Cover

Prolog

Es war die Routine, die sie nervte und ermüdetet. Jeden Morgen aufstehen, Schule, immer die gleichen Leute, langweiliger Unterricht, ein paar Zigaretten in der Pause, ein paar Bissen von ihrem Brot. Irgendwann nach Hause fahren, ins Bett legen, Laptop hochfahren und chatten. Abendessen. Ein Buch lesen. Schlafen.
Ihre Freunde riefen sie nur noch selten an, sie mussten sich jetzt aufs Abi vorbereiten. Sie war dafür nicht schlau genug gewesen. Und wenn sie was unternahmen, dann gingen sie in die Diskothek in der kleinen Stadt, in deren Nähe sie wohnten. Sie mochte es da nicht. Die Musik war ihr zu laut und zu elektronisch, die Menschen zu betrunken. Sie langweilte sich dort. Während ihre Freundinnen sich amüsierten und von den heißesten Jungs angesprochen wurden, stand sie immer in der Ecke, egal, wie sehr sie sich anstrengte. Sie war eben nicht sonderlich hübsch und ihre Figur ließ auch zu wünschen übrig. Zu große Brüste und für alle, die jetzt die Stirn runzeln: Ja, das gab es. Ständig plagten sie Rückenschmerzen und auch ihr Kopf tat weh deswegen. Außerdem hatte sie einen Bauch, viel zu stämmige Beine, eine zu breite Hüfte, zu breite Schultern. Ihre Haare, deren Farbe sie durch das ständige Färben nicht wirklich definieren konnte, lagen platt an ihrem Kopf, ihre Lippen waren zu dick und ihre Augenbrauen ziemlich buschig. Sie hatte es mit Zupfen versucht, aber sie waren so schnell wieder nachgewachsen, dass es sich nicht wirklich lohnte. Durch ihre Brille sah man sie eh nicht gut und sie hatte sich außerdem vor kurzem ein Pony schneiden lassen. Damit bedeckte sie ihre Augenbrauen so gut, wie es ging.
Im vorigen Jahr war ihre Oma gestorben und kurz darauf ihr bester Freund. Das war vor ungefähr elf Monaten und es ging ihr deswegen immer noch dreckig, aber sie sprach nicht mehr darüber. Sie wollte nicht, dass jeder wusste, dass sie nicht so stark war, wie sie tat. Sie wollte nicht, dass man Mitleid mit ihr hatte oder sie zu einem Psychologen schickt.
In der Schule war sie schlechter geworden, denn wie schon einmal erwähnt, war sie nicht sonderlich schlau, wobei ihr viele sagten, dass sie durchaus intelligent war, nur eben viel zu faul. Und das war sie wirklich. In ihrem Zimmer konnte man keinen Fuß vor den anderen setzten und in ihr Bad ging niemand mehr. Sie hatte einfach keine Lust aufzuräumen. Sie dachte, es wäre unnötig, da es ja eh wieder unordentlich wird.
Sie war müde.
Unglaublich müde.
Sie wollte den ganzen Tag nur noch schlafen, aber das ging natürlich nicht. Sie wusste nicht, woran es lag. Am Wetter bestimmt nicht, denn seit ein paar Tagen schien ununterbrochen die Sonne. Aber es war ihr auch egal, eigentlich.
Die Osterferien zogen sich hin. Kein Internet, kein Telefon. Keine Freunde, die Zeit für sie hatten.
Als dann die Schule wieder begann, schrieb sie zwei Klausuren. Beide verhaute sie. Auch die Klausuren, die sie zurückbekam, waren nicht unbedingt gut. Sie lebte die nächsten Wochen vor sich hin, ging auf das Konzert einer ihrer Lieblingsbands. Die Sommerferien verbrachte sie entweder Zuhause oder im Schwimmbad.
Ihr ging es kein bisschen besser. Sie war sich sicher, dass sich das nicht so schnell ändern würde.

Grüne Augen

„Alessa, jetzt steh auf! Du musst in die Schule!“

„Will nicht. Kopfschmerzen.“

„Das sagst du jeden Morgen. Du fehlst nächste Woche eh wieder! Wenn du auf dieses Festival fährst.“


Oh ja. Das Festival. Dieses Jahr würde sie zum ersten Mal auf ein Festival fahren. Das Open Flair in Eschwege. Unzählige Bands kamen und die meisten davon wollte sie hören, was ihr aber mit Sicherheit nicht gelingen würden. Mühsam quälte sie sich aus dem Bett. Die Sommerferien waren langweilig, aber trotzdem zu schnell vorbei gewesen. Sie hatte keine Lust in die Schule zu gehen, sie hatte keine Lust auf die Leute, die bei ihr in der Klasse geblieben waren. Okay, es gab zwei Ausnahmen, zwei Mädchen, mit denen sie das letzte Jahr eine tolle Freundschaft aufgebaut hatte. Trotzdem. Die ganzen Tussen in ihrer Klasse, die nichts anderes als Party im Kopf hatten oder die ach so süßen Jungs, mit denen sie flirteten. Vielleicht lag es an dem Altersunterschied, sie war ein, zwei Jahre älter als die anderen. Siebte Klasse wiederholt, von der zehn in die neunte Klasse Realschule zurückgegangen. Jetzt Fachoberschule. Sie hasste es. Diese ganzen lahmen Sachen. Und sie wusste auch nicht, was sie werden wollte. Sie wollte keinesfalls stundenlang in einem Büro sitzen. Dessen war sie sich bewusst. Aber sonst? Sie hatte keine Hobbys, die sie zum Beruf machen konnte.


Unter der Dusche fühlte sie sich wie immer unglaublich wohl. Während sie sich dort räkelte, bekam sie am Rande mit, wie ihre Mutter und ihr Bruder sich mal wieder stritten. Das gehörte zum Alltag, im ganzen Haus herrschte ein aggressiver Umgangston. Trotzdem liebten sie sich alle. Sie waren immerhin eine Familie, auch wenn jeder seinen Dickkopf durchsetzten wollte. Alessa trocknete sich ab, besah sich im Spiegel. Seit neuestem schmückte ein Piercing ihre Unterlippe. Es gefiel ihr. Solange hatte sie es sich gewünscht, endlich hatte sie sich getraut. In Gedanken versunken, spielte sie eine Weile daran herum, putzte sich anschließend die Zähne, zog sich an, packte ihre Tasche und verließ, nach einem Blick auf die Uhr, das Haus, gehetzt, ohne Frühstück und mit nassen Haaren.
Sie würde bald zwanzig werden und fuhr noch mit dem Schulbus. Sie konnte sich kein Auto leisten, kein Geld für Benzin oder Versicherung. Zwar arbeitete sie seit knapp einem halbem Jahr in einer Kneipe, aber der Verdienst war nicht hoch genug für so etwas.


Im Bus setzte sie sich ihre Kopfhörer auf, drehte die Musik auf und ließ sich gegen den Sitz sinken. Ihre Lieblingsband auf voller Lautstärke. Rise Against, eine der Bands, die beim Open Flair auftreten würden, der Hauptgrund, weshalb sie hinfuhr. Sie hatte sie dieses Jahr schon einmal live gesehen und es war großartig gewesen. Ein winziges Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Wenn sie Musik hörte, dann kamen die Gefühle in ihr hoch, die sie sonst nicht spürte. Sie hatte sich angewöhnt alles zu unterdrücken, aber bei bestimmten Liedern war das nicht möglich. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und durch den Bus getanzt, aber sie galt eh schon als Freak, also ließ sie es. Nicht, dass sie es stören würde, dennoch wäre sie gern unauffälliger. Dieser Wunsch ließ sich aber nicht erfüllen, außer sie nahm ungefähr dreißig Kilo ab und ließ sich eventuell noch ihre Brüste verkleinern.


An der Schule angekommen stieg sie aus und begrüßte freudig eine ihrer Freundinnen. Sie hieß Mia. Alessa mochte Mia, sie war unglaublich unkompliziert, offen und ehrlich. Und witzig, oh ja. Sie mochte witzige Menschen. Schon immer. Sie selbst war auch sehr humorvoll und lachte viel, auch wenn sie nicht glücklich war. Aber in manchen Situationen kam sie nicht umhin. Und jedes Mal, wenn sie lachte, fühlte sie sich für den Augenblick gut. Einfach nur gut. Und Mia brachte sie oft zum lachen, mit ihrer Naivität und Verpeiltheit. Und ihre andere Freundin aus der Klasse, Mariella, war auch witzig. Sie kam gerade auf die beiden zu und lachend umarmten sich die drei. In den Sommerferien hatten sie sich nicht allzu oft gesehen, da sie drei verschiedene Freundeskreise hatten und es irgendwie nie wirklich gepasst hatte. Aber jetzt sahen sie sich und das war alles was zählte. Jede erzählte schnell, was sie in den Ferien gemacht hatte, dann suchten sie ihre Klasse. Es dauerte eine Weile, das Schulgelände war groß. Doch sie fanden sie und traten ein. Man sah bekannte Gesichter, noch vom letzten Jahr, aber auch ein paar Neue waren dabei. Mia, Mariella und Alessa suchten sich Plätze, in der dritten Reihe. Mia saß in der Mitte, rechts von ihr Mariella und links Alessa. Der Platz neben Alessas anderen Seite blieb frei, es war auch nicht anders zu erwarten gewesen. Sie war sich darüber bewusst, dass niemand gerne neben ihr saß, wenn er sie nicht ein wenig kannte, allein wegen ihrer Körperfülle. Aber trotzdem tat es immer wieder weh. Ein paar Minuten später betrat die Klassenlehrerin das Zimmer, hektisch wie eh und je und sah sich um. „Da es doch ein paar neue Mitschüler gibt, schlage ich vor, dass sich jeder nochmal vorstellt. Name, Alter, was ihr nächstes Jahr macht. Okay. Wir fangen vorne an“, sagte sie und schaute eine Jungen in der ersten Reihe erwartungsvoll an.


Das war der Moment, in dem Alessa abschaltete. Sie starrte auf ihr Blatt und malte ein paar Kringel. Sie wusste doch gar nicht, was sie machen würde. Sie hatte sich irgendwann überlegt Buchhändlerin zu werden, aber keinen Ausbildungsplatz bekommen. Studieren hatte sie keine Lust, sie hatte genug vom Lernen. Sie würde gerne für ein Jahr nach Amerika gehen, aber das konnte sie sich nicht leisten und ihre Eltern wollten es auch nicht bezahlen. Sie stellte sich Amerika ungeheuer interessant vor. Es war einer ihrer großen Träume, da zu landen.
Sie zuckte zusammen, als Mia sie in die Seite stieß.
„Du bist gleich dran, Alessa!“, zischte sie und grinste breit, was Alessa zum Lächeln brachte.

Sie wandte sich dem Mädchen zu, was ihr am nächsten saß und wartete darauf, dass es endete. Dann öffnete sie den Mund und wollte gerade zum Sprechen ansetzten, als die Tür aufgerissen und gegen die Wand geknallt wurde. Erneut zuckte sie zusammen und holte tief Luft. Sie war viel zu schreckhaft für diese Welt.
„Entschuldigung!“, keuchte der Junge oder eher der Mann, der den Krach veranstaltet hatte.

„Ich hab den Raum nicht gefunden und ..“

„Setz dich“, unterbrach ihn die Lehrerin und deutete auf den Platz neben Alessa.

„Und dann stell dich vor, wir sind gerade dort angekommen.“

 

Der junge Mann nickte und nahm Platz. Unwillkürlich rutschte Alessa näher zu Mia, sie wollte ihm keinen Platz wegnehmen. Auch versuchte sie, sich schmaler zu machen, was natürlich nicht klappte. Sie sah wieder auf ihren Block, nahm den Stift in die Hand und begann erneut, Kringel zu malen. Die Situation war ihr unangenehm, denn bei dem kurzen Blick, den sie auf ihn geworfen hatte, hatte sie festgestellt, dass dieser Kerl umwerfend aussah. Er hatte dunkle, etwas längere Haare, trug eine zerrissene Jeans und ein Metallica-Shirt, Chucks und war relativ braungebrannt. Bestimmt hatte er seine Ferien in Italien oder Griechenland verbracht. Als sie seine Stimme hörte, bekam sie eine heftige Gänsehaut.
„Mein Name ist Milan Haase, ich bin dreiundzwanzig und habe gerade meine Ausbildung als Bürokaufmann hinter mir.“

„Danke, Milan. Alessa?“

 

Alessa überhörte, dass sie aufgerufen wurde, sie versuchte, ihre Gänsehaut zu vertreiben, ihre Gedanken, ihre Vorstellungen, die sie aufgrund seines Erscheinungsbildes und seiner Stimme hatte, zu ignorieren.

„Alessa?“

Sie zuckte zusammen. Er kannte ihren Namen? Er kannte ihren Namen! Sie sah hoch und stellte fest, dass sie ganze Klasse sie anstarrte. Er auch. Milan. Milan hatte grüne Augen. Wunderschöne, waldgrüne Augen. Ganz automatisch versank sie in ihnen. Er erwiderte ihren Blick eine Weile und lächelte dann leicht.

„Alessa, vielleicht solltest du dich vorstellen. Ich glaube, die Klasse wartet darauf.“

Sie merkte, dass sie knallrot wurde, ratterte dann schnell runter, wie sie hieß und wie alt sie war, widmete sich dann wieder ihrem Block und malte weiter. Mia und Mariella stellten sich vor und dann ging es in der Reihe hinter ihnen weiter. Aber Alessa bekam das alles nicht mit und ehe sie sich versah, hatte sie ein paar grüne Augen auf ihren Block gemalt. Mitten in der Bewegung hielt sie inne und starrte sie an. Warum? Nur weil sie diesen Typen attraktiv fand? Sie seufzte und zuckte mal wieder zusammen, als sie eine Hand sah, die sich von rechts nährte.

„Sind das meine Augen?“, fragte diese tolle Stimme.

Sie zuckte mit den Schultern und flüsterte:

„Weiß ich nicht. Nein, denke nicht.“

Er lachte leise und sah sie an.

„Und wenn würdest du es nicht zugeben?“

Sie schwieg, nahm das Blatt, riss es aus dem Block und zerknüllte es. Als es dann endlich klingelte, nahm sie ihre Zigaretten und ging mit Mia und Mariella raus. Auf dem Weg dorthin, warf sie den Zettel in den Papierkorb.


Was sie nicht mehr mitbekam war, dass Milan den Zettel wieder herausholte, ihn glatt strich und mit einem Grinsen betrachtete, ihn dann fein säuberlich zusammenfaltete, in seiner Hosentasche verstaute und gemeinsam mit ein paar Mitschülern den Raum verließ.

Projektarbeit

Der nächste Tag schien was Gutes zu beinhalten. Alessa wurde mit Milan zusammen für eine Partnerarbeit eingeteilt. Gemeinsam sollten sie eine Mappe über ein politisches Thema zusammenstellen. Sie entschieden sich für die Inflation und verabredeten sich für den Nachmittag bei Milan Zuhause. Alessa war aufgeregt und fragte sich, wie sein Zimmer wohl aussehen würde. Ob er ein Instrument spielte? Seine Finger sahen aus, als würde er Gitarre spielen, aber darauf wollte sie sich nicht verlassen, obwohl er der Typ dafür wäre. Sie konnte ihn sich richtig gut in einer Band vorstellen, nicht nur als Gitarrist sondern auch als Leadsänger. Er würde ein Mädchenherz nach dem anderen brechen und unglaublich viele Fans haben. Auch sie wäre ein Fan, oh ja. Sie war ja jetzt schon so... süchtig nach ihm, irgendwie. Sie hatte die letzte Nacht von ihm geträumt, es war ein schöner Traum gewesen und sie wünschte sich, dass er Wirklichkeit werden würde.


In ihrem Traum war sie schlank und ein klein wenig größer gewesen. Und hübscher. Sie hatte ein kurzes, schwarzes Kleid getragen und stand in einem leeren Raum. Als sich eine Tür öffnete, lächelte sie und drehte sich lachend im Kreis, solange, bis zwei starke Arme sie einfingen und ein zarter Kuss in ihren Nacken gehaucht wurde.

„Milan“, hauchte sie, „Ich hatte nicht mehr mit dir gerechnet.“

„Hab ich dich je enttäuscht, Liebste?“

Ein leises Lachen, ein leidenschaftlicher Kuss. Glück. Dann waren sie im Schlafzimmer und .. was dann passierte, ließ ihr allein beim Gedanken daran die Schamröte ins Gesicht treiben.


Mia stieß sie von der Seite an.

„Du triffst dich mit Milan bei ihm?! Oh Gott, du musst Fotos machen!“

Gestern Abend hatten sie und Mia lange gechattet und Mia hatte ihr gesagt, dass sie Interesse an Milan hatte. Auch sie fand ihn unglaublich sexy und all die anderen Dinge und sie wollte unbedingt mit ihm ausgehen. Sie hatte geschnaubt, als die Lehrerin beschlossen hatte, dass Alessa mit ihm zusammenarbeiten durfte und sie nicht.


Mia war ein ziemlich eifersüchtiger Mensch, der bereits viele Affären gehabt hatte, einfach aus dem Grund, dass sie außerdem naiv war und immer glaubte, sobald ein Junge sie anschaute, dass er sich für sie interessierte, auf langlebige Weise. Sie ging nicht mit den Jungen ins Bett, sie war sogar noch Jungfrau. Vermutlich hoffte sie, wie jedes andere Mädchen auch, endlich die große Liebe zu finden, aber es klappt nicht, denn meistens wollten die Jungen doch nur das eine. Alessa war der Meinung, dass es daran lag, dass Mia oft die falschen Signale sendete, mit der Art sich zu kleiden, wenn sie wegging, sowieso mit ihrer Art.


Fünf Stunden später konnte Alessa nach Hause fahren, der Schultag war vorbei. Im Bus tat sie das Übliche, Kopfhörer auf, Musik an. Zuhause aß sie was, ging in ihr Zimmer, erledigte ein paar Hausaufgaben. Dann nahm sie den Autoschlüssel und fuhr los. Sie hoffte, dass sie Milans Haus finden würde, sie kannte sich nicht sonderlich gut in der Stadt aus. Klar, sie ging dort seit dreizehn Jahren zur Schule, erledigte ihre Einkäufe und ging da in die verschiedenen Kneipen, wenn Bands spielten, aber dennoch war es schwierig, sich außerhalb der Kernstadt zurechtzufinden. Zumindest hatte er ihr eine grobe Wegbeschreibung gegeben und nach einer Weile fand sie dann endlich sein Haus. Ein großes Haus, verglaste Wände. Er, oder eher seine Familie, schien Geld zu haben. Sie seufzte, mit so etwas konnte sie nicht mithalten.


Sie hielt, stieg aus, packte ihre Tasche, suchte die Haustür und klingelte. Kurz darauf vernahm sie Schritte und Milan öffnete die Tür und ihr stockte für einen Moment der Atem.


Seine Jeans aus der Schule hatte er gegen eine geblümte Shorts eingetauscht, sein Oberkörper war nackt und schimmerte feucht. Einzelne Wassertropfen fielen auf den Teppich und er fuhr sich mit der Hand durch die nassen Haare.

„Komm rein. Ich war grade noch schwimmen. Wir haben unten einen Pool im Keller.“

„Eh .. wow. Okay.“

Sie ging ins Haus und schaute ihn an.

„Nimm doch schon mal Platz.“

Er zeigte in einen Raum, der anscheinend das Wohnzimmer war.

„Ich zieh mir was trockenes an.“


Milan rannte die Treppe hoch und sie setzte sich vorsichtig auf eines der weißen Sofas. Sie hatte Angst es schmutzig zu machen, allgemein kam sie sich ziemlich schmutzig vor. Wenn sie gewusst hätte, dass er so ein Haus hatte, hätte sie sich bestimmt nochmal umgezogen und nicht ihren alten Rock angelassen, den sie bereits am Morgen in der Schule getragen hatte. Sie starrte den Glastisch an und versuchte das Bild von eben von ihrem inneren Auge wegzuschieben. Ihr Kopf begann wieder unterschiedliche Fantasien zu spinnen und sie gestand sich ein, dass sie dabei war, sich in ihn zu verlieben. Und dass, obwohl sie eigentlich immer länger brauchte, um Gefühle für jemanden zu empfinden. Eigentlich war sie bisher auch nur einmal verliebt gewesen. In ihren besten Freund nämlich. Immer mal wieder. Und zuletzt hatte sie es kurz vor seinem Tod bemerkt.


Alessa schüttelte sich. Sie wollte jetzt nicht daran denken und sie wollte auch nicht daran denken, wie heiß Milan ohne Shirt aussah. Sie wollte sich nicht vorstellen, wie es wäre von ihm geküsst und berührt zu werden und sie wollte nicht, dass sie sich Hoffnungen machte oder sich was einbildete, was nicht da war.


Dann kam er wieder und ihr stieg sein unglaublicher Geruch in die Nase. Sie bemerkte, dass sie leicht zitterte und zwang sich, ihn nicht anzusehen. Milan setzte sich neben sie und lächelte.

„Gut, dann fangen wir mal an.“

Er stellte seinen Laptop auf den Tisch, öffnete seinen Internetbrowser und tippte einen Suchbegriff ein.

„Wir sollten uns ein wenig einschränken, das ist ein ziemlich umfassendes... alles okay?“

Er hatte zu ihr geschaut und bemerkt, dass sie zitterte.

„Ja... ja, geht schon, alles gut“, stotterte Alessa.

„Sicher? Du siehst nicht unbedingt gut aus.“


Sie zuckte zusammen. Er hatte vermutlich gemeint, dass sie nicht sonderlich gesund aussah, aber es war ziemlich doppeldeutig gewesen. Sie wusste, dass er genau das zu ihr sagen würde, wenn sie auch nur die kleinste Andeutung machte, dass sie ihn interessant fand.


Milan schaute sie weiter an und stand dann auf.

„Ich hol uns was zu trinken.“

Sie sah, wie er den Raum verließ und hörte es dann leicht klirren. Nach einem kurzem Luftholen, einem kräftigem Schütteln und ein paar gemurmelten Wörtern, drehte sie seinen Laptop zu sich, klickte eines der Suchergebnisse an, zog ihr Blatt zu sich und machte sich Notizen.

Als Milan zurückkam, sah ein er fleißig arbeitendes Mädchen. Er blieb still im Türrahmen stehen und sah sie an. Es war schade, dass sie so schüchtern war, er hätte sich gerne mal länger mit ihr unterhalten. Sie schien einen guten Musikgeschmack zu haben und war nicht so mädchenhaft, wie die anderen ihres Geschlechts. Sie könnten bestimmt gute Freunde werden, wenn sie nur offener wäre. Und ihn mögen würden. Die ganze Woche hatte er versucht ein Gespräch mit ihr zu beginnen, aber sie hatte nur einsilbige Antworten gegeben und war ein wenig von ihm abgerückt. Das hieß für ihn, dass sie ihn nicht leiden konnte. Er nickte leicht, er war sich sicher, dass es so war.


Langsam ging er zu ihr und setzte sich wieder neben sie, bemerkte, dass sie sich sofort wieder versteifte und ein wenig abrückte. Er drückte ihr eines der Gläser in die Hand und sah sie an.

„Es ist okay, dass du mich nicht leiden kannst, du musst es mir nicht ständig zeigen.“

Er trank einen Schluck und sprach dann weiter.

„Ich werde mit jemandem den Platz tauschen. Aber die Arbeit müssen wir noch zusammen machen.“
Fassungslos schaute sie ihn an.

„Dich nicht leiden können? Doch, ich mag dich! Ich bin nur...“


Sie brach ab und schaute auf ihren Zettel. Als sie weiter sprach war ihre Stimme leise und brüchig.

„Hör mal, ich bin einfach kein Mensch, der zeigt, wenn er jemanden mag... klar, bei Mia und Mariella fällt mir das leicht, weil ich weiß, dass die beiden mich akzeptieren, wie ich bin.“

„Und wie bist du? Wie soll ich dich kennenlernen, wenn du es mir nicht zeigst?“

„Wie ich bin?“ Sie lachte bitter. „Fett bin ich. Ein Fettfleck. Wertlos.“ Er schwieg eine Weile und schüttelte dann den Kopf. „Ich glaub nicht, dass du wertlos bist.“ Sie sah hoch und er sah ein trauriges Funkeln in ihren Augen. „Langweilig. Hässlich. Emotional, emotionslos.“

Sie stand auf.

„Talentlos, verlassen, allein. Ungeliebt. Lästerobjekt.“

Ein Schluchzer entwich ihrer Kehle und sie begann wieder unkontrolliert zu zittern.

