Cover

1.


Sein Atem streicht über meine Wange und ein leises „Ich liebe dich“ dringt in mein Ohr. Mein Herz klopft, meine Hände machen sich selbstständig und erkunden seinen Körper, so wie er den meinen erkundet. Ich lebe hier, jetzt, in diesem Moment und ich hoffe, dass er nie vorbei ist.




„Valerie, nein, lösch das!“, schreit meine beste Freundin und versucht mich einzufangen.
Aber ich schaff es immer wieder ihr auszuweichen und kriege mich dabei vor Lachen kaum noch ein.
„Ist doch voll süß!“, rufe ich und schmeiße mich auf mein großes Himmelbett.
Kurze Zeit später ist sie über mir und beißt mir ins Ohr.
„Komm schon.“
Ich lache wieder auf und gebe ihr die Kamera, auf der ein Foto von ihr ist, das ich gemacht habe, während sie eine Gurkenmaske aufgetragen hatte. Heute ist unser wöchentlicher Verwöhnabend. Wir machen uns jeden Mittwochabend Gesichtsmasken, essen Weintrauben, trinken Sekt und sprechen über alles, was wir die Woche über erlebt haben.
Unsere Freundschaft hat nämlich einen kleinen Haken – wir gehören unterschiedlichen Cliquen an. Während sie zu den beliebteren Teenys gehört, bin ich meistens bei den nicht so gemochten Schülern anzutreffen. Ich sitze in der äußersten Ecke der Mensa, sie mittendrin. Das liegt einfach daran, dass ich einfach nicht an Mode und den neuesten Trends interessiert bin, dass ich keinen Sport mache... Aber ich will auch gar nicht zu dieser Gruppe gehören.

Viola lässt sich auf den Rücken fallen und sieht an den Himmel meines Bettes, an dem ich lauter Leuchtsterne angebracht habe.
„Hast du den neuen Schüler gesehen?“
„Welchen? Das kleine Blondchen oder diesen durchtrainierten Macho?“
„Den durchtrainierten Macho natürlich!“
Sie rollt sich auf den Bauch und lässt beim Lachen ihre weißen Zähne blitzen.
„Er hat unglaublich blaue Augen!“
„Hm. Keine Ahnung.“ Ich drehe mich zu ihr und zucke mit den Achseln. „Ist doch auch egal. Ich werde nie ein Wort mit ihm wechseln.“
„Ja, ich glaube dazu wird niemand die Gelegenheit haben. Piper hat ihn mit niemandem reden lassen.“
Sie schnaubt verächtlich. Piper ist die „Chefin“ der Clique, der Viola angehört. Ein Grund mehr, sich da nicht anzuschließen. Sie ist eine Schlange. Ich habe nie verstanden, weshalb Vi sich das antut. Sie selbst sagt, dass es nur daran liegt, dass die anderen nett sind.

Dieser neue Junge... ja, natürlich war er mir aufgefallen. Wem nicht? Kristina, meine offizielle beste Freundin, hatte Englisch mit ihm zusammen und mir in unserer zweiten Stunde, Geschichte, alles über ihn erzählt. In der Mittagspause habe ich ihn dann gesehen und musste zugeben, dass Kristina Recht behielt, was sein Äußeres anging. Aber er gehört nicht zu der Sorte männlicher Wesen, die ich kennen lernen wollte, dafür sah er mir zu sehr nach Football-Spieler aus.

Vi reißt mich aus meinen Gedanken, indem sie mir eine Weintraube in die Nase schiebt. Sie kennt mich schon so lange. Wir haben uns das erste Mal gesehen, als wir vor sechzehn Jahren Nachbarn wurden und unser Verhältnis wurde besser und besser. Aus mir, dem eigenbrötlerischen Freak, wurde eine junge unsichere Frau, die nicht wusste und auch immer noch nicht weiß, was sie will und aus Vi, der Besserwisserin mit der seltsamen Kleidung, wurde eine Trendsetterin. Es war schade, als wir nach der Grundschule in verschiedene Klassen kamen, was dann auch zu den unterschiedlichen Freundeskreisen geführt hatte, aber wenn ich mit jemandem sprechen muss, dann ist es sie und nicht Kristina. Ich vertraue Viola und sie vertraue mir. Sie ist wie eine Schwester für mich und weiß alles über mich, so wie ich alles über sie weiß.

Sie legt sich wieder auf den Rücken.
„Carlos hat mich gefragt, ob ich mit ihm zum Abschlussball gehe.“
Sie war seit drei Monaten mit Carlos, einem Afroamerikaner und Basketballstar der Schule, zusammen.
„Ist doch schön“, erwidere ich und schaue sie neugierig an.
Sie nickt und lacht leise.
„Er hat ein Zimmer besorgt, im 'Four Seasons'.“ Sie dreht sich zu mir und flüstert: „Ich weiß nicht, ob ich bereit dazu bin, weißt du? Ich meine, ich hab ihn echt gern, aber liebe ich ihn?“
„Vi, du weißt, dass ich dir da nicht helfen kann.“
Sie streicht ihre blondierten Haare zurück und beginnt dann, meine zu einem Zopf zu flechten.
„Was, wenn er mich nicht mag? Verstehst du?“
„Ja, natürlich. Vi, hör auf den Herz, okay?“
„Ich will nicht auf mein Herz hören.“
Sie holt tief Luft.
„Schau in meine Zukunft, Val, sag mir, dass er mich nicht nur benutzt. Sag mir, dass ich damit keinen Fehler mache.“
Ich ziehe meinen Kopf weg und schaue sie traurig an.
„Das kann ich nicht und das weißt du auch. Wenn ich es tue und ich sehe, dass du besser nicht mit ihm schlafen solltest, dann tust du es nicht und das würde nicht nur deine Zukunft ändern, auch seine und wer weiß, was noch für Personen davon betroffen wären. Mal ganz abgesehen davon, dass ich noch nie etwas Positives gesehen habe, wie du weißt.“
Sie seufzt.
„Ich weiß, tut mir leid.“

Ich nicke und betrachte meine Fingernägel. Es ist eine schreckliche Gabe, in die Zukunft sehen zu können. Immer sehe ich Dinge, die ich nicht wissen will. Ein weiterer Grund, weshalb ich mich von den meisten fernhalte. Kristina hat sich mir aufgedrängt und die paar anderen Freunde, die ich habe, ebenfalls. Ich will diese Gabe nicht haben. Viola ist die Einzige, die davon weiß, nicht einmal meinen Eltern habe ich es erzählt. Wer will schon eine Tochter haben, die einem sagen kann, wann man stirbt?

„Er heißt Ted“, wechselt Vi das Thema.
Ich nicke.
„Ja, schon mitbekommen.“
„Kristina?“
„Wer sonst.“
Sie lacht und gähnt dann laut.
„Lass uns schlafen. Ich hab morgen Sport.“
„Ja, gute Idee.“
Gemeinsam gehen wir ins Bad, waschen uns und ziehen uns unsere Nachthemden über. Dann kuscheln wir uns in mein Bett. Ich lösche das Licht und schließe meine Augen.

Ein Tropfen eiskaltes Wasser fällt auf meine Wange. Erschrocken schaue ich nach oben. Ich befinde mich in einer Höhle. Wie komm ich hierher? Was ist passiert? Ich drehe mich um mich selbst und sehe in einer Ecke eine Gestalt hocken. Langsam gehe ich zu ihr. Ich lasse mich neben sie fallen, als ich ein schwaches Wimmern höre. Sie kommt mir bekannt vor. Ein weiterer Tropfen fällt auf mein Haar. Erneut schaue mich um und sehe, dass aus vielen Rissen und Spalten Wasser quillt. Wir scheinen unter Wasser zu sein. Ich schaue das Mädchen an, versuche herauszufinden, wer sie ist, versuche ihr Gesicht zu erkennen. Ein Stein fällt neben sie. Ich hebe den Blick und erschrecke. Es sieht aus, als würde die Höhle jeden Moment zusammenbrechen - wir müssen hier raus! Ich zerre an dem Mädchen und versuche sie wegzuziehen , aber es geht nicht, es klappt nicht, sie bleibt einfach sitzen, wiegt sich hin und her und wimmert weiter. Und dann ist es soweit. Die Wände brechen und das Mädchen und ich werden von dunklem Wasser umschlungen. Ich sehe noch den entsetzten Blick von dem Mädchen, erkenne es. Dann wird alles dunkel.

„Val? Val! Wach auf!“
Viola rüttelt mich und ich öffne schwerfällig meine Augen. Sie seufzt.
„Du hast mir ganz schön Angst gemacht.“
Ich drehe meinen Kopf und schaue auf die Uhr. Es ist bereits halb sieben, in einer Stunde muss ich mich auf den Weg zur Schule machen, und ich fühle mich, als hätte ich keine Sekunde geschlafen. Viola umarmt mich.
„Ich werde mich nie an deine Visionen gewöhnen, du zuckst immer so.“
Ich lächle traurig.
„Ein weiterer Grund, weshalb ich nie einen Freund haben werde.“
Ich stehe auf und strecke mich. Auch Vi erhebt sich und umarmt mich nochmal.
„Wir sehen uns später.“
Ich nicke und verschwinde in mein Bad.

Unter der Dusche lasse ich mir Zeit, versuche die Müdigkeit aus meinen Knochen zu spülen. Danach betrachte ich mich im Spiegel, während ich mir meine langen Haare bürste. Meine dunkelblauen Augen sind von dicken Augenringen umrandet. Ich habe seit Nächten nicht mehr richtig geschlafen. In letzter Zeit häufen sich die Visionen. Ich sehe so viele Dinge, die ich nicht sehen möchte, ich sehe Menschen sterben. So viele. Und die meisten davon kenne ich. Ich habe Angst. Es ist eine Angst, die tief in meinem Körper verankert ist und nie ganz verschwinden wird. Ich will diese Visionen nicht haben, ich will das nicht. Langsam kann ich nicht mehr...

Zwei Stunden später sitze ich im Unterricht und versuche aufzupassen. Aber es geht nicht, ich kann nicht vergessen, was ich heute Nacht gesehen habe. Ich habe sie erkannt, aber ich wage nicht, ihren Namen auch nur zu denken, aus Angst, es so zu festigen, es so zu besiegeln. Ihren Tod. Ein Tod, der mein Leben ändern wird. Diesen grausamen Tod des Ertrinkens. 
Schon so viele verschiedene Arten des Sterbens habe ich erlebt. Eine grausamer als die andere - das wünsche ich niemandem. Jedem Menschen wünsche ich, dass sie einfach friedlich einschlafen. Ich wurde erdrosselt, erstickt, ich bin von einer Klippe gestürzt, selbst ermordet wurde ich mehrmals. Das hat kein Mensch verdient, keinen dieser Tode, egal, was er sein Leben über gemacht hatte, denn das war einfach nur schrecklich.
Ich schaue auf meine Hände, ich umklammere die Tischkante, versuche an etwas anderes zu denken.

Kristina wirft mir einen besorgten Blick von der Seite zu.
„Val, was ist los?“
Ich schüttele den Kopf und springe auf, als es endlich klingelt. Eilig mache ich mich auf den Weg zu meinen Spind, schaue nicht nach vorne, nicht zur Seite. Schnell tausche ich meine Bücher um und mache mich auf den Weg in die andere Klasse, als ich merke, wie es mich überrollt. Manchmal spüre ich, wie eine Vision kommt und kann noch irgendwo hingehen, wo mich niemand sehen wird. Aber diese kommt so plötzlich, dass ich mich gerade noch in eine Nische stürzen kann, als es geschieht.

Wir rennen eine lange Straße entlang und versuchen ihm zu entkommen. Sie läuft ein Stück vor mir lang, ich höre sie keuchen und jammern. Sie will nicht, dass er sie erwischt, sie will sich nicht vorstellen, was er alles mit ihr tun könnte. Sie rennt und rennt, aber es nützt nichts, er fängt sie ein.
„Hab ich dich“, flüstert er mit heiserer Stimme.
Ich erkenne sein Gesicht nicht, ich versuche ihn von ihr weg zu stoßen, aber er ist zu stark. Er zieht ein Messer aus seiner Tasche und...


Jemand mit einem festen Griff rüttelt mich.
„Hallo? Hallo! Geht es dir gut?“
Es ist eine mir unbekannte Stimme. Ich war vermutlich wieder zusammengebrochen, so wie immer, wenn mich eine Vision erwischte.
„Ja... ja.“
Ich versuche aufzustehen. Die Person hilft mir dabei und hält mich an den Schultern fest.
„Val? Sag doch bitte.“
Wer war das, der da meinen Namen kennt? Ich blickte hoch und sehe in ein wunderschönes Gesicht mit Augen, die meine hätten sein können. Er lächelt und zeigt mir seine weißen Zähne.
„Ich bin Ted. Freut mich, dich endlich kennen zu lernen.“

2.


In der Mittagspause kaut Kristina mir ein Ohr ab. Ich mag sie, ich mag sie wirklich, aber sie redet so viel. Ich bin eher der ruhige Typ. Ich rede nicht so gerne, was einfach daran liegt, dass mir sonst irgendwas rausrutschen könnte, was von meiner Unnormalität zeugt. Nun ja, jedenfalls redet sie so vor sich her, als sich Ted zu uns setzt. Kristina erschreckt und verschluckt sich an ihrem Wasser. Halbherzig klopfe ich auf ihren Rücken und schaue Ted böse an. Aber er ignoriert meinen Blick und lässt sich auf den leeren Platz gegenüber von mir fallen.
„Gehts dir besser?“
Ich schaue kurz zu Kristina und nicke dann unauffällig. Er schaut auch zu ihr und versteht, dass ich vor ihr nicht drüber reden will. Aber zu meinem Pech hat Kristina seine Frage mitbekommen, sie ist einfach viel zu aufmerksam.
„Was war los?“
Ich überlege, wie ich mich aus der Misere bringen kann, als Ted schon für mich antwortet.
„Val war gefallen.“
Er greift zu meinem Tablett, schnappt sich den Apfel und beißt rein. Empört will ich ihn ihm wieder wegnehmen, aber Kristina hält meine Hand fest und deutet mir mit einem Blick, dass ich diesen Jungen, den, nachdem er erst seinen vierten Tag an der Schule hat, alle Mädchen daten wollen. Bald steht der Herbstball an und ich wette, die meisten reißen sich schon jetzt um ihn. Kristina denkt das anscheinend auch, denn sie spricht genau dieses Thema an.
„Und, wie viele Mädchen haben dich schon gefragt, ob du mit ihnen zum Ball gehst?“
Er grinst und dreht den Apfel in seinen Händen.
„Ein paar.“
„Hast du einer zugesagt?“
„Ich halt mir einige offen. Mann muss ja immer was vorrätig haben.“

Ein arrogantes Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus und ich hab genug. Ich stehe auf, nehme mein Tablett und bringe es zur Geschirrabgabe. Ich spüre seinen Blick im Rücken, aber ich drehe mich nicht um.
Mein Weg führt mich in die Bibliothek. Dort findet man mich oft, ich bin gerne da. Meistens schnapp ich mir irgendein Buch, lese den Anfang und schließe dann die Augen um mir vorzustellen, wie die Geschichte wohl ausgeht. Manchmal kriege ich eine Vision von dem Ende. Das spart eine Menge Zeit und hat mir schon oft beim Lesen von Lektüren für die Schule geholfen. Außerdem ist es eine Art Übung für mich, Visionen hervorzurufen, wann ich will. Aber gegen die, die plötzlich kommen, kann ich trotzdem nichts tun.

Heute setze ich mich bloß auf einen Sessel, der noch in einem einigermaßen guten Zustand ist. Ich hole meinen Ipod aus meiner karierten Umhängetasche und setze mir die Kopfhörer auf. Aus der Playlist suche ich mir einen ruhigen Song raus, lehne mich zurück und schließe die Augen. Die Vision, bei der Ted mich erwischt hat, geht mir nicht mehr aus dem Kopf, genauso wenig wie die, die ich heute Nacht hatte. Es war das gleiche Mädchen gewesen und jetzt stelle ich mir die Frage, ob ich ihr irgendwie helfen kann. So etwas war mir noch nie passiert. Meistens sah ich nur eine Zukunft pro Person. Bedeutet das was, dass es bei ihr anders war? Was soll mir das sagen? Auf all diese Fragen habe ich keine Antworten und das macht mich fertig. Ich lausche weiter meiner Musik, versuche mich abzulenken.

Vi versteht nicht, weshalb ich oftmals still und in mich gekehrt bin. Sie sagt, dass ich das nicht an mich ranlassen soll. Aber wenn man so oft dem Tod begegnet, geht es einem irgendwann nicht mehr gut. Ich schaffe es nicht, diese Gedanken aus meinem Kopf herauszubekommen. Mein einziger Wunsch ist es, normal zu sein. Auch wenn es nur für einen Tag wäre. Ich fühle mich immer als Freak, wenn ich irgendwo bin. Nehmen wir zum Beispiel diese Bälle, die meine Schule so gerne veranstaltet. Es gibt einen Herbstball, Winterball, Zwischenzeugnisball, Frühjahrsball, Sommerball, Abschlussball, die-Footballspieler-haben-die-Meisterschaft-gewonnen-Ball .. und so weiter. Echt, die geben für jeden Anlass einen. Ich glaube ja, dass unser Direktor ursprünglich eine Karriere als Tänzer machen wollte .. aber naja, zurück zum Thema. Letztes Jahr, mein erstes Jahr auf der Highschool, war ich bei diesen Bällen. Ich bin mit Kristina hingegangen, sie hatte niemand gefragt, mich hatte niemand gefragt, aber sie wollte diese Bälle nicht verpassen. Ich hatte immer in der Ecke gestanden, wurde nur schräg angeschaut. Beim Abschlussball hatte ich einen Partner, er hieß Bertie. Ich hatte nur zugesagt, damit ich da nicht wieder alleine auftauche und er hatte mich gefragt, damit ihm das auch nicht geschieht. Wir haben einmal getanzt, dann hat er mit einem Freund eine halbe Flasche Korn geleert und anschließend in den Punsch gekotzt. Darum hatte ich mir fest vorgenommen, mich dieses Jahr nicht darauf einzulassen. Weder auf einen Partner, mit dem ich eigentlich nicht gehen will, noch darauf mit Kristina dort aufzukreuzen. Es wurde schon gemunkelt, dass was zwischen mir und ihr lief, hatte Vi mir erzählt, und diese Gerüchte will ich nicht noch vertiefen.

Irgendwann will ich ja vielleicht doch mal einen coolen Jungen kennen lernen. Falls es sowas gibt. Was ich ja eher nicht glaube. Und eigentlich will ich auch keinen Freund. Das wäre mir glaube zu kompliziert. Was, wenn ich zusammenbreche, Visionen habe und er nicht weiß, was los ist? Sich erschreckt, einen Krankenwagen ruft? Ich kann ihm ja nicht von Anfang an sagen, dass ich dieses „Talent“ habe. Ach, ich mach mir wieder viel zu viele Gedanken über Dinge, die eh nie eintreffen. Ist auch komisch, dass ich nur die Zukunft anderer sehe, aber nie meine eigene. Das wäre doch mal interessant, zu wissen, was einem passiert. Wenn ich wüsste, wie ich sterbe, wann ich sterbe, könnte ich mir einen schmerzloseren Weg suchen, zu einem Zeitpunkt, der mir gefällt. Das bringt mich wieder auf einen anderen Gedanken. Mache ich einen Fehler, wenn ich meine Visionen für mich behalte? Sollten die Betroffenen nicht von ihrem Schicksal erfahren? Doch das beantworte ich mir sofort selbst. Eigentlich will ich ja gar nicht wissen, wann, wie, wo ich sterbe. Dann würde ich nur noch auf diesen Moment hinleben...

