er würde mit etwas antun, wenn ich es jemandem sagen würde. Heute Nacht erzählte er mir, er wolle den Fall aufklären. Ich weiß aber wirklich nicht wie, bitte glauben Sie mir!“
Die alte Frau brach in Tränen aus. Die Polizisten und auch mein Dad und ich glaubten der Frau. Diese Tränen waren echt. „Vielleicht weiß ich es aber.“, murmelte mein Vater. Alle sahen in an. Was? Er deutete auf Frau Tiedemann. „Ihr Mann wollte den Fall aufklären, also nahm er unser Auto, fuhr zum Fluss um nach Jeff zu suchen und ihn hinein zu legen. Dann würde es so aussehen, als hätten wir unseren Sohn umgebracht!“ Alle waren erschrocken. Aber es machte Sinn. Wahrscheinlich hatte Dad recht. Der Polizist nickte. „So ist das also.“
Dad’s Handy klingelte plötzlich. „Wer ist es?“, fragte ich. „Dein Onkel.“, antwortete er. Mein Vater stellte auf Lautsprecher und wir alle lauschten gespannt, ob mein Onkel und seine Kollegen etwas gefunden hatten. „In dem Fluss hier gibt es eine Art Schacht. Einer unserer Taucher ist hinein geklettert und nun ja…er…hat Jeff gefunden. Es…tut mir leid Bernhard.“ Mein Vater und ich waren erschüttert, doch andererseits auch erleichtert, weil der Fall aufgeklärt war.
Die Beerdigung fand in der nächsten Woche statt. Es war schlimm zu wissen, dass in dem Sarg da vorn wirklich mein Bruder Jeff lag. Der ganze Saal weinte. Sogar einige der Polizisten waren gekommen und kämpften mit den Tränen. Ich schüttelte die Hand von Leuten, die mir Beileid wünschten und die mir trotzdem völlig fremd waren. Auch Timo war mit seiner Familie gekommen. Er saß ganz hinten und hatte ganz rote Augen. Mir war aufgefallen, dass auch er sehr viel von der ganzen Mordgeschichte mitbekommen hatte. Fast noch mehr, als mein Vater.
In der Nacht der Beerdigung blieb ich bis 4:00 Uhr wach. Ich hatte Angst, Jeff würde mich immer noch verfolgen. Doch in dieser Nacht geschah nichts und ich konnte schlafen wie ein Stein. Und auch wenn Menschen aus unserem Leben verschwinden. Ganz weg sind sie doch nie. Denn in einem Teil von und existieren diese Menschen immer noch. Und so auch mein kleiner Bruder Jeff, der seinen eigenen Mord aufgeklärt hatte. Und auch wenn ich es ihm nicht sagen konnte, ich war wahnsinnig stolz auf ihn.

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Tag der Veröffentlichung: 24.07.2012

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