„Hoffnungslos. Verliebt, hoffnungslos verliebt.“

Während ihr die Tränen über die Wangen liefen, lachte sie bitter.

„Es war schon immer so, schon in der Grundschule konnte mich keiner leiden und es ist bis heute so, bis auf Mia, Mariella, Mona und Meggie mag mich niemand, ich werde höchstens geduldet. Und es ist egal, was ich tue, was ich sage, wie sehr ich mich anpasse. Die anderen sind doch erleichtert, wenn ich sage, dass ich nicht mitkommen. Jeder sagt, dass stimmt nicht, aber ich WEIß, dass es so ist! Wieso also soll ich versuchen Freundschaften aufzubauen?“


Er sagte nichts, er sah sie nur an. Alessa nahm ihre Notizen und stopfte sie in ihre Tasche. Was sollte er auch sagen, sie hatte ja schließlich recht. Die Tränen flossen unaufhörlich und tropften auf den dicken Teppich, der auf dem Boden lag. Sie murmelte leise vor sich her.

„Fett, fett und hässlich, hässlich und fett, Äußerlichkeiten, die viel zu sehr zählen.“


Milan schaute sie weiter an. Sie erinnerte ihn an seine beste Freundin, die er hatte zurücklassen müssen, als er für die Ausbildung hierher zog. Sie war auch so gewesen. Nicht sonderlich hübsch, nicht schlank, noch fülliger als Alessa, deren Figur gar nicht so schlimm war, wie sie dachte. Depressiv. Viel zu sehr davon überzeugt, dass niemand sie zu würdigen wusste. Und ehe er sich versah, war er auf den Knien und hielt Alessa im Arm.

„Du bist interessant, glaub es mir. Und ist es nicht schöner, ein paar wahre Freunde zu haben, als viele unbedeutende? Komm. Hör auf zu weinen.“

Er wischte ihr die Tränen weg und lächelte sie an.

„Und talentlos bist du auch nicht. Das Bild mit den Augen, das liegt oben auf meinem Schreibtisch. Es hatte mir wirklich gefallen.“
Alessa erwiderte seinen Blick und bemerkte, dass ihre Mundwinkel sich leicht nach oben zogen. Er lächelte und drückte sie an sich.

„Und du bist hübsch, vor allem, wenn du lächelst.“

Jetzt lachte sie leise und sah ihn weiter an.

„Danke, Milan.“

„Bitte, Alessa.“

Er grinste.

„Und jetzt lass uns diese Scheiß-Mappe machen.“

Nähe

Den Mittwoch die Woche darauf saß Alessa auf ihrem Stuhl und bewegte nervös das Bein auf und ab. Neben ihr lachte Milan leise.

„Es ist doch nur ein Festival.“

„Mein erstes Festival!“

Nur, wenn sie daran dachte, bekam sie rote Wangen. Sie war furchtbar aufgeregt und trieb alle in den Wahnsinn. Morgen Vormittag sollte es losgehen. Milan würde auch mitkommen, er besuchte das Open Flair jedes Jahr und traf sich dort mit seiner besten Freundin. Alessa hatte Fotos von ihr gesehen. Sie war mindestens genauso dick wie sie und das fasste sie als positives Zeichen auf. Ihr Name war Jacqueline und Alessa war gespannt auf sie. Milan hatte sich dafür ausgesprochen neben ihr und ihren Freunden zu kampieren und darauf freute sie sich. Sie wollte so viel Zeit mit ihm verbringen, wie sie konnte, auch wenn er nie mehr in ihr sehen würde, als eine gute Freundin. Wenn überhaupt das, wie sollte sie das jetzt schon wissen? Sie kannten sich erst knapp über eine Woche.


Auch wenn sie in der Zeit oft bei ihm gewesen war. Milan spielte wirklich Gitarre und seine Gesangsstimme war atemberaubend. Er schrieb sogar selbst Songs! Sie hatte auf seinem Schreibtisch zufällig eine Mappe gesehen und es beim durchblättern festgestellt. Natürlich hatte sie ihn sofort angebettelt, ihr was vorzuspielen und er hatte irgendwann nachgegeben und es getan. Sie war sofort dahin geschmolzen. Über ihren ganzen Körper hatte sich Gänsehaut gezogen und sie hatte sich gewünscht, dass er ein Lied schrieb, ein Lied für sie.


„Jedenfalls dachte ich, dass du ja auch eigentlich mit mir fahren könntest – dann musst du nicht das Zugticket bezahlen und ich bin nicht so allein.“

Sie hatte nicht bemerkt, dass er mit ihr gesprochen hatte und sah sie jetzt verwirrt an. Milan lachte.

„Oh, Alessa, du bist so eine Träumerin!“

Sie wurde rot. Wenn er wüsste, von was sie träumen würde, würde er sich angeekelt von ihr abwenden. Er würde sie nie mehr ansehen und das wäre ein Albtraum. Es war jedes Mal wie ein kleines Wunder für sie, wenn er sie ansah, so wie jetzt, wenn er seine funkelnden Augen auf sie richtete.

„Also, was sagst du? Hey, sag schon ja! Bitte, bitte, bitte!“

Konnte sie nein sagen? Selbstverständlich nicht! Also nickte sie.


Er lächelte und sah an die Tafel. Alessa war sich gar nicht bewusst, was für ein tolles Mädchen sie war. Ihr Charakter war toll. Sie hörte die gleiche Musik wie er, sie hatte seine Songs kritisiert. Sie hatte ihm Tipps gegeben, was er besser machen könnte. Er freute sich auf morgen, auf die Autofahrt, auch wenn sie nicht sonderlich lange dauern würde. Aber er würde es einfach genießen, sie näher kennenzulernen und er freute sich darauf, sie Jacqueline vorzustellen. Er war froh, dass er endlich wieder jemanden gefunden hatte, den er ehrlich mochte und jemanden, der ehrlich zu ihm war. Aus dem Augenwinkel schielte er zu ihr. Sie war beizeiten ziemlich still und versank oft in Gedanken. Dann fragte er sich immer, was los war. Und es interessierte ihn brennend, in wen sie so unglücklich verliebt war. Nach ihrem ersten Ausbruch hatten sie nochmal in Ruhe darüber gesprochen, sie hatte ihm aber keinen Namen genannt. Sie war sich eh sicher, dass er sie nicht will. Wer auch immer er war. Wie dem auch sei, Milan mochte sie wirklich und er war froh endlich wieder jemanden gefunden zu haben, der ein wirklich guter Freund werden könnte.

„Wann soll ich denn kommen?“

Neugierig sah sie ihn an. Er zögerte erst, doch grinste dann.

„Heute Abend. Dann können wir die Saw-Reihe gucken. Oder zumindest den Anfang.“

„Nein!“

Er lachte.

„Du bist so ein Angsthase.“

„Nein, ich finde das einfach nur eklig... oh bitte nicht!“

„Komm schon, trau dich! Mindestens den ersten Teil! Und dann gucken wir was, was du willst!“

„Alles was ich will?“

„Egal was.“

„Okay, dann weiß ich schon den perfekten Film.“

Er wich zurück und rief:

„Jetzt sag nicht Titanic!“

„Um Himmels Willen!“

Angewidert verzog sie das Gesicht. Langsam kam er näher, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und sah ihr verwundert in die Augen.

„Du kannst diesen Film nicht ausstehen? Du bist ein Mädchen und kannst diesen Film nicht ausstehen?“

Sie brachte kein Wort raus. Er war ihr so nah, nur ein paar Zentimeter und sie würden sich küssen. Sie starrte ihn an und er ließ sie wieder los.

„Tut mir leid, du magst ja keine Körpernähe. Da hätte ich dran denken müssen. Also, kommst du so gegen sechs? Wir bestellen uns Pizza, schauen die Filme, gehen vielleicht eine Runde schwimmen... und bring dein Zeug mit! Morgen Vormittag geht es los.“

Sie lächelte und nickte. Das hörte sich fast nach einem Date an, auch wenn es keines war. Dann riss sie die Augen auf.

„Ich gehe nicht schwimmen!“

Er runzelte die Stirn.

„Wieso nicht?“

Sie zeigte auf ihren Körper und schlang dann die Arme um ihren Bauch. Er schüttelte den Kopf.

„Alessa, du gehst doch auch ins Schwimmbad. Ich hab dich da im Sommer manchmal gesehen.“

„Du...“

„Ja. Und bin ich schreiend weg gerannt? Nein! Weil du gar nicht so eine schlimme Figur hast, wie du immer tust.“


Er stand auf, als es klingelte, nahm ihre Hand, zog sie mit sich raus und setzte sich mit ihr auf eine Bank.

„Du hast mir erzählt, dass du immer allein am Rand stehst. Deiner Meinung nach ist das, weil du so aussiehst, wie du aussiehst. Aber das stimmt nicht! Lessa, ob ein Mensch sympathisch wirkt oder nicht, kommt allein auf die Ausstrahlung an! Wenn du da so sitzt wie jetzt, Arme verschränkt, dann klar, dass dich niemand anspricht. Versuch es mal mit Lächeln, wovor hast du Angst?“

Ihre Stimme war leise und brüchig, als sie antwortete.

„Ablehnung. Ausgelacht zu werden. Ausgenutzt zu werden, verarscht zu werden.“

Sie stand auf und ging in die Raucherecke, wo sie sich zu Mia und Mariella stellte.

Milan legte das Gesicht in die Hände und schüttelte den Kopf, zwei Sekunden später spürte er eine Hand auf seiner Schulter.

„Ich versteh nicht, was du mit der willst. Niemand aus unserer Klasse mag sie. Häng' doch lieber mal mit uns ab!“

Die Stimme gehört Paulina, einem rechthaberischen und ach so tollen Mädchen. Sie und ihre Freunde hatte den ganzen Tag nichts besseres zu tun, als irgendwelche Sprüche von sich zu geben und den Unterricht zu stören. Sie war gerade achtzehn geworden und damit ungefähr fünf Jahre jünger als er. Sie hielt sich für die Königin. Er konnte sie nicht leiden.

„Ob ich mit euch „abhänge“ oder mir einen Arm absäge, macht keinen sonderlich großen Unterschied.“


Mit diesen Worten stand er auf und ging zurück in die Klasse. Auf seinem Platz blätterte er gelangweilt in seinem Block und fand dort einen Song, den er schon vor einer Weile geschrieben hatte. Nur eine passende Melodie konnte er nicht finden, egal was er ausprobierte, immer schien etwas zu fehlen. Leise summte er vor sich hin, versunken in dieses Lied. Er schrak hoch, als sich jemand über ihn beugte und leise einstimmte. Er drehte den Kopf und erkannte Alessa, die breit lächelte.

„Das ist ein Duett.“

Erstaunt sah er erst sie an, dann das Blatt. Er ging alles nochmal im Kopf durch, dachte es durch, dann erstarrte er.

„Du hast Recht. Du hast Recht!“

Er sprang auf und schlang seine Arme um sie. Erst war sie steif, dann erwiderte sie die Umarmung und schmiegte sich leicht an ihn. Er lachte leise neben ihrem Ohr und flüsterte:

„Ein Duett. Ich bin so ein Idiot. Natürlich. Danke, Lessa.“

Er küsste sie leicht auf die Wange.

Alessa lächelte glücklich. Auch wenn es für ihn was anderes bedeutete als für sie, er hielt sie im Arm! Er hatte sie auf die Wange geküsst! Und er sollte sie, verdammt nochmal, nie wieder loslassen! Aber natürlich tat er das. Er ließ sie los, setzte sich und schrieb ein paar Noten auf seinen Zettel. Innerlich seufzte sie sehnsüchtig. Sie konnte gar nicht erklären, wie sehr sie sich auf den Abend freute, Filme mit ihm schauen, mit ihm reden, Zeit mit ihm verbringen. Sie würde zwar nicht schwimmen gehen, aber sie würde ihm gerne zuschauen, oh ja, liebend gern sogar! Langsam ließ sie sich neben ihm nieder, immer noch lächelnd.

„Können wir das Zelt von mir und Mona mitnehmen? Dann muss sie es nicht mit sich rumschleppen.“

„Klar.“

Er wandte sich zu ihr und lächelte.

„Ich würde auch Mona mitnehmen, aber ich fürchte, wir haben keinen Platz mehr. Wir zwei, meine Gitarre, den Grill, zwei Zelte, zwei Schlafsäcke, zwei Matratzen unsere Taschen...“ „... in deinem kleinem Auto.“

„Genau.“

„Nein, ist ja kein Ding. Mona, Meggie, Nadja, Andrea und Tatjana können sich zu fünft ein Hessenticket nehmen. Wäre ein bisschen doof gewesen zu sechst, also ist das eigentlich eine super Sache, dass du mich mitnimmst.“


Und nicht nur deswegen. Auch die Sache, dass sie ihn knapp zwei Stunden für sich hatte, ihn und die tolle Musik, die garantiert laufen würde, machte sie glücklich, jedenfalls so glücklich, wie sie sein konnte.

„Lessa, lass uns das nachher mal zusammen probieren, ja?“

„Was?“

„Das Duett!“

„Ich kann aber nicht singen.“

„Ach was, das eben war doch gut! Das wird schon! Selbstbewusstsein, Süße.“

Er zwinkerte ihr zu und ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Süße. Das Küsschen auf die Wange. Keine Hoffnungen machen, Alessa, mach dir keine Hoffnungen!

Der Schultag war irgendwann vorbei und Alessa fuhr nach Hause. Dort fing sie sofort an zu packen. Sie hoffte, dass sie das Richtige mitnahm, sie hatte keine Ahnung, was sie auf dem Festival alles brauchen würde. Schließlich war sie zufrieden, also sprang sie unter die Dusche und machte sich auch sonst frisch. Dann ließ sie sich von ihrer Mutter zu Milan fahren. Ihre Mutter fand nicht gut, dass sie auf das Festival fuhr, ihrer Meinung nach, sollte sie lieber zur Schule gehen. Aber das Ticket war gekauft und somit... nun ja.


Milan lächelte zufrieden. Er hatte den ganzen Tag an dem Duett geübt und es war fertig. Als er auf die Uhr sah, begann er allerdings zu fluchen. Alessa würde gleich kommen und er hatte noch nichts gepackt. Er sprang auf und fing an, er beeilte sich wirklich und stopfte gerade das letzte Kleidungsstück in die Tasche, als es klingelte. Er sprintete runter und riss die Tür auf. Alessa lachte.

„Hey, ein wenig im Stress?“

„Lach nicht. Wir laden dein Zeug direkt ins Auto.“

Er begrüßte ihre Mutter und verstaute alles, was Alessa die Nacht nicht brauchen würde, in seinem Auto. Alessa half ihm, verabschiedete ihre Mutter und ging dann mit ihm ins Haus. Milan sah sie an und lächelte.

„Wollen wir das Duett mal probieren? Ich glaub, ich hab es fertig, muss es aber nochmal mit einer Frau zusammen hören.“

„Ehm, okay...“


Gemeinsam gingen sie in sein Zimmer und begannen. Milan spielte ihr die Melodie ein paar Mal vor und beim dritten Mal konnte sie schon einstimmen. Er unterbrach hier und da, änderte was, doch am Ende stand es. Milan lächelte glücklich.

„Ohne dich hätte ich das nie geschafft.“

„Ach was. Du bist ein so toller Musiker.“

Er grinste.

„Gleich werde ich rot.“

Alessa lachte und streckte sich.

„Also, was ist mit den Filmen?“

„Wollen wir vorher was essen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich hab keinen Hunger.“

„Ich aber. Ich schieb' mir gerade eine Pizza in den Ofen.“

Er stand auf und ging in die Küche.

Alessa sah ihm nach. Sie hatte ehrlich keinen Hunger und das war gut. Sie wollte nicht vor ihm sitzen und fressen, was in sich hineinstopfen, damit er denken könnte „Ha, die Fette frisst.“ Sie hatte schon keinen Hunger mehr, seit sie ihn kannte. Das war doch ein positiver Nebeneffekt des Verliebtseins. Als sie sich gestern gewogen hatte, hatte sie schon fünf Kilo weniger gewogen, als vor zwei Wochen – und das tat ihr verdammt gut. Sie legte sich mit dem Rücken auf den Teppich und schaute an die Decke. Sie fühlte sich immer so wohl, wenn sie bei Milan war. Er war unkompliziert und furchtbar lieb. Noch hatte sie keine Macke an ihm entdeckt und sie war sich unsicher, ob er überhaupt eine hatte. Aber das musste er, jeder hatte das! Mit einem Seufzer schloss sie die Augen.


Milan ging zurück in sein Zimmer und als er Alessa da so liegen sah, konnte er nicht widerstehen. Leise legte er sich seitlich neben sie und stützte sich so auf seinem Arm ab, dass er ihr ins Gesicht sehen konnte. Er grinste, beugte sich runter und – biss sie in die Nase. Alessa schrie auf und schaute sich verwirrt um, während er sich vor lachen nicht mehr ein bekam. Alessa knurrte.

„Das wirst du bereuen!“

Sie stürzte sich auf ihn und begann ihn zu kitzeln. Das ließ er nicht auf sich sitzen, er hielt ihre Handgelenke fest, drehte sie auf den Rücken, setzte sich auf sie und drückte sie auf den Boden.

„Ich fürchte, ich bin stärker als du.“

„Nein!“, lachte sie, „Lass mich los! Tu es nicht!“

„Was soll ich nicht tun? Das hier?“


Jetzt kitzelte er sie. Sie wand sich unter ihm, wollte entkommen, aber das konnte er nicht zulassen. Irgendwann keuchte sie.

„Bitte Milan, ich tu alles!“

Er sah sie an und lächelte dann.

„Gut. Ich wollte schon lange mal in einer Kneipe spielen, schauen, wie meine Musik so ankommt. Ich brauch eine Duettpartnerin.“

„Nein!“

Er begann wieder sie zu kitzeln.

„Nein, aufhören! Ich mach´s! Ich mach´s!“

Er lachte und ließ sie los.

„Okay! Ich hol meine Pizza, dann schauen wir den Film!“


Alessa sah ihm nach, als er verschwand. Oh Gott... überall wo er sie berührt hatte, brannte sie. Sie wollte mehr, mehr! Bitte! Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare und schloss die Augen. Sie wollte ihm nah sein, so nah wie es nur ging. Sie wollte, dass er sie liebte. Sie wollte ihn. Für immer.

Schnell schüttelte sie den Kopf. Das hörte sich irgendwie psychopathisch an. So war es ja gar nicht gemeint. Sie war einfach nur verliebt. Unglaublich verliebt.


Milan kam wieder und sah sie im Schneidersitz auf dem Boden hocken.

„Hey, setz dich doch aufs Bett. Boden ist ungemütlich.“

Sie sah hoch und nickte, tat dann, was er verlangt hatte. Er lächelte und legte die DVD ein.

„Der Film ist gar nicht so schlimm.“

Er setzte sich neben sie und drückte auf Start, begann dann fröhlich seine Pizza zu essen. Sie sah einen Moment auf den Bildschirm, stöhnte leise, nahm ihr Handy und begann im Internet zu surfen und das solange, bis Milan es ihr wegnahm, ausschaltete und sich auf es setzte, seinen Arm um ihre Schulter schlang und sie Richtung Fernseher drehte.

„Milan, bitte!“

„Komm schon! Ey, lass die Augen offen. Bitte, für mich!“

Sie seufzte und tat so, als würde sie den Film gucken, schloss aber doch die Augen und genoss das Gefühl seines Armes. Milan rüttelte sie.

„Nicht!“

Und daraufhin begann er, ihr zu erzählen, was passierte und das so detailliert, dass sie doch lieber die Augen offen ließ. Sie war einfach nicht so jemand, der sich so etwas anschauen konnte. Außerdem hatte sie Milan, an den sie sich kuscheln wollte und der sie sicher und fest in seinen Armen hielt. Als der Film um war, flüsterte sie:

„Ich werde heute Nacht kein Augen zu bekommen.“

Die Antwort darauf war, dass er sie noch fester an sich drückte und ihr einen Kuss aufs Haar gab. Sie lächelte und schloss die Augen.


Irgendwie gefiel es ihm, sie so im Arm zu halten und sie zu beschützen. Bei einem Blick auf ihr Gesicht lächelte er. Sie wirkte glücklich. Langsam ließ er sich ins Bett sinken und zog sie mit sich, er ließ sie nicht los. Sie würde heute Nacht keine Albträume bekommen, sie würde schlafen können. Er würde auf sie aufpassen. Das flüsterte er ihr auch leise ins Ohr, woraufhin er merkte, dass sie sich enger an ihn schmiegte. Er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren und lächelte. Nach einer Weile hörte er, wie sie langsamer atmete. Sie war eingeschlafen.

Festival

Alessa wachte auf und schmolz dahin. Ganz nah vor ihr war Milans Gesicht und sie versank automatisch in seinen Augen.

„Hey“, flüsterte er.

Sie lächelte und kuschelte sich an ihn. Milan lachte leise.

„Alessa, wir müssen los. Wir haben verschlafen.“

„Oh.“

Sie blieb liegen und brachte Milan so erneut zum Lachen.

„Komm schon. Wir frühstücken was, dann machen wir uns fertig und fahren los.“

„Ich hab keinen Hunger.“


Sie hatte keinen Hunger. Sie hatte gestern Abend schon nichts gegessen. Er machte sich Sorgen. Sie kam doch jetzt nicht auf die dumme Idee so abzunehmen? Das wäre nicht gut, ganz und gar nicht. Und darum musste er sie jetzt zwingen, was zu essen und er wusste auch genau wie.

„Lessa, wenn du nichts isst, dann hören wir auf der Fahrt ununterbrochen Manowar oder Selpultura.“

„Nein, bitte nicht! Milan, ich hab wirklich keinen Hunger!“

„Du hast die Wahl.“

Er ließ sie los, stand auf und streckte sich, dreht sich nochmal zu ihr, sah ihr ernst in die Augen und verließ dann das Zimmer.


Sie schaute an die Decke. Er würde ernst machen, das wusste sie. Diese beiden Bands hasste sie. Grauenhaft. Auch wenn es albern war, ihr damit zu drohen, es war genauso albern, dass sie gerade ernsthaft überlegte, ob sie sich das antun wollte – und sich dagegen entschied. Also stand sie auf und lief ihm nach.

„Milan!“

Er blieb grinsend stehen und drehte sich zu ihr.

„Doch Hunger?“

Sie warf ihm einen bösen Blick zu und marschierte in die Küche. Lachend ging er ihr nach. Seine Mutter, Carmen, machte gerade Spiegeleier und lächelte, als sie Alessa sah.

„Alessa, schön dich zu sehen! Wie geht es dir?“

„Sehr gut und Ihnen?“

„Ich bin immer noch Carmen und du.“

Sie zwinkerte und stellte einen Teller vor Alessa. Milan umarmte seine Mutter kurz, setzte sich neben Alessa und klaute was von ihrem Teller. Carmen lachte.

„Milan, du kriegst selbst was, lass Alessa doch ihr Essen!“

Er grinste:

„Ja, Mama. Ach so, kannst du uns was zu essen für die Fahrt einpacken?“

„Mach ich, ja. Müsst ihr nicht bald los?“

Milan lachte.

„Ich wollte schon vor einer halben Stunde los, aber Alessa hat so süß geschlafen, ich wollt sie nicht wecken.“


Alessa wurde rot, als ihr bewusst wurde, dass er sie beim Schlafen gesehen hatte. Sie hatte die Angewohnheit, ihr Bein um etwas zu schlingen, in ihrem Bett hatte sie extra ein langes Kissen dafür. Hoffentlich hatte sie es nicht bei ihm gemacht! Das wäre unsagbar peinlich! Lustlos stocherte sie in ihrem Essen herum.


Eine Viertelstunde später saßen die beiden im Auto und verließen gerade die Stadt. Milan räusperte sich.

„Alessa?“

„Hm?“

Sie schaute von den CDs auf und zu ihm. Er zögerte einen Moment, aber dann fragte er:

„Das mit deinem besten Freund damals... das macht dich immer noch ziemlich fertig, oder?“

Sie wandte sich ab, starrte aus dem Fenster und erwiderte leise:

„Es wird niemals aufhören. Er war nicht nur mein bester Freund, für mich war er mehr. Der erste Junge, in den ich richtig schlimm verliebt war. Den ich gelie... den ich liebe. Wir hatten so eine schöne Freundschaft, wenn ich ihn brauchte, war er da. Ich hab mit ihm über alles geredet, sogar darüber, dass ich in ihn verliebt war und wie es mir dabei ging. Er hat mir Fragen dazu gestellt, er wollte, dass es mir gut geht...“


Milan legte die Hand auf ihren Oberschenkel und strich ihr leicht drüber. Erstaunt drehte sie sich zu ihm. Milan sah sie kurz an und dann wieder auf die Straße.