Ich erschrecke, als ich eine Hand an meiner Schulter spüre, quietsche kurz und reiße meine Kopfhörer aus den Ohren. Die Bibliothekarin lächelt mich an.
„Valerie, der Unterricht hat bereit wieder begonnen. Ich gebe dir einen Zettel mit, dass du mir bei etwas geholfen hast.“
„Oh Gott.“
Ich stehe auf und schaue Mrs. Chapman dankbar an.
„Das ist nett. Ich hoffe, das fällt nicht irgendwann auf.“
Sie lacht, geht zu ihrem Schreibtisch und beginnt zu schreiben. Ich mag diese Frau. Sie ist so nett zu mir. Sie hat mir schon oft Entschuldigungen geschrieben, wenn ich hier mal wieder meinen Gedanken nachgehangen habe. Manchmal frage ich mich, ob sie mein Geheimnis erahnt.

Fünf Minuten später stolpere ich mit einem Zettel in der Hand in meinen Kunstkurs. Die Lehrerin akzeptiert die Entschuldigung und schickt mich zu einer Leinwand. Zuerst wickle ich ein Haargummi um meine dunkelblonden Haare, dann nehme ich den Pinsel in die Hand und starre die weiße Fläche an. Da kichert es neben mir. Ich drehe den Kopf und sehe Ted. Verfolgt der mich etwa!? Schnell wende ich den Kopf der Farbpalette zu. Wieder spüre ich seinen Blick und mir läuft ein Schauer über den Rücken. Ich mag seine Blicke nicht. Für einen Moment schließe ich die Augen, versuche ihn abzuschütteln, aber es klappt nicht. Also öffne ich die Augen wieder, schaue vorsichtig zu ihm.
„Was willst du, Ted? Was hab ich dir getan?“
„Getan? Was sollst du mir den getan haben?“
„Das frag ich dich! Warum verfolgst du mich?“
Er lacht auf.
„Ich verfolge dich nicht! Du bist einfach da, wo ich hingehe. Ich kann ja nichts dafür, dass du im gleichen Kunstkurs bist wie ich.“

Ich werde rot und schaue irritiert in der Klasse umher. Viele Mädchen schauen zu uns, nicht auf ihre Leinwände und ich bin sicher, dass das an Ted liegt. Verstehen tue ich das nicht wirklich, so gut sieht er nicht aus. Okay, er ist groß, trainiert. Seine dunkelbraunen Haare locken sich bis zu seinen Ohren. Hört sich komisch an, aber es sieht eigentlich ziemlich gut aus und passt zu seinen Augen... seinen wunderschönen... Augen... in denen man so gut... VAL! NEIN! Abrupt wende ich mich erneut ab und beginne mein Bild zu malen. Ich darf nicht zugeben, dass ich Ted anziehend finde.

Die Stunde ist irgendwann um und ich beeile mich Teds Blicken zu entkommen. Auf dem Flur treffe ich Kristina. Sie lächelte mich an und zieht mich in eine Ecke.
„Ted ist an dir interessiert.“
Ich zucke zurück und schüttele heftig den Kopf.
„Nein, das stimmt nicht.“
Kristina lacht.
„Und ob das stimmt! Er hat mich nach deiner Handynummer gefragt!“
Ich reiße die Augen auf.
„Du hast sie ihm doch nicht gegeben?“
Sie runzelt die Stirn.
„Natürlich habe ich!“
Als sie meinen Blick sieht, weicht sie zurück.
„Das war ein Fehler, oder?“
Ich erwidere nichts, ich wende mich ab und gehe zu meinem Spind. Gerade will ich meine Tasche ausleeren, als jemand die Tür zuschlägt. Ich blicke hoch und schaue in das wütende Gesicht von Piper.
„Lass die Finger von Ted, Schlampe.“

3.


Ihr Blick scheint Feuer zu spucken und ich kann nicht anders – ich muss lachen.
„Ted? Was will ich denn mit Ted?“
Sie schnaubt.
„Woher soll ich das wissen? Du rennst ihm die ganze Zeit hinterher. Als ob er was mit dir anfangen würde, du Freak.“
Ich öffne unbeeindruckt wieder mein Schließfach.
„Piper, lass mich einfach zufrieden.“
„Wenn du Ted zufrieden lässt!“
„Hat dir schon mal jemand gesagt, wie nervig du bist?“

Ich knalle den Spind wieder zu und drehe mich um. Sie sieht aus, als ob sie jeden Moment explodiert und das entlockt mir ein breites Grinsen. Ich gehe ein paar Schritte weg und spüre dann, wie sie mir in die Haare greift.
„Eins sag ich dir, Nutte“, zischt sie, „Nimmst du mir Ted weg, dann nehme ich dir die wenigen Freunde, die du hast und dann bist du ganz allein.“

„Sie kann dir nichts wegnehmen, das dir nicht gehört“, ertönt Teds Stimme hinter uns.
Piper lässt mich schnell los und wirbelt rum.
„T-Ted.“
Er nickt, schiebt sie zur Seite und geht zu mir.
„Alles okay, Val?“
Ich richte meine Haare und drücke meine Tasche an meine Brust.
„Ich wäre auch ohne dich klargekommen.“
„Ach Val...“
Er legt den Arm um mich und drückt mich kurz an sich, bevor er mich wieder loslässt. Ich starre ihn kopfschüttelnd an.
„Was willst du von mir, Ted?“
„Ich will dich kennenlernen. Ich will... ich meine...“
„Hier gibt es so viele Mädchen, die an dir interessiert sind. Und ich bin es nicht. Du gehörst nicht zu meinem Umgang.“
„Und wer ist dein Umgang? Kristina? Wie viel weiß sie über dich? Viola? Wie gut versteht sie dich?“
Ich weiche zurück und starre ihn an. Er lacht und kommt auf mich zu.
„Mensch, was ich schon alles über dich weiß!“
Sein Lachen geht in ein sanftes Lächeln über.
„Trink einen Kaffee mit mir. Unterhalte dich mit mir. Bitte.“

Ich bin verwirrt, woher weiß er das? Mein Kopf bewegt sich wie von selbst hoch und runter. Er nimmt meine Hand, die ich ihm sofort wieder entziehe, geht mit mir durch das Schulgebäude und führt mich raus. Dabei redet er, erzählt mir unbedeutende Dinge, die ich eigentlich nicht wissen will. Mich interessiert nur, woher er all das weiß!

Schließlich kommen wir in einem kleinen Café an. Ted schiebt mich zu einem kleinen Tisch in einer Ecke, drückt mich auf einen Stuhl und setzt sich dann mir gegenüber. Eine Kellnerin kommt und fragt was wir trinken wollen.
„Zwei Kaffee bitte“, antwortet Ted.
Ich funkle ihn wütend an.
„Wer sagt, dass ich einen Kaffee will?“
Er grinst.
„Du liebst Kaffee.“
Ich versuche mich zu beruhigen und nicht näher darauf einzugehen. Ich will was anderes wissen.
„Wer bist du?!“
„Ted.“
„Gott, ich weiß, dass du Ted heißt! Woher weißt du all das über mich! Damit behaupte ich nicht, dass es stimmt, aber...“
„Schon gut. Bostwick.“
„Mich interessiert dein Name nicht!“
Er schaut mich fragend an. „Haben deine Eltern mich nie erwähnt?“
„Nein.“
„Okay. Ich bin dein Mentor.“
„Mentor?“
„Ja, dein Mentor. Ich weiß, dass du irgendein Talent hast, aber ich weiß nicht welches. Das müsstest du mir noch sagen.“
„Talent“, schnaube ich, „Wenn es ein Talent wäre, würde es mir ja gefallen. Und was soll das, Mentor? Wieso kommst du erst jetzt, kurz bevor ich siebzehn werde? Obwohl ich dieses „Talent“ schon seit dem Anfang meiner Pubertät habe?“
Er seufzt und nimmt wieder meine Hände.
„Lass das!“
Schnell nehme ziehe ich meine Hände auf meinen Schoß. Die Kellnerin kommt mit zwei Tassen zurück und setzt sie vor uns ab.
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, fragt sie und schaut Ted an.
Dieser schüttelt den Kopf und schaut wieder zu mir, als sie gegangen ist.
„Es tut mir leid, okay? Es gab Komplikationen.“
„Kannst du mir nicht einfach sagen, was ich bin und mich dann so weiter leben lassen, wie ich bisher gelebt habe?“
Einen Moment lang sieht er mich an, dann legt er Geld auf den Tisch.
„Komm heute Abend zu mir, so um neun.“
„Warum?“
„Dann reden wir weiter.“
Er steht auf und verlässt das Café. Ich schaue in meine Tasse, nehme einen Schluck und denke nach.

Mein Mentor. Was soll das heißen? Jetzt bin ich noch verwirrter als vorher. Und was haben meine Eltern mit der Sache zu tun? Sie haben vorher nie erwähnt, dass sie etwas darüber wissen, warum behauptet Ted das? Wobei ich mir bei meinen Eltern bei gar nichts sicher sein kann. Sie sind ziemlich seltsam. Ich weiß kaum was über sie, nicht einmal, wie sie sich kennengelernt haben. Sie unterhalten sich nie, sie schweigen sich meistens an und ich meine noch nie gesehen zu haben, wie sie sich küssen oder so. Wir waren nie gemeinsam im Urlaub, wir haben nie was gemacht, was Familien so tun. Ich dachte immer, das liegt daran, dass die beiden sich einfach nicht lieben sondern nur so zusammenleben. Kann doch sein, oder? Dass sie wissen, dass ich in die Zukunft schauen kann, muss, wie auch immer, das glaube ich nicht. Das behauptet Ted bestimmt nur so. Ganz sicher. Warum sprach er dabei eigentlich von Talent? Ich hatte das nie als Talent angesehen, eher als Fluch.

Irgendwann stehe ich auf, verlasse das Café und mache mich auf den Heimweg. Wieso hat er mich in ein Café geführt und war zwei Minuten später gegangen? Ich verstehe diesen Kerl nicht. Aber um herauszufinden, was er genau will und wer er wirklich ist, werde ich mich wohl mit ihm treffen müssen. Die ständigen Berührungen allerdings, die müssen aufhören. Ich bin noch nie ein Freund von Körperkontakt gewesen und das wird sich jetzt auch nicht ändern, nur weil ein dahergelaufener Typ meint, meine Hand nehmen zu müssen. Nein. Ich glaube, ich muss da klare Regeln aufstellen, wenn er weiterhin will, dass wir uns unterhalten. Kristina darf mich auch nicht berühren, das darf nur Viola. Einfach, weil ich sie schon ewig kenne und ich ihr absolut vertraue. Wobei Ted in einer Sache recht hat, nämlich darin, dass sie mich einfach nicht versteht. Aber was kann ich tun, damit sich das ändert? Richtig, nichts. Ich kann sie schlecht an den Dingen, die ich sehe, teilhaben lassen. Ich wüsste nicht wie. Von ein paar Visionen habe ich ihr erzählt, sie hat mir auch geglaubt, aber sie versteht halt einfach nicht, wie es ist, dabei zu sein. Ist ja auch egal.

Als ich Zuhause ankomme, esse ich schnell was und habe ein oberflächliches Gespräch mit meiner Mutter, bevor ich in mein Zimmer gehe und mich an die Buchkritik für den Englischunterricht setzte. Wir haben gerade einen Roman von Jane Austen geschrieben. Puh, das war schwierig. Aber trotzdem echt schön. Naja, ich schreibe auf jeden Fall meine Kritik und dann setze ich mich noch an die Mathehausaufgaben. Doch die sind schnell erledigt, Mathe hat schon immer zu meinen besten Fächern gehört. Danach lege ich mich auf mein Bett und schließe die Augen. Ob ich, wenn ich mich konzentriere, sehen kann, was heute Abend bei Ted passiert?

Ich sitze auf einem Stuhl, in einer Küche. Die Schränke sind quietschbunt, die Wände weiß. Es wirkt alles ein wenig armselig. Ted steht mit dem Rücken zu mir und hantiert mich irgendwas. Plötzlich dreht er mich um und schaut mich an. Dann wird alles schwarz.

Huch, was war das? Das war kein übliches Ende. Und Ted hatte auch nichts gemacht... schon wieder etwas, das ich nicht verstehe. Ach, ich hasse mein Leben.

So liege ich also da und starre die Leuchtsterne an, die über meinem Bett kleben. Sterne. Die fand ich schon immer faszinierend. Im Sommer klettere ich manchmal auf den Dachvorsprung vor meinem Fenster, lege mich zurück und schaue in den Himmel. Sie sind so alt, meist längst erloschen. Haben soviel erlebt. Ich frage mich, ob es dort oben auch Leben gibt. Bin sogar ziemlich überzeugt davon. Die Außerirdischen sind nur schlau genug und verstecken sich vor den Menschen, die sie mit zur Erde nehmen würden, um sie auseinander zunehmen. Würde ich an deren Stelle auch machen! Jedenfalls liege ich da wirklich oft. Ich fühle mich von Sternen angezogen. Immer, wenn ich eine Sternschnuppe sehe, wünsch ich mir was. Immer das gleiche. Habe ich ja früher schon mal erwähnt. Geht zwar nicht in Erfüllung, aber na ja.

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als es an meiner Tür klopft.
„Ja?“, frage ich und schließe wieder meine Augen.
Ich höre, wie jemand das Zimmer betritt und spüre dann, wie mein Bett an einer Seite leicht einsinkt, weil sich jemand dort hingesetzt hat.
„Es ist bereits halb zehn“, höre ich die Person sagen.
Ted.
„Wie bist du hier reingekommen?“
„Dein Vater hat mich reingelassen.“
Ich öffne die Augen und sehe, wie er mich anschaut.
„Wieso bist du nicht gekommen?“
Ich zucke mit den Schultern und setze mich auf.
„Ich hab nachgedacht.“
Er streift seine Schuhe ab, zieht seine Beine aufs Bett und schlägt sie übereinander.
„Dann erzähl ich es dir halt hier.“
„Bitte.“

Ich reibe mir die Augen und finde es mal wieder superpraktisch, dass ich mich nicht schminke. Ted schaut mich amüsiert an und beginnt dann zu erzählen:
„Du gehörst zu einem von sieben Mädchen, die hier auf der Erde leben. In jedem Kontinent gibt es eins.“
„Meines Wissens nach gibt es noch mehr Mädchen.“
Er grinst.
„Ja, aber nicht von der Sorte. Ihr seht euch absolut ähnlich. Die dunklen, langen Haare, die blauen Augen, nur dass ihr da alle verschiedene Nuancen habt...“
Er lässt seinen Blick über meinen Körper gleiten und grinst breiter.
„Die super Figur.“
Ich blitze ihn wütend an und bringe ihn damit zum Lachen.
„Komm, du kannst mir nicht erzählen, dass dich noch nie ein Junge angemacht hat.“
„Doch, genau das werde ich dir erzählen. Denn bei den meisten gelte ich als Freak, falls es dir noch nicht aufgefallen ist.“
„Nein, eigentlich finden dich alle heiß, du schreckst sie nur mit deiner Art ab.“
Er streckt sich kurz und schaut mir in die Augen.
„Fällt dir an meiner Augenfarbe was auf?“
„Sie sehen so aus wie meine. Hab ich schon heute Morgen gemerkt.“
„Genau. Und daran haben die – ich nenn sie immer Chefs, aber sie sind eher Götter – ...“
„Götter?“
„Es ist kompliziert. Das meiste wirst du nach und nach mitkriegen.“
„Ich will es aber jetzt wissen! Du kannst nicht bei mir auftauchen und mir irgendwas erzählen von wegen Götter und sechs Mädchen, die so aussehen wie ich und dann sagen, dass ich es herausfinde!“
„Lass mich doch mal ausreden! Verdammt, würdest du mich nicht als unterbrechen, dann ginge es viel schneller!“

Ich hebe die Hände um zu symbolisieren, dass ich mich ergebe und warte dann darauf, dass er weiter spricht. Er schaut mich einen Moment misstrauisch an und nickt dann.
„Gut. Jedenfalls haben sie an der Augenfarbe erkannt, dass ich dein Mentor sein werde. Naja und hier bin ich. Ich soll dir dabei helfen, dich in der Gesellschaft zu integrieren, weil Menschen mit solchen Gaben dazu neigen, sich auszuschließen. Willst du wirklich einsam und verbittert sein? Eben. Und dafür bin ich dann halt da.“
„Hilfst du mir nicht dabei, diese Visionen zu vermindern?“
„Visionen? Was siehst du?“
Ich schüttele den Kopf und schaue auf meine Hände.
„Das sag ich dir nicht, ich weiß ja nicht, ob du die Wahrheit erzählst.“
„Du musst mir glauben.“
„Wieso sollte ich?“
„Weil ich dir helfen kann.“
„Warum haben meine Eltern nie was gesagt?“
„Sie wussten nicht wie. Sie.. sie sind nicht deine wahren Eltern, Val. Sie haben dich adoptiert und damit eine große Bürde auf sich genommen.“
„Was bin ich, Ted, was?“
„Du bist ein Sternenmädchen, Val. Du kommst von einem Stern, nachdem du benannt bist.“
„Ein... Sternenmädchen?“

4.

Am nächsten Morgen wache ich in Teds Armen auf. Wir haben gestern nicht mehr viel geredet. Ich hab ihn zwar mit Fragen gelöchert, aber nicht mehr viel rausbekommen. Er hat nur gesagt, dass es halt sieben Sterne gibt, die von sieben Königen regiert werden, die zusammen ein Sternensystem bilden – und die Könige haben jeder eine Tochter, mich und die anderen sechs Mädchen, und dass jede von uns eine andere Gabe hat. Dann hab ich ihn nur noch angestarrt, bis ich irgendwann eingeschlafen bin. Ich rutsche hastig vor ihm weg, dass er mir erzählt, dass ich ein „Sternenmädchen“ wäre, ändert nichts daran, dass ich Berührungen nicht ausstehen kann. Ich stehe auf und strecke mich. Dann werfe ich einen Blick auf die Uhr und stelle mit Erschrecken fest, dass in einer halben Stunde die Schule beginnt. Ich hab gestern Abend vergessen mir den Wecker zu stellen! Das liegt alles nur an diesem Ted! Und meine Kleidung hab ich mir auch nicht rausgelegt.


Schnell bin ich beim Schrank und beginne ihn zu durchwühlen, bis ich schließlich einen schwarzen Kapuzenpullover und eine Röhrenjeans finde. Ich werfe einen Blick zu Ted, seufze, nehme ein Kissen von meinem Sofa und werfe es, so fest ich kann, auf ihn. Ted zuckt zusammen, brummt was, reibt sich über die Augen, setzt sich auf und streckt sich.

„Was los?“
„Wir müssen in einer halben Stunde im Unterricht sitzen!“
„Stress dich nicht so, ist doch nicht schlimm, wenn wir zu spät kommen.“
„Ich komm aber fast immer zu spät!“, rufe ich und beeile mich dann ins Bad zu kommen.


Zum Duschen ist keine Zeit, also belasse ich es dabei, mir meine Haare zu einem Dutt zu binden und eine kurze Katzenwäsche durchzuführen. Ich ziehe mich an und gehe zurück in mein Zimmer – und erstarre. Ted ist wieder eingeschlafen. Ich fauche wütend, stürze auf das Bett zu und ziehe ihm die Decke weg.
„Ted!“
Er grummelt was, das ich nicht verstehe und dreht sich auf die andere Seite. Ich knie mich neben ihm aufs Bett und schlage meine Faust leicht an seinen Arm.
„Ted, komm schon!
Er öffnet die Augen, schaut mich verschlafen an und gähnt dann laut.
„Okay, aber nur, weil du es bist.“
„Gut.“
Ich rutsche vom Bett, schnappe meine Tasche und werfe noch einmal einen Blick auf die Uhr.
„Na toll, jetzt können wir rennen.“
Ted ist inzwischen aufgestanden und räkelt sich.
 „Mach dir keinen Kopf, ich hab ein Auto. Muss mich nur noch kurz umziehen. In fünf Minuten vor der Tür.“

Er macht sich auf den Weg nach Hause. Ich gehe in die Küche, schnappe mit eine Banane und stelle mich dann auf den Bürgersteig um auf Ted zu warten. Zwei Sekunden später höre ich ein Garagentor und sehe ihn dann vorfahren – in einem knallroten Cabriolet. Was für eine Marke es ist, weiß ich nicht, ich kenn mich nicht sonderlich gut mit Autos aus, aber es ist verdammt auffällig!