„Vielleicht hilft es dir, wenn du mit mir darüber sprichst. Wir kennen uns zwar noch nicht lange, aber ich möchte deine Freundschaft nicht mehr missen, Alessa. Ich hab dich wirklich gern, sehr gern.“

Sie lächelte und legte ihre Hand auf seine. Er zog sie nicht weg, wie sie es erwartet hatte, sondern schlang seine Finger um ihre. Sie lächelte und schaut wieder aus dem Fenster.


Die ganze Fahrt über ließ er ihre Hand nicht los, außer, wenn er schalten musste. Doch direkt nachdem der Gang drin war, den er brauchte, hielt er ihre Hand schon wieder in ihrer.
Er wusste nicht, wieso er das tat, aber er wollte sie einfach nicht loslassen. Er wollte ihr zeigen, dass er für sie da war, dass er bei ihr war. Dass er ihr zuhören würde, wenn sie reden wollte. Auch versuchte er, ihr zu entlocken, in wen sie so schlimm verliebt war, aber sie sagte nichts. Kein Ton kam über ihre Lippen, sie schwieg eisern, was ihn einerseits schon ein wenig ärgerte, was er aber auch vollkommen verstand.


Aber sie aß schon wieder nichts. Als sie um vierzehn Uhr ankamen, hatte sie außer dem einem Ei am Morgen nichts weiter zu sich genommen. Er hörte allerdings auch nicht ihren Magen knurren, also konnte es ja wirklich sein, dass sie einfach keinen Hunger hatte. Ob es an ihrem Liebeskummer lag? Das wäre wahrscheinlich nicht so gut. Wenn sie ihm doch bloß verraten würde, wer es war, dann könnte er ihr helfen! Seine neueste Theorie war, dass sie auf Mädchen stand und es ihm deshalb nicht erzählte, weil sie Angst hatte, dass er sie auslachte oder ablehnte, wenn er wüsste, dass sie homosexuell war. Wobei... sie hatten neulich Sweeny Todd geschaut und Alessa hat sich jedes Mal gefreut, wenn sie Johnny Depp gesehen hatte und ihm erzählt, wie heiß dieser Mann doch wäre. Ach verdammt, er sollte einfach akzeptieren, dass sie es ihm nicht sagen wollte.

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Musik, Grillen, Bier. Alessa und Jacqueline verstanden sich gut, sie redeten viel. Milan hatte sogar fast das Gefühl, dass Jacqueline mehr mit Alessa sprach als mit ihm. Aber das war ihm ganz recht, so konnte er ungestört mit den anderen Mädchen flirten. Meggie zum Beispiel war heiß. Unglaublicher Körper, lange schwarze Haare... sie gefiel ihm wirklich. Leider hatte sie einen Freund, aber hey! Ein kleiner Flirt war bestimmt okay.

Und schon war der letzte Abend da.

Jacqueline tippte Alessa an.

„Hey, gehen wir duschen?“

Alessa, die Milan und Meggie beobachtet hatte, nickte und lief gemeinsam mit ihr zu den Duschen.

„Du magst ihn. Sehr.“

Alessa seufzte.

„Ja.“

„Das merkt man.“

„Du vielleicht. Aber Meggie ja anscheinend nicht.“

„Sie ist doch eine deiner besten Freundinnen, oder?“

„Schon... na ja, mehr oder weniger. In letzter Zeit macht sie viel mehr mit ihrem Freund.“

„Das ist genau der Punkt! Sie hat einen Freund! Weiß Milan das?“

„Ja, ich hab es ihm gesagt. Oh Gott, Jacky, das ist so gemein! Sie kriegt immer jeden Kerl! Und ich steh dumm daneben. Das war schon immer so!“

„Sag es ihm. Sag ihm, dass es dir wehtut, wenn er mit einer anderen flirtet, während du daneben sitzt!“

„Nein! Nein! Das kann ich nicht! Das hatte ich schon einmal, er wird mir sagen, dass ich zwar eine Freundin bin, aber mehr auch nicht!“

Sie schaute auf den Boden.

„Er hat die ganze Autofahrt über meine Hand gehalten. Ich hab mir Hoffnungen gemacht .. ich hab mir wirklich Hoffnungen gemacht!“

Jacqueline sah sie einen Moment an und umarmte sie kurz.

„Das wird schon.“

Sie ging duschen, Alessa auch.


Milan saß neben Meggie, eine Hand lag auf ihrem Oberschenkel. Meggie lehnte sich an ihn und lächelte, nahm ihm dann seine Bierflasche weg und trank einen großen Schluck. Milan lachte.

„Hey! Das ist mein Bier.“

„Und was willst du jetzt tun?“

Grinsend trank sie noch einen Schluck. Er nahm ihr sein Bier wieder weg und trank es schnell leer, zog Meggie dann auf seinen Schoß und legte seine Lippen auf ihre.


Mona beobachtete das alles von ihrem Platz gegenüber und seufzte. Sie wusste, was Alessa für Milan empfand, sie hatte es ihr erzählt und außerdem sah das ein Blinder – nur Meggie natürlich wieder nicht. Sie bemerkte nie was, vor allem nicht, wenn es um andere ging. Sie stand auf, die Cola in der Hand, ging zu den beiden und kippte sie ihnen über den Kopf. Milan und Meggie fuhren auseinander. Meggie sprang auf.

„Was zum Henker?!“

„Meggie, merkst du noch was? Was ist mit Janis?“

„Der kriegt das nicht mit, wenn es ihm niemand erzählt.“

„Hast du das nicht schon bei Lars gehabt? Als er herausgefunden hat, dass du ihn betrogen hast?“

Meggie sah schuldbewusst auf den Boden und stand dann auf.

„Ich zieh mich um.“


Milan schaute ihr nach und dann Mona an.

„Du kannst mich nicht leiden.“

„Du bist ein Freund von Alessa, sie mag dich, also bist du okay.“

Milan seufzte.

„Ich mach mir Sorgen um Alessa. Sie hat die letzten Tage so wenig gegessen.“

„Sie hat Liebeskummer.“

„Also doch das. Ich dachte, dass sie vielleicht so abnehmen will.“

Mona schüttelte den Kopf, setzte sich dann wieder auf ihren Platz.


Alessa wartete vor der Dusche auf Jacqueline und ging dann mit ihr zurück. Sie ließ sich neben Milan fallen und lächelte.

„Hey.“

„Na, fertig geduscht?“

Sie nickte.

„Ja. Wo ist Meggie?“

„Sie wollte sich umziehen.“

„Wieso?“

„Sie ist voll Cola.“

Alessa schaute ihn fragend an.

„Egal. Wie geht's dir? Hast du Hunger? Iss was.“

„Nein.“

„Doch, komm schon.“

Er stand auf, nahm ein Würstchen vom Grill, legte es in ein Brötchen und gab es ihr.

„Iss.“

Alessa seufzte, aß dann aber. Milan nickte zufrieden und setzte sich wieder neben sie.

„Fährst du morgen auch wieder mit mir zurück?“

Sie nickte und lächelte.

„Gerne.“

Nach und nach stießen die anderen der kleinen Gruppe zu ihnen. Der Alkohol machte die Runde und irgendwann waren die meisten schon relativ angetrunken, andere bereits betrunken, je nachdem, wie viel derjenige vertrug. Tatjana kam auf die Idee Wahrheit oder Pflicht zu spielen und die meisten waren dafür. Und so fingen sie an, es wurden Fragen und witzige Aufgaben gestellt.

Alessa achtete erpicht darauf, dass sie nicht Wahrheit sagte, wenn Milan sie dran nahm, sie wusste, dass er eh nur wissen wollte, wen sie so sehr mochte und das konnte sie ihm unter keinen Umständen sagen, niemals.


Und dann kam der Moment der kommen musste. Mona nahm Milan dran und fragte lächelnd:

„Wahrheit oder Pflicht?“

Milan zögerte einen Moment und antwortete dann.

„Pflicht.“

Mona lächelte in sich hinein. Sie würde Alessa jetzt einen Gefallen tun.

„Küss Alessa. Richtig, mindestens zwei Minuten lang.“


Alessa erstarrte und sah sie an. Das konnte nicht ihr Ernst sein! Mona war so... okay, wenn sie es sich recht überlegte, war Mona ein Engel. Eigentlich war das ja genau das, was sie wollte. Milan küssen. Aber sie war sich nicht sicher, ob Milan das auch wollte. Sie schielte zu ihm und sah, wie er den Kopf leicht schief legte und sie anschaute.

„Alessa? Ist das okay für dich?“

„Ehm...“

Mona zwinkerte ihr aufmunternd zu, also nickte sie. Milan rutschte näher zu ihr und lächelte.

„Na dann.“

Er legte eine Hand unter ihr Kinn und zog ihr Gesicht näher an sich ran. Sie schloss unwillkürlich die Augen und dann lagen seine Lippen auch schon auf ihren.

So weich. So zärtlich.

Ein Schauder durchlief sie und sie rutschte ein wenig näher zu ihm. Seine Zunge bahnte sich einen Weg in ihren Mund und entlockte ihr damit einen leisen Seufzer. Er hielt sie jetzt fest im Arm und küsste sie immer weiter. Wie durch Watte nahm Alessa wahr, dass jemand sagte, die zwei Minuten seien vorbei, aber er küsste sie einfach weiter. Es war, als wären sie Magneten, keiner konnte den anderen loslassen – und keiner wollte es.


Milan wollte es wirklich nicht. Es gefiel ihm, sie zu küssen, sie hatte so weiche, volle Lippen, es war ein tolles Gefühl sie auf seinen zu spüren. Er hätte nie gedacht, das hier mal zu tun, aber jetzt tat er es und am liebsten wäre es ihm, wenn es für immer anhalten würde. Aber wie das so ist, wurden sie doch von der Realität auseinander gerissen. Diese trug in diesem Fall den Namen Meggie. Sie packte Milan und zog ihn von Alessa weg, die Milan prompt auf die Lippe biss. Mona seufzte, die anderen hatten gar nicht bemerkt, was genau sich abgespielt hatte. Klar, sie hatten den unendlich langen Kuss mitbekommen, aber weshalb Meggie sich einmischte, verstand niemand.


Alessa selbstverständlich schon. Sie spürte wie ihr Tränen in die Augen stiegen und schnell sprang sie auf und verkroch sich in ihrem Zelt, damit es ja niemand mitbekam, wie sie weinte.


Meggie hielt Milans Hand eisern fest, als sie ihn ein paar Meter weiter wegzog. Milan seufzte.

„Was soll das, Meggie?“

„Wieso küsst du sie so lange?“

„Weiß nicht, es hat sich richtig angefühlt. Aber was geht dich das an?“

„Ich kann es nicht fassen, dass du die ganze Zeit mit mir flirtest und dann mit dieser fetten Kuh.“


Milan riss entsetzt die Augen auf, er konnte nicht glauben, was sie gerade gesagt hatte. Hatte sie, die angeblich Alessas beste Freundin war, tatsächlich...? Er schüttelte den Kopf und sah sie abwertend an.

„Meggie, du bist ein Biest. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben und ich rate dir, halt dich von Alessa fern. Wenn du ihr wehtust, bist du dran.“

Er ließ sie einfach stehen, ging zurück zu den anderen, sah dass Alessa nicht da war, erkundigte sich nach ihr und kroch dann auch in das Zelt.


Alessa schluchzte leise in ihr Kissen. Ihr ganzer Körper war am Beben, sie bemerkte nicht, wie Milan zu ihr kam. Als er dann eine Hand auf ihre Schulter legte, sie an sich zog und ihr sanft durchs Haar strich, erschrak sie erst und sah ihn dann mit Tränen verschmierten Gesicht an.

„Alessa“, flüsterte er. „Wieso weinst du? Küss ich so schlecht?“

Sie lachte zwischen ein paar Schluchzern und schüttelte den Kopf.

„Was ist dann los? Ist es wegen Meggie?“

Sofort begann Alessa heftiger zu weinen. Milan drückte sie fester an sich und wiegte sie leicht hin und her.

„Also Meggie. War sie gemein zu dir?“

„N-nein, i-ich...“


Milan unterbrach seine Fragerei und ließ Alessa einfach weinen. Sie würde schon von selbst sprechen, wenn sie dazu bereit war. Und nach einer halben Stunde war sie das tatsächlich. Sie seufzte leise, schnäuzte ihre Nase und schaute ihn dann an.

„Sie kriegt immer jeden den sie will, weißt du. Sie... es ist ihr egal, ob sie einen Freund hat oder nicht. Da ist ein Kerl, sie will ihn, sie kriegt ihn. Es ist so gemein!“

„Wieso? Willst du das auch?“

„Nein! Aber ich will...“

„Jaaa?“

Er spitze die Ohren. Würde sie es ihm endlich verraten? Würde sie ihm sagen, wer dieser Kerl war? Sie seufzte und sah auf den Boden.

„Ich will...“


Vorbei?

Sie sagte es ihm nicht und der restliche Abend verlief ereignislos, genau wie auch die Rückfahrt und der nächste Monat. Die ersten Klausuren standen an, Alessa und Milan lernten gemeinsam, der Unterricht verlief auch wie immer. Reine Routine, mal wieder.
Alessa hielt es kaum noch aus. Wenn sie abends gemeinsam im Bett lagen und er ihr erzählte, welche Mädchen er süß fand, wollte sie ihn packen und schreien, dass er damit aufhören soll, dass er sie nehmen soll. Wenn er mit seiner Band auftrat, die er sich nach und nach zusammengesucht hatte, wollte sie vor der Bühne auf und ab hüpfen und ihm zurufen, dass sie ihn liebte.


Schließlich kam der Tag, der kommen musste. Sie hatten sich für den Abend in einer Kneipe verabredet und wollten dann spontan überlegen, was sie noch machen konnten.
Sie freute sich auf den Abend, weil sie sich auf jeden Abend freute, den sie mit ihm verbringen konnte. Nein, nicht nur auf jeden Abend, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde! Ihre Gefühle für ihn waren schlimmer geworden, sie gingen inzwischen so tief. Sie hatte sich nie vorstellen können, jemanden mal so zu lieben, aber jetzt war es geschehen und würde er sie auch mögen, wäre das wundervoll. Aber er tat es nicht und sie musste sich daran gewöhnen. Der Liebeskummer führte dazu, dass sie immer noch nicht viel aß. Morgens eine Scheibe Brot, mittags auch, abends ein wenig Salat und vielleicht ein Stückchen Fleisch. Sie nahm in dieser Zeit knapp fünfzehn Kilo ab, aber sie fühlte sich trotzdem fett.


Als sie in die Kneipe kam, sah sie ihn an der Bar stehen und sich mit einer großen Blondine unterhalten. Sofort brannte ihr Körper vor Eifersucht und sie malte sich zig Methoden aus, wie sie diese Frau eliminieren konnte. Sollte sie ihr einfach ein Getränk über das weiße Oberteil kippen? Würde vermutlich nicht viel bringen, wahrscheinlich stand die da noch drauf. Sie könnte auch so tun, als würde sie auf sie stehen – damit hatte sie bisher immerhin jeden vergrault. Ein Seufzer entwich ihr. Sie würde sowieso nichts machen. Das konnte sie nicht und das wusste sie. Noch nicht mal ein Wort würde sie sagen, dazu war sie zu unsicher. Langsam ging sie zu den beiden und umarmte Milan.

„Hey, bist ja ausnahmsweise mal nicht zu spät.“

Er lachte.

„Nein, heute nicht. Das liegt an Helena, sie hat mich abholt.“

Er legte den Arm um Helena und küsst sie sanft hinterm Ohr, schaute dann Alessa wieder an.

„Alessa, darf ich dir meine Freundin vorstellen?“

Ihr Herz zersprang in tausend Teile und schien dann unendlich lang in eine gähnende Leere zu fallen. Ihre Hände begannen zu zittern und ihr wurde schwindelig. Freundin? Er hatte eine Freundin? Sie rang nach Luft und versuchte nach außen hin vollkommen normal zu wirken, während ihr Inneres sich anfühlte, als würde es langsam aber sicher verkohlen. Sie zwang sich zu sprechen, sie wusste, was er hören wollte.

„Helena? Freut mich. Wirklich. Ich... wünsche euch viel... Glück ..“

Milan runzelte die Stirn. Das hörte sich aber nicht sonderlich überzeugend an. Klar, er hatte ihr verschwiegen, dass er Helena kennengelernt hatte und auch, dass er sich in sie verliebt hatte und dass sie zusammen waren. Aber trotzdem. Er würde sich auch für sie freuen, wenn sie jemanden finden würde, den sie mochte, der sie mochte. Es enttäuschte ihn irgendwie, er hatte ehrlich gedacht, diese Freundschaft würde so etwas beinhalten. Und noch komischer wurde es ihm, als Alessa irgendwas murmelte, von wegen, sie hätte doch keine Zeit und fluchtartig die Kneipe verließ. Helena schaut ihn bedrückt an.

„Sie mag mich nicht.“

„Ach was, sie kennt dich doch nicht einmal. Sie mag dich bestimmt, wenn sie dich kennenlernt.“

Er gab ihr einen Kuss und zog sie dann mit sich zu einem Tisch.

Alessa kam nicht weit, bevor sie sich nicht mehr aufrecht halten konnte und weinend auf die Knie fiel. Sie hatte nie, nie, nie, nie gedacht, dass es ihr SO wehtun würde, wenn Milan eine Freundin hatte. Sie fühlte sich ungeliebt, dreckig, wertlos. So wertlos! Und das übliche natürlich auch, hässlich, fett. Diese Frau war groß und schlank und wunderschön. Da konnte sie natürlich nicht mithalten! Sie würde nie mit irgendjemandem mithalten können, den Milan toll fand! Sie würde auf ewig einsam und traurig sein, sie würde als alte Jungfer mit zwölf Katzen enden! Schluchzend nahm sie ihr Handy und rief Jacqueline an. Nach dem dritten Klingeln nahm sie ab.

„Alessa, schön dass du dich... Weinst du? Was ist passiert?!“

Alessa schluchzte und bekam kaum ein Wort heraus, als sie antwortete:

„Er hat eine... eine Freundin!“

Jacqueline seufzte. Das hatte sie gewusst und sie hatte ihm von vorne herein gesagt, dass er es Alessa sagen soll, sie bloß nicht damit überrumpeln sollte. Er hatte sie gefragt wieso, aber sie hatte ihm Alessas Geheimnis nicht verraten, das sollte Alessa selbst machen, oh ja. Jetzt hatte er sie verletzt und das hatte sich Jacqueline unter keinen Umständen für Alessa gewünscht. Sie hatte sich gewünscht, das Milan über seinen eigenen Schatten springt und bemerkt, wie sehr er Alessa brauchte. Milan hatte Angst, sich in Alessa zu verlieben, weil sie eben nicht schlank und wunderschön war, so wie all seine Ex-Freundinnen. Und diese Beziehungen hatten nie gehalten! Es hatte nie lange gedauert, da war er die Mädchen leid geworden, einfach weil er feststellte, dass er sich einfach nicht mit ihnen so unterhalten konnte, wie er sich das wollte. Früher hatte Jacqueline auch Gefühle für ihn gehabt. Er hatte es herausgefunden und er hatte ihr klipp und klar gesagt, dass sie „einfach nicht sein Typ“ war. Das hatte sie tief getroffen und sie hatte tagelang nicht mehr mit ihm geredet. Trotzdem wollte sie, dass Alessa es ihm sagte, sie war sich sooo sicher, dass Milan mehr für sie empfand, als er zugeben wollte!


Alessa zitterte weiterhin und schluchzte in den Hörer. Jacqueline versuchte sie zu beruhigen und versprach mit ihr darüber ausführlich zu sprechen, wenn sie in drei Tagen zu Alessas Geburtstag kam, aber mehr konnte sie im Moment einfach nicht für Alessa tun und Alessa wusste das auch, also versuchte sie normal zu atmen und die Tränen zu unterdrücken, was ihr gründlich misslang.

Helena nippte an ihrer Cola und seufzte dann.

„Sie liebt dich.“

„Wer?“

„Wie heißt sie noch gleich? Das Mädchen von eben? Alessa?“

„Ach so, nein, Quatsch, wir sind nur ziemlich gute Freunde.“

Helena schüttelte heftig den Kopf.

„Sie hat Gefühle für dich.“

Milan starrte sie eine Weile an und zuckte dann gleichgültig mit den Schultern.

„Ich glaube eher nicht. Aber selbst wenn es so wäre, würde es keine Rolle spielen, weil ich keine Gefühle für sie habe und auch nie haben werde.“

„Warum nicht?“

„Weil sie nicht mein Typ ist.“

Helena grinste.

„Ach nein?“

Milan rutschte näher zu ihr und zog sie fest an sich.

„Oh nein.“

Alessa fand irgendwann den Weg zu ihrem Auto. Dort legte sie ihren Kopf aufs Lenkrad und weinte weiter. Sie wusste selbst nicht warum, war Milan all diese Tränen wert? So toll war er doch bestimmt auch nicht! Er hatte Fehler, er hatte Fehler! Das musste sie sich ins Gedächtnis rufen, all seine Fehler! Na los, das würde doch nicht so schwer sein! Okay, er flirtete mit Mädchen, die einen Freund hatten, das war bestimmt nichts positives. Und er war faul. Und vielleicht ein klein wenig arrogant. Und... und jetzt fiel ihr nicht mehr ein. So ein Mist! Jetzt war sie wütend, ließ den Motor an und trat das Gaspedal durch. Sie würde es schaffen sich von ihm abzuwenden, sie würde es schaffen! Sie konnte so nicht mehr leben! Auch wenn das jetzt übertrieben klang, aber es war einfach so. Sie konnte nicht mehr die beste Freundin sein, während er vor ihren Augen eine andere im Arm hielt. Helena war zwar jetzt seine erste Freundin, seit sie sich kannten, aber er hatte mit einer Menge Mädchen geflirtet den letzten Monat. Und es hatte ihr jedes Mal aufs Neue wehgetan. Sie packte es wirklich nicht mehr.


Zwei Tage später in der Schule sprach sie kaum mit ihm und er wusste nicht warum. Sie hatte sich seit dem missglückten Abend nicht mehr gemeldet und auf keinen seiner Anrufe reagiert. Sie war doch nicht sauer, weil er seine Freundin zu ihrem Mittwochabend-Treffen mitgebracht hatte? Jeden Gesprächsversuch blockte sie ab. Oder hatte sie einfach nur schlechte Laune? Mia war krank, sie war eins aufgerückt um neben Mariella zu sitzen, mit der sie sich die Stunden über leise unterhielt. Mariella war öfter mal einen Blick zu Milan. Er konnte diese Blicke nicht deuten, aber er war sich sicher, dass sie nichts Gutes hießen. Was hatte er getan, verdammt? Auch in der Pause saß er allein auf der Bank und er beobachtete, wie Alessa sich eine Zigarette anzündete. Eigentlich hatte sie aufgehört zu Rauchen, weil er es nicht leiden konnte, wenn jemand danach roch. Wollte sie ihm damit sagen, dass sie keine Freunde mehr waren? Oder... oh man, er war vollkommen verwirrt.

Was zum Teufel, verdammte Scheiße, war da los? Seine Laune wurde von Sekunde zu Sekunde schlechter und das änderte sich nicht, als Paulina sich neben ihm niederließ und wieder begann irgendwelches Zeug zu labern, dass ihn kein Stück interessierte. Er sprang auf, ging zu Alessa, packte mit seinen Händen ihre Oberarme und dreht sie grob zu sich um.


Alessa erschrak und ließ die Zigarette fallen. Sein Griff war so fest, dass es wehtat und sie sah ihn mit großen Augen an. Was zur Hölle wollte er?
„Alessa, verdammte Scheiße, rede mit mir! Was ist los!“

„N-nichts“, antwortete sie mit zitternder Stimme.

Er knurrte.

„Es ist was, ich merk das!“

„Du machst mir Angst“, flüsterte sie, während ihr Tränen in die Augen stiegen.

Erschrocken ließ er sich los und sah sie an.

„Das wollt ich nicht, Alessa, ehrlich! Ich will nur wissen, was du hast!“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich kann es dir nicht sagen.“

„Alessa, bitte!“


Beide bemerkten nicht, dass es zum Pausen-Ende klingelte. Mariella beschloss die zwei nicht zur stören und ging allein zurück ins Klassenzimmer.
Alessa schluchzte.

„Ich kann nicht, Milan, ich kann nicht!“

„Wieso nicht? Bitte, was habe ich dir getan?“

Sie schlang ihre Arme um seine Taille und vergrub ihren Kopf an seiner Brust.

„Ich bin in dich verliebt, ich liebe dich, ich... ich halt das nicht mehr aus!“


Er erstarrte. Sie liebte ihn? Helena hatte recht gehabt? Oh Gott, nein, das durfte nicht sein! Sie durfte nicht so für ihn empfinden! Er würde sich niemals in sie verlieben, da war er sich sicher. Hatte er ihr Hoffnungen... ja, hatte er. Verdammt. Er sah zu ihr runter und legte behutsam die Arme um sie.

„Alessa...“

„Nein! Sag nichts! Scheiße.“

Er bemerkte, dass sie heftig ein- und ausatmete und versuchte sie zu beruhigen, indem er ihr sanft über den Rücken strich.

„Alessa, ich wollte nie, dass das passiert. Ich hab es nicht darauf angelegt. Steiger dich da bitte nicht rein.“
Wütend stieß sie ihn von sich und schrie:

„Nicht hineinsteigern? Hey, Neuigkeit! Zu spät. ZU SPÄT! Verdammte Scheiße, du weißt gar nicht, wie es mir dabei geht! Ich hatte nie vor es dir zu sagen, nie! Aber du wolltest wissen, weshalb ich heute nicht mit dir geredet hab, hier die Antwort! Ich hab keinen Bock mehr!“

„Soll das heißen, du willst nicht mehr mit mir befreundet sein?“

Sie sah eine Weile auf den Boden und versuchte ihre Atmung zu regulieren, bevor sie antwortete:

„Ja. Ja, das soll es heißen. Ich kann nicht die beste Freundin spielen, wenn ich so für dich empfinde. Das geht nicht.“

Sie sah ihm fest in die Augen.

„Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.“

Er sah ihr nach, als sie sich weiter vom Schulgelände entfernte und seufzte. Musste das sein? Er mochte Alessa wirklich. Er hatte gedacht, dass diese Freundschaft echt klasse sei. Er verfluchte diese Liebe, die alles zerstörte. Wütend ging er zurück in die Klasse, entschuldigte Alessa, sagte ihr sei schlecht gewesen, bat Mariella ihr ihre Tasche zu bringen und widmete sich dem Unterricht. Konzentrieren konnte er sich nicht, denn die ganze Zeit schwirrte nur ein Gedanke in seinem Kopf umher. Wie schaffte er es, dass Alessa wieder mit ihm befreundet sein wollte?

Geburtstag / Funkstille

Sie wurde von einem Geburtstags-Ständchen ihrer Familie geweckt, das krumm und schief war, aber so lieb gemeint. Ihr kleiner Bruder sprang auf sie und küsste ihr Gesicht ab.

„Alles Tute, Alessa!“

Sie lächelte und nahm sein Geschenk entgegen. Sie bekam jedes Jahr das gleiche von ihm – ein selbstgemaltes Bild. Ihr Bruder war absolut untalentiert und auch bei diesem rätselte sie, was das wohl sein sollte.

„Das is' 'n fahrendes Haus!“

„Aaah“, lachte sie, „Danke, Kleiner!“

Sie setzte sich auf und pustete die Kerze aus, die ihre Mutter ihr hinhielt.

„Herzlichen Glückwunsch, Alessa.“

Sie drückte sie kurz und machte sich dann eilig auf den Weg in die Küche um dort die Kerzen auf dem Kuchen anzuzünden und das Geschenk bereit zu legen. Auch ihr Papa drückte sie kurz und verschwand dann ins Bad. Ihr Bruder rannte zu ihrer Mutter und half ihr. Nur ihre Schwester blieb im Raum stehen und setzte sich dann zu ihr.

„Alles Gute.“

„Danke, Mille.“

Mille lächelte leicht.

„Geht es dir heute besser als gestern? Ich hab dich weinen hören.“

Alessa seufzte und schaute auf ihre Bettdecke. Sie hatte gestern Nacht lange mit Mille über Milan geredet. Auch wenn Mille zwei Jahre jünger war als sie, hatte sie irgendwie mehr Ahnung. Sie war auch unendlich viel selbstbewusster.

„Passt schon...“

„Das wird wieder. Es wird immer alles wieder. Und jetzt komm, sonst ist der Kuchen leer.“

Alessa schwang sich aus dem Bett und lachte.

„Na ja, solange Papa noch auf dem Klo ist...“

Auch Mille lachte und ging dann gemeinsam mit ihr runter.

Der Kuchen schmeckte gut, auch wenn sie nicht viel davon aß. Es ging mal wieder nicht und das ärgerte sie fürchterlich. Nachher würde ihre Verwandtschaft zum Kaffee trinken kommen und abends ihre wenigen Freunde zum Grillen. Das würde ein anstrengender Tag werden, sie musste noch das Carport ausräumen, Tische hinstellen, Getränke und Fleisch kaufen fahren, ihrer Mutter ein wenig helfen... und den ganzen Tag über hoffen, dass Milan am Abend nicht kam. Sie hatte ihn nicht ausgeladen, sie dachte eigentlich, dass es sich von selbst erklärte, wenn sie ihm sagte, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Traurig schaute sie auf ihren Teller.


Mille schaute sie aus dem Augenwinkel an und unterdrückte mit aller Mühe einen großen Seufzer. Die arme Alessa. Verliebt und ungewollt. Wie damals auch schon bei Thommy. Verliebt in den besten Freund. Mille war froh, dass ihr das nicht passieren konnte. Oh nein, das würde es nicht. Das hatte mehrere Gründe. Einer davon war, dass sie gar keinen besten Freund hatte. Die Jungs in ihrem Alter waren kindisch und unreif. Über was die alles lachten! Es brauchte nur einmal jemand ein falsches Wort sagen und sofort wurde dumm gekichert und irgendwelche Macho-Sprüche wurden losgelassen. Auf so was konnte sie scheißen, ganz ehrlich. Wieso Alessa Milan so toll fand, konnte sie auch gar nicht verstehen. Milan war oberflächlich, arrogant und ein Schleimer. Sie mochte ihn einfach nicht. Er war ihr unsympathisch. Alessa meinte zwar, dass er kein Stück oberflächlich war, immerhin würde er sich mit ihr abgeben – aber mal ehrlich. Alessa war, auch wenn sie es selbst nicht glauben wollte, ein wirklich toller Mensch, mit dem man viel lachen konnte und der immer für einen da war, der hilfsbereit und verständnisvoll war, fantasievoll, ehrlich... sie hatte so unglaublich viele gute Eigenschaften, die sie selbst gar nicht sah.


Ihr Bruder zerbröselte den Kuchen und Alessa lächelte. So süß, der Kleine! Er erzählte ihr irgendwelche Dinge, die er gestern in der Schule gemacht hatte und war total überdreht, weil ihr Geburtstag war. Er war immer total überdreht, wenn jemand Geburtstag hatte, so, als wäre es sein eigener. Er sprang durch die Gegend und wollte immer als Erster wissen, was in den Geschenken war. Apropos! Geschenke! Alessa lächelte, nahm den kleinen Umschlag und öffnete ihn vorsichtig. Ein Gutschein für ein Tattoo.
Nachdem Thommy gestorben war, hatte sie sich überlegt, dass sie sich seinen Anfangsbuchstaben eintätowieren ließ. Bisher hatte sie nicht genug Geld gehabt und auch keine Stelle an ihrem unvorteilhaften Körper gefunden. Jetzt hatte sie sich vor ein paar Wochen endgültig für die Stelle hinter ihrem rechten Ohr entschieden und angefangen zu sparen. Nur noch einen Termin ausmachen und los ging es! Sie umarmte ihre Eltern und dankte ihnen überschwänglich. Ihr Schwester schenkte ihr ein Buch, das sie schon lange hatte lesen wollen. Sie bedankte sich, lächelte und widmete sich wieder ihren Kuchen. Sie fühlte sich immer so gut, wenn sie bei ihrer Familie war.

Milan erwachte und drehte seinen Kopf zu Helena. Sie hatten ihre erste Nacht miteinander verbracht und er hoffte, dass es ihr gefallen hatte. Vorsichtig stand er auf, zog sich an und ging ins Bad, nur um sich wieder auszuziehen und sich im Spiegel zu betrachten. Ein Seufzer entwich ihm, als sein Blick auf seinen kleinen Freund zu werden – klein im wahrsten Sinne des Wortes. Es konnte ihr gar nicht gefallen haben! Das erste Mädchen, dass er jemals geliebt hatte, hatte ihn verlassen, deswegen, er hatte sie nicht so ausfüllen können, wie sie gewollt hatte. Und Helena würde das gleiche tun. Mit Sicherheit hatte er sie nicht befriedigt und das würde er auch nie können. Zwar gab es diesen Spruch, dass es nur auf die Technik und nicht auf die Größe ankommt, aber er konnte es einfach nicht glauben! Er schüttelte heftig den Kopf und wusch sich dann. Er würde nachher mit Helena darüber sprechen. Wenn sie ihm sagen würde, dass er scheiße im Bett ist, dann war es halt so. Sie würde ihn deswegen nicht verlassen! Bestimmt nicht!


Langsam ging er zurück in sein Zimmer und beobachtete die schlafende Helena. Er war so verliebt in sie! Er ließ sich neben ihr nieder und strich ihr sanft übers Haar. Helena blinzelte verschlafen und gähnte dann supersüß. Er lächelte und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Guten Morgen, Helena!“

„Morgen...“, murmelte sie und gähnte erneut.

Milan lachte.

„Ich mach uns Frühstück, ja?“

Sie nickte und schloss die Augen.

Unten in der Küche war Carmen schon wieder am werkeln.

„Morgen, Milan.“

Sie schob ihm wortlos einen Teller hin und drehte sich dann weg.

„Ehm... hi. Was ist los?“

„Nichts.“

„Mum, irgendwas ist doch!“

„Okay.“

Sie drehte sich zu ihm und seufzte.

„Was denkst du, kommt in meinen Kopf, wenn ich mitkriege, dass erst Alessa hier schläft und wenige Wochen später schon wieder ein anderes Mädchen?“

„Das ist was anderes. Alessa ist... oh Gott, sie hat Geburtstag!“

Carmen sah ihn wortlos an. Milan setzte sich auf einen Stuhl und legte das Gesicht in seine Hände.

„Sie ist in mich verliebt. Wieso ist sie in mich verliebt? Ich wollte nur Freundschaft, ich wollte immer nur Freundschaft, mehr nicht! Und jetzt hab ich Helena kennengelernt und ich mag Helena, ich bin in sie verliebt und dann sagt Alessa, dass sie Gefühle für mich hat!“
Carmen setzte sich neben ihn und strich ihm über den Rücken.

„Weißt du, manchmal ist es schwierig, aber du wirst dich am Ende richtig entscheiden.“

„Richtig entscheiden, was soll das denn heißen? Alessa ist eine Freundin, Helena ist meine Freundin! Mama...“

„Milan, ich sollte dir vielleicht mal erzählen, wie ich deinen Vater kennengelernt habe.“

Er stand auf und schnappte sich ein Tablett auf das er Essen stapelte.

„Jetzt nicht, Helena wartet.“

Carmen seufzte.

„Gratuliere Alessa wenigstens. Das erwartet sie.“

Auf dem Weg nach oben überlegte Milan, ob er das wirklich tun sollte. Klar, es wäre nett ihr alles Gute zu wünschen und immerhin waren sie Freunde – von ihm aus zumindest immer noch. Auch wenn sie es eigentlich nicht wollte. So ein Mist. Es fiel ihm auch einfach nichts ein, wie er ihre Freundschaft zurück gewinnen konnte.

„Okay, Wodka trinkt eh niemand mehr, also brauch ich den nicht und wenn doch jemand will, dann hab ich ja noch die halbe Flasche von neulich. Das Bier wird reichen. Oh man, ich kann nie einschätzen was getrunken wird, ich weiß ja gar nicht, wer mit dem Auto kommt und wer nicht!“

Mille lachte.

„Mach dir doch nicht so einen Kopf! Das Zeug wird schon getrunken, wenn nicht heute, dann wann anders.“

Alessa lachte.

„Ja, toll! Na ja, der Sekt wird auf jeden Fall leer, Oma wird eine Flasche allein trinken, die Mädchen trinken momentan auch nichts anderes also...“

„Also werden die sieben Flaschen reichen, ja.“

Alessa nahm eine Tüte Chips in die Hand und hielt inne.

„Meinst du Milan kommt? Ich hab ihn nicht ausgeladen, halt nur gesagt, dass ich nicht mehr mit ihm befreundet sein will.“

„Ich kann es dir nicht sagen, ich kenne ihn kaum. Was willst du machen, wenn er auftaucht?“

Sie sah auf den Boden und seufzte.

„Ich weiß es nicht, ich wollte nicht so zu ihm sein, aber... ich halt das nicht aus ihn anzuschauen und zu sehen, dass er mich nicht will! Und am Ende bringt er noch diese Helena mit!“

„Das würde er doch nicht tun, wenn du es ihm gesagt hast!“

„Keine Ahnung!“

Mille drückte Alessa kurz an sich und schob den Einkaufswagen dann zur Kasse.

„Es wird schon alles gut gehen. Bestimmt.“


Der Nachmittag verlief unspektakulär. Es war wie jeder andere Geburtstag auch, es gab Kuchen, Kaffee, viel Geschwätz. Alessa blieb dieses Jahr tatsächlich sitzen und verschwand nicht wie sonst direkt nach dem Essen in ihrem Zimmer. Sie unterhielt sich mit ihrer Gote und deren neuen Freund, der ihr von seinen landwirtschaftlichen Aktivitäten erzählte. Es war das erste Mal, dass sie ihn traf und sie fand ihn cool.
Das Gespräch wurde allerdings unterbrochen, als es an der Tür klingelte. Alessa sah verwundert auf die Uhr, von ihren Freunden konnte es niemand sein, dafür war es noch zu früh. Dennoch ging sie zur Tür, sie konnte ja nicht einfach wen auch immer draußen stehen lassen und stieß einen Freundenschrei aus, als sie in Jacquelines Gesicht blickte. Die beiden fielen sich in die Arme und umarmten sich eine Weile. Dann zog Alessa Jacky mit in ihr Zimmer und setzten sich aufs Bett.

„Wie geht's dir, Lessa?“, fragte Jacqueline.

„Na ja, geht so. Ich hab Milan die Freundschaft gekündigt.“

Jacky nickte.

„Er hat mich angerufen, war ganz verzweifelt, der Arme.“

Alessa seufzte.

„Soll ich ihm vorspielen wie toll ich Helena finde? Hey, am besten freunde ich mich mit ihr an!“

Jacky lachte.

„Mir brauchst du das nicht zu sagen, ich weiß wie das ist. Aber jetzt kriegst du erst mal dein Geschenk.“

„Geschenk? Du musst mir nichts schenken!“

„Mach ich aber. Ich wusste nicht genau, was du für eine Kleidergröße hast.“

Sie überreichte Alessa ein Päckchen und nachdem diese es geöffnet hatte, kam ein Rise Against-T- Shirt zum Vorschein, ein Girlie-Shirt.

„Das passt mir nie im Leben.“

„Es ist XL, es müsste passen, so wie du abgenommen hast. Zieh an!“

Das tat Alessa auch und begann dann glücklich zu lachen.

„Oh Gott, es passt wirklich! Danke, danke, danke, danke, danke, danke, danke, danke, danke, danke, danke, danke, danke!!!“
Nachdem die beiden noch eine Weile geplaudert hatten, half Jacqueline Alessa alles für den Abend vorzubereiten.

Milan drehte das kleine Päckchen in seinen Händen hin und her. Helena lächelte ihn an.

„Sie wird dich schon nicht umbringen, wenn du zu ihr gehst.“

„Sie hasst mich.“

„Ach was.“

Er sah sie an.

„Helena?“

„Hm?“

„Du machst mit mir Schluss, oder? Du warst den ganzen Tag so abweisend und... ich hab so das Gefühl.“

Helena seufzte und nickte dann.

„Es tut mir leid.“

„Darf ich fragen warum?“

„Du magst sie. Du magst sie wirklich, auch wenn du es noch nicht zugeben willst. Und ich will dir nicht im Weg stehen, wenn du dabei bist, es herauszufinden. Milan, du bist ein toller Kerl.“

„Ach, danke aber auch.“

Helena seufzte und sah auf den Boden.

„Außerdem hänge ich meinem Ex noch nach. Ist erst zwei Wochen her, dass wir uns getrennt haben. Dachte, es hilft, sich gleich in eine neue Beziehung zu stürzen. Aber irgendwie...“

„Und es liegt nicht daran, dass ich nicht sonderlich gut... nun ja... bestückt bin?“

Helena lachte.

„Nicht sonderlich gut bestückt? Hab nicht solche Komplexe.“

Sie küsste ihn auf die Wange und stieg dann in ihr Auto.

„Sag mir mal, wie es gelaufen ist, ja?“

Er nickte, sah ihr dann nach, wie sie davon brauste und setzte sich dann in sein eigenes Gefährt.

Innerhalb von zehn Minuten war er da und hörte aus dem Carport die Musik. Oh Gott. Hoffentlich würde sie ihn nicht töten, weil er hier aufkreuzte. Hoffentlich würde sie seine Entschuldigung akzeptieren. Er wollte sich dafür entschuldigen, wie er sie am Vortag behandelt hatte und ihr zeigen, dass er immer ihr Freund sein würde. Er wollte diese Freundschaft und er hatte sich geschworen ihr gegenüber nicht mehr zu zeigen, welche Mädchen er attraktiv fand und sowieso dieses Thema nicht anzuschneiden. Er wollte sich ein Beispiel an ihrem verstorbenen besten Freund nehmen und mit ihr offen über das Thema Liebe reden – und er hoffte, dass er das wirklich schaffte.

Happy Birthday, Lessa!

Er holte noch ein paar Mal tief Luft und betrat dann die Garage. Seinen Blick ließ er über die Leute streifen, die hier waren, doch Alessa war nicht dabei. Dafür hing ihm innerhalb von zwei Sekunden Jacqueline am Hals.

„Miiilan! Schön, schön dich zu sehen!“

Er lachte leise.

„Hey, du. Schon ein wenig getrunken, was?“

Sie ließ ihn los und presste ihren Daumen und Zeigefinger aneinander.

„Nur so.“

Milan grinste und seufzte dann.

„Wo ist Alessa?“

„Sie will nicht, dass du hier bist, Milan.“

„Ich muss mit ihr reden. Wo ist sie?“

Jacqueline seufzte und zeigte dann raus.

„Da. Wenn sie sagt, du sollst gehen, dann geh, tu ihr nicht weh!“

Milan sah sie noch einen Moment an und und ging dann in die gedeutete Richtung.


Sie hatte das Gefühl zu fliegen. Sie schaukelte höher und höher. Ein leises Lachen entwich ihren Lippen. So gut hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Es gefiel ihr, wie der Wind durch ihr Haar wehte und sie genoss eine der letzten warmen Nächte des Jahres. Der Mond war voll und die Sterne funkelten von dem klaren Himmel. Sie hatte echt coole Geschenke von ihren Freunden bekommen und alle hatten gute Laune mitgebracht. Sie hatten angestoßen, gelacht. Es war eine schöne Feier, aber sie hatte sich jetzt einfach mal zurückziehen müssen. Ihre Freunde waren lieb und nett, aber manchmal gingen sie ihr auch auf die Nerven, so wie im Moment.


Er suchte eine Weile und sah sie dann auf der Schaukel ihres Bruders sitzen. Sie schaukelte ziemlich hoch und er bekam ein wenig Angst, denn er war sich sicher, dass auch sie schon ein wenig Sekt intus hatte. Sie trug ein schwarzes Kleid, in dem sie wirklich toll aussah, das musste er zugeben. Er legte das Päckchen auf einen Stapel Holz, ging langsam zu ihr, nahm die Schaukel und gab ihr ein wenig Anschwung.

„Weißt du, ich wollte dir nie wehtun, ehrlich nicht.“
Sie zuckte kurz zusammen, schwieg aber. Auch er schwieg und gab ihr weiter Schwung. So blieben sie eine Weile, beide blendeten die Hintergrundgeräusche aus, die Musik, Jacquelines Anweisungen, die beiden nicht zu stören.

Doch irgendwann brach Milan das Schweigen.

„Helena hat Schluss gemacht. Sie sagte, dass es für sie noch zu früh für eine Beziehung ist. Aber ich glaube nicht, dass das der wahre Grund ist.“

„Nein?“

„Nein.“

Er hielt die Schaukel an und half ihr dabei runter zu klettern.

„Du siehst schön aus heute.“

„Ich geh nicht davon aus, dass das in Richtung Flirt gehen soll.“

„Nein, ich wollte dir ein Kompliment machen.“

Gemeinsam setzten sie sich ins Gras und Alessa begann die Halme herauszureißen.

„Wieso bist du hier? Ich will nicht mehr mit dir befreundet sein.“

„Aber ich mit dir. Okay, wir kennen uns noch nicht lange. Erst zwei Monate! Aber du bist mir wichtig! Sehr wichtig. Aber, Alessa, ich denke nicht, dass ich mich jemals in dich verliebe.“

„Ich weiß. Ich bin nicht dein Typ.“

Er seufzte.

„Ja. Aber soll ich dir was sagen?“

Sie schaute ihn an.

„Was denn?“

„Jeder glaubt, dass ich mich mal in dich verliebe. Vielleicht passiert es, vielleicht nicht, das kann ich ja jetzt noch nicht wissen, oder? Aber ich will dir keine Hoffnung machen. Scheiße. Es ist alles scheiße im Moment!“

Sie schwieg eine Weile und flüsterte dann:

„Wieso denkst du, hat sie Schluss gemacht?“

„Das ist ziemlich persönlich.“

Alessa sah ihn von der Seite an.

„Du willst mit mir befreundet sein, aber mir nichts erzählen? Ich weiß so wenig über dich, du erzählst mir selten was.“

Sie stand auf und wurde im nächsten Moment von seiner Hand aufgehalten, die sich um ihre schlang.

„Ich erzähl es dir. Setz' dich wieder zu mir, bitte, Alessa.“

„Ich muss zu meinen Gästen.“

„Bitte!“

Er zog an ihrer Hand und aufgrund des Alkohols stolperte sie zu Boden und landete in seinen Armen.

„Bitte“, flüsterte er. „Bitte hör mir zu.“


Benommen von seiner Nähe nickte sie.

„Ja. Ich hör zu.“

„Okay. Also ich... mein... Scheiße. Mein... Ach, verdammt! Alessa, du wünschst dir, dass ein Körperteil von dir kleiner ist.“

Sie sah ihn einen Moment an und umfasste dann ihre Brüste.

„Die.“

„Genau. Und ich hätte halt gerne, dass ein Körperteil von mir größer ist.“

Sie runzelte die Stirn und legte die Hände auf seine Brust.

„Das sähe aber komisch aus.“

„Nicht das, Alessa, ich bitte dich. Weiter... unten.“

Es dauerte einen Moment, aber dann schaltete sie.

„Du meinst du hast 'nen kleinen Schwanz?“

Knallrot nickte er und sie kicherte leise.

„Das glaub ich dir nicht. Du bist sooo heiß! Das glaub ich dir nicht.“

„Ich werde es dir bestimmt jetzt nicht zeigen, aber glaub mir einfach.“

„Und du küsst gut. Du küsst wirklich gut.“

Ihre Lippen begannen an seinem Kinn entlang zu wandern. Er zuckte zurück.

„Alessa, bitte!“

Alessa machte weiter und murmelte zwischendurch:

„Ich will, dass du mich liebst, bitte.“

Tränen stiegen ihm in die Augen und seine Stimme war heiser, als er wieder sprach:

„Willst du wirklich, dass ich dich jetzt küsse? Willst du dass ich dir vorlüge, dass ich Gefühle für dich habe?“

„Will dich küssen, will dich, bitte.“

„Alessa, nein!“


Eine Träne lief über seine Wange. Sie fing sie mit ihren Lippen auf, wich zurück und sah ihn verwundert an.

„Du weinst.“

„Ich will dir nicht wehtun, bitte! Bitte!“

Sanft strich sie ihm die Tränen mit den Fingern weg und schluckte schwer.

„Ich bin schrecklich. Ich sollte... ich geh zu meinen Gästen.“

Sie stand auf und taumelte davon. Er ließ sich nach hinten fallen und seufzte. So ein Mist. Aber er hatte offen mit ihr gesprochen. Und das war das wichtige gewesen.