Ted bleibt vor mir stehen, steigt aus, geht einmal um das Auto herum und hält mir dann die Tür zum Beifahrersitz auf.
„Du kannst den Mund wieder zumachen, Val. Es ist nur ein Auto.“
Ich schaue ihn verwirrt an, bemerke dann, dass mein Mund tatsächlich offen ist und schließe ihn schnell.
„Das ist Wahnsinn.“
Er zuckt mit den Schultern und wartet darauf, dass ich endlich einsteige, was ich dann auch tue. Kurz darauf sind wir auf dem Weg in die Schule. Eine Unterhaltung ist nicht möglich, denn er hat eine mir unbekannte Punkband voll aufgedreht.

Als wir ankommen, steigt Piper gerade aus ihrem Opel Corsa und wirft mir böse Blicke zu. Ted grinst und steigt aus.
„Sie mag dich nicht, was?“
„Sie mag dich sehr, wie?“, kontere ich und verlasse das Auto.
Er verzieht das Gesicht und nimmt seine Tasche und auch meine, aber die nehme ich ihm sofort weg. Dann nicke ich knapp und mach mich auf den Weg ins Gebäude. Ich höre ihn seufzen und spüre einen Augenblick später, wie seine Hand nach der meinen greift. Ich zische und bringe ihn mit dieser Reaktion dazu, laut zu lachen.

„Du bist so süß, Val!“
Er drückt meine Hand fester, während ich verzweifelt versuche, sie ihm wegzuziehen.
„Was soll das, Ted! Wir sind nicht zusammen oder so, wir sind nicht einmal Freunde!“
„Weil wir viel mehr als das sind! Ich gehöre zu dir, wie eines deiner Organe, Val, du wirst mich nicht mehr los. Ich bin dein Mentor!“
„Ein Scheißdreck bist du!“
Wütend funkle ich ihn an.
„Woher soll ich wissen, dass du die Wahrheit sagst? Mich als Alien bezeichnen, nur weil ich was kann, was andere Leute vielleicht nicht können? Leck mich, Ted.“
Er grinst.
„Gerne doch, Süße.“
Ich lasse einen genervten Schrei los und stoße ihn mit aller Kraft, die ich aufbringen kann, von mir.
„Lass mich zufrieden!“
Den Griff meiner Tasche fest umklammert, renne ich in meine Klasse. 

Ted

Er schaut ihr lange hinterher. Er versteht ihre Reaktion ja, ihn würde das auch nerven, wenn jemand ankommen würde und ihm Dinge erzählen würde, die schwer zu glauben waren. Aber er sagt die Wahrheit.

Langsam geht er in die Richtung, in die sie verschwunden ist. Sie ist so schön. Sie hat dieses Leuchten, ein hellblaues Schimmern, das sie umgibt. Dieses Blau steht für ihre Launenhaftigkeit, es zeigt, dass sie empfindsam ist, sich in andere Leute einfühlen kann. Dass sie sanft ist. Doch was ihm Sorgen macht ist das Grau, in das das Schimmern übergeht, weil es von Depressionen, Traurigkeit und Erschöpfung zeugt. Er will ihr helfen, ihr zeigen, wie sie mir ihrer Gabe umgehen muss. Doch dazu muss er erst wissen, was sie kann. Und das würde sie ihm solange nicht erzählen, bis sie ihm vertraut.

Wie soll er das anstellen? Er hat ihr die komplette Wahrheit gesagt. Er hat ihr von den Königen erzählt, von den anderen Mädchen. Wie soll er ihr beweisen, dass es alles stimmt? Auf eine Reise um die Welt, damit sie die anderen kennenlernt, kann er sie nicht mitnehmen, sie würde erst gar nicht mitkommen. Was dann? Die Mädchen herkommen lassen? Zu kompliziert. Die Feinde würden es spüren, wenn die Mädchen alle gemeinsam versammelt wären, zu hoch wäre die Konzentration ihrer Kräfte.

Langsam geht er in seinen Mathe-Kurs und lässt sich auf seinem Platz nieder. Sofort setzt sich Piper neben ihn und fängt an zu quatschen, zu versuchen ihn für sich zu gewinnen, aber er schaltet auf Durchzug und konzentriert sich lieber ganz auf Valerie. Was hat sie bloß für eine Gabe? Eine die ihr Angst macht.. was kann einem Angst machen? Verletzt sie mit Versehen Menschen? Nein, das kann nicht sein, alle Gaben sind psychisch. Oder kann sie Menschen mit ihrem Verstand verletzen? Telepathisch? Konnte das gehen?

Er seufzt und lehnt sich zurück. Piper neben ihm redet weiter, aber mit einem Blick bringt er sie vorerst zum Verstummen. Aber dies hielt nur eine Sekunde an, dann beginnt sie wieder zu sprechen:
„Ich versteh das nicht, Ted. Was habe ich dir getan, dass du mich so verabscheust? Nur weil ich Valerie nicht mag? Hallo, du kennst sie nicht einmal! Sie ist total seltsam!“
„Sie ist nicht seltsam.“

Langsam wendet er sich diesem nervigem Mädchen zu und betrachtet sie näher. Sie scheint sich schön zu fühlen, mit den so blondierten Haaren, dass sie beinah weiß sind, mit den dunkelgrünen Augen, die mit einer drei Tonnen Schicht Lidschatten und Mascara betont sind, aber in Wirklichkeit sieht so etwas ziemlich abtörnend aus, zumindest für ihn. Er mag natürliche Mädchen, das war schon immer so. Auch in der Galaxie, aus der er kommt, gibt es Mädchen, die sich schminken und er konnte nie etwas mit ihnen anfangen. Das würde sich auch nicht so schnell ändern.

Er übersteht die Stunde neben Piper und macht sich auf den Weg in seinen nächsten Kurs. Die ganze Zeit denkt er darüber nach, wie er Valerie von der Wahrheit überzeugen kann und hat, als er sich auf den Weg in die Mittagspause macht, tatsächlich eine Idee. 


Valerie

Die Stunden vergehen viel zu schnell, weil ich einfach nur über das nachdenke, was Ted mir erzählt hat. Ich komme noch immer nicht darauf klar, als ich in die Mensa gehe, zur Mittagszeit – und erstarre, weil ich Ted wieder an unserem Tisch sitzen sehe. Ich glaube, der Junge lässt nicht locker. Entnervt drehe ich mich wieder um und will die Mensa verlassen, als es wieder geschieht.

Ich sitze auf einem Baum und höre nur meinen Atem, die Vögel und ein leichtes Knarren des Astes. Doch plötzlich ertönt unter mir ein Tumult und schaue schnell auf den Boden. Da ist wieder sie – sie, die mir eine Vision nach der anderen liefert. Sie wird an den Baum gefesselt, nackt, dann holt der Mann, der dies tut, sein Messer heraus und schneidet ihr nach und nach kleine Wunden. Er sagt was, aber ich verstehe es nicht, ich bin zu weit weg. Richtig konzentrieren kann ich mich auch nicht, ich zittere am ganzen Körper, nur, weil ich dies mit ansehen muss. Wieso geschehen ihr so viele schreckliche Dinge? Das ist nicht gerecht! Es ist einfach nicht fair! Ich lasse mich fallen und lande leichtfüßig neben ihr. Keiner bemerkt mich, weder sie, noch ihr ihr Peiniger. Ich versuche erfolglos sein Gesicht zu erkennen, er trägt eine Maske. Sie ist schwarz und verdeckt sein halbes Gesicht. Ich erkenne nur seine Lippen, aber das hilft mir nicht viel. Auf einmal schreit sie auf und beginnt schnell etwas zu erzählen, was ich auch nicht verstehe. Dann fällt sie in Ohnmacht und damit wird auch bei mir alles schwarz.

„Geht es ihr gut? Nun sag, schon!“
„Ja, alles bestens. Sie kommt wieder zu sich.“
Ted? Oh man! Da hab ich ihn ja schon wieder auf mich aufmerksam gemacht? Und die andere Stimme gehört zu Kristina. Das heißt, ich werde mich den ganzen restlichen Tag von Fragen bombiert fühlen. Geile Sache. Oh Gott, ich hasse diese Visionen! Ich will doch nur, dass es aufhört. Ein für alle mal!

5.

Ich öffne langsam meine Augen und sehe zuerst Teds besorgtes Gesicht. Eine tiefe Falte hat sich auf seiner Stirn gebildet und seine Iris ist dunkler als sonst, beinahe schwarz. Ich versuche seinem Blick auszuweichen und treffe auf den von Kristina, die furchtbar aufgeregt scheint. Viola hält sich im Hintergrund, aber auch auf ihrem Gesicht kann ich ablesen, dass sie nicht sonderlich begeistert von meinem Zustand ist. Ich suche ihre Augen, will sie mit meinen festhalten, ihr zeigen, dass es mir gut geht. Sie nickt kurz, um mir zu verdeutlichen, dass sie versteht. Und dann bemerkt ich, dass nicht nur diese drei Personen mich anstarren, sondern die gesamte Mensa. Ich höre die Stimme der Krankenschwester, wie sie langsam näher kommt und richte mich schnell auf. Im gleichen Moment greift Ted nach mir und ich kann nicht anders, ich muss mich wieder beschweren.
„Hör endlich auf mich anzufassen, du Idiot!“
Anstatt mich mal loszulassen oder so, grinst er.
„Du bist noch die Alte, super.“
Dann hilft er mir aufzustehen.
„Ich fürchte, du musst mir langsam mal erzählen, was du hast.“
„Nein.“
Ich will gerade noch was hinzufügen, als die Schwester schnaufend vor mir zum stehen kommt.
„Was ist passiert?“
„Nichts, ich hab nur das Gleichgewicht verloren“, lüge ich und hoffe, dass Ted mir nicht wieder die Tour vermasselt.
Umsonst.
„Sie hatte einen Ohnmachtsanfall. Ich werde sie nach Hause bringen.“
Ja klar, als ob die Schwester das erlauben würde. Doch zu meiner Überraschung nickt sie.
„Das halte ich für eine sehr gute Idee.“
Sie wendet sich ab und verlässt die Mensa in dem gleichen watschelnden Gang, in dem sie herbei geeilt ist. Ted lässt den Arm um meiner Schulter liegen und führt mich langsam, unter den ungläubigen Blicken der Anderen, aus dem Gebäude.
„Was soll das, Ted?“
„Ich will dir nur helfen. Glaub mir einfach.“
Er schiebt mich ins Auto, setzt sich selbst rein und fährt los. Ich bin zu schwach um mich zu wehren, die Visionen nehmen mich immer mehr mit und in Sekundenschnelle bin ich eingeschlafen.

Als ich wieder aufwache, liege ich in meinem Bett und sehe blau. Ich zucke erschrocken zurück und höre als Antwort Teds entzückendes Lachen.
„Tut mir leid, Val, du hast so süß ausgesehen.“
„Wie lange hab ich geschlafen?“
„Drei Stunden. Geht’s dir besser?“
„Wieso tust du das?“
„Was?“
„Dich um mich kümmern?“
„Weil ich dein Mentor bin.“
„Ich glaube kein Wort von dieser Sternengeschichte.“
„Ich weiß. Aber ich werde es dir irgendwann, irgendwie beweisen.“
„Viel Glück dabei.“

Er nickt und schaut mich an. Wieder versinke ich in seinen Augen. Wieso sind die so verdammt schön! Er scheint es zu bemerken, denn er legt seine Hand leicht an meine Wange.
„Val, ich will dir nur helfen.“
Ich schlage seine Hand weg.
„Ich brauch deine Hilfe nicht.“
Ich schwinge meine Beine aus dem Bett, halte inne, um zu überprüfen ob mir schwindelig wird. Das ist nicht der Fall, also stehe ich auf.
„Du kannst nach Hause gehen.“
Er schaut mich einen Moment an, steht dann aber auf.
„Ich nehm dich morgen früh mit.“
Dann verlässt er endlich mein Zimmer und ich bin allein. 
Zuerst gehe ich duschen, denn das war mir ja am Morgen verwehrt geblieben. Also entledige ich mich im Bad meiner Kleidung und klettere in die Wasserfall-Dusche. Meine Eltern haben viel Geld, ich kriege alles, was ich nicht brauche. Aber das was ich will, das bekomme ich nicht. Ein Auto. Es wäre zu gefährlich. Mir könnte was passieren. Mir kann doch auch was passieren, wenn ich zu Fuß gehe! Doch egal, was ich für ein Argument vorbringe, sie bleiben hart.
Nun ja, ich gehe also in die Dusche und genieße zunächst eine Weile das lauwarme Wasser, wie es auf meinen Körper fällt. Dann greife ich zum Dusch-Gel und beginne mich einzuseifen. Ich mag meine Figur eigentlich. Ich habe einen flachen Bauch, eine schmale Taille, feste Brüste. Ob Ted recht hat und sich wirklich viele Jungs für mich interessieren? Wieso hat mich dann noch nie einer angesprochen? Ich seufze und spüle den Schaum ab, bevor ich mich meinen mittelbraunen Haaren zuwende. Sie liegen mir bis zur Mitte des Rückens, daher brauch ich immer eine Weile. Ich hab drei verschiedene Shampoos, die ich laut meiner Friseurin alle benutzen sollte. Als das endlich erledigt ist, stelle ich das Wasser ab und steige aus der Dusche. Ich wickle mich in ein großes Handtuch und wische mit der Hand über den beschlagenen Spiegel, damit die Sicht frei wird.

Ted sagt, ich wäre hübsch. Aber bin ich das wirklich? Diese Stupsnase mag ich gar nicht, auch nicht die Sommersprossen die sich darauf und über den Rest meines Körpers verteilen. Ich seufze erneut und creme mich mit einer Lotion ein. Ich neige zu trockener Haut, ich verliere immer viel Flüssigkeit wegen meiner Visionen, weil ich dabei furchtbar schwitze.
Meine Visionen.
Ich ziehe ein Nachthemd über und gehe in mein Zimmer zurück. Dort lasse ich mich in meinen weichen Sessel fallen und ziehe die Knie an die Brust. Sie darf nicht sterben. Sie darf nicht sterben. Sie darf einfach nicht! Eine Träne rollt über meine Wange, die ich mir mit einer wütenden Geste wegwische. Wieso? Wer ist dieser Kerl, der sie so quält? In welcher Reihenfolge sehe ich diese Szenen aus ihrem Leben? Naja, die Erste, in der sie ertrinkt, das geschieht als letztes... Kann ich sie irgendwie davon abhalten eine Landstraße lang zulaufen? Davon in den Wald zu gehen? Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Wozu hab ich die Visionen, wenn ich sie nicht ändern kann?

Ich hab zu Viola gesagt, das es gefährlich sein könnte, die Zukunft zu ändern, aber in dem Fall würde ich eine Ausnahme machen. Oh, verdammt, was soll ich tun? Ich greife zu meinem Tagebuch und beginne die Visionen niederzuschreiben. Manchmal hilft mir das. Aber diesmal nicht, das merke ich schon, als ich den ersten Satz geschrieben habe.

Viola

Sie steht schon eine Weile vor Valeries Haustür. Soll sie klingeln? Soll sie nicht klingeln? Es ist kein Mittwoch. Da geht die Tür auf und Ted kommt heraus und Viola bleibt vor Erstaunen der Mund offen stehen.
„Ted?“
„Ehm... hi, Viola.“
„Wie geht’s ihr?“
„Gut. Glaub ich. Sie hat mich rausgeworfen.“
Er grinst schief.
„Sie mag es nicht, wenn man sie berührt. Ich mach es trotzdem als. Ich glaube deswegen hasst sie mich.“
Viola zuckt mit den Schultern.
„Das kann ich dir nicht sagen. Ich gehe mal zu ihr.“
„Sie ist gerade unter der Dusche. Ich glaube, sie braucht einfach Ruhe. Aber komm doch noch mit zu mir, vielleicht kannst du mir weiterhelfen."

Viola zuckt mit den Schultern, wieso nicht. Ted ist schon heiß. Er geht nur bis zum nächsten Haus und Viola ist erstaunt.
„Du wohnst hier?“
Ted nickt und geht rein.
„Seit ein paar Tagen. Willst du was trinken?“
„Eine Cola wäre cool.“
„Alles klar, setz dich doch schon mal.“

Er verschwindet in einem anderen Raum. Viola leistet seiner Aufforderung Folge und setzt sich auf eines der superweich aussehenden Sofas. Und tatsächlich sinkt sie ein. Sie lächelt, das gefällt ihr. Ihr Blick beginnt zu schweifen. Diese Wohnung sieht relativ unpersönlich aus, es hängen keine Bilder an den Wänden oder sonst irgendwas, das davon zeugt, dass hier jemand lebt. Lediglich ein wenig Farbe wurde aufgetragen. Eine ziemlich interessante Mischung aus Rot, Weiß, Schwarz und Blau. Er kommt wieder, zwei Gläser in der Hand und reicht ihr eins.
„Ja ich weiß, sieht nicht sonderlich schön hier aus. Aber ich muss mich auch erstmal einleben, bevor ich alles einrichte.“
„Wohnst du allein?“
„Ja, bin ja schon volljährig. Meine Eltern sind vor ein paar Jahren gestorben.“
„Oh, das tut mir leid.“
„Muss es nicht. Ich bin drüber hinweg.“

Sie schaut ihn an und versucht zu erkennen, ob er die Wahrheit sagt, aber in seinen Augen kann sie es nicht erkennen.
„Also geht es ihr gut?“
„Ja.“
Er nickt bestätigend und nimmt einen Schluck von seiner Cola.
„Auch wenn sie mich nicht leiden kann. Weshalb bricht sie eigentlich immer zusammen?“
„Woher willst du wissen, dass sie dich nicht mag? Sie ist halt vorsichtig. Sie lässt eigentlich niemanden an sich ran, nicht einmal Kristina so richtig. Eigentlich nur mich und das, weil wir uns schon sechzehn Jahre kennen.“
„Ist sie hergezogen oder du?“
„Sie.“
Viola trinkt einen Schluck.
„Du magst sie wirklich sehr, oder?“
Er nickt wieder und seufzt dann.
„Aber sie will mir nicht sagen, was mit ihr los ist. Wieso bricht sie immer zusammen?“
„Nun, das werde ich dir auch nicht sagen, Ted. Es ist ihr Geheimnis.“
„Und nur du weißt es, richtig?“
„Ja. Aber hey, wenn du sie wirklich magst, dann zeig' ihr das. Berühr sie so wenig wie möglich, mach ihr deutlich, dass du ihr zuhörst, indem du halt die Dinge nicht tust, die sie nicht mag und die Dinge machst, die sie mag.“
„Was mag sie?“
„Essen“, kommt es wie aus der Pistole geschossen.

Viola grinst. Ja, Val liebt Essen. Sie kann sich nie entscheiden, wenn sie irgendwo Essen geht, darum bestellt sie immer gleich drei verschiedene Portionen, die am Ende alle leer waren. Und sie nimmt trotzdem nicht zu, worum Viola sie absolut beneidet. Sowieso beneidet sie sie um vieles. Um ihr Aussehen, um ihre Noten – sogar um die Visionen. Viola wäre auch gern interessanter, hätte auch gerne irgendein Talent. Aber das Einzige, was sie kann, ist in der Clique Modetipps zu geben. Ein interessanteres Leben wäre so schön...
Ted unterbricht sie in ihrem Gedankenlauf.
„Essen?“ Viola nickt und trinkt die Cola leer.
„Naja, ich muss nach Hause, meine Mum wartet mit dem Essen. Wir sehen uns in der Schule.“
Ted nickt abwesend. Viola steht auf und schaut ihn noch einen Moment an.
„Sei einfach nett. Versuch sie nicht unter Druck zu setzen.“
Dann verlässt sie Teds Wohnung und macht sich auf den kurzen Weg nach Hause. 