Sie schaffte es nicht bis zum Carport, denn die zwei Flaschen Sekt forderten ihren Tribut. Milan sprang auf, als er die Würgegeräusche hörte und war mit wenigen Schritten bei ihr. Er strich ihr über den Rücken, das Haar aus ihrem Gesicht. Und als alles draußen war, brachte er sie ins Bett, ging dann wieder runter ins Carport, schickte die Leute nach Hause und kümmerte sich dann gemeinsam mit Jacqueline darum, dass die wertvollen Dinge im Haus verschwanden. Milan säuberte auch noch die Stelle, wo Alessa sich übergeben hatte, während Jacqueline sich schon mal ins Bett legte. Mille hatte sich aus dem Staub gemacht und so konnte Jacky in deren Bett schlafen.

Milan blieb einen Moment draußen stehen und sah in die Sterne. So gerne würde er ihr das erfüllen, diesen Wunsch, dass er sie liebte. Aber er konnte doch nichts gegen seine Gefühle tun! Er konnte nicht so tun, als würde er sie lieben weil das wäre eine Lüge und er wollte sie nicht anlügen und...

„Milan?“

Milan erschrak, drehte sich in die Richtung aus der die Stimme kam und erkannte Jörg, Alessas Vater. Seinem Geruch nach hatte er etwas getrunken und lallen tat er auch leicht.

„Milan. Du passt auf meine Tochter auf.“

„Ja.“

„Gut. Weil wenn ihr jemand wehtut, dann werde ich wütend! Meine kleine Alessa ist nämlich sensibel.“

„Das weiß ich, Jörg.“

„Gut.“

Er verschwand im Haus. Milan blieb noch eine Weile draußen stehen, überlegte, was er jetzt tun sollte. Nach Hause fahren? Oder nach Alessa schauen? Er entschied sich für Letzteres, nahm das Geschenk, dass er für sie gekauft hatte, ging rein, zu ihr ins Zimmer und sah, wie sie wie ein Häufchen Elend auf ihrem Bett hockte.

„Milan?“

„Was ist denn?“

Er setzte sich neben sie und schaute ihr in die Augen.

„Es tut mir leid, ich hätte dich ja beinahe irgendwie gezwungen mich zu küssen.“

„Du bist betrunken.“

Sie lächelte und schüttelte den Kopf. „Das Meiste ist jetzt draußen. Ich geh noch duschen. Magst du hier schlafen?“

„Es wird nichts passieren.“

„Ich weiß.“

„Dann gerne.“

„Gut. Also duschen.“

Sie verschwand ins Bad, war aber zwei Sekunden später wieder da und sah ihn mit roten Wangen an.

„Kannst du mir den Reißverschluss aufmachen?“

„Klar.“

Sie drehte sich mit dem Rücken zu ihm und hielt das Oberteil fest, während er ihn ihr schnell öffnete.

„So, fertig.“

„Danke.“

Während Alessa sich die Dusche gönnte und genoss, stellte Milan sich aufs Bett und sah sich Alessas Fotowand an, die über dem Kopfende befand, um sich die Zeit zu vertreiben. War es richtig, dass er bei ihr übernachtete? Für die Freundschaft war es bestimmt gut und es ging ihr ja auch schlecht. Ja, das ging schon in Ordnung!
Alessa kam aus der Dusche, nur mit einem T-Shirt bekleidet und rubbelte sich die Haare trocken.

„Scheiße, hoffentlich hab ich morgen keinen Kater.“

Sie warf sich aufs Bett und zog die Decke über sich. Er lachte:

„Kann passieren!“

Dann zog er sich seine Jeans aus und legte sich neben sie.
Eine Weile lagen sie da, schweigend, doch irgendwann fanden sich ihre Hände und schlangen sich ineinander, einfach aus reiner Gewohnheit.
Alessa schlief als erstes ein und so ruhig wie schon lange nicht mehr. Sie träumte nichts wildes, also wälzte sie sich ausnahmsweise mal nicht hin und her.
Milan betrachtete sie noch eine Weile. Er war froh, dass sie wieder Freunde waren. Und er hoffte, dass er ihr nicht doch irgendwie Hoffnungen gemacht hat, mit dem Gespräch.
Im Halbschlaf fiel ihm auf, dass sie sein Geschenk noch nicht geöffnet hatte, aber dafür war ja später noch Zeit.

Weihnachten

Alessa lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Die Rollläden waren unten, sie konnte den ewigen Schnee nicht mehr sehen. Früher hatte sie sich immer über weiße Weihnacht gefreut, aber jetzt, nach ein paar Jahren unendlich viel Schnee, reichte es ihr. Ihre Gedanken wanderten und gelangten nach kurzer Zeit bei Milan an. Sie seufzte. Sie durfte ihn nicht mehr lieben, aber wie sollte sie das anstellen? Ihre Gefühle waren so tief, sie sah in ihm alles, was sie sich je gewünscht hatte. Vor allem war er für sie da. Sie hatte nur so schnell Freundschaft mit ihm geschlossen, weil er ihr zugehört hatte, er hatte Thommy ersetzt. Aber er war ein ganz anderer Typ und trotzdem hatte sie sich in ihn verliebt. Das musste aufhören!


Melancholisch zupfte Milan immer wieder an der dünnsten Saite seiner Gitarre. Heute war Weihnachten, das Fest der Liebe, und er musste es allein verbringen. Seine Eltern besuchten seine Schwester in Amerika, die dort gerade ein Auslandsjahr verbrachte. Ursprünglich hatte er mit ihnen fliegen wollen, aber sich letztendlich anders entschieden, da er und seine Band zwei Tage nach dem Abflug einen Auftritt hatten. Aber das bereute er jetzt, der Auftritt war nicht gut gewesen und jetzt war er allein. Wenn doch wenigstens Alessa Zeit für ihn hätte! Für sie war Weihnachten ein Familienfest, mit einigen Traditionen verbunden.


Alessa stand auf, ging ins Wohnzimmer und half ihren Geschwistern den Baum zu schmücken. Jörg schaute sie an.

„Wusstest du, dass ich mit Milans Mutter zusammen arbeite?“

„Nein.“

„Sie sagte, dass sie und ihr Mann über Weihnachten nach Florida fliegen.“

„Ja, ich weiß. Milan ist allein Zuhause.“

Diesen Satz bekam Alessas Mutter mit.

„Was? Dann lad' ihn zum Essen ein! Nach der Bescherung!“

Alessa zögerte einen Moment, nickt dann und schrieb ihm eine SMS.

Gegen neunzehn Uhr klingelte Milan bei Alessa. Sie selbst öffnete und umarmte ihn.

„Frohe Weihnachten, Milan.“

„Dir auch, Alessa.“

Er lächelte.

„Ich hab ein Geschenk für dich.“

Alessas Augen begannen zu leuchten.

„Jaaa?“

Milan musste lachen.

„Später, okay?“

Alessa seufzte.

„Ja, okay, es gibt jetzt eh essen. Bist genau pünktlich.“

Sie ging in die Küche. Milan folgte ihr und begrüßte ihre Familie. Er fühlte sich hier immer so wohl. Das Haus war irre gemütlich und klein, nicht so groß und kalt wie das, in dem er lebte.


Das Essen schmeckte, es gab reichlich Wein und schon ziemlich beschwipst gingen Milan und Alessa in Alessas Zimmer. Dort ließen sie sich aufs Bett fallen und sahen sich an. Alessa lächelte.

„Krieg ich jetzt mein Geschenk?“

„Selbstverständlich!“, erwiderte Milan und zog ein kleines Päckchen aus seiner Hosentasche. Alessa langte unters Bett und gab ihm sein Geschenk.

„Du zuerst“, lächelte sie, „Ich weiß nicht, ob es dir gefällt. Und wenn nicht, dann tausche ich es um.“

„Ach was, das gefällt mir bestimmt.“

Er wickelte das Geschenk aus und hielt dann einen Bilderrahmen in der Hand, in dem ein Foto von ihm und Alessa war.

„Das ist voll cool, Alessa, danke!“

„War das Schönste, das es von uns gab.“

Sie lugte auf das kleine Geschenk für sie, das Milan immer noch in der Hand hielt. Er grinste und gab es ihr dann.

„Ist nicht so kreativ wie deines, aber gefällt dir hoffentlich trotzdem.“

Sie lächelte und packte es aus. Zum Vorschein kam eine Schachtel von einem Juwelier, bei dem er in Begleitung von ihre eine Paar Ohrringe für Carmen gekauft hatte. Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, Milan.“

„Doch, Alessa. Mach es auf.“

„Nein, das war zu teuer!“

„Das kannst du doch gar nicht wissen! Mach das jetzt auf!“


Alessa seufzte und öffnete es. Auf dem schwarzen Samt lag eine feingliedrige, silberne Kette, die einen kleinen Anhänger in Form eines Violinschlüssels hatte. Diese Kette war Alessa bei besagtem Juwelier ins Auge gefallen, sie hatte keinen Ton gesagt, aber anscheinend war es ihm aufgefallen. Wie aufmerksam! Und trotzdem, viel zu teuer!

„Milan, das kann ich nicht annehmen!“

„Doch!“

„Nein!“

„Soll hier jetzt eine Nein-Doch-Diskussion entstehen? Alessa, ich dachte, die Kette gefällt dir, ich dachte, dass sie dir bestimmt gut steht. Ich hab sie gekauft um dir eine Freude zu machen und ich nehme sie nicht zurück. Der Preis ist doch total egal!“

Sie seufzte.

„Milan...“

„Alessa!“

Er grinste.

„Ist gut jetzt.“ Sie sah ihn einen Moment an und umarmte ihn dann.

„Danke. Ich... danke.“

Er drückte sie an sich und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Sie dufteten, wie immer, nach Alessas Shampoo. Er mochte diesen Geruch irgendwie, er mochte sowieso, wie sie roch. Und er mochte ihre süßen kleinen Ohren. Sanft biss er ihr in das Rechte.


Alessa zuckte zusammen. Was tat er da... und vor allem wieso tat er es? Sie spürte, wie seine Zähne sanft an ihrem Ohrläppchen knabberten und ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken. Das war so schön! Sie wollte, dass er nicht mehr aufhört, nie wieder sollte er aufhören! Jetzt arbeitete er sich langsam zu ihrem Hals vor. Ein leiser Seufzer entwich ihr und sie legte den Kopf in den Nacken.
Milan nahm das als Aufforderung eine seiner Hände unter ihr T-Shirt zu schieben und ihr leicht über den Bauch zu streichen. Alessa zitterte. Milan küsste sie am Hals, dann unterm Kinn und schlussendlich auf den Mund. Alessa erwiderte diesen Kuss, auf den sie so lange gewartet hatte. Ihre Hände vergruben sich in seinen Haaren und ihr Körper schmiegte sich an seinen. Er drückte sie vorsichtig aufs Bett, seine Hände erforschten ihren Körper. Sie tat es ihm gleich, schob sein T-Shirt hoch. Er unterbrach den Kuss und zog es sich über den Kopf, ihres folgte kurz darauf. Sie schaute ihn erschrocken an und schlang ihre Arme um ihren Bauch.

„Nein, Milan...“


Er schaute ihr in die Augen und schüttelte dann den Kopf.

„Tut mir leid. Ich weiß nicht, was mit mir los war.“

„Sch-schon gut.“

Sie senkte den Blick und griff nach ihrem Shirt. Milan hielt ihre Hände fest.

„Hey, ich wollte dir nichts Böses! Scheiße!“

Er sah auf die Hände.

„Alessa, ich weiß einfach nicht, was mit mir los ist. Ich fühle mich einerseits so super, wenn ich bei dir bin, aber andererseits... du bist doch gar nicht mein Typ! Das wird sich auch nicht ändern! Ich mein, ich mag ja nicht auf einmal andere Mädchen als vorher! Aber du bist so hübsch.“

Er strich ihr über die Wange.

„Das wollte ich dir länger schon mal sagen. Und deine Lippen... immer wenn ich dich anschaue, will ich dich küssen!“


Sie schaute ihn an und zog sich dann ihr Shirt über.

„Milan, hör auf mir Hoffnungen zu machen.“

„Ich will doch nur absolut ehrlich sein!“

„Aber nicht so! Nein! Nicht küssen und sagen, dass du mich hübsch findest und so. Nein!“

Milan nahm die Kette und legte sie ihr um den Hals.

„Sie steht dir wirklich.“

Sie drehte sich zu ihm. Er lächelte und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren. Scheiße, wie lange kennen wir uns? Fünf Monate? Trotzdem. Wenn ich irgendwas mache, was dir nicht gefällt, okay, hey, sag es. Klar, es ist nicht richtig von mir dich zu küssen, aber...“

Er unterbrach sich und küsste sie erneut. Alessa reagierte genau wie zuvor.


Doch diesmal stoppte sie ihn nicht. Diesmal ließ sie sich von ihm ausziehen, sie zog ihn aus. Sie genoss es, seine Berührungen, seine Küsse. Sie hinterließ Spuren mit ihren Fingernägeln in seinem Rücken. Zärtlich und sanft liebkoste Milan ihren Körper, konnte nicht aufhören und liebte sie schließlich genau so liebevoll wie schon die ganze Zeit.

Nachdem es vorbei war, wickelte sie sich in ihre Decke, drehte sich zur Seite und schloss die Augen.
Milan schaute sie an und schlug sich imaginär immer und immer wieder die Hand vor den Kopf. Wie hatte er das tun können? Er wusste doch, dass sie bisher noch keinen Mann gehabt hatte, er wusste es doch! Und jetzt hatte er es ihr kaputt gemacht, ihr erstes Mal, nur, weil er sich nicht beherrschen konnte. Sie würde ihn jetzt hassen, oh nein. Aber sie hatte mitgemacht! Er hatte sie zu nichts gezwungen!
Beide lagen noch ein paar Stunden wach und hingen ihren Gedanken nach, bis sie schließlich in einen tiefen Schlaf fielen.

Alessa wachte früh auf, bemerkte, dass sie sich an Milan gekuschelt hatte, während sie schlief. Vorsichtig stand sie auf und verschwand ins Bad. Das warme Wasser der Dusche tat ihr gut. Erst jetzt wurde ihr bewusst, was gestern geschehen war. Sie hatte mit Milan geschlafen. Mit ihrem unerreichbaren Milan. Er hatte angefangen. Er, nicht sie. Und er hatte sie nicht ausgelacht. Er hatte sie überall berührt, er hatte keine dummen Sprüche gelassen. Es war schön gewesen. Aber trotzdem. Jetzt war es vorbei. Sie hatte immer gedacht, dass sie sich für jemanden aufspart, den sie liebt, der sie aber auch liebt. Nicht so wie Milan.
Was bedeutete das jetzt für ihre Freundschaft? Waren sie trotzdem noch Freunde? Konnte sie ihm überhaupt nochmal in die Augen schauen? Er hatte sie nackt gesehen! Sie sah an sich runter. Auch wenn sie abgenommen hatte, sie war trotzdem noch viel zu fett. Und sie hatte überall Schwangerschaftsstreifen, weil sie damals, in der Pubertät, so schnell zugenommen hatte.


Milan wachte auf und sah den leeren Platz neben sich. Sie war bestimmt sauer, ganz bestimmt. Es tat ihm ja auch leid! Er setzte sich hin und zog sich seine Kleidung über. Ob sie noch mit ihm reden würde? Ob sie ihn überhaupt noch anschauen würde? Es hatte ihm gefallen, mit ihr zu schlafen. Er hatte das Gefühl gehabt, dass ihre Körper sich einander anpassten. Es war unglaublich gewesen! Und das, obwohl sie noch keine Erfahrungen gehabt hatte!


Alessa kam in ihr Zimmer, die Haare nass, sonst komplett angezogen. Der Blick war auf den Boden gerichtet. Sie murmelte irgendwas, das nach einem „Morgen“ klang, aber es könnte auch geheißen haben, dass er sofort verschwinden soll. Er stand auf und ging zu ihr.

„Alessa. Hey.“

Er drückte sanft ihr Kinn nach oben und gezwungenermaßen musste sie ihm in die Augen schauen. Sie versuchte seinem Blick dennoch auszuweichen.

„Milan, ich...“

„Alessa, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht so überfallen, ich wollte nicht mit dir schlafen!“

„Und warum hast du es dann getan?“

„Weil... ich weiß es nicht! Aber es war toll, es war toll!“

Sie schüttelte den Kopf und wand sich aus seinem Griff.

„Wir fahren gleich zu meiner Gote.“

Einen Moment schaute er sie noch an, dann nickte er.

„Ich ruf dich heute Abend an.“

„Musst du nicht.“

„Mach ich aber. Bis dann.“

Er küsste sie auf die Wange, ging dann runter, verabschiedete sich von der Familie, bedankte sich und machte sich dann auf den Heimweg.
Alessa ließ sich an der Wand entlang runter rutschen. Warum konnte das Leben nicht einfach mal leicht sein? Wieso mussten immer solche schrägen Sachen passieren?





Wiedersehen

Milan betrat die Klasse und schaute sich um. Alessa war anscheinend noch nicht da. Er hatte die ganzen Weihnachtsferien über versucht sie zu erreichen, aber sie war nie an ihr Handy gegangen, hatte seine SMS ignoriert, ihm bei ICQ nicht geantwortet. Und er wusste, dass er selbst daran schuld war. Er war zwar immer noch fest davon überzeugt, dass sie sich hatte wehren können, wenn sie gewollt hätte, aber hatte er nicht genau gewusst, dass sie ihn begehrte? Er schämte sich fürchterlich.


Alessa saß im Auto und konnte sich nicht dazu überwinden auszusteigen und zur Schule zu gehen. Sie wollte Milan nicht sehen. Sie würde ihn nicht anschauen, geschweige denn neben ihm sitzen können. Mariella seufzte.

„Alessa, du musst ja nicht mit ihm reden... komm jetzt! Es klingelt bald und die Olle bringt uns um, wenn wir nicht pünktlich sind, kennst sie doch.“

Alessa holte ein paar Mal tief Luft und stieg dann endlich aus.

„Okay. Aber ich will nicht neben ihm sitzen.“

„Dann tauschen wir halt die Plätze, ist doch kein Ding! Das wird schon!“

Alessa nickte, nahm ihre Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an.

„Ich hoffe es.“


Milan versuchte den ganzen Tag lang mit ihr zu sprechen. Auch die nächsten Tage, Wochen und Monate. Aber sie wollte nicht. Sie machte sich selbst Vorwürfe, dass sie sich so hatte benutzen lassen, auch wenn sie es eigentlich gewollt hatte. Aber nicht so. Nicht ohne wirklich mit ihm zusammen zu sein. Milans Vorwürfe gegen sich selbst waren schrecklich. Er war sauer auf sich und dachte an kaum was anderes als daran, Alessa wieder für sich zu gewinnen.

So verging das Schuljahr und alle verstreuten sich. Alessa und Mariella halfen Mia beim Umzug an die Ostsee und verbrachten da ein paar schöne Tage. Danach begannen sie eine Ausbildung in der gleichen Stadt, also fuhren sie jeden Morgen miteinander, wie auch schon das ganze Jahr vorher.
Milan ging nach Frankfurt und trat dort seine neue Arbeitsstelle an.


Vier Jahre später wurde Alessa nach der Ausbildung übernommen, Milan blieb weiterhin in Frankfurt. Alessa blieb im engen Kontakt mit Mia und Mariella, auch mit Mona, die jetzt in Münster Medizin studierte.


Als Mia im Sommer zu Besuch war, entschieden Mariella, Alessa und sie einen Shopping-Trip nach Frankfurt zu machen. Alessa freute sich unglaublich darauf, Klamotten zu kaufen, denn sie hatte endlich ihr Normalgewicht erreicht. Und sie hatte noch eine Überraschung für ihre Freundinnen. Sie saßen im Zug und redeten, als Alessa plötzlich mit der Neuigkeit herausplatze.

„Ich werde heiraten.“


Mia und Mariella verstummten und sahen sie an. Alessa hatte immer gesagt, dass sie nie heiraten wollte und jetzt auf einmal? Mia fasste sich als erste wieder.

„Wen denn?“

„David.“

Sie lächelte. Sie war mit ihm jetzt zwei Jahre zusammen. Sie hatte ihn schon süß gefunden, als sie fünfzehn gewesen war. Vor zweieinhalb Jahren hatte sie ihn zufällig getroffen, sie hatten sich zum ersten Mal unterhalten, waren sich nach einer Weile näher gekommen und jetzt würden sie heiraten!


David war zwei Köpfe größer als sie und hatte doppelt so lange Haare. Seine Lieblingsmusik war Death-Metal, auch er hatte eine Band, auch er spielte Gitarre. Aber das machte Alessa nichts aus, sie liebte es einfach, wenn Männer ihr was auf der Gitarre vorspielten. Singen konnte David leider nicht, aber das war nicht allzu schlimm. Sie hatte ihn zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, als sie bei einem Auftritt seiner damaligen Band gewesen war. Dort hatte sie zum ersten Mal überhaupt in ihrem Leben gepogt, sie hatte diese Band geliebt. Leider hatten sie sich getrennt. Erst war David ausgestiegen, weil ihm die Musik „zu soft“ war, dann hatte der andere Gitarrist mehr Erfolg mit seiner Band und der Sänger und Bassist nahm ziemlich erfolgreich an einer Casting-Show von Stefan Raab teil.

Mariella schüttelte geschockt den Kopf.

„Wie kommt das so plötzlich?“

Alessa zuckte lächelnd mit den Schultern.

„Weiß nicht. Wir lagen auf seinem Bett und haben geredet und auf einmal hat er gefragt. Und ich hab ja gesagt.“

Sie seufzte.

„Wisst ihr, nachdem ich mit Milan geschlafen hatte, hab ich zwar nicht mehr mit ihm geredet, aber trotzdem an ihn gedacht. Erst als David kam hat das nach und nach aufgehört. Ich bin David so dankbar dafür und ich bin so glücklich mit ihm. So glücklich hätte ich mit Milan nie sein können, weil er war – oder ist, weiß ich ja nicht – jemand, der viele Frauen hatte. Bei ihm hätte ich die ganze Zeit Angst gehabt, dass er mich betrügt – jetzt mal davon abgesehen, dass er mich nie gewollt hat. Ich liebe David, das hat sich langsam aufgebaut und ist immer tiefer geworden, nicht so wie bei Milan, wo es Schlag auf Schlag ging. Ich vertraue ihm und weiß, dass er mir nicht wehtun wird. Zumindest nicht absichtlich.“

Mia und Mariella sahen sich an, dann wieder Alessa.

„Lessa, wenn du das wirklich willst, dann gratuliere ich dir natürlich!“, sagte Mariella. „Sei dir nur sicher.“

Mia nickte.

„Mach es nicht, nur weil du nicht nein sagen wolltest, weil du Angst hattest, ihn damit zu verletzen.“

Alessa nickte, lächelte und genoss den Tag von diesem Moment an.


Milan lief am späten Nachmittag durch die Innenstadt und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war froh, wenn er endlich diesen Anzug ausziehen konnte. Er liebte seinen Job, keine Frage, aber sich jeden Tag so anziehen zu müssen, das nervte ihn doch irgendwie ein wenig. Bei einem Geschäft blieb er stehen und sah sich die Schaufensterauslage an. Er brauchte unbedingt noch einen neuen USB-Stick. Sein alter war ihm gestern unbemerkt heruntergefallen und dann war er drauf getreten. Er seufzte. Er war so verwirrt und tollpatschig geworden und wusste nicht, woran es lag.


Er wusste nur eine Sache und das war, dass er Alessa immer noch vermisste. Von Jacqueline wusste er, dass sie jetzt einen Freund hatte. Als er es erfahren hatte, hatte es ihm einen Stich versetzt und für einen kurzen Moment hatte er nicht mehr atmen können. Und da war es ihm bewusst geworden. Er war in Alessa verliebt. Schon die ganze Zeit. Deshalb dachte er pausenlos an sie, deshalb sah er sie in jedem Mädchen, dass ein wenig mehr auf den Rippen hatte und an ihm vorbeiging. Er hatte ein paar von ihnen gedatet, aber keine war wie Alessa gewesen und er war sicher, dass er sie nie wiedersehen würde. Das machte ihn traurig. Irgendwie.


Alessa, Mia und Mariella gingen lachend durch die Stadt. Sie hatten ein paar schöne Dinge gekauft, jetzt wollten sie noch gemütlich einen Kaffee trinken gehen. Als sie ein schönes Café gefunden hatten, setzten sie sich draußen auf Korbstühle und führten ihr Gespräch weiter. Es ging, um was auch sonst, um die Hochzeit. Alessa hatte sich entschieden ihre Schwester zu ihrer Trauzeugin zu machen und jetzt überlegten sie, was sie wohl anziehen könnte. Sie wollte kein weiß tragen, da sie sich da absolut unwohl fühlen würde. Das lag hauptsächlich daran, dass sie sich immer, wirklich immer einsaute, wenn sie aß. Klar, man würde das auf jeder anderen Farbe auch sehen, aber trotzdem. Und was war bitte, wenn es regnen würde? Nein, kein weiß. Vielleicht ein schönes Rot oder klassisches Schwarz.