Valerie

Es ist spät, als ich mich auf mein Bett lege, um endlich zu schlafen. Ich habe noch Hausaufgaben gemacht, Ablenkung gesucht. Doch jetzt gibt es nichts mehr zu tun und die Gedanken kommen zurück und ich stelle mir eine Menge Fragen, während ich in meinen eigenen Sternenhimmel starre. Was kann ich tun? Wie zur Hölle stelle ich es an, dass sich die Zukunft ändert? Warum ausgerechnet sie? Ich kenne keine Antwort, auf keine der Fragen. Ich wälze mich lange hin und her, bis ich doch in einen leichten Schlaf falle.

Am nächsten Morgen sehe ich noch schlechter aus als am Vortag. Ich traue mich kaum in den Spiegel zu schauen – dennoch tue ich es und weiche schreiend zurück. Meine Mutter, die aus irgendeinem Grunde noch nicht auf dem Weg zur Arbeit ist, kommt ein paar Sekunden später, meinen Namen rufend, ins Zimmer gestürmt und seufzt erleichtert, als sie sieht, dass eigentlich nichts passiert ist.
„Valerie, mein Gott, hast du mich erschreckt.“
„'Tschuldigung“, nuschele ich, während ich versuche meine Haare zu glätten, die mir wie eine Löwenmähne vom Kopf abstehen.
Meine Mutter schüttelt den Kopf.
„Wasch sie dir. Ich hole in der Zeit ein wenig Make-Up, um diese schrecklichen Augenringe zu überdecken. Das liegt doch alles nur an...“
Sie bricht ab und verlässt schnellen Schrittes mein Zimmer wieder. Ich schaue ihr verwirrt hinterher. Woran liegt was? Weiß sie vielleicht doch was? Na, da werde ich sie gleich, wenn sie wiederkommt, mal so richtig ausquetschen.
Ich mache, was sie gesagt hat, ich wasche mir die Haare, rubble sie trocken und föne sie mir. Nie wieder werde ich mich mit noch feuchten Haaren ins Bett legen, nie wieder. Ich komme gerade wieder in mein Zimmer, als auch meine Mutter es wieder betritt, sie ist blass.
„Valerie, du brauchst nicht zur Schule zu gehen.“
Woa, was? Wer ist das bitte und was ist mit meiner Mutter geschehen? Nie, nie würde Jane Johnson so etwas sagen.
„Valerie, wirklich. Ich hab mit deinem Vater gesprochen.“
„Mum, was ist hier los?“
„Wie, was soll los sein?“
„Woran liegt es? Und wie kommt es, dass ich nicht in die Schule muss? Weshalb bist du noch nicht an der Arbeit?“
Sie zögert einen Moment, bevor sie sich auf mein Sofa setzt und neben sich klopft.
„Wir müssen reden, Valerie.“

6.

Ich lasse mich neben sie sinken und schaue sie erwartungsvoll an. Sie zögert erneut, doch beginnt dann zu sprechen.
„Dein Vater und ich verheimlichen dir was. Aber erst will ich mich dafür entschuldigen, dass wir so wenig Zeit für dich haben. Es passiert einfach so viel im Moment! Dein Vater wurde befördert und ich auch... Du musst verstehen, dass es nicht immer leicht ist, alles unter einen Hut zu bringen.“
Sie schaut mich einen kurzen Moment nachdenklich an und räuspert sich dann.
„Dieser Ted, in welcher Beziehung steht ihr zueinander?“
„Er nervt mich.“
„Womit?“
„Na ja, er ist halt ständig um mich rum. Aber was hat das mit unserer Unterhaltung zu tun?“
„Ich wollte nur wissen, ob er dein Freund ist oder... Wir haben uns schon so lange nicht mehr unterhalten!“
Sie seufzt und knete ihre Hände nervös in ihrem Schoß. Und dann rückt sie endlich mit dem heraus, was sie beschäftigt.
„Wir wissen von deinen Visionen.“

Ich reiße den Kopf hoch, die Augen auf und starre sie lange an, bevor ich ein heiseres „Wie bitte?!“ über die Lippen kriege. Sie nickt leicht und gibt mir Zeit, mich zu beruhigen. Sie wissen es. Ted hat Recht. Ted hat verdammt noch mal Recht! Sie wissen es und haben es mir nie gesagt! Wieso? Und was kommt als nächstes? Sind sie vielleicht wirklich nicht meine leiblichen Eltern? Wenn sie mir das jetzt sagt, dann glaube ich Ted jedes Wort, jedes!
„Okay, ihr wisst es. Und weiter?“
Doch beginnt sie mir was vollkommen anderes, als das, was ich bisher gehört habe, zu erzählen.

„Du hast dein Talent von deinem Vater geerbt. Er kann auch in die Zukunft sehen. Nicht den Tod, so wie du, aber...“
„Woher...“
„Du hast früher immer schon diese Anfälle gehabt, als du noch klein warst. Und wenn wir dich gefragt haben, hast du es uns erzählt. Du hast gewusst, wie meine Mutter stirbt. Dass sie mit dem Flugzeug abstürzen wird. Wir haben sie versucht davon abzuhalten, wegzufliegen, aber sie hat nicht auf uns gehört. Wir wussten auch nicht, ob es ausgerechnet bei diesem Flug passiert oder bei einem späteren. Du wusstest nicht wann.“
Ich schaue sie an, lege meinen Kopf schief.
„Ihr wusstet es die ganze Zeit?“
„Ja.“
Sie seufzt und nimmt meine Hände.
„Dein Vater sieht die glücklichen Sachen in den Leben der Menschen um ihn herum. Du siehst die grauenhaften Dinge, die auf der ganzen Welt geschehen.“
„Warum ist das so?“
„Ich kann es dir nicht sagen, Süße. Das fragen wir uns auch seit geraumer Zeit. Dein Vater versucht auch schon lange irgendwas zu finden, dass dein Leben angenehmer machen könnte und seines auch.“
Sie schweigt einen Moment, schaut nachdenklich auf den Boden.

Ich warte einen Moment, hebe dann wieder an, will eine erneute Frage stellen, aber sie hebt die Hand und schüttelt den Kopf.
„Lass mich weitererzählen, sonst schaffe ich es nicht, alles zu sagen, was ich will.“
Sie sieht mich einen Moment an und ich nicke schnell.
„Okay. Also, wir kannten dein Talent schon früh. Plötzlich hat es an der Tür geklingelt und ein paar Männer kamen. Sie wollten, dass wir dich ihnen verkaufen.“
Ich sehe ihr in die Augen und erkenne, dass sie die Wahrheit sagt. Sie wusste es also die ganze Zeit. Meine Gefühle schlagen Wellen, auf und ab, ab und auf. Ich bekomme es fast nicht mit, als sie weiter spricht.
„Wir haben natürlich nein gesagt. Du warst, und bist es auch immer noch, unser Ein und Alles. Wir lieben dich so sehr, auch wenn wir es dir selten zeigen. Wahrscheinlich, weil wir ein wenig Angst davor haben, was du uns sagen könntest. Dass du uns erzählst, wie wir sterben.“

Sie legt ihre Arme um mich und zieht mich an ihre Brust. Das hat sie schon lange nicht mehr getan und ich fühle mich furchtbar wohl dabei. Hey, sie ist immerhin meine Mutter! Und seine Mutter liebt man. Immer. Egal, was passiert. Ich bin ja selbst schuld, dass unser Verhältnis so schlecht ist. Seit ich mich erinnern kann, gehe ich ihnen aus dem Weg. Denn ich habe selbst Angst davor zu sehen, wie meine Eltern diese Welt für immer verlassen. Ich schaue sie an und sehe wie ihre Augen sich langsam mit Wasser füllen. Sie hat schöne Augen. Sie sind dunkelgrün, sie sehen aus wie ein Waldsee, in dem man nicht schwimmen gehen möchte, weil er voller Algen und ähnlichem ist, aber der wunderschön an einer Lichtung liegt. Mein Vater hingegen hat blaue Augen, ein wenig heller als meine, ein ziemlich durchscheinendes Blau. Beide gehen langsam in die Vierziger, daher bilden sich Falten auf den braungebrannten Gesichtern, die sie von ihren vielen Reisen haben. Früher haben sie mich mitgenommen, aber irgendwann habe ich ihnen gesagt, dass ich es nicht mehr will. Von da an habe ich eine Nanny gehabt, zumindest solange, bis ich alt genug war um ein paar Wochen allein Zuhause zu bleiben. Sie waren auf der ganzen Welt gewesen, ich hatte bisher nur europäische Länder und den Großteil der USA gesehen.

Meine Mama räuspert sich.
„Dieser Junge, Ted, der in den letzten Tagen so oft hier ist... beantwortest du mir meine Frage von vorhin jetzt?“
„Ted“, antworte ich nachdenklich und runzle die Stirn. „Er hat mir erzählt, dass ich eine Außerirdische bin.“
Schnell rattere ich die Geschichte mit den Sternenmädchen herunter. Sie schaut mich ernst an.
„Dann halte dich von ihm fern. Er scheint etwas über dich zu wissen.“
Ich nicke, denn ich bin mir ganz sicher. Ted ist einer von ihnen. Einer von denen, die mich für ihre Zwecke benutzen wollen.

Ich gehe wirklich nicht in die Schule. Ich lege mich wieder in mein Bett und schaue meine Sterne an. Wir haben noch ein wenig geredet, meine Mum und ich, und eines hat sie mir klar gemacht. Ich kann jetzt nicht einfach zu Ted sagen, dass ich ihn niemals wiedersehen will. Na ja, meiner Meinung nach könnte ich das schon, aber meine Mum meint halt, dass dann die Gefahr besteht, dass dieser seltsame Verein einfach kommt und mich mitnimmt. Das will ich nicht, das will sie nicht, das will mein Dad nicht, niemand will das. Darum habe ich Ted durch die Gegensprechanlage mitgeteilt, dass ich leider krank bin und nicht in die Schule kommen kann, was ihn anscheinend nicht sonderlich überrascht hat. Klar, mir ging es gestern ja schließlich auch ziemlich schlecht. Nun gut, jetzt liege ich also hier. Ich weiß nicht, was ich machen kann, Zuhause sein ist langweilig. Im Fernsehen läuft nichts Vernünftiges, nochmal geschlafen habe ich bereits – ohne Zwischenfall. Keine Vision an diesem Morgen. Ich habe bereits Mittag gegessen, aber es ist erst halb zwölf. Es dauert noch ungefähr drei Stunden, bis Viola aus der Schule kommt. Mit ihr muss ich unbedingt sprechen.

Ich stehe auf, gehe zu meinem Bücherregal, lese die verschiedenen Titel und ziehe schließlich eines meiner Lieblingsbücher raus. „Drei Wünsche hast du frei“ von Jackson Pearce. Es geht in diesem Buch um ein Mädchen und um einen Dschinn, der bei ihr auftaucht und ihr, wie der Titel schon sagt, drei Wünsche erfüllt. Manchmal denke ich, dass das schon eine gute Sache wäre. Einfach so drei Wünsche erfüllt zu kriegen, wer will das nicht? Mein erster Wunsch wäre es, dass die Visionen verschwinden. Der zweite wäre wohl, dass meine Familie mehr Zeit füreinander hat. Und der letzte... nun ja, da müsste ich wahrscheinlich noch drüber nachdenken. Vielleicht würde ich versuchen ihn an jemand anderen zu verschenken. Oder so. Keine Ahnung.

Gemeinsam mit dem Buch lege ich mich in mein Bett. Auf den Bauch, das Buch auf mein Kopfkissen. So lese ich am liebsten. Ich habe schon lange nicht mehr gelesen. Die Visionen haben mich so gefangen genommen, dass es mir nicht möglich war. Dabei lese ich gerne. Dem Alltag entfliehen, mich in andere Personen versetzen, das gefällt mir. Jemand anderes sein, jemand, der keine seltsamen Zukunftdinge sieht. Wenn ich auf einem Klappentext irgendwas mit Visionen lese, ist es für mich vorbei, dann landet das Buch garantiert nicht in meinem Regal. Sonst mag ich so ziemlich alles, was gut beschrieben ist, in das man sich gut reinversetzen kann.

Durch das Lesen vergeht der Rest des Tages schnell und als ich auf die Uhr schaue ist es bereits halb sechs. Ich stehe auf, gehe hinunter, begrüße meine Eltern und setze mich, zum ersten Mal seit mindestens einem Jahr, zu ihnen, zwischen sie, aufs Sofa. Mein Vater schaut mich warm an, lächelt und legt seinen Arm um meine Schultern. Sofort fühle ich mich geborgen, sicher. Er ist trainiert, um den Stress beim Job auszugleichen macht er Abends immer Krafttraining. Ich bin mir sicher, dass er mich beschützen kann, wenn es hart auf hart kommt. Er drückt mir einen Kuss auf mein Haar.
„Alles okay, Kleine?“
Ich nicke und kuschle mich enger an ihn, bevor ich ihm die Frage stelle, die seit heute Morgen durch meinen Kopf geistert.
„Hast du irgendeine Möglichkeit gefunden, die Visionen abzustellen?“
Er seufzt, schüttelt den Kopf. Enttäuscht schließe ich die Augen.

Es hat einen Vorteil, dass meine Mutter heute Morgen mit mir gesprochen hat. Ich muss kein Geheimnis mehr vor ihnen haben. Es tut gut, offen darüber sprechen zu können. Ich habe meiner Mama von den Visionen erzählt, die ich in letzter Zeit habe und auch meinem Dad erzähle ich jetzt davon. Doch ich verrate nicht, um wen es geht. Habe ich bei Mum auch nicht. Er hört mir aufmerksam zu und drückt mich, als ich ende, fester an sich.
„Es tut mir so leid, dass du mit solch einer Bürde leben musst. Ich würde dir so gerne helfen. Aber ich weiß nicht wie, ich weiß es wirklich nicht. Ich komme ja nicht mal mit meinen eigenen Visionen klar und das, obwohl es positive Dinge sind... sie überfallen dich immer einfach so, oder? Du merkst, wie dir kalt wird, erst in den Fingerspitzen, dann in den Zehen. Deine Haut fängt an zu kribbeln, dein Kopf wird schwer...“
Ich nicke und presse mein Gesicht gegen seine Brust, damit er die Tränen nicht sieht, die mir über die Wangen laufen. Er streichelt mir über den Rücken, versucht mich zu beruhigen, aber sagt nichts, da er genau weiß, dass ich jetzt nicht reden mag.

Die Türklingel unterbricht unser Schweigen. Meine Mum, die die ganze Zeit stumm neben uns saß, steht auf und geht zur Tür. Ich kann nicht verstehen, wer davor steht, aber sie schickt die Person wieder weg, sagt ihr, dass ich krank sei. Zwei Minuten später kommt sie wieder, setzt sich neben mich und nimmt meine Hand.
„Das war dieser Ted. Ich hab ihm gesagt, dass es dir nicht gut geht, trotzdem lädt er dich für morgen zu einer Party ein.“
Mein Vater grunzt.
„Da gehst du aber nicht hin.“
Ich schüttele heftig den Kopf.
„Nein. Das wäre sinnlos. Nachher füllt er mich ab, nimmt mich mit in den Abstellraum und sperrt mich da ein, bis diese Menschen kommen und mich mitnehmen.“
Meine Mama runzelt die Stirn.
„Oder du gehst hin, trinkst aber nichts, hast Spaß mit deinen Freunden.“
Ich schaue auf den Boden.
„Du weißt genau, dass nur Viola meine Freundin ist.“
„Und was ist mit dieser Kristina?“
„Eine Bekannte.“
Sie seufzt.
„Du gehst zu dieser Party. Du brauchst mehr soziale Kontakte.“
Mit diesen Worten steht sie auf und verlässt den Raum, um deutlich zu machen, dass sie damit das letzte Wort gesagt hat. Ich seufze und bleibe weiter an meinen Papa gekuschelt. Wir schauen eine Weile gemeinsam fern, bis meine Mutter uns zum Essen ruft. Sie hat gekocht, was sie viel zu selten tut, denn sie ist eine wahrhaftige Meisterköchin. Aber sie hat nicht genug Zeit dafür.

Nach dem Essen spielen wir noch gemeinsam was und glücklich lächelnd mache ich mich dann wieder auf den Weg in mein Zimmer. Das war ein wirklich schöner Abend gewesen. So etwas hätte ich demnächst gerne öfters. Ich gehe ins Bad, schminke mich ab – meine Mama konnte es nicht lassen, mir Schminktipps zu geben – und betrachte mich dann im Spiegel. Ich sehe besser aus als heute Morgen. Und ich hatte keine einzige Vision. Ich bin total ausgeglichen. Schnell entledige ich mich meiner Kleidung und tapse mit nackten Füßen zurück in mein Zimmer, wo ich mich in mein weiches Bett kuschle. Eine neue Frage taucht in meinem Kopf auf, als ich darüber nachdenke, wie gut es mir heute eigentlich geht. Ob meine Gefühlslage und die Anzahl der Visionen einen Zusammenhang haben?

7.

Der nächste Tag beginnt wie immer. Ich erwache, stehe auf, dusche. Packe meine Tasche. Doch dann fällt mir ein, dass heute Samstag ist und mit einem deftigen Fluch werfe ich mich wieder auf mein Bett. Es ist erst sieben Uhr in der Früh, aber schlafen kann ich jetzt bestimmt nicht mehr. Dennoch bleibe ich liegen und schaue mir wieder meine Sterne an, die im Tageslicht leider nicht so wunderschön leuchten wie in der Nacht. Aber das ist wohl der Nachteil an Leuchtsternen. 

Heute ist Teds Party. Soll ich wirklich hingehen? Ich war bis her noch nie auf einer Party, einer richtigen Party. Bisher war ich nur auf Kindergeburtstagen von Viola gewesen und später bei den Feiern von Kristina. Diese waren meist langweilig, wir haben eigentlich immer nur in ihrem Zimmer gesessen und zwei, drei Filme geschaut. Wir, das waren ich, sie und ihre Cousine Monica. Monica ist drei Jahre jünger als wir und hat sich, sobald sie auf die Highschool gewechselt hat, den Cheerleadern angeschlossen, was dazu führte, dass sie zu diesen Abenden nicht mehr kam, da sie lieber mit ihren neuen Freundinnen Sachen machte oder mit ihrem Freund, einem Footballspieler, abhing. 

Aber das spielt jetzt keine Rolle. Soll ich jetzt gehen oder nicht?. Meine Mum will es ja, aber mein Papa ist dagegen. Ich würde ja viel lieber auf Dad hören, aber mit meiner Mutter hab ich dieses wunderbare Gespräch geführt... 
Ich weiß gar nicht, weshalb sie das will. Soll ich etwa herausfinden, was Ted vorhat? Das wäre auf jeden Falle in Grund, das würde mich sogar selbst interessieren. Wieso behauptet er solche Dinge? Sternenmädchen... das kam mir gleich suspekt vor. Warum habe ich mich eigentlich so oft mit ihm abgegeben? Mein Gefühl hatte mir doch von Anfang an gesagt, dass da was nicht stimmt. Wann interessiert sich bitte auch mal ein gutaussehender Kerl für mich. Ich bin nicht Piper, ich bin nicht Vi. Ich bin die unscheinbare Valerie. Valerie Johnson? Wer ist das? 

Verärgert über meine eigenen Gedanken kneife ich die Augen zusammen. Ein Fehler. Denn sofort erscheinen die Bilder meines Traumes heute Nacht vor meinem inneren Auge. 