Milan trat aus dem Laden und machte sich wieder auf den Weg in seine Wohnung. Und da sah er sie. Sie saß da, nippte an einer Tasse und plauderte aufgeregt mit Mariella und Mia. Sie hatte abgenommen, ihre Haare waren länger geworden. Sie trug ein buntgemustertes Kleid, das die leichte Sommerbräune ihrer Arme und Schultern hervorhob. Er starrte sie an, er konnte es nicht fassen. Alessa. Wirklich und Wahrhaftig.


Was jetzt?

Was sollte er tun?

Zu ihr gehen?

Ja?

Nein! Nein. Er konnte nicht einfach zu ihr gehen!

Sie hasste ihn.

Oder doch nicht?

Unentschlossen machte er einen Schritt vorwärts und genau in dem Moment hob Alessa ihren Blick und sah ihn.
Sie verschluckte sich und begann zu husten. Erschrocken sprang Mariella auf und klopfte ihr auf den Rücken.

„Alessa!“

Sie hustete weiter: „M-Mi-Milan!“

Ein erneuter Anfall folgte. Mia und Mariella drehten sich in die Richtung, in die Alessa eben geschaut hatte und starrten dann Milan an. Mariella klopfte weiter auf Alessas Rücken, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte, packte dann Mias Hand und zog sie mit sich in das Café.
Milan ging zu ihr und setzte sich neben sie.

„Du kannst mich auch wieder wegschicken.“

Sie schüttelte stumm den Kopf und sah auf ihr Getränk. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare.

„Alessa, ich hatte nie die Gelegenheit, dir zu sagen, wie leid es mir tut, dass ich dich in diesem Moment benutzt habe.“

Sie hob den Kopf um ihm in die Augen zu schauen, damit sie erkennen konnte, ob er die Wahrheit sagte. Er sah sie ernst an und schließlich nickte sie. Das ermunterte ihn weiterzusprechen.

„Ich weiß, dass ich dir wehgetan habe. Ich... ich wollte dich unbedingt... ich wusste nicht wieso... Alessa, du hast mir so viel bedeutet! Ich hab immer gesagt, dass ich dich nie lieben könnte, dass du nicht mein Typ wärst, aber ich war so blind! Ich habe dich geliebt zu diesem Zeitpunkt.“

Er lachte nervös.

„Ich bin so ein Idiot, Alessa. Und ich würde gerne wieder eine Freundschaft mit dir aufbauen. Ich möchte, dass diesmal alles richtig läuft.“

Alessa drehte ihre Tasse.

„Ich hab mich so benutzt gefühlt, auch wenn ich mitgemacht habe. Und ich hab mich so geschämt...“

Sie sah ihn mit Tränen in den Augen an.

„Du wusstest, was ich für dich empfinde! Du wusstest, dass ich alles für dich tun würde! Und du hattest es ja super geplant. Die Kette. Du wusstest, dass ich mir schuldig vorkommen würde, wenn du sie mir schenkst.“

„Nein!“

Er schüttelte heftig seinen Kopf.

„Nein, Alessa, ich hab es nicht geplant, ich hätte so was nie geplant! Ich hab dir die Kette geschenkt, weil ich dir wirklich eine Freude machen wollte und alles, was sonst noch an diesem Abend geschehen ist, war falsch und es tut mir so leid! Alessa...“

Er nahm ihre Hände.

„Ich tue alles, damit du mir verzeihst, das hab ich dir bestimmt schon tausendmal gesagt und geschrieben. Und ich meine das immer noch so, wenn du irgendwas brauchst oder wenn du irgendwas willst, dass ich es tue, dann sag es und ich mach es oder ich gebe es dir! Wirklich!“

Sie sah auf ihre Hände und lächelte traurig.

„Ich hätte mir gewünscht, dass du mich liebst. Das hab ich mir ziemlich lange gewünscht. Aber jetzt will ich es nicht mehr. Ich will gar nichts mehr von dir. Ich war so naiv. Ich hatte gehofft, dass du mich irgendwann liebst, wenn ich nur lang genug warte.“

Er drückte ihre Hände fester.

„Alessa, ich hab doch eben gesagt, dass ich dich liebe!“


Sie sah hoch.

„Du liebst mich?“

Er nickte. „Ja, ja! Oh, es tut so gut, dir das zu sagen! Ich liebe dich!“

„Oh.“

„Oh? Was soll ,oh´ heißen?“

„Ich habe eine lange Zeit darauf gewartet, dass von dir zu hören.“


Sie kniff die Lippen zusammen. Jetzt sagte er ihr, dass er sie liebte. Viereinhalb Jahre, nachdem diese ganze Sache passiert war, fünf Jahre, nachdem sie sich in ihn verliebt hatte. Nach so vielen Jahren Hoffnung, Verzweiflung, vielen Tränen. Nachdem sie ihn so lange nicht gesehen hatte. Aber irgendwie tat ihr es gut, dass zu hören. Noch viel besser tat ihr allerdings das, was sie jetzt zu ihm sagen musste.
„Ich liebe dich nicht mehr. Ich liebe David. In sieben Wochen heirate ich ihn.

In Milan zerbrach was. Jetzt wusste er, wie sie sich gefühlt hatte, als sie damals Helena kennengelernt hatte oder eines der anderen Mädchen. Es tat weh. Es fühlte sich an, als würden zehn Milliarden Glassplitter in sein Herz gerammt werden, jeder einzeln und mit viel Genuss auch noch umgedreht werden. Er sah in ihre braunen Augen, hatte einen kleinen Funken Hoffnung, dass sie ihn anlog, nur um ihm zu zeigen wie es war. Ja, er wusste, dass sie einen Freund hatte, aber er hatte gedacht... Er seufzte. Ja, er hatte wirklich gedacht, dass sie ihren Neuen fallen lassen würde, für ihn. Er hatte gehofft, dass sie ihn immer noch liebte. Abrupt ließ er sie los, stand auf und entfernte sich mit schnellen Schritten.


Alessa sah ihm nach und legte ihr Gesicht in ihre Hände. So ein Mist.

Sicher?

Er trat aus dem kühlen Haus hinaus in die pralle Sonne und lächelte glücklich, als er sie sah. Sie hatte ein strahlend weißes Kleid an, das ihn blendete. Aber er konnte und wollte den Blick nicht abwenden. Sie war so schön. Und sie gehörte ihm. Sie drehte sich langsam zu ihm um und er sah ihr wunderschönes Gesicht. Sie strahlte und ihre weißen Zähne hoben sich von ihren rot geschminkten Lippen ab. Das Haar war leicht gewellt und ein weißer Schleier vervollständigte das Gesamtbild. Seine Alessa. Langsam ging er auf sie zu und nahm ihre Hände, die einen Strauß von dunkelroten Rosen hielten.

„Alessa.“

Er lächelte und sah ihr in die Augen. Sie erwiderte den Blick und flüsterte:

„Ich liebe dich, Milan. Ich bin so glücklich, dich heute, hier und jetzt, zum Mann nehmen zu dürfen.“

Er legte eine Hand an ihre Wange und sie schmiegte ihr Gesicht glücklich in diese.

„Ich liebe dich auch, Alessa. Ich...“


Piep, piep, piep!!! Erschrocken fiel Milan aus dem Bett und sah sich dann verwirrt um. Er stellte fest, dass er nicht auf einer großen Wiese stand, keine Alessa war bei ihm und er würde sie nicht heiraten. Er ließ seinen Kopf in den Nacken fallen. Seit Nächten hatte er entweder diesen Traum oder aber er träumte davon, wie Alessa diesem David das Ja-Wort gab. Jacqueline hatte ihm ein Foto von diesem Kerl gemailt und ihm erzählt, wie Alessa und er sich kennengelernt hatten und alles andere, was es zu wissen gab. Wie die Hochzeit geplant war. Zu der er nicht eingeladen war. Er verübelte es ihr nicht, wieso auch. Trotzdem tat es weh. Nicht so sehr wie daran zu denken, dass sie einen anderen Mann hatte und ihn nicht wollte. Aber es tat weh.
Seufzend stand er auf und ging in seine Kochnische um sich einen Kaffee zu machen. Wenn er weiterhin wie ein Zombie an der Arbeit erschien, hatte er bald einen Job weniger. Gut, dass er heute frei hatte. Er wusste nicht, was er gegen diese Schlaflosigkeit tun sollte. Er trank einen Schluck des Gebräus in seiner Tasse und verbrannte sich prompt die Zunge. Und als sein Blick auf den Kalender fiel, wusste er, weshalb es ihm so verdammt dreckig ging. Heute war der Tag, an dem sie sich an diesen Idioten band.


Jacqueline setzte sich ins Auto und fuhr los. Ihr tat Milan so leid. Einerseits war er zwar selbst Schuld, dass Alessa ihn nicht eingeladen hatte, aber sie verstand, dass es ihm wehtat. Als er ihr erzählt hatte, was an diesem bestimmten Heiligabend passiert war, hätte sie ihm am liebsten eine reingehauen. Alessa so auszunutzen, war nicht okay. Aber nach und nach, während sie ihn dabei beobachtet hatte, wie er versuchte, sie zurück zu gewinnen, hatte sie schnell gemerkt, was er wirklich für sie empfand. Dass Alessa plötzlich diesen David heiratete, hatte sie mehr oder weniger geschockt. Sie konnte auch nicht sagen, dass sie ihn mochte, sie fand ihn sogar relativ doof. Er ging gerne mit seinen Freunden einen trinken und das würde er auch nicht aufgeben, nur, weil er verheiratet war. Sie sah es schon kommen, dass Alessa allein Zuhause mit ihren Kindern saß, während David entweder am Musik machen oder trinken war. So war Milan nicht. Milan ging selten mal aus, er trank auch nicht oft Alkohol. Doch Alessa hatte sich für David entschieden und sie konnte ihr da nicht rein reden. Wie ein Blitz durchfuhr es sie. Ja. Sie nicht. Aber sie wusste, dass Milan ihr noch immer was bedeutete. Und das würde sie jetzt ausnutzen.


Mariella holte Mia vom Bahnhof ab und umarmte sie zur Begrüßung.

„Wie war die Fahrt?“

„Langweilig, so wie immer.“

Sie ließen sich los und setzten sich ins Auto. Mariella fuhr an.

„Ich mag David immer noch nicht.“

„Jaaa, ich auch nicht. Er ist ein Idiot.“

„Erinnerst du dich noch daran, dass Alessa mal gesagt hat, dass sie nie jemanden heiraten wird, der jetzt schon ständig trinken geht? Weil das in der Ehe doch nur schlimmer wird?“

„Oh, ja.“

„Ich wünschte, sie würde sich dran erinnern. Boa, ich reg mich gerade so auf! Aber ich mag ihn einfach nicht!“

Mia nickte.

„Aber wir können Alessa nicht davon abhalten. Niemand kann das. Sie ist 24, sie kann ihre eigenen Entscheidungen treffen.“


Jörg sah seine Frau an.

„Diesen Milan mochte ich lieber.“

Sie nickte.

„Ja, aber er war gemein Alessa gegenüber. Aber dass sie diesen David heiraten muss – dass sie überhaupt heiraten muss! Das ist zu früh! Viel zu früh! Sie ist erst 24, sie macht sich ihr ganzes Leben kaputt!“

Jörg riss gespielt erschrocken die Augen auf.

„Wir haben auch geheiratet, als du 23 warst. Und ich war nur ein Jahr älter als sie.“

Karen nickte.

„Aber wir haben uns geliebt. Das ist ein gewaltiger Unterschied.“

Jacqueline quetschte sich in eine Parklücke und stürmte dann zu dem Haus in dem Milan wohnte. Hastig suchte sie die Klingel und hielt den Finger dann drauf gedrückt.

„Mach schon auf, du Idiot!“
Milan erhob seinen Blick. Wer war das? Er erwartete niemanden. Er hatte sich in dieser Stadt keine Freunde gesucht, es wollte sich eh selten jemand mit ihm unterhalten, bei seiner schlechten Laune. Seine einzigen Bekanntschaften waren irgendwelche Mädchen, die er anrief, wenn er mal eine schnelle Nummer brauchte. Mürrisch ging er zur Tür und blökte in die Gegensprechanlage:

„Was?!“

„Milan, drück den Türöffner, dann geh unter die Dusche! Beeil' dich!“

Auf den ersten Teil der Aufforderung hörte er, aber statt unter die Dusche zu verschwinden stellte er sich mit verschränkten Armen in die offene Tür. Was wollte Jacky von ihm? Wieso war sie nicht auf dem Weg zu Alessa? Zu der Hochzeit?

Alessa starrte in den Spiegel. Noch zwei Stunden. Dann würde sie nicht mehr Alessa Simmons heißen, sondern Alessa Klein. Wow. Sie sah auf ihre Hände. Sie zitterten. Alle hatten ihr davon abgeraten, sich an David zu binden. Er wäre nicht der Richtige. Nicht gut genug für sie. Er würde ihr nur wehtun und sowieso jeden Abend trinken oder Musik machen. Aber es hatte das Gegenteil bewirkt. Sie war sich am Anfang nicht sicher gewesen, ob sie ihn heiraten sollte, aber dadurch, dass alle versucht haben es ihr auszureden, hatte dafür gesorgt, dass sie ihn auf jeden Fall heiraten würde. So war sie halt, immer ein klein wenig rebellisch. Doch jetzt, wo es fast soweit war... sie atmete ein paar Mal tief ein. Nicht daran denken, Alessa, nicht daran denken, dass es ein Fehler sein könnte! Und man konnte sich ja auch scheiden lassen, wenn es dann doch nicht so klappt, das war ja heute gar kein Problem mehr.


Hey, Moment! Wieso dachte sie an Scheidung, wenn sie nicht einmal verheiratet war? Sie stöhnte. Sie war ganz schön neben der Spur heute. Das musste daran liegen, dass sie in den letzten Wochen nichts anderes getan hatte als mit David zusammen eine Wohnung zu suchen und da einzuziehen oder die Hochzeit zu planen. Zwar heirateten sie nur standesamtlich, aber trotzdem wollten sie, beziehungsweise David, hinterher mit all ihren Freunden feiern. Wenn sie es sich recht überlegte, mit seinen Freunden. Sie hatte vielleicht außer ihrer Familie noch zehn weiter Leute eingeladen. Er bestimmt fünf Mal so viele. Sie strich sich mit einem Finger über die Wange. Sie war ganz schön blass. Kein Wunder, so lange, wie sie nicht mehr durchgeschlafen hatte. Abends, im Bett, da hatte sie nichts, was sie beschäftigte. Und dann begannen ihre Gedanken zu Milan zu wandern. Sie sah seine wunderschönen Augen, die sie anblickten, seinen weichen Mund, der sanft lächelte und nicht selten auch küsste. Sie stellte sich vor, wie seine Hände über ihren Körper glitten, wie er ihr leise ins Ohr flüsterte, dass er ganz ihr gehört und dass er nur sie lieben würde.


Mille kam ins Bad, stellte sich zu Alessa und nahm ihre Hand.

„Willst du es wirklich? Niemand zwingt dich. Du siehst nicht sonderlich glücklich aus.“

Alessa drückte ihre Hand leicht und flüsterte:

„Wieso denke ich wieder nur noch an Milan? Seit ich ihn wieder gesehen habe, sehe ich ihn ständig vor mir. Ich war doch über ihn hinweg! Oh, ich hab David! Ich heirate heute! Ich darf nicht an Milan denken!“

Insgeheim lächelte Mille. Auch wenn sie Milan nicht gemocht hatte, David konnte sie noch viel weniger leiden. Wer konnte David überhaupt leiden? Jeder wollte Alessa mit Milan zusammen sehen. Jeder wollte, dass Alessa glücklich war. Was sie nicht war. Schon so lange nicht. Alle vermissten das Funkeln in ihren Augen, das nach dem Tod von Thommy schon einmal verschwunden gewesen und wieder aufgetaucht war, als sie Milan kennengelernt hatte. Milan hatte sie sowieso in vielerlei Hinsicht verändert. Er hatte dafür gesorgt, dass sie selbstbewusster geworden war, er hatte sie dazu gebracht sich einen Beruf zu suchen, den sie wirklich liebte.
Alessa sprach weiter:

„Es ist bestimmt nur eine Phase. Ja, das muss es sein. Ich hab zwei Jahre nicht an ihn gedacht, weshalb sollte ich wieder damit anfangen?“

Sie lächelte.

„Mach mir mal bitte mein Kleid zu. Ich werde gleich den Mann heiraten, den ich liebe.“

Alessa setzte zur Unterschrift an. Ihre Hand zitterte, ihr Herz klopfte wie wild. Sie tat es wirklich. Oh Gott. Okay, jetzt nicht mit Simmons unterschreiben, sondern mit Klein. Das hatte sie geübt. Das hatte sie geübt. Langsam zog sie den Strich vom ersten Buchstaben, als die Tür mit einem lauten Knall aufflog.

„Nicht, Alessa! Bitte!“

Verzweiflung

Alessa rutschte auf dem Papier aus und malte einen dicken Strich über den ganzen Zettel.

„Jacqueline!“

Jacqueline ging zu ihr und legte die Hand auf ihren Arm.

„Alessa, heirate ihn nicht. Das ist doch viel zu früh! Bleib noch ein paar Jahre mit ihm zusammen, wenn du das willst, aber heirate ihn nicht!“

Alessa schüttelte den Kopf und lachte.

„Ja, klar, ich nehme den ganzen Stress auf mich und dann...“

David neben ihr räusperte sich.

„Also meinetwegen...“

Alessa sah zu ihm hoch.

„Was?“

David stockte.

„Ehm... Na ja, wir sollten uns vielleicht doch Zeit lassen.“


Eine Stunde später waren alle wieder Zuhause. Es hatte einige Diskussionen gegeben, aber letztendlich hatten sie nicht geheiratet.

Als Jacqueline zurück zu ihrem Auto gegangen war, hatte Milan nicht mehr darin gesessen. Lediglich ein Zettel hatte dort gelegen, dass er auf dem Weg zu seinen Eltern war und sie gerne dahin kommen könne. Aber bitte ohne Alessa. Sie fuhr zu ihm, beschimpfte ihn als Feigling und so weiter, aber das beeindruckte ihn nicht. Er beschloss noch eine Weile da zu bleiben, eventuell doch mal Alessa zu treffen. Jacqueline fuhr nach Hause.


Alessa ließ sich aufs Sofa fallen und schleuderte ihre Schuhe von sich.

„Also, David, warum auf einmal doch nicht?“

Er setzte sich in den Sessel und knetete seine Hände.

„Na ja, also...“

Er sah sie durchdringend an.

„Ich mag dich. Ich mag dich wirklich! Aber - wie sag ich es am besten - äh... Okay. Also, du passt nicht wirklich in meinen Freundeskreis und als ich dich gefragt habe, hatte ich gehofft, dass du nein sagst.“

„Du hast gehofft, ich sage nein?“

David nickte.

„Ich wollte damit einen Grund haben um mit dir Schluss zu machen.“

Alessa starrte ihn an, lachte dann auf und erhob sich von dem Sofa.

„Du wolltest einen Grund...“

„Versteh mich nicht falsch! Bitte!“

Alessa schüttelte den Kopf und sah ihn wütend an.

„Verschwinde. Lass dich nie mehr bei mir blicken.“

Jetzt sprang auch David auf.

„Du kannst mich nicht aus der Wohnung schmeißen! Sie gehört uns beiden!“

„Und ob ich das kann! Du bist ein jämmerlicher Student, du kannst die dir gar nicht leisten.“

Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.

„RAUS!“


David zuckte zusammen. So hatte er sie noch nie erlebt. Okay, er war gerade nicht sonderlich nett gewesen, aber trotzdem. Sie konnte ihn nicht hinaus werfen! Doch sie schien das anders zu sehen. Sie nahm eine seiner Taschen und begann sein Zeug rein zu stopfen, warf ihm dabei üble Schimpfwörter gegen den Kopf und schob ihn dann tatsächlich zu Tür raus. Es war doch auch seine Wohnung!


Alessa sank zu Boden. Sie zitterte am ganzen Körper und ihre Augen brannten vor den Tränen, die sie zurückhielt. David. Sie dachte, dass er sie wirklich lieben würde. Sie hatte gedacht, dass sie heute Abend hier in der Wohnung sitzen, als Mann und Frau, eine schöne Hochzeitsnacht haben würden. Einen Heiratsantrag machen, damit er einen Grund hat, Schluss zu machen, wenn sie nein sagt? Er war sich bestimmt nicht bewusst, wie sehr ihr das weh tat. Am liebsten würde sie ihm einen kräftigen Tritt in die Eier verpassen und sie dann ganz genüsslich um 360° drehen. Oder sie gleich herausreißen. Sie wollte ihm seine Hände abhacken, damit er nie wieder Gitarre spielen konnte, das war ihm schließlich am wichtigsten in seinem Leben, oder ihn auf einen Stuhl fesseln und seine Gitarre vor seinen Augen zerstören. Mit Edding anmalen, jede Saite einzeln durchschneiden und sich dabei vorstellen, dass er es war.


Sie fühlte sich verarscht und wertlos. Genau, wie sie sich damals gefühlt hatte, nachdem sie mit Milan geschlafen hatte, nur noch tausendmal schlimmer. Ihr Herz fühlte sich an, als ob es verbrennen würde und das, obwohl sie am Morgen noch Zweifel gehabt hatte, dass David der Richtige ist. Sie hätte auf ihr Bauchgefühl hören müssen. Nie wieder würde sie es außer Acht lassen und nur ihrem dummen Herz zuhören, das doch eh immer falsch lag.


Jetzt konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie stürzten wie ein Wasserfall aus ihren Augen. Sie hasste weinen. Sie fand es einfach eklig, die salzigen Tränen, die laufende Nase. Sie versuchte so selten wie möglich zu weinen, aber manchmal ließ es sich nicht zurückhalten, so wie jetzt. Sie hatte geglaubt, dass er sie wirklich lieben würde. Er hatte es ihr immerhin oft genug gesagt. War sie eigentlich dazu geboren, nie wirklich glücklich werden zu können? Thommy, Milan, jetzt David, alle, die ihr wirklich was bedeutet hatten, taten ihr weh. Na ja, okay, Thommys Tod war ein Unfall gewesen und Milan, Milan war ja anscheinend auch in sie verliebt gewesen, wie er jetzt behauptete. Sie wusste allerdings nicht, ob das so stimmte. Trotzdem hatte es wehgetan, so von ihm benutzt zu werden. Ja, sie hatte sich einfach benutzt gefühlt. Und das fühlte sie sich von David auch. Wie hatte er das nur tun können! Ein kräftiges Zittern durchfuhr sie. Jetzt brauchte sie jemanden, der zu ihr kam, der sie in den Arm nahm, bei dem sie sich aussprechen konnte. Blind angelte sie nach ihrem Handy und tippte dann eine SMS, die sie anschließend an Mariella verschickte. Sie ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen und warf ihr Handy wieder zur Seite. Hoffentlich dauerte das nicht allzu lange.

Milan saß auf der Fensterbank seines Jugendzimmers und starrte in die Nacht. Jetzt hatte Alessa doch nicht geheiratet. Ob er eine Chance bei ihr hatte? Nein, Moment, dass sie nicht geheiratet hatten hieß nicht, dass sie nicht mehr zusammen waren. Er seufzte. Wieso hatte er sich so in dieses Mädchen verliebt, dass er nur noch an sie dachte? Dass er sie am liebsten für immer bei sich behalten wollte? Es gab doch noch so viele andere Frauen auf dieser Welt! Er lachte leise. Nein. Keine, die wie Alessa war. Wie gerne würde er sie mal wieder in den Arm nehmen, ihr unwichtige Dinge ins Ohr flüstern, ihren Geruch wahrnehmen. Dazu hatte er keine Gelegenheit gehabt, als er sie in Frankfurt gesehen hatte. Er verstand einfach nicht, wieso er, ausgerechnet er, auch mal hoffnungslos verliebt sein konnte.


Ein Keuchen entwich ihm, als sich ein Bild in seinen Kopf schlich. Alessa und ihr Freund, sich im Bett wälzend, schwitzend und...