Ted. Ted und ich, Hand in Hand. Wir liefen an einem weißen Strand entlang, das Meer war türkis. Er sagte was, ich erinnere mich nicht mehr, was es war, aber es brachte mich zum Kichern. Kichern! Ich kichere nie! Jedenfalls liefen wir. Auf einmal hielt er mich fest, zog mich fest an seine Brust und gab mir einen Kuss auf den Scheitel. Und an das, was er dann sagte, an das erinnere ich mich noch genau. 
„Ich liebe dich, Val. Ich habe noch nie ein so wunderschönes, intelligentes, einzigartiges Mädchen getroffen wie dich. Das wollte ich dir nur mal sagen.“
Das haute mich schon ziemlich um, doch dann geschah noch unbegreiflicheres. Ich lächelte. Ich lächelte so, als wäre dies alles gewesen, was ich in meinem Leben hören wollte. Als wollte ich nur diese Worte hören, gesagt bekommen, dass er mich liebt, von ihm, wieder und wieder. Und als unsere Lippen sich fanden, war es unglaublich. In mir explodierte alles, was in einem Körper explodieren kann. Mein Herz schlug gegen meine Rippen, als wolle es jeden Moment meinen Körper verlassen und gen Himmel fliegen. Das hat sich vielleicht angefühlt! Wow. 
Dieser Kuss schien einen Moment lang endlos zu sein, doch dann wechselte die Location. Wir standen auf einem Berg, an einem Aussichtspunkt. Ich stand direkt an der Brüstung, Ted hinter mir und hatte seine beiden Arme um meine Taille geschlungen.
„Weißt du, Val“,flüsterte er in mein Ohr, „Ich habe nicht komplett gelogen, am Strand. Du bist wirklich einzigartig.“
Ich schauderte, denn ein seltsamer, mir Furcht einflößender Unterton lag in seiner Stimme. Er lachte leise.
„Ach, Val, wie konntest du mir nur vertrauen.“
Er bewegte seine Hand und ich spürte einen schrecklichen Schmerz in meinem Bauch. Als ich an mir herunter sah steckte ein Messer in mir.
„Ich brauchte dich nur wegen deiner Gabe. Hast du das hier vorhergesehen, Val?“ er lachte kalt und stieß mich über das Geländer. 


Ich habe keine Ahnung, was dieser Traum zu bedeuten hat. Spinnt sich meine Fantasie bloß etwas zusammen oder war dies eine Vision? Eine andere Art der Vision... eine, in der ich meinen eigenen Tod sehe. 
Hatte ich tatsächlich das erste Mal gesehen, wie ich sterbe? Das wäre doch unsinnig, ist doch ganz logisch, dass ich mich dann von Ted fernhalten würde, wenn ich weiß, dass ich wegen ihm sterbe. Darum denke ich eher, dass es die erste Möglichkeit ist. All das, was meine Mum mir erzählt hat, was Ted mir erzählt hat, vermischt zu einem seltsamen Traum. 
Ich hoffe es. 

Ich wache auf. Anscheinend bin ich doch nochmal eingeschlafen. Meine Wecker zeigt jetzt ein Uhr mittags an und mein Magen bestätigt das. Ich tappe im Nachthemd – und mir in alle Richtungen abstehenden Haaren, ich wollte doch nicht mehr mit nassen Haaren ins Bett gehen! – in die Küche. Aus dem Augenwinkel sehe ich meine Mutter, welche ich mit einem Brummen grüße. Dann durchsuche ich die Schränke nach dem Kakaopulver, das auf wunderliche Weise immer, wenn ich Lust auf Kakao habe, an einer anderen Stelle steht. Als ich es endlich gefunden habe, suche ich im Kühlschrank nach der Milch, doch halte inne, als ich ein leises Lachen höre und wirble herum. Neben meiner Mum sitzt Viola. Ich grinse, drehe mich um und beginne meinen Kakao zu mixen. 
„Val!“,schimpft sie gespielt wütend, „Wie soll ich dich denn für eine Party aufstylen, wenn deine Haare so aussehen!“ 
„Vi“,kontere ich, „Wer sagt, dass ich zu einer Party gehe? Ich hab keine Lust.“ 
Langsam rühre ich meinen Kakao und höre ihr Seufzen. 
„Komm schon, Ted hat dich eingeladen. Der Kerl steht auf dich. Willst du ihm etwa gar keine Chance geben?“
„Erstens steht er nicht auf mich, er will lediglich herausfinden, was für eine ´Gabe` ich habe. Und zweitens, mich dann entführen und an irgendwelche Männer verkaufen. Und drittens...“ 
Ich senke die Stimme, als ich zu diesem Grund komme. 
„Was will er mit mir. Er könnte jeden haben. Er würde mir nur wehtun, Vi, das will ich nicht, das kann ich nicht.“ 
„Val!“ 
Sie springt auf und schließt mich so stürmisch in ihre Arme, dass der Kakao sich über mein weißes Nachthemd ergießt. 
„Oh, das wollte ich nicht! Aber Val! Er hat jede abblitzen lassen! Er bemüht sich nur um... Moment, halt, was hast du gerade gesagt? Mit den Männern?“ 
Meine Mutter steht auf und nickt mit zu. 
„Du weißt ja selbst, dass du Viola vertrauen kannst.“  Mit diesen Worten verlässt sie die Küche und räumt so den Tisch für Vi uns mich. Wir setzen uns und ich beginne alles zu erzählen, was ich gestern erfahren habe. 

Als ich ende landet ihre Faust auf dem Tisch, sodass es einen lauten Knall gibt. 
„Oh, Val, das lass ich nicht zu! Und das ist erst recht ein Grund heute Abend dahin zu gehen! Du musst ihm zeigen, dass du keine Angst vor ihm hast!“
Ich schaue auf den Tisch, male ein Muster mit meinem Zeigefinger. 
„Ich kann das nicht. Du weißt, ich war noch nie auf einer Party eingeladen. Ich weiß gar nicht, wie man sich benimmt. Und außerdem hab ich gar nichts zum Anziehen.“ 
Viola nimmt diese Ausrede als Aufforderung aufzuspringen und mich hinter sich her in mein Zimmer zu zerren.
„Da werden wir schon was finden, glaub mir! Du hast den ganzen Schrank voller Kleidung!“ 
Mit ein paar großen Schritten ist sie schnell bei diesem besagtem Schrank und beginnt meine fein säuberlich gestapelte Wäsche durcheinander zu bringen.
„Wäre doch gelacht, wenn ich dir nicht das ultimative Party-Outfit zaubern kann. Du wirst Ted sowas von umhauen! Alle werden so neidisch sein!“ 

Ich seufze, füge mich meinem Schicksal und leiste Violas Aufforderung, ich solle mir doch bitte die Haare waschen, damit ich nicht mehr wie ein aufgeplatztes Sofakissen aussehe, Folge. 
Zehn Minuten später kehre ich in mein Zimmer zurück und kriege fast einen Schreikrampf. Was hat sie getan! Viola scheint zu bemerken, dass ich kurz davor bin sie zu erwürgen und zeigt schnell auf die verschiedenen Kleidungsstapel. 
„Ja, nein, vielleicht. Jetzt mach nicht so ein Gesicht!“,fügt sie noch schnell hinzu. „Wusstest du eigentlich, dass Ted alleine lebt und schon volljährig ist?“ 
Ich zucke mit den Schultern, ist mir eigentlich relativ egal. Vi scheint zu verstehen und kümmert sich weiter um die Klamotten, während ich beginne mir die Haare zu machen. 

Ted

Er schaut sich in seinem kleinen Haus um. Eine Party. Wie ist er bloß auf die Idee gekommen? Ach ja, das gehörte zu Teil eins seines Planes Valeries Geheimnis aus ihr zu locken. Partystimmung, Alkohol... aber das hatte er schon längst wieder verworfen. Aber eine Party! Hier ist doch kaum Platz. Ein kleines Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein Bad, eine Küche. Ein Gästezimmer, das eher einem Abstellraum gleicht. Als ob er je Gäste hätte. Er hat doch niemanden. Sein Blick schweift über das Wohnzimmer, aus dem er alles zerbrechliche entfernt hat. Alles so klein. Und er hat seinen gesamten Jahrgang eingeladen. Er ist gespannt, wer wirklich alles kommt. Hoffen tut er nur auf eine. Val. Sie geht ihm nicht mehr aus dem Kopf, seitdem er sie wirklich, persönlich kennt. Umso trauriger macht es ihn, dass sie ihm nicht glaubt. Als ob er sich so etwas ausdenken könnte! Er seufzt und lässt sich auf sein Sofa fallen. Wenn er sie doch bloß überzeugen könnte! Egal wie. Na gut, selbstverständlich ohne ihr Schmerzen zuzufügen. 

Er schließt die Augen. Vielleicht über diese Viola? Sie scheint zugänglicher zu sein als Valerie. Wenn er sie davon überzeugt, dass er Val liebt... Stop! Er kann doch jetzt nicht an Liebe denken, immerhin kennt er sie kaum! Doch er wurde schließlich so erzogen. Schon in seiner frühsten Kindheit wurden ihm Fotos von Val gezeigt, ihm wurde deutlich gemacht, dass seine Loyalität ausschließlich ihr gelten darf. Nur ihr, ihr allein, seiner Prinzessin, Tochter von König Akyol. 
König Akyol war vor seinem plötzlichen Tod ein stattlicher Mann gewesen, der immer für sein Volk da gewesen war, jedem seiner Untertanen hatte er geholfen, egal bei welchem Problem. Anders als der Mann, der seine Vertretung übernommen hatte. Diese Person hörte eigentlich niemandem zu und hatte die gesamte Politik des Sternes geändert. Zum Glück wird er nur regieren bis Val bereit ist, ihren Platz auf dem Thron einzunehmen.

Er zuckt zusammen, als es auf einmal klingelt. Ein Blick auf die Uhr reißt ihn aus seiner Starre. Es ist halb zehn am Abend! Die Party hatte er für neun Uhr angesetzt. Kein Wunder, dass jetzt schon die ersten kommen. 
Schnell geht er zur Tür und öffnet sie. Sofort strömen Massen von Jugendlichen ins Haus. Doch das Gesicht, dass er sehen will, ist nicht dabei. Lediglich Viola entdeckt er in der Menge. Er hatte fälschlicherweise gehofft, dass sie mit Val kam und für kurze Zeit vergessen, dass sie sich in der Öffentlichkeit nicht zu ihrer Freundschaft bekennen. 
Die Zeiger rücken weiter und weiter. Er redet mit viele Leuten, aber er kann sich nicht konzentrieren. Immer wieder schaut er zur Tür. Es geht auf Mitternacht zu, als er die Hoffnung beinahe aufgibt. Doch just in diesem Moment geht die Tür auf und eine atemberaubende junge Frau lässt ihren wachen Blick über die Menge schweifen.

8.

Valerie 

Ich sehe mich um. So viele Menschen, so viele Leute, die ich zwar vom Sehen kenne, mit denen ich aber nichts zu tun habe. Sie gehören alle eher zu den beliebteren Schülern. Außenseiter wie mich entdecke ich nicht. Aber ich sehe auch viele Personen, die ich nicht kenne. Das soll immer so bei Partys sein, hab ich gehört. Jemand sagt jemandem Bescheid, der dann auch ein paar Leute mitbringt und so weiter. 
Mittendrin steht Ted, der mich mit offenem Mund anstarrt. Kein Wunder, Vi hat sich richtig Mühe gegeben. Ich trage eine enganliegende schwarze Jeans, kombiniert mich einem weißen Top, das fließend an meinem Körper herunterfällt. Meine leicht gewellten Haare umrahmen mein Gesicht, das so geschminkt ist, dass man es nicht sieht. Meine Mutter hat ihr dabei geholfen. Die zwei haben sich so gut verstanden, dass ich zeitweise dachte, dass meine Mum lieber Viola als Tochter hätte. Sie haben sich über neue Kosmetikprodukte unterhalten, über neue Shampoo-Marken, Dinge, mit denen ich mich nicht auskenne. Aber nachdem Vi gegangen ist, um sich selbst fertig zu machen, kam Mama zu mir, hat mich fest ihn ihren Arm genommen und mir gesagt, wie sehr sie mich liebt. Später kam auch mein Papa dazu und wir hatten über ganz viele Themen geredet. Wir vergaßen die Zeit vollkommen und so war es kurz vor Mitternacht, als mir einfiel, dass die Party schon im Gange war. 
Ich werfe Ted ein Lächeln zu, stürze mich dann in die Menge und beginne ein Gespräch mit einem Mädchen. 

Dieses besteht eigentlich eher daraus, dass sie redet und ich so tue, als ob ich zuhöre. Der Bass der Musik bringt mich durcheinander, ich mag nicht, wie es sich anfühlt. Doch als sich plötzlich der Gesichtsausdruck ändert – ihr Lächeln wird breiter, ihre Augen beginnen zu leuchten – horche ich auf. 
„Den Gastgeber vernasche ich heute Nacht noch.“ 
Dabei sieht sie über meine linke Schulter. Sie ist mir mit einem Schlag viel unsympathischer. Ich drehe mich in die Richtung, in die sie schaut und sehe Ted, wie er sich durch die Menge schiebt, bis er bei uns ankommt. Er lächelt mich an, hat nur Augen für mich und nicht für dieses Mädchen, das ihm schmachtende Blicke zuwirft.
 „Schön, dass du da bist!“, ruft er gegen die Musik an. „Komm, wir tanzen!“ 
Er packt mich am Arm und zieht mich in die Ecke, in der eine teuer aussehende Musikanlage steht. Schnell drückt er ein paar Lieder weiter, bis ein ziemlich langsamer Song kommt, den ich irgendwoher kenne, aber im Moment nicht zuordnen kann. 

Dann nimmt er meine Hand, legt sie an seine Brust und seine Hände legt er um meine Hüfte. Mit einem Ruck zieht er mich enger an sich. Ich schaue in sein Gesicht. Seine Augen leuchten, ein Lächeln liegt auf seinen Lippen. Langsam beginnen wir uns im Rhythmus der Musik zu wiegen, uns im Kreis zu drehen. Dieses Lied hat keinen Bass, stattdessen spüre ich seinen Herzschlag unter meiner Hand. Es schlägt schnell und unregelmäßig. Ich lege noch meine zweite Hand auf seine Brust, meinen Kopf findet seinen Platz zwischen ihnen. Ted brummt zufrieden, als er dies wahrnimmt, als er fühlt, wie mein Körper sich enger an seinen schmiegt. 
All meine Gefühle gegenüber ihm, meine Ängste, Zweifel, die Sorge, er könne mich verletzen, verschmelzen zu einem anderen: Purem Glück. 

Seine Hände gleiten meinen Rücken hinauf, hinterlassen eine brennende Spur. Sie finden für einen Augenblick den Weg in meine Haare, doch wandern dann wieder nach unten und kommen auf meinem Hintern zur Ruhe. Er zieht mein Becken enger an seines. Ein leises Keuchen entweicht mir, ich möchte nichts mehr spüren, nur ihn. Ich bin sicher, dass es ihm genauso geht. 
Ich schiele nach oben zu seinem Gesicht. Mir ist vorher nie aufgefallen, wie groß er wirklich ist. Mindestens zwei Köpfe größer als ich. Und er hat Muskeln... 

Er legt sein Kinn auf meinen Kopf, ich spüre, wie sich seine Bartstoppeln in meinen Haaren verfangen. Es fühlt sich gut an, richtig. Nein, nicht richtig, perfekt. Es fühlt sich perfekt an. So, als würden wir zusammengehören. Ich fühle mich so wohl in seinen Armen, es fühlt sich besser an, als ich es je erwartet hätte. Ich kann nicht klar denken. 
Der Tanz dauert nicht lang genug, viel zu plötzlich ändert sich der Song in einen schnelleren. 
Verwirrt schaue ich ihn an, auch er sieht aus, als wäre nicht froh darüber. Ich starre ihn an und erst in diesem Moment sickert in mein Bewusstsein, was eben passiert ist. 
Ich vertraue ihm nicht! 
Er wird mir wehtun! 
Doch weshalb schlägt mein Herz so schnell, wenn ich an ihn denke? Warum zittere ich? Und warum, verdammt noch mal, will ich, dass er mich nie wieder loslässt, obwohl ich Berührungen nicht ausstehen kann? 

Ich habe das Gefühl, dass jetzt alles wie in Zeitlupe abläuft. 

Langsam hebt er seine Hand und legt sie an meine Wange, wartet meine Reaktion ab, ich schließe die Augen, öffne meinen Mund leicht. Und, als hätte ich es geahnt, finden seine Lippen im nächsten Moment meine. 

Sie sind weich und sanft. Unsere Münder passen perfekt aufeinander. Er erhöht den Druck etwas, ganz vorsichtig, als könnte ich ihn jeden Moment von mir stoßen. Aber das will ich nicht, ich will mehr, viel mehr. Vorsichtig stößt er mit seiner Zunge vor. Mit entweicht ein seltsamer Ton, als er meine damit berührt, ich presse mich fester an ihn und vergrabe meine Hände in seinen Haaren, will seinen Mund so fest wie möglich auf meinem haben. Unsere Zungen tanzen umeinander, spielen Spielchen. Er schmeckt ein wenig nach Schokolade, gemischt mit einem winzigem Hauch Minze, aber nicht nach Alkohol, wie ich es erwartet habe. Nein, er schmeckt gut und er küsst wundervoll. Ich bin froh, dass ich meinen ersten Kuss mit ihm habe und nicht mit einem Kerl, der es nicht kann. 
Ted löst sich zärtlich von mir und streicht mir mit dem Handrücken über die Wange. 
„Das wollte ich schon die ganze Zeit“, flüstert er. 
Ich, die immer noch keinen klaren Gedanken fassen kann, nicke benommen und klammere mich an seinen Hals. Er lacht leise und drückt mich fest an sich. 
„Bin ich froh, dass es dir auch gefallen hat.“ 
Seine Hand spielt mit seinen Haaren und in meinem Hirn herrscht noch immer ein furchtbares Chaos, sodass ich ihm nicht antworten kann. So viele Dinge die ich sagen will, so viele Eindrücke und vor allem so viele Fragen schwirren durch meinen Kopf. 

Ich glaube, ich bin verliebt. 

Ich will mehr Küsse. 

Mehr als Küsse. 

Er soll mich nicht mehr loslassen. 

Aber warum will ich all das? 

Wieso habe ich diesen Tanz und den Kuss so sehr genossen? 

Weshalb tut er das? 

Was sind seine wahren Absichten? 

Und wer hat recht – er oder meine Eltern? 

Die Zeit vergeht wie im Flug. Es kommt mir vor, als wären erst wenige Sekunden nach unserem Kuss vergangen, als es draußen dämmert. Die Gäste von Ted verschwinden nach und nach, allein oder zusammen. Am Ende bin nur ich noch da, noch immer klammere ich an seinem Hals. Meine Arme wollen sich nicht von ihm lösen, meine Körper will sich nicht von ihm entfernen. Die ganzen Fragen, Gedanken gehen mir immer wieder, wie in einer Endlosschleife, durch den Kopf, aber ich will nicht darüber nachdenken. Alles was ich will ist bei Ted zu sein. 

Er hat mich durch die ganze Party mit sich geschleppt. Seine Hand fuhr ununterbrochen über meinen Rücken, als könne er es nicht fassen, mich wirklich in seinen Armen zu halten. Egal, mit wem er sich unterhielt, seine Arme hielten mich immer eng umschlungen. 
Jetzt schaut er mich amüsiert an. 
„Willst du mich immer noch nicht loslassen?“ 
Mein Körper reagiert automatisch und bringt meinen Kopf dazu, sich heftig zu schütteln. Er grinst, hebt mich hoch und trägt mich in die obere Etage. Dort setzt er mich für einen Moment ab, während er einen Schlüssel aus seiner Hosentasche zieht. 
„Ich hab abgeschlossen, weil ich nicht wollte, dass sich ein betrunkenes Pärchen auf meinem Bett wälzt.“ 
Er schaut mich ernst an. 
„Ich kann dich auch nach Hause bringen.“ 
Ich schüttele erneut den Kopf, halte mich an ihm fest. Ted schaut mich noch einen Moment an, als würde er darauf warten, dass ich meine Meinung noch ändere. 