Mit einem lauten Knall ließ er seinen Kopf gegen die Fensterscheibe fallen, die stark erzitterte. Bloß weg mit dem Bild. Das war ja widerlich. Nicht Alessa, oh Gott, nein, nicht Alessa, aber die Vorstellung, dass sie es mit einem anderen Kerl trieb, die war es, die ihn wahnsinnig machte.
Er sprang auf und riss all seine Schreibtischschubladen auf, bis er fand, was er suchte. Den Zettel, mit dem Augenpaar, den er ihr an ihrem ersten gemeinsamen Schultag geklaut hatte. Schon damals hatte er gewusst, dass sie was Besonderes ist. Wieso hatte er sie damals nicht sofort in die Arme geschlossen und von oben bis unten abgeknutscht? Spätestens, als sie gesagt hatte, dass sie ihn liebte, hätte er es tun sollen, dann würde er sie heute Nacht im Arm halten und nicht dieser Halbaffe.


Eine Träne tropfte auf das Papier. Ach, jetzt fing er auch noch an zu heulen! Verdammte Scheiße, er musste nach Hause, unbedingt. Er musste weg hier, wo ihn alles an sie erinnerte, er musste zurück in die Wohnung, wo sie noch nie gewesen war um Abstand zu gewinnen. Es schmerzte, hier zu sein. Das Bett, in dem sie gemeinsam geschlafen hatten, nur geschlafen, sie hätten so viele andere Dinge tun sollen, als er noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Er warf einen Blick auf die Uhr, stand langsam auf und nahm sich seine Tasche. Den nächsten Zug würde er noch locker erreichen. Nur weg hier.

Alessa wusste nicht, wie lang sie so gesessen hatte, als es endlich klingelte. Mühsam stand sie auf und taumelte zur Tür. Ihre Kehle tat weh, von dem ganzen Schluchzen und sie fühlte sich furchtbar dehydriert. Bestimmt waren ihre Lippen wieder so trocken, dass sie bei der kleinsten Berührung aufplatzten. Als sie endlich die Tür erreichte, riss sie sie auf. Eine Sekunde später fand sie sich in einer vertrauten Umarmung wieder und fing erneut an, fürchterlich zu weinen.

Die Zeit danach

Ihre warme Haut zu spüren gefiel ihm, aber ihr Zustand gefiel ihm ganz und gar nicht. Als er ihre SMS bekommen hatte, in der „Komm bitte. Ich brauch dich jetzt.“ gestanden hatte, war er sich sicher gewesen, dass sie nicht für ihn bestimmt war. Aber diesen Aufruf einfach ignorieren? Wer auch immer diese SMS hätte bekommen sollen, er hatte sie nicht bekommen. Und wenn Alessa jemanden brauchte, nun, hier war er. Als sie ihm um den Hals gefallen war, hatte er seine Tasche einfach fallen lassen. Er war gerade in den Zug gestiegen, als sein Handy vibriert hatte und dann hatte er Gott gedankt, dass er in der Stadt, in der Alessa lebte, sowieso hätte umsteigen müssen. Er drückte sie fest an sich. Endlich, nach so langer Zeit, hielt er sie wieder im Arm.


Alessa hatte sofort gespürt, dass es nicht Mariella war, die sie da umarmte. Dafür war die Person zu breit und außerdem roch sie nicht so. Mariella roch nicht männlich-herb, ganz sanft nach Schweiß, nicht wie er. Milan. Es war Milan, der sie im Arm hielt. Und das war ein tolles Gefühl. Sie hatte ihn so vermisst und er war genau die Person, die sie jetzt brauchte, genau jetzt. Sie versuchte ihm zu erklären, was geschehen war, aber sie stammelte nur unzusammenhängendes Zeug. Sie spürte, wie Milan ihr sanft über das Haar und dann den Rücken hinunter strich, sie vorsichtig zum Sofa schob, sich mit ihr hinsetzte und sie einfach fest hielt.


Seine Hand zitterte, als er ihr über das Haar strich. Es war die Aufregung, sie so nah bei sich zu spüren. Und es war die Wut, über das, was auch immer dieser Kerl ihr angetan hatte. Er konnte es nicht sehen, wenn sie weinte und darum war er froh, als die Schluchzer langsam abebbten. Seine Hand kreiste leicht auf ihrem Rücken und sie wurde zusehends ruhiger. Und ein paar Minuten später meinte er, sie regelmäßig atmen zu hören. Ein Blick auf ihr Gesicht bestätigte seine Vermutung. Sie war ganz friedlich eingeschlafen. Dann würde er sie erst morgen fragen, was passiert war. Vorsichtig hob er sie hoch und machte sich auf die Suche nach dem Schlafzimmer. Als er es fand, legte er sie aufs Bett, deckte sie zu und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Stirn.

„Schlaf gut, Alessa.“

Er blieb noch eine Weile stehen und beobachtete sie. Sie hatte sich wirklich verändert. Ihr ganzes Gesicht war schmaler geworden und hob ihre Wangenknochen hervor. Sowieso war sie schmaler geworden. Früher war sie nicht so in der Daunendecke versunken. Langsam ließ er sich auf dem Bettrand nieder. Sie sah irgendwie krank aus, aber das kam wahrscheinlich nur davon, dass sie eben so geweint hatte. Hoffte er.
Er betrachtete sie noch eine Weile, doch irgendwann legte er sich aufs Sofa, nahm eine Wolldecke und legte sie über sich. Kurz darauf glitt auch er ins Reich der Träume.

Am nächsten Morgen stand er früh auf und bereitete das Frühstück vor. Als Alessa aufstand, roch sie den Duft von Spiegeleiern und fragte sich, wer die wohl gemacht haben könnte. Sie erinnerte sich dunkel daran, dass das nicht Mariella gewesen war, die vor ihrer Tür gestanden hatte. Es war Milan gewesen. Stand der jetzt auch in der Küche und machte ihr Frühstück? Ja, vermutlich. Deshalb kam sie gleich zu der viel wichtigeren Frage: Was erhoffte er sich davon? Mein Gott, ihr Verlobter hatte ihr gerade erst gesagt, dass er sie eigentlich nur loswerden wollte! Er konnte doch nicht ernsthaft denken, dass sie jetzt was mit ihm anfing?! Sie zog sich schnell um, ging ins Bad, schminkte sich die ganzen Make-Up-Reste vom Gesicht und putzte sich die Zähne. Dann ging sie in die Küche.


Milan drehte sich zu ihr und lächelte vorsichtig.

„Ich hab dir Frühstück gemacht. Ich dachte, vielleicht muntert dich das ein wenig auf. Sorry, dass ich in deinen Schränken herum gewühlt habe.“

Er kratze sich verlegen am Kopf und sah sich Alessa an. Sie sah total fertig aus. Kein Wunder. Sie sah ihn kurz an und setzte sich dann auf einen Stuhl.

„Schon okay.“

Er deckte den Tisch fertig und setzte sich dann auch.

„Wenn ich verschwinden soll, dann sag es mir. Eigentlich hätte ich gar nicht kommen dürfen... aber da ich die SMS gekriegt habe, dachte ich, dass derjenige, für den sie bestimmt war, sie vielleicht nicht bekommen hat, darum...“

Sie winkte ab.

„Schon okay. Ehrlich. Ich mein, ich hasse dich ja nicht oder so.“

Er nickte und schaute dann auf seinen Teller.


Es herrschte eine komische Stimmung in der Küche an diesem Morgen. Die Luft knistere praktisch vor der Anspannung, die von den beiden Personen dort ausging. Der Mann konnte der Frau nicht sagen, wie sehr er sich freute, dass sie nicht geheiratet hatte, ja, dass sie und ihr Partner sich sogar getrennt hatten! Dass er am liebsten lauthals jubeln und nackt auf dem Tisch tanzen würde! Aber er fühlte mit ihr, er war wütend darüber, dass ihr Verlobter ihr weh getan hatte. Und die Frau, die wusste gar nicht, was sie im Moment fühlte. Da war die Verzweiflung, die Trauer, dass ein geliebter Mensch sie so sehr verletzte hatte. Aber auch alte, längst vergessen geglaubte Gefühle brodelten ganz tief in ihr.
Schweigend saßen die beiden da und aßen ihre Eier.

Ein Jahr später saßen Alessa und Mariella im Auto und fuhren nach Kiel, um dort Mia zu besuchen. Sie hatte einen neuen Freund, mit dem es wirklich ernst zu sein schien, und sie wollten diesen unbedingt kennenlernen.
Nachdem die beiden die Plätze getauscht hatte und Alessa mit dem Fahren dran war, Mariella diese Zeit nutze, um ein kleines Nickerchen zu machen, ließ Alessa ihre Gedanken schweifen. Sie erinnerte sich an das letzte Jahr.


Nach dem komischem Frühstück in ihrer Küche, hatten Milan und sie gemeinsam aufgeräumt. Dann hatten sie sich hingesetzt und ein verdammt ernstes Gespräch geführt. Alessa hatte ihm erzählt, wie sie sich damals gefühlt hatte, als sie in ihn verliebt gewesen war und das ganz genau und wie sich ihre Gefühle die letzten vier Jahre verändert hatten. Sie hatte ihm erklärt, wie sie sich gefühlt hatte, nachdem sie miteinander geschlafen hatten und weshalb sie ihn danach nicht mehr angeschaut hatte. Im Gegenzug dazu hatte er ihr erzählt, wie es ihm die letzten vier Jahre ging. Sie war erstaunt gewesen, dass er anscheinend wirklich Gefühle für sie hatte und auch immer gehabt hatte.


In dem Jahr hatten sie sich oft gesehen. Er war immer für sie da gewesen, wenn sie mal wieder eine Phase gehabt hatte, in der sie nichts mehr auf die Reihe bekommen hatte. Sie hatten beinahe jeden Abend telefoniert und sich gegenseitig die Herzen ausgeschüttet. Sie waren absolut ehrlich zueinander gewesen.
Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare. In einer Sache hatte sie doch gelogen. Sie hatte ihm gesagt, dass es ihr immer noch schlecht wegen David ging, aber das stimmte nicht. Sie hatte ihn sogar beinahe schon vergessen, was ihrer Meinung nach davon zeugte, dass die Ehe eh nie gehalten hätte. Darum war sie eigentlich froh über das, was gekommen war.

Milan lief durch die Stadt und schaute sich um. Es waren bestimmt fünfunddreißig Grad und der Schweiß floss ihm aus allen Poren. Ein Seufzer entwich ihm. Was tat er eigentlich hier? Rannte hier rum und versuchte das perfekte Geschenk für Alessas Geburtstag zu finden, der erst in einem Monat war. Er wusste nicht, was er ihr schenken sollte. Es musste auf jeden Fall was Ausgefallenes sein! Er konnte nicht wieder mit einer Kette ankommen oder so. Nein, kein Schmuck! Aber was dann? Oh Gott, er war so unkreativ. Er ging in den einen Laden, dann in den nächsten, aber nichts, was er sah, schien ihm angemessen. Wie alt wurde sie jetzt? Fünfundzwanzig? Ja, sie musste fünfundzwanzig werden. Was schenkt man jemandem, der so alt wird? Einen Gutschein für irgendwas? Ein Spa oder eine Massage oder... ach, er hatte doch keine Ahnung, was Frauen so wollten. Sollte er Jacqueline anrufen? Wäre vermutlich die beste Lösung. Also, Handy raus und los. Es tutete eine Weile, aber dann ging sie ran.

„Hey, Milan, was gibt's?“

„Ich hab voll das Problem. Was kann ich Alessa zum Geburtstag schenken?“

„Ach, Milan!“, lachte sie. „Ich glaube, du kennst sie besser als ich.“

„Nee, ihr redet doch voll oft miteinander.“

„In letzter Zeit nicht mehr.“

„Sie ist aber eine Frau.“

Sie lachte erneut.

„Milan, du benimmst dich wie ein vierzehn Jahre alter Junge, der seiner ersten Freundin was kaufen muss.“

Er setzte sich auf eine Bank.

„Das Problem ist... ich hab ihr schon Schmuck geschenkt. Dann kann ich das doch nicht nochmal tun! Ich weiß doch nicht.“

Jacqueline seufzte.

„Milan, schenk' ihr irgendwas, was ihr zeigt, wie sehr du sie liebst.“

„Was macht das für einen Sinn? Sie liebt doch immer noch David...“

„Ich wäre mir da mal nicht so sicher. Hier, ich muss los, bin noch verabredet. Wir reden später, ja?“

Sie legte auf und Milan starrte das Handy an. Er sollte sich mal nicht so sicher sein? Was sollte das denn bitte heißen?

Alessa umarmte Mia stürmisch.

„Ach, ich freue mich so für dich!“

Mia lachte.

„Danke!“

„Wo ist er?“

Mariella mischte sich ein:

„Jaaa! Wo?“

Mia grinste.

„Er kommt wenn er Feierabend hat. Bis dahin müsst ihr euch noch ein wenig gedulden. Kommt rein! Wollt ihr was trinken? Wie war die Fahrt!“


Ein wenig später saßen sie auf Mias Sofa und nippten an Sektgläsern, nachdem sie auf Mias bisher noch unbekannten Freund angestoßen hatten. Sie redeten über dies und das. Und selbstverständlich musste das Gespräch irgendwann in Richtung Milan gehen.

„Und?“, fragte Mia. „Wie läuft es zwischen euch?“

Alessa zuckte mit den Schultern.

„Wie soll es laufen. Wir sind Freunde. Mehr nicht.“

„Aber er hat Gefühle für dich!“, rief Mariella.

Alessa sah sie traurig an.

„Und ich mag ihn. Aber stell dir vor, ich sag ihm das. Was passiert dann? Vielleicht sind wir ein paar Tage, Wochen, Monate glücklich. Aber es endet doch genau wie mit David!“

„Das muss doch nicht sein“, erwiderte Mia. „Hey, ich hatte bisher auch so viel Pech! Aber du und Milan, ihr seid füreinander bestimmt!“

Mariella nickte zustimmend. Alessa seufzte. Sie waren sich so sicher, dass er ihr nicht wehtun würde. Aber sie hatte einfach so Angst davor! Was, wenn er es tun würde? Dann würde sie wieder in ihrer Wohnung sitzen und weinen! Nein, das wollte sie nicht riskieren.


Eine Stunde später klingelte es und Mia rannte kichernd zur Tür. Die erste Flasche Sekt war inzwischen leer und in der zweiten war auch nicht mehr sonderlich viel drin. Also musste Mias Freund, Adrian, den Abend mit drei kichernden Frauen verbringen, von denen zwei ihn unverschämt ausfragten. Und nach was für Dingen! Aber sie schienen nett zu sein. Warum auch nicht, sie waren gute Freunde von Mia. Also musste er sie mögen. Sein Blick fiel auf Mia und er lächelte. Was er für sie empfand, ging so unglaublich tief und er war so glücklich, dass sie ihn auch mochte. Er hatte so lange Angst gehabt, sie anzusprechen, aber jetzt, da er es endlich geschafft hatte, war es wundervoll. Seine Mia. Er legte den Arm um sie und gab ihr einen langen Kuss.


Gegen zweiundzwanzig Uhr klingelte Alessas Handy. „Milan“ stand da. Sie lächelte, sprang auf und taumelte in die Küche.

„Miiilan!“

„Na, getrunken?“, lachte er mit seinem wunderschönem Lachen.

„Nein! - Ja, doch, aber nicht viel. Nur so.“

Sie presste ihren Daumen und ihren Zeigefinger aneinander. Er grinste.

„Alessa, was auch immer du gerade für eine Geste machst, durchs Telefon sehe ich das nicht.“

„Sorry.“

Sie schwang sich auf den Küchentisch.

„Was machst du?“

„Momentan telefoniere ich mir dir. Wie ist es bei Mia?“

„Lustig. Ihr Freund ist nett.“

„Das ist doch schön.“

Er nahm seine Pizza aus dem Ofen und setzte sich auf sein Sofa. Sie nickte, bis ihr einfiel, dass er auch das nicht sehen konnte.

„Jaaa...“


Sie telefonierten noch eine Weile und sprachen über alles, was ihnen in den Sinn kam. Milan machte sich in der Zeit bettfertig. Alessa lag halb auf dem Tisch und merkte, dass sie immer müder wurde.

„Du, Milan?“

„Was denn, du Betrunkene?“

„Ich glaub, ich muss jetzt schlafen.“

Er lachte:

„Ja, mach das. Ich ruf dich morgen nochmal an, ja?“

„Oh ja, bitte!“

Sie rollte sich vom Tisch und kicherte. Er musste den Kopf schütteln und grinste breit.

„Meine liebe Alessa, man sollte dir den Alkohol wegnehmen.“

„Jaaa, das wäre gut.“

Sie gähnte laut und machte sich auf die Suche nach dem Gästezimmer. Mariella und Mia schliefen längst. Und schließlich fand sie es. Sie legte sich neben Mariella in das große Doppelbett und gähnte nochmal.


Milan lächelte. Sie war einfach so süß! Er vermisste sie. Sie hatten sich schon zwei Monate lang nicht gesehen und das fand er einfach schrecklich. Na ja, wenn er jetzt sagen würde, er wüsste schon fast nicht mehr, wie sie aussieht, dann wäre das gelogen. Er hatte ein Foto von ihr auf seinem Nachtschrank stehen und sah sich das manchmal stundenlang an. Das würde zwar auch nicht dazu beitragen, sie zu vergessen. Aber eigentlich wollte er das auch gar nicht! Er liebte sie. Und fertig.

„Alessa? Bist du noch da?“

„Hm.“

Er lachte leise.

„Schlaf gut.“

„Ja, du auch“, murmelte sie.

Er lächelte und wollte gerade auflegen, als er hörte, dass sie noch was sagte.
„Ich liebe dich.“

Sad End

Milan schlief ganz und gar nicht gut, nach diesem Telefonat. Am nächsten Morgen stand er auf, machte sich fertig und schaute in den Spiegel. Er sah total übernächtigt aus. Das ging ja auch schon Wochen so. Er hatte sich die ganze Zeit überlegt, ob Alessa sich irgendwann noch mal in ihn verlieben würde. Und jetzt hatte sie ihm gesagt, dass sie ihn liebte. War das die Wahrheit? Hatte sie wirklich wieder Gefühle für sie entwickelt? Wenn sie jetzt aufwachte, wusste sie das dann noch? So viele Fragen. So wenig Antworten. Und in einer Stunde musste er an der Arbeit sein. Als ob er sich heute konzentrieren könnte! Sie hatte es gesagt! Nach so langer Zeit!

Die Sonne stand hoch am Himmel, als Alessa sich stöhnend regte. Oh Scheiße, sie hatte eindeutig zu viel Sekt getrunken. Sie tastet um sich rum und griff nach ihrem Handy. 12:43 Uhr. Okay. Mia war an der Arbeit. Mariella lag nicht mehr neben ihr, also war sie vermutlich irgendwo in dieser Wohnung oder halt auch nicht. War Alessa eigentlich relativ egal. Sie setzte sich auch und hielt sich den Kopf. Wieso konnte sie es nicht einfach lassen? Noch nie hatte sie viel vertragen. Jetzt brauchte sie eine Kopfschmerztablette. Sie angelte nach ihrer Tasche und zog sich eine raus. Wasser. Bloß nicht zu hastig bewegen. Doch irgendwann kam sie in der Küche an und schluckte die Tablette. Mariella saß am Küchentisch und trank Kaffee. Alessa ließ sich neben sie fallen.

„Mein Kopf explodiert gleich.“

Mariella grinste.

„Ja, meiner auch.“

Alessa nahm die zweite Tasse, die auf dem Tisch stand und nippt am Inhalt.

„Ich hab gestern Abend noch so lange mit Milan telefoniert.“

„Ja, hab ich mitbekommen. Und? Hat er was gesagt?“

„Über uns? Nein. Doch. Keine Ahnung, ich erinnere mich nicht mehr an viel. Ich weiß nur noch, dass wir telefoniert haben.“

Mariella schüttelte den Kopf.

„Wir sollten weniger Sekt trinken.“

„Gute Idee.“

Milan erlebte die nächsten Tage als eine sich endlos ziehende Zeit. Er telefonierte jeden Abend mit Alessa und hatte direkt gemerkt, dass sie sich nicht mehr an das erinnerte, was sie gesagt hatte.
Hatte sie es wirklich so gemeint?
Liebte sie ihn?
Doch wieder?
Was sollte er tun?
Er hatte Jacqueline gefragt, aber sie hatte ihm keine Auskunft gegeben. Hatte gesagt, dass sollen sie unter sich ausmachen. An der Arbeit war er das reinste Nervenbündel, seine Kollegen machten sich inzwischen ständig über ihn lustig, weil er ständig etwas vergaß. Seit gestern hatte er Urlaub und das war nur gut so. Alessa würde noch zwei Tage an der Ostsee sein. Er legte sein Gesicht in seine Hände. Bis sie wiederkam würde er doch wahnsinnig werden. Und am Telefon darüber sprechen, das ging gar nicht. Er konnte ja nicht einfach sagen:

„Hey, Lessa, du hast mir gesagt, dass du mich liebst, als du betrunken warst. Wir heiraten dann, wenn du wiederkommst, damit uns nichts mehr auseinanderbringt, ja?“

Nee, das ging gar nicht.

Alessa sah auf das Meer und zog ihre Jacke enger um sich. Es war windig und nass. Die Wellen brachen ziemlich hoch und der Regen peitschte ihr ins Gesicht. Es gefiel ihr irgendwie. Schade, dass sie morgen schon wieder nach Hause fahren würde. Sie ging zu einem Strandkorb, zog ihre Kleidung aus, bis sie da nur noch in Tankini stand, und stopfte sie durch die Gitterstäbe des Korbes. Dann rannte sie Richtung Meer und stürzte sich in die eisigen Fluten. Das Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen und Alessa hielt die Luft an. Das tat gut. Sie hatte es schon immer geliebt im Meer zu schwimmen und verfluchte immer wieder, dass keines in ihrer Nähe war. Sie hätte damals mit Mia hier her ziehen sollen. Dann hätte sie Milan vermutlich nie wieder gesehen.

Milan. Sie vermisste ihn so sehr. Sie hatten sich schon so lange nicht mehr gesehen. Jetzt war sie acht Tage hier und davor waren es auch schon drei Milan-freie Wochen gewesen. Lange würde sie das nicht mehr verkraften, das wusste sie. Denn sie liebte ihn. Das tat sie, ja. Und das musste sie ihm möglichst bald sagen.
Eigentlich liebte sie ihn schon die ganze Zeit. Das hatte langsam wieder angefangen, als sie so fertig wegen David gewesen war. Er war so oft bei ihr gewesen und wenn er das nicht war, hatten sie miteinander telefoniert. Er war für sie da gewesen und wenn sie zum wiederholten Male erzählt hatte, was sie von David hielt, hatte er ihr immer zugehört.
Sie wusste nur nicht, ob sie ihm es sagen soll. Klar, es wäre schön, endlich mit ihm zusammen zu sein. Aber was, wenn er es nicht erwiderte? Oder wenn sie sich irgendwann trennen. Davor hatte sie einfach Angst, nicht nur Angst, nein, regelrecht Panik, ihn nochmal zu verlieren und diesmal vielleicht für immer. Doch wenn er es erwidern würde, wenn es klappen würde... sie wäre so verdammt glücklich.
Langsam tauchte sie wieder auf und begab sich zurück ans Ufer. Es war doch ziemlich kalt, hier in der Ostsee. Sie nahm ihr Handtuch und rubbelte sich trocken, zog dann die Kleidung über die nasse Badebekleidung und machte sich auf den Weg zum Auto. Dort würde sie die Heizung und die Musik aufdrehen, dann würde ihr wieder warm werden, bis sie bei Mia war.

Er verbrachte seine Zeit mit fernsehen und Zeitung lesen. Seine Gedanken kreisten nur um Alessa, wieder und wieder. Er hatte inzwischen eine Art Plan. Milan wollte morgen, wenn Alessa wieder daheim war, zu ihr fahren. Unterwegs wollte er irgendwas besorgen, was sie mochte, eine Tafel Marzipan-Schokolade vielleicht. Die mochte sie. Er wollte ihr zeigen, dass er aufmerksam war. Und dann, wenn er dann bei ihr war, würde er sie einfach küssen. Vielleicht war das der einfachste Weg. Und wenn sie ihn von sich stoßen würde? Na ja, dann würde er ihr sagen, dass er sie liebt. Immer noch. Und sie immer lieben wird. Dass er immer für sie da sein wird, egal, wie sie sich entscheidet. Er wollte absolut ehrlich sein. Einen Song hatte er auch geschrieben. Dieser erzählte über die Freundschaft und die Liebe, die sich daraus entwickelt hat. Er hatte Stunden an diesen Textzeilen gesessen.


Die Nacht schlief er schlecht. Er wachte ständig auf und fand einfach nicht die richtige Schlafposition. Er musste ununterbrochen an Alessa denken, daran, was sie gerade wohl machen würde. Sie hatten heute nicht telefoniert, sie war nicht ran gegangen, als er versucht hatte, sie zu erreichen. Ob ihr was passiert war? War sie wieder alleine schwimmen gewesen und ertrunken? Oder .. nein, nein, es ging ihr gut, es musste ihr gut gehen, natürlich ging es ihr gut. Wahrscheinlich waren sie nur essen gewesen oder im Kino oder so. Kein Grund zur Sorge.
Er stand auf und stellte sich unter die Dusche, immerhin wollte er nicht stinken, wenn er zu ihr fuhr. Na ja, würde wahrscheinlich nicht viel bringen, heute war es warm draußen. Bestimmt dreißig Grad. Die zweistündige Fahrt würde ihn dann vermutlich zum Schwitzen bringen. Aber hey, wofür gab es Deo? Und sowieso, wenn sie irgendwann mal zusammen leben würden, dann würde sie ihn auch mal ungeduscht erleben.
Worüber machte er sich hier denn eigentlich Gedanken? Er musste jetzt einfach erst mal hinfahren. Und dann würde alles weitere geschehen. Also packte er seine Tasche, die schon seit einer Woche darauf wartete, endlich mitgenommen zu werden, ging hinunter zu seinem Auto, stieg ein und fuhr los.


Je näher er der Stadt kam, in der sie lebte, desto aufgeregter wurde er. Seine Hände waren feucht, er zitterte am ganzen Körper, sein Herz schlug wie wild. Er fühlte sich, als wäre er wieder dreizehn und würde einen Zettel mit der Frage, ob sie mit ihm gehen will, in der Hand halten, zum ankreuzen, als wolle er ihr diesen geben.
Endlich kam er an. Er parkte direkt vor dem Haus, in dem ihre Wohnung war, er hatte Glück gehabt, dass der Parkplatz gerade frei wurde. Langsam stieg er die Stufen hinauf und klingelte dann. Sie musste da sein, sie hatte ihm gesagt, dass sie nachts fahren wollten. Und jetzt war es schon später Mittag. Er lauschte. Niemand öffnete. Mit einem Seufzer ließ er sich vor die Tür fallen. Lange konnte es ja nicht mehr dauern.

Er sah wieder auf die Uhr. Jetzt war es bereits Abend. Den ganzen Tag hier gesessen .. für nichts. Keine Alessa. Hatte er sich im Datum vertan?
Gerade zog er sein Handy raus, als es klingelte. Alessa. Müde nahm er ab.

„Hallo?“

„Milan?“

„Ja.“

Misstrauisch verzog er das Gesicht. Das war nicht Alessa. Das war ein Mann. Ein Mann. Alessas neuer Freund. Bestimmt. Sie hatte ihn an der Ostsee kennengelernt. Sie würde da oben bleiben. Der Mann sprach weiter.

„Hier ist Alex. Wir sind uns nie vorgestellt worden.“

Bei dem Namen klingelte was. War das nicht Mariellas Freund? Was wollte er? Wieso telefonierte er mit Alessas Handy? Warum rief er ihn an? War ihr – war – war ihr doch was passiert?

„...Unfall.“

„Was? Unfall?“

Milan sprang auf und klammerte sich an das Handy.

„Wer, wer?!“

„Alessa und Mariella. Auf der Rückfahrt. Ein... Lastwagen ist auf die Mittelspur gezogen, als Alessa und Mariella gerade neben ihm waren.“

Milan keuchte und ließ sich wieder zu Boden fallen.

„Wie-wie geht es ihr? Geht es ihr gut?“ Alex schwieg und für Milan war das Antwort genug.

„Welches...“

„Sie sind im Klinikum Kassel.“

„Eine Stunde.“

Milan stopfte das Handy in die Hosentasche und rannte zu seinem Auto.

Die nächste Stunde war der reinste Horror. Er fuhr so schnell er konnte. Er hielt sich an keine Geschwindigkeitsbegrenzung und hatte nur Glück, dass ihn die Polizei nicht anhielt. Die schrecklichsten Bilder und Gedanken kreisten in seinem Kopf. Alessa, halb verblutet. Tot, bis er kam. Er umklammerte das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel kreideweiß waren. Wenn Alessa sterben würde... was hätte dann noch einen Sinn... was... sollte er dann noch machen... außer ihr zu folgen? Er musste dem Drang widerstehen, das Auto direkt gegen einen Baum zu lenken. Vielleicht ging es Alessa ja gut! Vielleicht ging es nur Mariella so schlecht, das Alex nichts hatte sagen können! Es würde alles gut werden, ja, das würde es! Nie die Hoffnung verlieren, nie, Milan! Alessa geht es gut!


Irgendwann kam er an. Er ließ das Auto irgendwo am Straßenrand stehen, war doch egal, ob es abgeschleppt werden würde. Er musste zu Alessa, er musste zu ihr, unbedingt.
Er lief auf den Eingang zu, hinein und stieß alle Leute vor der Information weg. Tränen rannen über sein Gesicht und er brachte nicht mehr als Alessas Namen hervor. Die Frau sah ihn mitleidig an und nannte ganz leise eine Zimmernummer. Milan beachtete die Menschen, die sich hinter ihm beschwerten nicht. Er stieß sie nur erneut zur Seite, wenn sie ihm im Weg waren und suchte dann panisch das Zimmer. Der Blick von der Frau an der Information hatte ihm den Rest gegeben.
Er lief durch die Gänge und hörte nichts als seinen Atem und seinen Herzschlag.

Bumm. Bumm. Bumm.

Szenarien spielten sich in seinem Kopf ab. Alessa, wie sie ihren letzten Atemzug tat.

Bumm. Bumm. Bumm.

Alessa, wie Blut spuckte.

Bumm. Bumm. Bumm.

Sie und er. Eine Wiese, ein weißes Kleid.

Bumm. Bumm. Bumm.

Die Zukunft.

Bumm. Bumm. Bumm.

Er stieß die Tür auf und rief verzweifelt:

„Alessa!“



Er kam zu spät. Die Betten in dem Zimmer waren gemacht. Er war wie gelähmt. Alles begann sich zu drehen. Er bekam noch mit, wie ein paar Leute zu ihm kamen. Ihn festhielten, irgendwas riefen. Aber es war zu spät. Das wusste er. Sie war weg. Samtige Dunkelheit umgab ihm. Er würde ihr folgen.



Als er aufwachte, kam ihm das als erstes wieder in den Sinn. Er würde ihr folgen. Er musste ihr folgen. Langsam versuchte er sich aufzusetzen, aber er wurde zurück aufs Bett gedrückt. Sein Blick wanderte in die Richtung, aus der die Hand gekommen war und er sah Mille. Sie hatte rotgeränderte Augen und war weiß im Gesicht.

„Sie ist...“

Ein Schluchzer entwich. Milan schloss die Augen und begann dann, an dem Kabel zu ziehen, das in seiner Hand steckte, aber Mille hielt ihn erneut fest.

„Ihre Beerdigung ist in einer Woche.“
Dann ging sie und er war allein.

Die nächste Zeit verging in einem Wirbel aus Farben und Gefühlen. Das meiste ging einfach so an ihm vorüber, Seine Mutter, Jacqueline. Sie waren für ihn da. Sie hielten ihn, wenn er Weinkrämpfe hatte, sie halfen ihm dabei, wieder Luft zu kriegen, wenn das nicht mehr ging. Er fühlte nichts und wiederum alles. Es tat so weh. Es fühlte sich an, als ob wieder und wieder ein Dolch in seine Brust gerammt wurde. Als ob jemand nach und nach seine Haut verbrannte. Er übergab sich häufig. Keine Speise blieb länger als eine Viertelstunde in ihm. Irgendwann durfte er nach Hause.

Er saß auf dem Bett und starrte an den Schrank. Jacqueline war in seiner Wohnung gewesen und hatte ihm seinen Anzug geholt, der jetzt dort hing. Heute war es soweit. Alessa sollte zum Grab getragen werden. er wusste nicht, ob er das konnte... dahin gehen konnte. Alle rieten ihm dazu. Wie er sie sonst richtig verabschieden will, fragten sie.
Er zog sich an. Mariella, die überlebt hatte, nur weil sie gefahren war, hatte ihn gestern angerufen. Ihm gesagt, wie leid es ihr täte. Dabei gab er ihr gar nicht die Schuld, nein.

Seine Mutter schob ihn ins Auto. Sie fuhren. Sie kamen an.

Der Sarg. Offen. Die kleine Kirche war überfüllt. Niemand, der Alessa kannte, hatte ihr den Tod gewünscht.

Er ging zu ihr.

Sah in ihr kaltes Gesicht.


Ein Zittern durchfuhr seinen Körper.

Vorsichtig legte er die Hand an ihre Wange.

Ein erstickter Laut entrann seiner Kehle.

Er taumelte zurück.

Fiel.

Dunkelheit.


Happy End

Milan schlief ganz und gar nicht gut, nach diesem Telefonat. Am nächsten Morgen stand er auf, machte sich fertig und schaute in den Spiegel. Er sah total übernächtigt aus. Das ging ja auch schon Wochen so. Er hatte sich die ganze Zeit überlegt, ob Alessa sich irgendwann noch mal in ihn verlieben würde. Und jetzt hatte sie ihm gesagt, dass sie ihn liebte. War das die Wahrheit? Hatte sie wirklich wieder Gefühle für sie entwickelt? Wenn sie jetzt aufwachte, wusste sie das dann noch? So viele Fragen. So wenig Antworten. Und in einer Stunde musste er an der Arbeit sein. Als ob er sich heute konzentrieren könnte! Sie hatte es gesagt! Nach so langer Zeit!

Die Sonne stand hoch am Himmel, als Alessa sich stöhnend regte. Oh Scheiße, sie hatte eindeutig zu viel Sekt getrunken. Sie tastet um sich rum und griff nach ihrem Handy. 12:43 Uhr. Okay. Mia war an der Arbeit. Mariella lag nicht mehr neben ihr, also war sie vermutlich irgendwo in dieser Wohnung oder halt auch nicht. War Alessa eigentlich relativ egal. Sie setzte sich auch und hielt sich den Kopf. Wieso konnte sie es nicht einfach lassen? Noch nie hatte sie viel vertragen. Jetzt brauchte sie eine Kopfschmerztablette. Sie angelte nach ihrer Tasche und zog sich eine raus. Wasser. Bloß nicht zu hastig bewegen. Doch irgendwann kam sie in der Küche an und schluckte die Tablette. Mariella saß am Küchentisch und trank Kaffee. Alessa ließ sich neben sie fallen.

„Mein Kopf explodiert gleich.“

Mariella grinste.

„Ja, meiner auch.“

Alessa nahm die zweite Tasse, die auf dem Tisch stand und nippt am Inhalt.

„Ich hab gestern Abend noch so lange mit Milan telefoniert.“

„Ja, hab ich mitbekommen. Und? Hat er was gesagt?“

„Über uns? Nein. Doch. Keine Ahnung, ich erinnere mich nicht mehr an viel. Ich weiß nur noch, dass wir telefoniert haben.“

Mariella schüttelte den Kopf.

„Wir sollten weniger Sekt trinken.“

„Gute Idee.“

Milan erlebte die nächsten Tage als eine sich endlos ziehende Zeit. Er telefonierte jeden Abend mit Alessa und hatte direkt gemerkt, dass sie sich nicht mehr an das erinnerte, was sie gesagt hatte.
Hatte sie es wirklich so gemeint?
Liebte sie ihn?
Doch wieder?
Was sollte er tun?
Er hatte Jacqueline gefragt, aber sie hatte ihm keine Auskunft gegeben. Hatte gesagt, dass sollen sie unter sich ausmachen. An der Arbeit war er das reinste Nervenbündel, seine Kollegen machten sich inzwischen ständig über ihn lustig, weil er ständig etwas vergaß. Seit gestern hatte er Urlaub und das war nur gut so. Alessa würde noch zwei Tage an der Ostsee sein. Er legte sein Gesicht in seine Hände. Bis sie wiederkam würde er doch wahnsinnig werden. Und am Telefon darüber sprechen, das ging gar nicht. Er konnte ja nicht einfach sagen:

„Hey, Lessa, du hast mir gesagt, dass du mich liebst, als du betrunken warst. Wir heiraten dann, wenn du wiederkommst, damit uns nichts mehr auseinanderbringt, ja?“

Nee, das ging gar nicht.

Alessa sah auf das Meer und zog ihre Jacke enger um sich. Es war windig und nass. Die Wellen brachen ziemlich hoch und der Regen peitschte ihr ins Gesicht. Es gefiel ihr irgendwie. Schade, dass sie morgen schon wieder nach Hause fahren würde. Sie ging zu einem Strandkorb, zog ihre Kleidung aus, bis sie da nur noch in Tankini stand, und stopfte sie durch die Gitterstäbe des Korbes. Dann rannte sie Richtung Meer und stürzte sich in die eisigen Fluten. Das Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen und Alessa hielt die Luft an. Das tat gut. Sie hatte es schon immer geliebt im Meer zu schwimmen und verfluchte immer wieder, dass keines in ihrer Nähe war. Sie hätte damals mit Mia hier her ziehen sollen. Dann hätte sie Milan vermutlich nie wieder gesehen.

Milan. Sie vermisste ihn so sehr. Sie hatten sich schon so lange nicht mehr gesehen. Jetzt war sie acht Tage hier und davor waren es auch schon drei Milan-freie Wochen gewesen. Lange würde sie das nicht mehr verkraften, das wusste sie. Denn sie liebte ihn. Das tat sie, ja. Und das musste sie ihm möglichst bald sagen.
Eigentlich liebte sie ihn schon die ganze Zeit. Das hatte langsam wieder angefangen, als sie so fertig wegen David gewesen war. Er war so oft bei ihr gewesen und wenn er das nicht war, hatten sie miteinander telefoniert. Er war für sie da gewesen und wenn sie zum wiederholten Male erzählt hatte, was sie von David hielt, hatte er ihr immer zugehört.
Sie wusste nur nicht, ob sie ihm es sagen soll. Klar, es wäre schön, endlich mit ihm zusammen zu sein. Aber was, wenn er es nicht erwiderte? Oder wenn sie sich irgendwann trennen. Davor hatte sie einfach Angst, nicht nur Angst, nein, regelrecht Panik, ihn nochmal zu verlieren und diesmal vielleicht für immer. Doch wenn er es erwidern würde, wenn es klappen würde... sie wäre so verdammt glücklich.
Langsam tauchte sie wieder auf und begab sich zurück ans Ufer. Es war doch ziemlich kalt, hier in der Ostsee. Sie nahm ihr Handtuch und rubbelte sich trocken, zog dann die Kleidung über die nasse Badebekleidung und machte sich auf den Weg zum Auto. Dort würde sie die Heizung und die Musik aufdrehen, dann würde ihr wieder warm werden, bis sie bei Mia war.

Er verbrachte seine Zeit mit fernsehen und Zeitung lesen. Seine Gedanken kreisten nur um Alessa, wieder und wieder. Er hatte inzwischen eine Art Plan. Milan wollte morgen, wenn Alessa wieder daheim war, zu ihr fahren. Unterwegs wollte er irgendwas besorgen, was sie mochte, eine Tafel Marzipan-Schokolade vielleicht. Die mochte sie. Er wollte ihr zeigen, dass er aufmerksam war. Und dann, wenn er dann bei ihr war, würde er sie einfach küssen. Vielleicht war das der einfachste Weg. Und wenn sie ihn von sich würde? Na ja, dann würde er ihr sagen, dass er sie liebt. Immer noch. Und sie immer lieben wird. Dass er immer für sie da sein wird, egal, wie sie sich entscheidet. Er wollte absolut ehrlich sein. Einen Song hatte er auch geschrieben. Dieser erzählte über die Freundschaft und die Liebe, die sich daraus entwickelt hat. Er hatte Stunden an diesen Textzeilen gesessen.


Die Nacht schlief er schlecht. Er wachte ständig auf und fand einfach nicht die richtige Schlafposition. Er musste ununterbrochen an Alessa denken, daran, was sie gerade wohl machen würde. Sie hatten heute nicht telefoniert, sie war nicht ran gegangen, als er versucht hatte, sie zu erreichen. Ob ihr was passiert war? War sie wieder alleine schwimmen gewesen und ertrunken? Oder .. nein, nein, es ging ihr gut, es musste ihr gut gehen, natürlich ging es ihr gut. Wahrscheinlich waren sie nur essen gewesen oder im Kino oder so. Kein Grund zur Sorge.
Er stand auf und stellte sich unter die Dusche, immerhin wollte er nicht stinken, wenn er zu ihr fuhr. Na ja, würde wahrscheinlich nicht viel bringen, heute war es warm draußen. Bestimmt dreißig Grad. Die zweistündige Fahrt würde ihn dann vermutlich zum Schwitzen bringen. Aber hey, wofür gab es Deo? Und sowieso, wenn sie irgendwann mal zusammen leben würden, dann würde sie ihn auch mal ungeduscht erleben.
Worüber machte er sich hier denn eigentlich Gedanken? Er musste jetzt einfach erst mal hinfahren. Und dann würde alles weitere geschehen. Also packte er seine Tasche, die schon seit einer Woche darauf wartete, endlich mitgenommen zu werden, ging hinunter zu seinem Auto, stieg ein und fuhr los.


Je näher er der Stadt kam, in der sie lebte, desto aufgeregter wurde er. Seine Hände waren feucht, er zitterte am ganzen Körper, sein Herz schlug wie wild. Er fühlte sich, als wäre er wieder dreizehn und würde einen Zettel mit der Frage, ob sie mit ihm gehen will, in der Hand halten, zum ankreuzen, als wolle er ihr diesen geben.
Endlich kam er an. Er parkte direkt vor dem Haus, in dem ihre Wohnung war, er hatte Glück gehabt, dass der Parkplatz gerade frei wurde. Langsam stieg er die Stufen hinauf und klingelte dann. Sie musste da sein, sie hatte ihm gesagt, dass sie nachts fahren wollten. Und jetzt war es schon später Mittag. Er lauschte. Niemand öffnete. Mit einem Seufzer ließ er sich vor die Tür fallen. Lange konnte es ja nicht mehr dauern.


Alessas Füße lagen auf dem Armaturenbrett, ihre Zunge war mit einem Eis beschäftigt. Ab und zu lachte sie laut und streckte ihren Kopf aus dem Fenster. Sie freute sich auf zu Hause. Mariella neben ihr, am Steuer, sang laut bei einem Lied mit, das gerade im Radio lief. Irgendein spanischer Sommerhit.

Am meisten freute sie sich darauf, Milan wieder zu sehen. Ihren Milan, den sie seit sechs Wochen nicht mehr gesehen hatte...

Ihre Gedanken schweiften ab und sie stellte sich vor, wie es sein würde, wäre er ihr Freund oder ihr Mann. Wie er zuhause auf sie warten würde, vielleicht mit einer Rose oder... Ein Seufzer entwich ihr. Nein. Sie sollte besser nicht daran denken.

Sie kamen erst am späten Nachmittag an, da sie im Stau gestanden hatten. Alessa verabschiedetet sich von Mariella, nahm ihren Koffer und zerrte ihn die Stufen zu ihrer Wohnung herauf. Dort traf sie fast der Schock, aber dann kicherte sie.


Vor ihrer Tür saß Milan, die Knie an die Brust gezogen, den Kopf nach vorne hängend. Er schlief tief und fest.

Leise stellte sie ihren Koffer ab und kniete sich neben ihn.

„Milan?“

Milan dachte, er träumt noch. Alessas Stimme, so sanft in seinen Ohren. Es konnte nur ein Traum sein. Doch dann öffnete er seine Augen.

Ihr Blick traf seinen und beide begannen sie zu lächeln.

„Ich hab dich nicht hier erwartet“, flüsterte sie.

Er lächelte.

„Ich warte schon seit heute Mittag.“

„Wir haben im Stau gestanden.“

Sie erhob sich und schloss die Tür auf.

„Komm doch rein! Ich kann dir leider nichts anbieten, da mein Kühlschrank restlos leer ist. Ich hab nur noch Dosenravioli und Wasser.“

„Kein Ding“, grinste er, nahm ihren Koffer und trug ihn in die Wohnung.

„Hey! Das hätte ich auch selbst gekonnt! Ich hab doch voll die Armmuskeln!“

Sie schloss die Tür hinter sich und schaute sich um.

„Es ist ziemlich staubig.“

„Du warst ja auch im Urlaub.“

Er begann zu lachen.

„Wobei du sonst ja auch nie putzt!“

„Ey!“

Sie warf sich mit ihrem gesamten Gewicht auf ihn und versuchte ihn zu Boden zu schmeißen. Es gelang ihr auch, laut krachte Milan auf. Seine Arme schlangen sich fest um sie.

Er hielt sie in den Armen. Jetzt. Genau, wie er es sich gewünscht hatte. Was ein Gefühl, sie nach so langer Zeit mal wieder berühren zu können!

„Alessa“, murmelte er und strich ihr eine Haarsträhne von der Wange. „Ich hab dich vermisst.“

„Ich dich auch“, flüsterte sie und kuschelte sich an ihn.


Sie atmete tief ein. Sein Duft stieg ihr in die Nase. Wie sehr sie es liebte, so in seinen Armen zu liegen, so von ihm gehalten zu werden. Ihm nah zu sein. Sein Geruch.

Ihre Hände suchten seine Brust und legten sich sanft darauf.
„Warum bist du hier?“

„Ich wollte dich sehen, Alessa. Und ich... ich wollte dir was sagen.“

Vorsichtig setzte er sich auf, um ihr in die Augen sehen zu können, hielt sie dabei aber weiter im Arm. Das war ihr ganz recht.


„Alessa.“

Seine Stimme war heiser und er räusperte sich einige Male, bevor er weiter sprach.

„Als wir telefoniert haben, an dem Tag, als du betrunken warst, hast du etwas gesagt. Das hat mich hauptsächlich herbewegt. Weil ich eigentlich dachte, dass du nichts von mir wissen willst, gerade nach der Sache mit David und mit dem Sex davor und ach, keine Ahnung...“

Alessa konnte nicht anders: Sie musste lachen.

„Milan! Wovon redest du? Komm doch mal auf den Punkt!“

„Du hast gesagt, dass du mich liebst.“
Schlagartig verstummte sie und sah ihn an.

„Was?“

„Ist es so, Alessa?“

Er drückte sie fester an sich.

„Denn wenn dem so ist, dann würde ich dich jetzt gerne küssen.“

Sie starrte ihn an.

Und starrte.

Sie räusperte sich.
Einmal.

Zweimal.

Dann sagte sie etwas.

„Nein.“

„Nein?“

„Nein. Ich will mich nicht schon wieder von dir ausnutzen lassen. Nein.“

Sie stand auf und ging in die Küche.


Milan sah ihr einen Moment nach, bevor er sich selbst erhob. Er zog den zerknitterten Zettel mit dem Songtext aus seiner Tasche, seufzte leise und verließ dann die Wohnung. Die Tür ließ er angelehnt, er ging bloß schnell zu seinem Auto und holte seine Gitarre. Wieder drinnen nahm er auf dem Sofa Platz und begann zu spielen.

In der Küche erstarrte Alessa, als sie die Klänge vernahm und mit wenigen Schritten war sie bei ihm. Er hob seinen Blick zu ihr und begann zu singen.

Und wie er sang. Und was er sang.

Sie hatte das Gefühl zu schmelzen. Ihre Knie gaben nach und sie sank langsam auf den Boden. Er sang von ihr, von seiner Liebe, die er ihr gegenüber empfand.

Eine Träne nach der anderen tropfte von ihrer Wange auf den Boden, auch noch, als der letzte Ton verklang und Milan die Gitarre beiseite legte.

„Alessa.“

Sie schaut zu ihm und sah in seine wunderschönen, grüne Augen, die sie mit einem solch liebevollen Blick ansahen, dass sie erneut dahin schmolz.

„Ich liebe dich, Alessa. Ich habe dich immer geliebt. Auch wenn ich es nie bemerkt habe.“
Langsam rutschte sie näher zu ihm und legte ihre Hand an seine Wange.
„Milan. Das war...“
Kopfschüttelnd unterbrach er sie und legte seine Lippen sanft auf ihre.

Dieser Kuss würde den Rest ihrer Leben dauern.

Impressum

Texte: Alles aus meiner Feder
Bildmaterialien: Alle Rechte liegen bei mir - zu sehen auf dem Bild bin ich selbst.
Tag der Veröffentlichung: 30.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für all die Lieben, die mich unterstützen und mir zuhören, wenn ich mal wieder Probleme mit meinen Büchern habe - Mandyschatz und Mama allen voran :)

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