Aber das kann ich nicht. Ich will bei ihm sein, ich will ihm nah sein. 

Warum auch immer so plötzlich. 

Nachdem er sich sicher ist, dass ich nicht widerspreche, hebt er mich erneut hoch und trägt mich in das Schlafzimmer. Ich schaue mich um. Es ist nicht sonderlich groß, nur ungefähr ein Achtel meines Zimmers. Den Großteil des Raumes füllt ein Bett aus, in einer anderen Ecke steht ein kleiner Schrank und gegenüber ein Schreibtisch. Damit sind die Kapazitäten schon optimal genutzt. 
Er legt mich auf das große Bett und löst meine Hände aus seinem Nacken. Dann setzt er sich neben mich und zieht mir die Schuhe aus. 
„Du siehst so gut aus, heute Abend. Was nicht heißen soll, dass du sonst nicht gut aussiehst, ich hab dir ja schon mal gesagt, wie heiß ich dich finde, aber... du leuchtest heute so.“ 
Er lächelt mich an und entledigt sich auch seiner Schuhe, bevor er sich neben mich legt. 

Ich kann nicht anders, meine Hände machen sich selbstständig, gleiten unter sein T-Shirt, ertasten seinen Waschbrettbauch, die muskulöse Brust. Ted grinst. 
„Val, was hast du genommen? Sei ehrlich.“
„Nichts“, flüstere ich, erstaunt, dass ich ein Wort über die Lippen bekomme. 
Er runzelt die Stirn. 
„Was ist los mit dir? Wieso willst du mich plötzliche berühren, warum darf ich dich auf einmal anfassen?“ 
„Ich weiß es nicht“, antworte ich und ziehe sein Oberteil hoch, damit ich nicht nur fühlen, sondern auch sehen kann. 
Er leistet meiner unausgesprochenen Aufforderung Folge und zieht es komplett aus. Ich lächle und lasse meine Hände über seinen Oberkörper gleiten. 
„Du weißt es nicht?“, fragt er, während er mir über den Bauch streicht. „Aber dieser Sinneswandel muss doch einen Grund haben.“ 
Ich halte inne, zucke innerlich zusammen und nehme die Hände weg. 
„Du willst mich nicht.“ 
Meine Stimme klingt schmerzerfüllt, traurig. Erschrocken zieht er mich in seine Arme. 
„Doch! Val! Natürlich will ich dich!“ 
Seine Hände fangen an meinen Körper zu ertasten und er flüstert heiser: 
„Und wie ich dich will, Valerie.“ 

Ich nicke, wische mir die Tränen an seiner nackten Brust ab und hauche einen Kuss drauf. Er grinst, legt mich auf den Rücken, beugt sich über mich und senkt seine Lippen auf meine, um mir einen langen Kuss zu geben. Ich erwidere diesen stürmisch und öffne seine Hose. Er lacht leise, küsst mich weiter, meine Lippen, mein Gesicht, meinen Hals. Nebenbei zieht er mich aus, bis ich nur noch in Unterwäsche vor ihm liege. 

Mein Körper drängt sich erregt an ihn, will mehr, will mehr spüren. Er hört auf mich zu küssen, schaut meinen Körper an, streicht mir über die Brüste. Lässt die Hände über den Bauch gleiten. Über mein Höschen, was mir einen verzückten Ton entlockt. Ein Glucksen seinerseits, dann seine Hände, die meinen BH öffnen. 

Ich erlebe alles wie in einem Rausch, mein Gehirn wabert, meine Hände machen sich selbstständig, reißen ihm die Unterwäsche vom Körper. Dann erkunden sie seinen Intimbereich, entlocken ihm Töne. Alles passiert automatisch, auch, dass der letzte Fetzen Stoff von meinem Körper verschwindet. Seine Berührungen sind unglaublich, seine Finger schnell und kundig. Er findet schnell heraus, was mir gefällt, bearbeitet meine Klitoris, bis auch mir Töne entweichen, für die ich mich normalerweise schämen würde. 

Aber ich schäme mich nicht, ich fühle mich wohl, ich habe kein Problem damit, mich Ted vollkommen hinzugeben, weil ich weiß, dass er mich liebt. Keine Ahnung woher, aber ich weiß es in diesem Moment einfach. 

Es tut nicht weh, als er in mich eindringt, so wie es immer überall erzählt wird. Nein, es ist schön, es gefällt mir. Ich umschlinge mit meinen Beinen seine Hüfte, will ihn tiefer in mir spüren, komplett in mir aufnehmen. Er schaut mir in die Augen, während er sich bewegt, lächelt. Ich möchte so viel Hautkontakt wie möglich, ziehe ihn enger an mich, genieße seine Bewegungen, seine Berührungen, seinen Atem auf meiner Haut. Küsse alles, was ich erreichen kann. 

Es ist so unglaublich gut. 

Noch besser als seine Küsse. 

Er soll nie wieder aufhören.

9.

X

Er sitzt in einem großen, fensterlosen Raum. Seine Hände liegen ruhig auf dem runden Tisch, an dem außer ihm noch sechs andere Männer sitzen.
„Warum vertrauen die Mädchen den jungen Kerlen nicht?“, fragt er mit seiner ruhigen, vertrauenerweckenden Stimme.
„Weiß nicht. Vielleicht weil Welt gefährlich? Frauen immer werden gewarnt vor fremden Männern“, antwortet der Asiate aus der Runde.
Der dunkelhäutige Mann nickt zustimmen. Ein Europäer, ein Mann mir Schnauzer und Armani-Anzug, schlägt mit der Faust auf den Tisch.
„Oder sie wissen was!“ Auf der anderen Seite von dem Tisch schüttelt ein braungebrannter, mit Narben übersäter Mann den Kopf.
„Nein“, sagt er mit breitem australischem Akzent. „Die Jungs wissen doch auch nichts.“
Der erste Mann seufzt, steht auf und läuft im Raum auf und ab.
„Wir brauchen sie alle schnell bei uns. Und dann...“
Er grinst fies und setzt sich wieder.

Valerie

Ich wache auf. Bin noch so müde. Möchte weiter schlafen. Brummend drehe ich mich um – und erstarre. Ich spüre jemanden neben mir.
Meine Hand bewegt sich tastend vorwärts und stößt nach kurzer Zeit auf Haut.
Nackte Haut.
Ich quietsche, weiche zurück und falle dabei vom Bett. Nebenbei bemerke ich, dass ich auch nackt bin.
Oh Gott! Was ist passiert!
Ich sehe meine Kleidung im Zimmer verteilt liegen. Schnell springe ich auf, suche sie zusammen, ziehe mich hastig an.
„Val!“, tönt es plötzlich vom Bett her. „Komm wieder zu mir.“
Ted. Ich knurre. Was zur Hölle ist gestern passiert! Ich erinnere mich nicht mehr!

Ich bin wütend. Oh ja, das bin ich.

„Du ARSCH!“, schreie ich und packe den nächstbesten Gegenstand, um ihn auf diesen Idioten zu werfen. „Was hast du GETAN!“
„Val?“
Er setzt sich auf, schaut mich verwirrt an.
„Du... du wolltest das doch.“
„Nein! Doch nicht mit DIR!“
„Val, du hingst die ganze Party auf mir!“
„Nein! Nein!“
Ich merke, dass die Tränen, die sich in meinen Augen gesammelt hatte, über meine Wangen rinnen.
„Ich hasse dich!“
Ted zuckt zurück, schaut mich traurig an.
„Es tut mir leid.“
„Du hast es mir geraubt! Ich wollte mich für jemanden aufheben, den ich liebe! Liebe!“, schluchze ich.
„Val! Bitte wein nicht!“
Er springt auf, geht zu mir, breitet die Arme aus. Er möchte mich trösten, aber ich will nicht.

Außerdem ist er immer noch nackt!

Doch als ich ihn so sehe, erinnere mich. Die Erinnerungen überrollen mich wie ein Felsbrocken. Ich wollte es. Oh, und wie ich es wollte. Er hat keine Schuld. Ich bin ein Flittchen! Ein notgeiles Flittchen! Ich starre ihn noch einen Moment an, drehe mich dann um und verlasse das Haus so schnell, wie ich nur kann.

Ted

Unruhig schaut er ihr nach. Die Nacht war so schön gewesen, er hatte es so genossen bei ihr zu sein, in ihr zu sein. Er war so sicher gewesen, dass sie ihn wollte, so sehr, wie er sie wollte. Aber anscheinend war das nicht der Fall gewesen.
Grummelnd zieht er sich an. Ein Blick auf die Uhr sagt ihm, dass es schon wieder Abend ist, er und Val haben den ganzen Tag geschlafen. Er geht runter, sieht das Chaos, das die Party hinterlassen hat und stöhnt. Auf Saubermachen hat er sowas von gar keine Lust. Mit beiden Armen schiebt er das Sofa frei und lässt sich dann darauf fallen.
Er muss sich bei ihr entschuldigen.
Er muss ihr sagen, dass es ihm leid tut.
Aber sie wird ihm so schnell nicht verzeihen, wie er sie kennt. Er lässt seinen Kopf nach hinten auf die Sofalehne fallen. Er hätte doch merken müssen, dass sie neben sich stand. Dass irgendwas mit ihr vorging, was sie veränderte. Doch seine animalischen Triebe waren stärker als seine Aufmerksamkeit.
Dummer Fortpflanzungstrieb. Jetzt hat er es sich versaut. Als ob sie jemals nochmal mit ihm redet. Am besten fliegt er nach Hause. Gibt auf.

Valerie 

Piper lacht laut und schlägt Ted auf den Arm.
„Schatz!“
Ich drehe mich weg, es tut weh, sie zusammen zu sehen. Schnell verlasse ich die Mensa wieder.

Die letzten drei Monate waren grauenhaft gewesen. Erst kam Ted für einen Monat nicht in die Schule. Ich wollte mit ihm reden, mich dafür entschuldigen, dass ich ihn so angeschrieen hatte, obwohl ich ja selbst an dem, was passiert war, Schuld hatte. Doch er hatte nicht geöffnet und das vier Wochen lang nicht. Jeden Tag war ich zu seinem Haus gegangen, hatte Sturm geklingelt, an die Tür gehämmert. Keine Reaktion. Ich war wütend. Er kann doch nicht behaupten, dass er mein Mentor ist, mir meine Unschuld rauben und dann verschwinden!

Meine Visionen wurden schlimmer. Ich hatte täglich mindestens zwei. Ich ging kaum noch aus dem Haus, nur zur Schule. Dort hatte ich Kristina am Hals, die ständig der Meinung war, ich brauchte Aufmunterung, denn sie dachte, wie auch die gesamte restliche Schule, dass Ted und ich zusammen gewesen waren und er mich verlassen hatte.

Dann tauchte er wieder auf. Drei Tage später sah ich das erste Mal, wie er Piper küsste. Es tat so weh. Es tut immer noch weh. Jedes Mal wieder. Ich weiß nicht warum, ich bin doch nicht verliebt oder so! Aber irgendwie dachte ich, dass es etwas besonderes zwischen uns ist... wobei ich froh sein sollte, dass ich ihn los bin. Sonst würde ich jetzt vermutlich in der Gefangenschaft seltsamer Männer sein.

Ich vermiss ihn. In den paar Tagen hatte ich mich so an ihn gewöhnt. Er war ständig präsent gewesen. Und ich hatte gehofft, dass es wahr ist. Also, dass ich von dem Stern komme. Einfach, weil ich dann wüsste, was los ist.

Und ich fühle mich so benutzt. Einmal Sex, das war es? Kurz mal einen schnellen Fick, mehr nicht? Ob er das mit allen so macht? Mit allen unscheinbaren seltsamen Mädchen? Auch die Mittwoche mit Viola fanden nicht mehr statt. Sie konnte sich mein ewiges Rumgeheule nicht mehr anhören. Kristina wendete sich von mir ab. Ich wollte nur noch unsichtbar sein. Und irgendwann hab ich es geschafft. Ich bin jetzt unsichtbar. Niemand redet mit mir, niemand schaut mich an. Die Lehrer nehmen mich nicht mehr im Unterricht dran und wenn ich eine Vision kriege, beachtet das keiner. Ich bin jetzt wieder viel öfter in der Bibliothek. Höre Musik oder lese.

Und da gehe ich jetzt auch hin. Ich lasse mich auf meinen Lieblingssessel sinken, suche auf meinem Ipod ein aggressives Rocklied. Drehe voll auf. Lasse mich nach hinten sinken. Die Tränen laufen. Wie jeden Tag. Mrs. Chapman hat es aufgegeben, mir zu sagen, dass ich die Musik leiser machen soll. Es ist eh selten jemand hier. Sie lässt mich einfach in Ruhe. Wobei sie wirklich die einzige in der Schule ist, die noch mit mir spricht. Aber ich möchte ja eh nicht reden.

Ich lasse meine Gedanken schweifen, doch immer wieder landen sie bei ihm. Ted. Gezwungenerweise aber auch bei Piper. Ich sehe Bilder, wie sie sich küssen, sich ausziehen, weitergehen... In meiner Brust verkrampft sich etwas, ich habe das Gefühl, dass ich keine Luft mehr bekomme. Ich beuge mich vorne über, höre mich durch die Kopfhörer schluchzen. Warum tut es so weh von ihm getrennt zu sein? Ich will bei ihm sein, von ihm im Arm gehalten werden. Ich brauche seine Nähe. Wie immer, wenn ich in diesem Zustand bin, überrollt mich die Vision einfach.

Sie liegt auf einem Liegestuhl in der Sonne. Es ist warm, es sind bestimmt 30 Grad Celsius. Sie liest ein Buch. Doch dann fällt ein Schatten über sie. Sie schaut hoch und blinzelt. „Was...“ Er lacht und packt sie, zieht sie mit sich in den Wald. Ich schüttele den Kopf, renne ihnen nach. Was macht er? Ich sehe sein Gesicht schon wieder nicht. Ich sehe auch nicht, was er mit ihr macht, höre sie nur schreien und schreien. Will es nicht hören. Halte mir die Ohren zu. Wieso müssen ihr so schreckliche Dinge passieren? Ich öffne den Mund und beginne auch zu schreien.

„Val! Val! Hey, es ist alles gut!“
Zwei starke Arme, die mich festhalten, hin und her wiegen. Seine Stimme, die wieder und wieder flüstert, dass alles gut ist. Meine Nase, an seine Brust gedrückt, mein Schrei, der langsam verstummt.
Ted.
Er ist bei mir.
Ich schlinge meine Arme um seine Brust, presse meinen Körper an ihn.
„Ted... Ted...“
„Psst... beruhige dich... du zitterst... bitte...“
Ich nicke, genieße seine Nähe, atme seinen Duft ein. Er seufzt, wartet, bis ich wieder ruhig bin und lässt mich dann los.
„Vielleicht solltest du nach Hause gehen.“
Er reicht mir meinen Ipod, der mir heruntergefallen ist, erhebt sich und klopft sich die Hose ab.
„Ich sag deinem Lehrer Bescheid.“
Ohne mich noch einmal anzuschauen verlässt er die Bibliothek wieder, ein Buch in seiner Hand. Und ich breche erneut in Tränen aus.

10.

Zwei Stunden später sitze ich in meinem Zimmer und starre aus dem Fenster. Ironischerweise kann ich, was mir erst vor ein paar Tagen aufgefallen ist, direkt Teds Haus angucken. Wenn ich das vorher gewusst hätte, bevor er wieder in der Schule aufgetaucht ist, hätte ich es solange beobachtet, bis ich ihn mal erwischt hätte. Aber jetzt will ich nicht mehr hinschauen, weil ich nicht sehen will, wenn er mit Piper hineingeht. Ob sie miteinander schlafen? Ich kneife die Augen zusammen. Nein, nicht daran denken. Es mir nicht vorstellen. Doch auch wenn ich es nicht will, ich kann nichts dagegen tun, die Bilder tauchen von ganz allein vor meinem inneren Auge auf. Piper und Ted, wie sie sich auf seinem Bett wälzen, nackt, wie er ihr sagt, dass sie so viel schöner sei als ich.

Mit einem Aufschrei werfe ich ein Kissen gegen das Fenster und  mich dann auf mein Bett. Zwei Sekunden später klingelt es an der Tür. Mürrisch stehe ich auf und gehe runter, öffne sie.
„Val“, höre ich seine Stimme.
Ted. So fest ich kann knalle ich die Tür wieder zu, aber er ist schneller und schiebt seinen Fuß zwischen Tür und Rahmen, sodass sie wieder abprallt.
„Val, bitte!“, ruft er.
Ich schüttele den Kopf, mache weiter und weiter, es muss schmerzhaft sein, aber er nimmt den Fuß nicht weg.
„Bitte!“, wiederholt er.
Irgendwann gebe ich auf, lasse von der Tür ab und gehe schnellen Schrittes ins Wohnzimmer. Ich spüre, dass er mir folgt, ignoriere es aber und setze mich auf den Sessel. Er nimmt ohne Aufforderung auf dem Sofa Platz und schaut mich an.

„Valerie.“
Ich hebe den Blick, schaue ihn an und bemerke, dass er zurück zuckt.
„Val...“, flüstert er, der Schmerz in seiner Stimme irritiert mich.
Er rutscht vom Sofa, geht zu mir und kniet sich vor mich.
„Du siehst grauenhaft aus. Ich hab dich in der Bibliothek gar nicht richtig angeschaut. Wie viele von diesen Visionen hast du in letzter Zeit? Ganz viele, oder? Scheiße...“
Er nimmt meine Hände und legt seine Stirn auf meine Knie.
„Val, ich möchte erklären.“
„Nein.“
Ich stehe auf, stoße ihn somit von mir, und gehe in die andere Ecke des Raumes. Eine Weile herrscht Schweigen, aber dann unterbricht er es.
„Ich bin dein Mentor. Wir hätten nie, nie!“
Ich drehe mich wieder zu ihm um.
„Du gibst also mir die Schuld, an dem, was passiert ist?“
„Du hast schließlich angefangen!“
„Ich? Du hast mich zum Tanzen aufgefordert, du hast mich geküsst! Verdammt noch mal! Los, sag, was hast du mir untergejubelt, damit ich so scharf auf dich werde?“
„Ich hab dir nichts gegeben, Val, das würde ich nie tun.“
Ich wende mich ab, umklammere mich selbst.
„Und wieso bist du hergekommen, wenn du mir doch nur weh tust.“
„Val.“

Ich bemerke, dass er wieder näher kommt, bleibe aber stehen. Er legt seine Arme um mich, sein Kinn auf meinen Kopf.
„Ich bin hier, weil ich dich beschützen möchte. Und das geht nicht, wenn ich Gefühle für dich habe. Ich liebe dich auf eine andere Weise, als ich sollte. Du solltest für mich nicht mehr sein als meine Prinzessin, mein Schützling. Solange ich mehr für dich empfinde, sehe ich nicht mehr die richtigen Gefahren, ich sehe nur diese ganzen Kerle, die dich anstarren, als wärst du ein Stück Fleisch in der Auslage des Metzgers.“
Ich lache sarkastisch.
„Klar, alle starren mich an.“
Doch dann wird mir der Kern seiner Aussage bewusst. Er liebt mich. Mich, Valerie und nicht...
„Was ist mit Piper?“
„Die. Sie war halt da. Ich wollte dich eifersüchtig machen, glaube ich. Oder auch nicht, keine Ahnung. Aber mehr als ein paar Küsse lief nicht, ehrlich.“
Ich nicke, akzeptiere seine Aussage. Dann lehne ich mich an ihn und schließe meine Augen. Seine Nähe löst wieder ein unglaubliches Wohlbefinden in mir aus. Als ob ich diese Nähe brauche, damit sowohl mein Körper als auch mein Geist Ruhe findet.

Wieder schweigen wir eine Weile, doch dann stelle ich die Frage, die mir schon seit drei Monaten auf der Zunge brennt.
„Wieso war ich so komisch drauf an dem Abend?“
Er lässt sich Zeit mit der Antwort, scheint einen Augenblick zu überlegen, was er mir antwortet, bevor er was sagt.
„Ich glaube, das lag an der Sternkonstellation. Die war ziemlich seltsam... vielleicht stand dein Stern ja irgendwie so, dass er eine Anziehungskraft auf dich ausgeübt hat?“
Ich zucke mit den Schultern und gebe mich mit der Erklärung zufrieden – vorerst.

Meine Kopfschmerzen verschwinden langsam. Anscheinend ist Ted ein richtiges Wundermittel für mich. Alle Schmerzen lassen nach, ich fühl mich einfach gut.
„Val?“, fragt Ted leise. „Erzählst du mir von deinen Visionen? Ich möchte dir helfen.“
Ich denke kurz nach. Ich weiß noch immer nicht, ob ich ihm ganz und gar vertrauen kann. Aber was, wenn er mir wirklich helfen kann? Das wäre ja schon toll. Ich drehe meinen Kopf, schaue ihm in die Augen. Was ich sehe ist ein absolut ehrlicher, ernster Blick. Nach einem Moment des Zögerns entschließe ich, ihm grob zu erzählen was los ist. Dass ich in die Zukunft schauen kann, aber nicht, was genau ich sehe und vor allem nicht, wer in den letzten Visionen die Hauptrolle spielte. Gemeinsam mit ihm setze ich mich auf das Sofa und beginne zu reden.

Als ich ende schaut er mich nachdenklich an, doch nickt dann.
„Ich hab mir schon was in diese Richtung gedacht.“
Seine Augen bleiben an meinen hängen und er schlingt schnell fest seine Arme um mich.
„Jetzt kann ich viel besser für dich da sein. Ich werde jetzt besser für dich da sein. Das verspreche ich dir.“

11.

Vier Tage später stehe ich mit gepacktem Koffer vor der Haustür und warte nervös auf Ted. Drei verschiedene Sportkurse fahren auf eine Segeltour nach Maine. An mir ist das irgendwie vorbeigegangen, aber seltsamerweise habe ich eine Anmeldung abgegeben und es ist auch alles bezahlt. Als ich meine Eltern darüber ausgefragt habe, haben sie nur gemurmelt, dass ich mal ein wenig Abwechslung brauche.
Ted gehört auch zu einem der Kurse und fährt mit uns, da er sein Auto keine Woche an der Schule stehen lassen möchte, was ich absolut verstehe, bei der Karre. Meine Mutter fährt aus der Garage und lädt meinen Koffer ein, als Ted dann auch aus der Haustür kommt und mit einem breiten Grinsen zu uns kommt.

„Und Val? Bereit?“
Ich brumme und lasse mich auf den Beifahrersitz fallen. Ted lädt seine Tasche ein, die wesentlich kleiner ist als meine, und setzt sich hinter mich.
„Komm schon, Val. Stell dir das mal vor, wir beide auf einem Schiff, dem Sonnenuntergang entgegen segelnd... wie romantisch das wird!“
Ich drehe mich um und werfe ihm einen wütenden Blick zu.
„Erstens sind wir auf verschieden Schiffen. Und zweitens gibt’s zwischen uns keine Romantik!“
Er lacht und lässt sich in den Sitz zurück sinken. Ich lege meinen Kopf an die Fensterscheibe und schließe die Augen. Dass Ted immer solche Sachen sagen muss.
Nicht, dass ich nicht gerne mit ihm auf einem Schiff wäre – auch wenn ich im weiterhin die Sache mit dem Sternenmädchen nicht glaube, vertraue ich dennoch darauf, dass er mich vor allem beschützen wird. Dass er bei mir sein wird, wenn mich wieder eine solche Vision überrollt. Ich weiß es einfach, ich spüre es. Denn wir haben eine Verbindung, auch wenn ich sie nicht zuordnen kann. Liebe ist es nicht, aber es herrscht eine unglaubliche Anziehung zwischen uns und diese möchte ich nicht mehr missen. Nur deshalb habe ich mich mit ihm vertragen, obwohl ich immer noch verletzt, sauer bin, dass er mich drei Monate vollkommen ignoriert hat.

Wir kommen an der Schule an und steigen aus. Ich verabschiede mich mit einer langen Umarmung von meiner Mutter und lasse Ted meinen Koffer zum Bus tragen. Dann trotte ich ihm hinterher und schaue mich um.
Viele Mädchen tuscheln, Piper wirft mir tödliche Blicke zu. Viola sitzt blass in einer Ecke und Kristina redet mit einer neuen Mitschülerin. Ted sieht, dass ich mich unwohl fühle, vielleicht spürt er es auch. Schnell bringt er die Koffer weg, kommt dann zu mir und nimmt mich in den Arm.
„Sitzen wir im Bus nebeneinander?“
Abwesend nicke ich. Violas Aussehen macht mir Sorgen. Sie hat dicke Augenringe, blaue Flecken an den Armen. Langsam mache ich mich wieder von Ted los und gehe zu ihr.
„Vi?“
Sie dreht sich weg und flüstert:
„Lass mich zufrieden, Val. Ich dachte, wir sind Freunde.“
Mir steigen Tränen in die Augen.
„Es tut mir so leid.“
„Dafür ist es jetzt auch zu spät.“
Sie dreht sich wieder zu mir und ich sehe, dass sie noch viel schlimmere Verletzungen hat, als ich geahnt habe. Ich lasse mich auf die Knie fallen, ziehe sie in meine Arme und fange an zu weinen.
„Ich habe so gehofft, dass es nicht passiert, wirklich, ich hatte so Angst, so Angst, die ganze Zeit, ich...“
Auch sie fängt an zu weinen und klammert sich fest an mich. So bleiben wir eine Weile sitzen, bis ich eine sanfte Hand auf meinen Haaren spüre.
„Kommt, wir müssen in den Bus“, flüstert Teds sanfte Stimme.
Viola lässt mich schlagartig los, springt auf und geht schnell weg. Ich schaue zu Ted hoch. Dieser sieht mich besorgt an und hilft mir dann auf.
„Habt ihr euch wieder vertragen?“
Traurig schüttle ich den Kopf und legt ihn dann an seine Brust.
„Ich habe... Visionen. Von ihr. Seit ich dich kenne.“
Seine Arme legen sich um meine Taille.
„Magst du mir erzählen was für welche?“
„Wir müssen in den Bus.“
„Ja... aber...“
„Wenn wir das nächste Mal allein sind, ja?“
Kaum, dass wir losfahren, schlafe ich ein. Ich habe mir mal wieder meine Kopfhörer in die Ohren gesteckt und die Musik voll aufgedreht und mich in eine gemütliche Position gebracht. Ted dient als Kissen, was er ziemlich zu genießen scheint, jedenfalls hat er ein zufriedenes Grinsen auf den Lippen.

Aber das ist auch alles, was ich von der Fahrt mitbekomme. Selbst in den Pausen schlafe ich einfach weiter. Kann mir das jemand verübeln? Ich habe schon lange nicht mehr so gut geschlafen. Und ich träume nicht.
Ausnahmsweise.
Ted weckt mich erst, als wir da sind. Verpennt schaue ich mich um, nur um mich erneut an ihn zu kuscheln.
„Will nicht aufstehen.“
Er lacht.
„Musst du aber, du Langschläferin.“
„Nein. Trag mich.“
Ich schlinge meine Arme um seinen Hals und schließe wieder die Augen. Natürlich hört er auf mich und hebt mich hoch. Zuerst trägt er mich raus und setzt mich auf eine Bank, dann geht er erneut in den Bus, holt unsere Taschen und anschließend auch noch unsere Koffer.
„Hey, soll ich dir was erzählen?“, fragt er, während er sich neben mich setzt und mich schief angrinst. „Auf dem Schiff von meiner Klasse gibt es einen Kerl zuviel. Jemand musste sich freiwillig melden um auf einem anderen zu schlafen, damit es mit den Zimmern hinkommt. Und wie es der Zufall will war bloß bei euch noch ein Platz frei.“
Ich lege meinen Kopf mal wieder an seine Schulter und gähne laut.
„Natürlich hast du dich gemeldet. Und es war nur Zufall.“
„Es war wirklich Zufall. Sie haben sich da total verplant.“
Ich öffne die Augen und schiele zu ihm hoch.
„Das gefällt dir, oder?“
Er nickt grinsend und drückt mich an sich.
„Ich kann mit meiner Prinzessin zusammen sein, was will ich mehr?“
„Dich in ein Mädchen aus deinem Kurs verlieben.“ Ich stehe auf und nehme meinen Koffer in die Hand. „Deine Gefühle für mich verlieren. Du musst nicht mit auf mein Schiff – du musst mir nicht nah sein. Ich weiß, dass du auch so in der Nähe bist und auf mich aufpasst.“
Langsam gehe ich zu dem Schiff, auf dem sich mein Kurs versammelt und setze mich neben die noch immer verheulte Viola. Sie rutscht sofort weg, was mir einen leichten Stich versetzt, aber ich kann dagegen ja nichts tun.
Vielleicht hätte ich ihr von meinen Visionen erzählen sollen...

Als Ted sich neben mich setzt passiert es automatisch. Mein Kopf findet wieder die Kuhle an seiner Schulter und meine Arme legen sich um seine Brust. Wir hören unserem Skipper und dem Matrose zu, wie sie erklären, was in den nächsten Tagen so passiert, und bringen danach unsere Sachen runter. Wieder oben verlassen wir den Hafen, setzen dann die Segel. Hinterher zieht Ted mich zum Klüver, einem Segel am Bug des Schiffes. Dort ist ein Netz gespannt, das über dem Wasser liegt, in welches er hereinklettert. Ich verschränke die Arme vor der Brust und schaue ihn an.
„Da soll ich rein?“
Zwischen Bug und Netz sind nämlich bestimmt dreißig Zentimeter Platz. Wenn ich da reinfalle, dann bin ich tot.
„Ich helfe dir.“
Er steckt seine Hand aus und nach einem kurzem Zögern nehme ich sie. Ich lege mich mit ihm zusammen in das Netz und schmiege mich an ihn.
„Jetzt erzähl mir von den Visionen.“
Einen Moment schaue ich ihn an, nicke dann und erzähle leise davon, was ich die letzten Monate gesehen habe.
Viola. Viola, wie sie wieder und wieder gequält wurde. Jetzt, da ich weiß, dass es wirklich geschehen ist, kann ich ihren Namen aussprechen und versuchen, sie davor zu schützen, dass auch die erste Vision in Erfüllung geht.

Ted hört mir zu und drückt mich dann fester an sich.
„Wie sieht der Mann aus?“
Ich zucke mit den Schultern.
„Ich hab sein Gesicht nie gesehen und er ist immer komplett schwarz gekleidet und hat eine Kapuze auf. Und dann ist da ja noch die Maske.“
Er beißt sich auf die Unterlippe.
„Ich werde herausfinden, wer es ist. Denn wenn er deine beste Freundin quält, kann er auch zu dir kommen.“
Ich schaue ihn an und legt meine Wange an seine.
„Ich glaube, es geht um mich. Hab ich so das Gefühl.“

Seine Umarmung wird noch fester, ich hab das Gefühl gleich erdrückt zu werden. Aber es fühlt sich auch gut an, ich würde ihm am liebsten noch näher sein.
Prompt schiebt sich unsere Liebesnacht vor mein inneres Auge und ich werde knallrot.
Auch wenn versuche diese Gedanken wegzuschieben, bringt es nicht, ich muss wieder daran denken, wie sich seine Hände auf meiner Haut angefühlt haben, seine Lippen, an seinen Körper und sofort will ich, dass wir nackt sind.
Ich presse mich an ihn, meine Lippen finden seine. Seine Überraschung spüre ich, aber dann auch, wie sein Widerstand fällt und er meinen Kuss erwidert.
Warm, liebevoll.
Ich will mehr, mehr, mehr.
Meine Hand schiebt sich unter sein T-Shirt, sie gleitet über seine Brust, ich... da werden wir unterbrochen.

„Val?“
Es ist Violas Stimme, früher voller Selbstbewusstsein, doch jetzt gebrochen und leise. Sofort löse ich mich von Ted, klettere aus dem Klüvernetz und schließe sie in meine Arme.
„Vi, bitte, bitte, verzeih mir.“
Sie schaut mich müde an und flüstert:
„Hast du meinen Tod gesehen?“
Mir steigen Tränen, langsam nicke ich.
„Tut er sehr weh?“
Ich zucke mit den Schultern, setze mich auf den Boden.
„Schon, irgendwie. Aber es gibt schlimmere Sachen.“ Ein leises Schluchzen entweicht mir. „Du darfst nicht sterben!“
Sie lässt sich neben mich fallen und fängt wieder an zu weinen.
„Meinst du, meinst du ich will das? Ich will noch so viel erleben! Ich will Carlos heiraten, Kinder mit ihm bekommen!“
Ich nehme sie in den Arm, drücke sie fest an mich. Will sie trösten, nicht nur sie, auch mich.
Ted hält sich zurück, bleibt einfach in dem Netz liegen, wartet darauf, dass Viola und ich unsere Differenzen klären.

Nach einer Weile löst sie sich von mir und flüstert:
„Er fragt immer wieder nach dir. Er will wissen, was du kannst, wieso du es kannst. Ich hab es ihm nicht erzählt. Ich wollte dich nicht verraten, du bist immerhin meine beste Freundin – auch wenn ich nicht mehr mit dir geredet hab, was einfach daran lag, dass ich eifersüchtig war. Du bist jemand Besonderes, im Gegensatz zu mir. Und als du mir erzählt hast, dass du mit Ted geschlafen hast... zu dem Zeitpunkt war ich immer noch Jungfrau. Weißt du, ich war so lange mit Carlos zusammen. Wir hatten alles so geplant... es hat nicht geklappt. Ich hatte zu schlimme Schmerzen. Ich hab erst vor zwei Tagen mit ihm... und du hast gesagt, dass alles wunderschön war, außer dass du dich erstmal nicht mehr erinnert hast. Ted ist aber auch ein Fang.“ Sie schaut mich an. „Es tut mir so leid, Val. Wirklich.“
Ich nicke.
„Ich bin doch selbst Schuld. Ich hätte nicht als rumjammern sollen. Und vor allem hätte ich dir erzählen sollen, was ich sehe.“
Ich umarme sie erneut.
„Ich hab dich so lieb, Vi.“
„Ich dich auch, Val.“ Sie drückt sich fester an mich. „Und diesmal stehen wir zu dieser Freundschaft, ja? Es ist mir jetzt egal, was Piper und so denken, wer weiß, wie lange ich noch zu leben habe.“
Sie küsst mich auf die Wange, steht dann auf und geht zurück zu den Sitzplätzen, wo der Rest des Kurses sitzt. Zwei Sekunden später hockt Ted neben mir.
„Alles wieder gut?“
„Zwischen ihr und mir? Ja.“Ich schaue ihn an. „Aber wir müssen endlich klären, was jetzt mit uns ist. Ich meine, du sagst, du darfst mich nicht lieben, aber du tust es doch offensichtlich.“
„Durchaus, ja.“
„Und ich.“ Ich schließe die Augen. „Ich will dich nicht lieben.“
Er schweigt und wartet darauf, dass ich weiter spreche.
„Aber das tue ich.“

12.

Der Hafen, in dem wir anlegen, ist klein. Viele fangen an zu meckern, weil es keine Geschäfte oder Kneipen gibt, aber mir ist das egal. Ich habe Ted, ich habe Viola. Mit ihnen sitze ich auf einer Mauer auf dem Festland und schaue der untergehenden Sonne zu, während Ted Viola über diesen Mann ausfragt. Aber sie kann ihm nicht mehr Informationen geben als ich. Also herrscht eine Weile schweigen, bevor Ted erneut die Stimme erhebt.
„Viola, man sieht ja keine Verletzungen außerhalb und so... aber du bist ständig am Weinen. Sagen deine Freunde dazu nichts? Deine Eltern?“
Sie schüttelt erst den Kopf, nickt dann aber.
„Doch. Carlos allen voran.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Soll ich sagen, dass ich von einem Unbekannten verfolgt werde, der mich über Val ausquetscht? Ich hab gesagt, dass ich wegen Pascal so fertig bin.“
Ted schaut sie verwirrt an.
„Mein Pflegepferd. Er musste eingeschläfert werden.“
„Und das kaufen sie dir ab?“
„Ja, anscheinend schon.“ Sie wischt sich müde über das Gesicht. „Aber lasst uns von was anderem reden, ja?“

Also wechseln wir das Thema, plaudern über dies und das, lassen uns von Viola die aktuellen Gerüchte erzählen, erzählen Ted von unseren Erlebnissen und das solange, bis wir wieder aufs Schiff müssen. Dort setzen wir uns in den Aufenthaltsraum, spielen Karten, ich verliere jedes Mal, reden über oberflächliche Dinge.
Andere setzten sich zu uns, ignorieren mich zuerst, aber fangen dann an auch mit mir zu sprechen. Wir unterhalten uns über Musik, über Filme und plötzlich fühle ich mich wohl.

Ted

Er schaut Valerie an und muss ein strahlendes Lachen unterdrücken. Endlich taut sie auf, endlich redet sie mit ihren Klassenkameraden. Ihm ist egal, ob es sein Verdienst ist, Hauptsache sie tut es und zieht sich nicht erneut in ihr Schneckenhaus zurück.
Ihre Hand liegt in seiner und fest drückt er sie.
Seine Valerie.
Sie liebt ihn auf irgendeine Weise. Und das fühlt sich verdammt gut an.
Was ihn nur daran ärgert ist, dass er es nicht darf. In dem Monat, den er nicht in der Schule verbracht hatte, war er auf dem Stern gewesen. Dort hatte er ziemlich Ärger bekommen, wegen der Sache mit dem Sex. Woher auch immer sie das wussten. Der vorübergehende König hatte ihn geschlagen, ihn für ein paar Tage weg gesperrt und ihm klar gemacht, dass er Valerie nicht so sehen darf. Nur als Prinzessin, aber nicht als Sexobjekt, nicht als Geliebte. Dass sie jetzt auch Gefühle für ihn hat, macht die Sache natürlich um einiges schwieriger.
Wenn sie ihn umarmt, wenn sie bei ihm ist, dann will er sie fest halten, sie an sich drücken, sie nie wieder loslassen.
Wenn sie ihn küsst, dann will er diesen Kuss erwidern dürfen, sie nicht wegschieben müssen.
Aber hat er eine Wahl? Sie braucht seinen Schutz, gerade jetzt, wo dieser mysteriöse Mann aufgetaucht ist.
Sie hat Angst, das sieht er an ihrer Aura.

Inzwischen sitzen auch ein paar Kerle an dem Tisch, er mustert einen nach dem anderen. Ob einer von ihnen was mit der Sache zu tun hat? Er legt seinen Arm um Valeries Schulter und zieht sie enger an sich. Überrascht schaut sie ihn an, schmiegt sich dann aber wieder an ihn. Das mag er. Sie riecht so gut. Immer ein Hauch nach Rosen, gemischt mit was Exotischem, was er nicht zuordnen kann. Er liebt diesen Duft genauso sehr, wie er sie liebt.

Liebe. Das zwischen ihnen ist nicht mehr und nicht weniger. Er verflucht diese Menschen, die ihm es verbieten, auch wenn er tief im inneren weiß, dass es richtig ist. Einmal hat er versucht ihr zu erklären, weshalb es nicht geht, aber der Grund lässt sich eigentlich nicht in Worte fassen. Selbst versteht er es ja nicht mal.

Sein Blick wandert zu ihren Lippen, ihren vollen, roten Lippen, so gut zum küssen. Wie gerne er das jetzt tun würde. Wie gerne er sie jetzt anfassen würde, sie ihrer Kleidung berauben...
Sie wendet sich zu ihm und lächelt müde.
„Ich geh schlafen.“
Langsam steht sie auf, er erhebt sich mit ihr. Fragend schaut sie ihn an. Er lächelt.
„Ich werde mir ein Beispiel an dir nehmen. Morgen wird ein langer Tag.“
„Ja.“
Sie lächelt allen kurz zu und verschwindet dann durch die Tür, hinter der die Kajüten liegen. Er grinst auch nochmal kurz alle an, geht ihr dann hinterher und hält sie fest, bevor sie in einen der winzigen Räume verschwinden kann.

Valerie

Ich spüre seinen Atem in meinem Nacken und muss lächeln.
„Du hast nicht gerade vor mich in deine Kajüte zu entführen oder so?“, flüstere ich heiser.
Er lacht leise.
„Das wäre mal eine Maßnahme.“
Seine Lippen küssen sacht meinen Hals, was mich dazu bringt, leise zu kichern.
„Willst du mich verführen?“
„Vielleicht“, haucht er und lässt seine Hände unter mein Oberteil gleiten.
Ich schnurre, schmiege mich an ihn und gebe ihm somit die Erlaubnis, mich in seine Kajüte zu ziehen, die er allein bewohnt. Dort stoß ich mir als allererstes den Kopf, als er mich auf das untere Bett drückt. Wortreich entschuldigt er sich, klettert dann auf mich und fängt an mich zu küssen. Ich erwidere den Kuss, versinke in ihm, genieße seine Berührungen. Sein Atem streicht über meine Wange und ein leises „Ich liebe dich“ dringt in mein Ohr. Mein Herz klopft, meine Hände machen sich selbstständig und erkunden seinen Körper, so wie er den meinen erkundet. Ich lebe hier, jetzt in diesem Moment und ich hoffe, dass er nie vorbei ist

Doch natürlich kommt es zu einem Ende, nämlich in dem Moment, als es an der Tür klopft und die Stimme von unserem Lehrer zu uns dringt.
„Ted? Sind Sie schon im Bett? Ich komme nicht in das Zimmer!“
Keuchend löst er sich von mir, versucht normal Luft zu bekommen und antwortet dann.
„Ja, bin ich. Ich hab den Koffer vor die Tür gestellt, damit mich niemand stört.“
„Ah, ja, na gut. Wissen Sie, wo Valerie ist? Viola sucht sie.“
„Ehm... sie wollte noch kurz an Land, ich ruf sie an.“
„Danke, danke.“
Wir hören, wie Schritte sich entfernen und ich schaue Ted daraufhin in die Augen.
„Dann geh ich wohl mal.“
Er nickt stumm, verlässt das Bett, schaut mir beim Aufstehen zu und nimmt mich dann in die Arme.
„Schade.“
Ich kichere wieder dümmlich, löse mich von ihm und ziehe mein Oberteil an – weiter sind wir nicht gekommen.
„Wir haben ja noch ein paar Tage.“
Er nickt, zieht den Koffer weg, steckt den Kopf zur Tür raus und nickt dann.
„Okay, hier ist keiner.“
Ich bekomme noch einen letzten Kuss, verlasse dann sein Zimmer und gehe in meines, in dem Viola schon auf dem Bett sitzt, dass sie gewählt hat.
„Er ist hier.“

Zwei Sekunden später drängt Ted sich noch mit dazu.
„Okay, wo ist er?“
Viola zuckt mit den Schultern.
„Er hat mir... ein Foto geschickt.“
„Du hast seine Handynummer?“, ruft Ted entgeistert und reißt ihr das Handy aus der Hand.
„Sag das doch!“
Er drückt ein wenig auf den Tasten rum und erstarrt von einer Sekunde auf die nächste.
„Ted?“, flüstere ich. „Ted, alles okay?“
Er reagiert erst, als ich ihn vorsichtig an der Schulter berühre.
„Ja. Ja, klar.“ Er gibt Viola das Handy zurück. „Ich werde auf euch Acht geben. Bleibt bitte einfach in meiner Nähe.“
Noch einmal drückt er fest seine Lippen auf meine, bevor er unsere Kajüte verlässt, eine verzweifelte Viola und eine total erregte Freundin zurücklassend.

13.

Ich schlafe schlecht in der Nacht. Dass Ted sich so eigenartig verhalten hat, als er das Foto gesehen hat, macht mich nervös. Ich habe das Gefühl, dass er diese Person kennt, aber es verschweigt. Ich wälze mich hin und her, so gut es eben geht in diesem schmalem Bett. Von oben hör ich immer mal ein leises Wimmern, aber immer, wenn ich leise frage, ob alles okay ist, herrscht Schweigen. Doch als ich gegen drei Uhr morgens meine Hand nach oben strecke, schließen sich Vis Finger darum. Sie drückt fest zu.
„Ich bin froh, dass du jetzt Ted hast.“
„Ich auch“, erwidere ich. „Aber dich will ich trotzdem nicht verlieren.“
„Ich will nicht sterben. Ich will nicht, will nicht...“
Sie murmelt vor sich her, wird immer leiser und irgendwann höre ich nur noch ein leises, regelmäßiges Atmen.

Als die Sonne durch das Bullauge scheint, stehe ich auf und ziehe mich an. Die Haare binde ich mir zu einem Zopf zusammen, ich habe keine Lust sie zu waschen. Dann verlasse ich das Zimmer und begebe mich in den Aufenthaltsraum.
Dort sitzt Ted bereits, auch er sieht aus, als hätte er kaum geschlafen. Ich gehe zu ihm, drücke kurz meine Lippen auf seine und lasse mich dann neben ihn fallen. Er legt den Arm um mich und flüstert:
„Hat er sich nochmal gemeldet?“
Ich schüttle den Kopf.
„Nein. Vi schläft auch noch. Sie ist erst gegen vier eingeschlafen.“
Er schaut mich intensiv an.
„Wie lange hast du geschlafen?“ Ich zucke mit den Schultern. „Gar nicht, oder?“
„Es ging einfach nicht.“
Seine Hand streicht über meinen Rücken.
„Das ist nicht gut.“ Er steht auf und holt uns Kaffee. Ich lächle, als ich meine Tasse entgegen nehme und einen großen Schluck nehme.

Nach dem Frühstück müssen wir alle ans Deck und uns wird erzählt, was wir an dem Tag machen werden. Segeln, was sonst? Wir erledigen alles, was uns gesagt wird und segeln dann los.
Später sitzen Viola und ich an einer Ecke des Decks, wo wir von den anderen entfernt sind. Sie tippt auf ihrem Handy rum und schaut mich dann an.
„Wie sterbe ich?“
Ich zögere. Soll ich es ihr sagen? Da sie sowieso stirbt wäre es nur richtig. Aber es würde gegen meine Prinzipien verstoßen. Ich seufze.
„Vi.“
Sie dreht sich zu mir und nimmt meine Hände.
„Bitte, bitte! Valerie, ich muss es wissen, ich...“
Ihr laufen Tränen über die Wangen, sie schluchzt leise. Ich nehme sie in den Arm und drücke sie fest an mich.
„Viola, bitte!“
„Du weißt es doch! Es geht um mich!“
„Du ertrinkst“, flüstere ich.
Sie zuckt zusammen und fängt an zu weinen.
„Dann passiert es auf der Klassenfahrt, ich wusste es, deshalb wollte ich nicht mit, aber Carlos, meine Eltern, sie haben mich überredet!“
Ich beginne auch zu weinen, fühle mich hilflos. Ich will nicht, dass sie stirbt, ich will nicht, dass ihr etwas wegen mir passiert. Es ist immer meine Schuld, wenn was geschieht. Es legen sich Arme um uns und ich rieche Teds unverwechselbaren Duft. Er drückt uns an sich, flüstert leise ein paar Wörter, die uns beruhigen sollen. Doch das tun sie nicht, wir weinen einfach weiter.

So sitzen wir noch, als wir plötzlich halten und der Skipper was ruft von wegen, wir könnten jetzt ins Wasser.
Ted lächelt.
„Kommt, wir gehen schwimmen, haben ein wenig Spaß und weinen später weiter.“
Viola schüttelt den Kopf.
„Ich will nicht schwimmen. Aber ihr könnt ruhig gehen, ich brauch einen Moment für mich.“
Ich schaue Ted an, dieser nickt, nimmt meine Hand und geht mit mir runter zu den Zimmern. Vor meiner Tür bleibt er stehen.
„Beeil dich, ja?“ Ich nicke, gehe in die Kajüte und ziehe mir schnell meinen Bikini an. Dann schaue ich in den Spiegel. Ich sehe mir selbst in die Augen, sie sind rot vom weinen und das Blau darin ist tiefer als sonst. Mein Gesicht bewegt sich mehr auf den Spiegel zu, bis ich mit der Nase dagegen stoße. Ich starre mich einfach an, als es passiert.

Wir sitzen beim Abendessen. Es gibt Chili con Carne. Ted albert mit Viola rum, will sie ablenken von dem, was in nächster Zeit geschehen wird, als wir über uns Schritte hören. Die Luke öffnet sich und ein junger Mann kommt rein. Er sieht Ted ähnlich. Dieser bemerkt den Mann, springt auf und knurrt.
„Was willst du hier?“
Doch der Mann lächelt nur.

„Val? Val!“
Ted rüttelt an mir. Ich schlage die Augen auf und schaue ihn so vorwurfsvoll an, dass er zurückweicht.
„Was... was hast du gesehen?“
„Du kennst ihn!“
„Ich... ja. Aber...“
„Wer ist es, Ted? Wer?“
„Ich... er ist...“
Gerade als er es mir sagen will, ruft jemand zum Essen. Ich bin verwirrt.
„Wie lange hatte ich die Vision?“
„Eine Stunde vielleicht. Wir sind weitergefahren, weil niemand schwimmen wollte. Ich hab dich nicht wach bekommen. Jetzt sind wir im Hafen.“
„Aber sie hat nur einen kurzen Moment umfasst, eine Minute vielleicht!“
Erneut beginne ich zu weinen. Müssten meine Tränen nicht langsam mal leer sein? So viel kann doch kein normaler Mensch weinen! Na ja, gut, ich bin auch nicht normal, aber trotzdem!
Ted hilft mir hoch.
„Wir gehen erst einmal essen, dann reden wir in Ruhe darüber.“ Er küsst mich kurz und flüstert: „Ich liebe dich, Val. Mehr als ich dürfte. Ich will dich doch nur schützen.“
Ich nicke und schmiege mich an ihn.
„Ich liebe dich auch, Ted. Und genau darum musst du absolut ehrlich zu mir sein.“
„Versprochen.“
Er wischt mir die Tränen weg, küsst mich, fordernd, leidenschaftlich. Ich erwidere den Kuss, presse meinen Körper an seinen, will nicht, dass er mich loslässt.
Ich brauche ihn.
Jetzt.

Ich starre das Chili an. Bringe es nicht über mich, was davon zu essen.
Ted erzählt Witze, Viola kichert leise. Er lenkt sie ab.
Schritte.
Der Mann.
Ted, wie er aufspringt.
Der Mann lächelt.
Alles wird wahr.
„Theodore. Du hast dich kaum verändert in den zwei Monaten.“
„Fred, was ist?“
„Ich bin hier um deine Freundin abzuholen, da du es ja nicht hinkriegst, sie auf den 'Stern' zu holen.“
Das Wort 'Stern' betont er so, als gäbe es keinen. Ted wirkt etwas verwirrt.
„Sie soll doch gar nicht mitkommen. Ich soll doch hier auf sie aufpassen.“
Inzwischen starrt uns die ganze Klasse an. Fred lächelt unseren Lehrer an.
„Ich möchte gerne mit meinem Bruder und seiner Freundin sprechen. Und mit ihr.“ Er zeigt auf Viola. „Also unter acht Augen.“
Der Lehrer nickt.
Fred steigt durch die Luke aufs Deck, Ted klettert hinterher, aber nicht ohne mir vorher einen Blick zuzuwerfen, der deutet, dass er mich nicht dabei haben will. Aber den ignoriere ich, es geht immerhin um mich und um meine beste Freundin.
Außerdem bin ich sauer auf ihn, er hätte mir sagen können, dass es sein Bruder ist, eben, als ich ihn gefragt habe. Viola klettert auch hinter mir her.

Da stehen wir jetzt.
Fred grinst, Ted knurrt, Viola und ich halten uns an den Händen.
„Soso“, sagt Fred. „Ich hatte mir also tatsächlich die richtige Freundin rausgepickt. Sehr schön. Valerie, du siehst also die Zukunft. Nun ja, das ist tatsächlich eine Bereicherung für unser Team.“
„Team?“, unterbreche ich ihn, „Was für ein Team? Würde mich jetzt endlich mal jemand aufklären, was hier gespielt wird? Ich hab die Nase voll!“
Ted dreht sich zu mir.
„Ich weiß nicht, was Fred hier will, ehrlich, du musst mir glauben!“
„Ach Ted, wann sagst du ihr endlich, dass es keinen Stern gibt? Dass du nur mit ihr spielst?“ Fred schaut mich an, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. „Mein Bruder hatte den Auftrag dich in unser Zentrum zu holen. Dich für ihn zu gewinnen ging am leichtesten, indem er dir vorspielt, dich zu lieben. Was er nicht tut.“

Mein Blick wandert zu Ted, ich schaue ihn fragend an. Doch er sieht nicht zu mir, er starrt angestrengt auf den Boden. Und plötzlich fühle ich es, tief in meinem Inneren.
Er liebt mich tatsächlich nicht.
Er hat nur mit mir gespielt.
Die ganze Zeit.
Während ich langsam auf die Knie sinke, wird mein Herz von einer eisigen Kälte umschlossen. Ich beuge mich vorne über, keuche leise. In meinem Brustkorb wird es kälter und kälter, bis mein Herz dem nicht mehr stand hält und in tausend Teile zerspringt.

14.

„Ach, Ted. Hättest du ihr einfach die Wahrheit gesagt... aber es war ja schon immer so, dass du das nicht konntest.“ Fred geht auf Viola zu, nimmt ihre Hand und haucht ihr einen Kuss drauf. „Du kommst jetzt mit mir. Dann werden wir ja herausfinden, ob Ted vielleicht doch was an Valerie liegt. Denn sie wird es ja nicht verkraften, wenn dir etwas geschieht.“
„Nein“, flüstere ich und stehe schwerfällig auf. „Es reicht. Lass Viola zufrieden, wenn du doch eigentlich mich willst.“
Langsam schiebe ich mich zwischen ihn und Vi. Ted schüttelt den Kopf und flüstert:
„Val, Val, nein, du weißt nicht...“
„Ach, lass mich einfach, Ted!“ Wütend drehe ich mich zu ihm. „Du hast mich doch die ganze Zeit belogen, mit mir gespielt! Meinst du, dir vertrau ich noch?“ Ich drehe mich wieder zu Fred und schaue ihn an. „Nimm mich einfach mit.“
Er lacht.
„Das lass ich mir nicht zweimal sagen!“ Er packt mich am Handgelenk, zerrt mich vom Schiff und geht mit mir zu einem Auto. „Du wirst dich bestimmt wohl fühlen.“
Mit einer galanten Bewegung öffnet er die Tür und schiebt mich auf den Beifahrersitz. Ich sehe hinter ihm Ted und Viola, die auf uns zu laufen. Fred winkt ihnen kurz, setzt sich dann auch in das Auto und fährt los.
„Es ist besser, wenn du ihn vergisst.“ Er schaut mich an und lächelt. „Du bist hübsch.“
Ich brumme was, lege meinen Kopf an die Scheibe und schließe die Augen.

Ted 

„NEIN!“, schreit er, als das Auto wegfährt.
Viola schaut ihn erschrocken an. Er dreht sich zu ihr um, Tränen stehen in seinen Augen.
„Er lügt. Ich liebe sie.“
„Ich weiß. Aber Valerie denkt das nicht. Aber hey, er ist dein Bruder! Du weißt wo er wohnt und...“
„Weiß ich nicht“, erwidert er mir brüchiger Stimme. „Ich weiß auch nicht, von was für einem Zentrum er gesprochen hat und weshalb er von mir verlangt, Val die Wahrheit zu erzählen. Ich habe ihr die Wahrheit erzählt. Aber anscheinend hab ich das nicht und... Viola! Ich liebe sie!“
Viola erwidert nichts, nimmt ihn einfach in den Arm, als er in Tränen ausbricht. Er ist verzweifelt und weiß nicht, was er tun soll. Langsam gehen sie zurück auf das Schiff.

Nach und nach kommen die Schüler aufs Deck und verlassen das Schiff um in der Stadt einkaufen zu gehen. Der Lehrer kommt am Schluss und schaut sich um.
„Ted, Viola, wo ist Valerie?“
„Er hat sie mitgenommen.“
Viola zischt die Worte beinahe. Der Lehrer runzelt die Stirn.
„Wie meinen Sie das?“
„Er hat sie mitgenommen. Er hat sie entführt.“

Valerie

Ich schlafe ein, während der Fahrt. Ich träume wild, viel von Ted, viel von Viola. Ich will zu ihnen zurück, zu ihnen, meiner Familie. Und das, obwohl ich eigentlich noch gar nicht so lange von ihnen weg bin.
Nachdem wir so drei Stunden unterwegs sind, hält Fred, wovon ich wach werde.
„Sind wir da?“, frage ich, nachdem ich kräftig gegähnt habe.
„Nein“, antwortet er mir. „Ich hab Hunger. Willst du auch was?“
Da bemerke ich, dass wir an einem Drive-In Schalter stehen.
„Nein“, flüstere ich und lege meine Stirn an die Scheibe. „Ich will, dass du mir sagst, was los ist. Ich will, dass du mich zurück zu Ted bringst.“
„Zu dem Kerl, der dich nicht liebt? Der dich belogen hat? Willst du das?“
„Erzähl mir, wo du mich hinbringst.“
Er bestellt und schaut mich dann nachdenklich an.
„Okay. Ich meine, du bist ja nicht lebensmüde und springst aus dem fahrendem Auto oder so. Gleich, wenn wir wieder auf der Autobahn sind, erklär ich's dir.“
Einen Moment später nimmt er seine Tüten mit Burgern und Pommes entgegen – mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Gott, ich liebe Fast Food, das hab ich schon immer. Doch die letzten Monate hab ich kaum etwas gegessen, weil es mir ja bekanntlich so schlecht ging.

Fred scheint zu bemerken, dass ich darauf giere mir etwas aus der Tüte in den Mund zu stopfen und grinst selbstgefällig.
„Nimm dir. Ich hab extra mehr gekauft, dachte ich mir doch, dass du Hunger hast. Ich hab deinen Magen knurren hören.“
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, nehme mir einen saftig aussehenden Cheeseburger vor und beiße rein – köstlich! Jetzt kann mich nichts mehr stoppen. Während Fred weiterfährt stopfe ich dieses ungesunde Zeug in mich rein, bis ich mich kugelrund fühle.
Erschöpft und mit einem zufriedenen Seufzer lass ich mich in den Sitz zurückfallen. Teds Bruder nimmt sich eine Pommes und schiebt sie in seinen Mund. Er kaut genüsslich darauf herum und ich kann den Blick nicht von ihm wenden. Seine Lippen sind noch voller als Teds und unwillkürlich frage ich mir, ob es wohl genauso toll ist ihn zu küssen. Doch diesen Gedanken verdränge ich ganz schnell nach hinten, als er anfängt zu sprechen.

„Das Zentrum. Nun ja, das Zentrum ist eigentlich nichts anderes, als ein riesiger Komplex. Kaum jemand weiß, wie groß es dort wirklich ist. Größtenteils liegt es unterirdisch und viele wissen gar nicht, wo sie dort sind.“ Er grinst. „Viele denken, sie sind auf einem Stern. So wie Ted. Wir suchen so Leute wie dich. Leute, die absolut unglaubliche Talente haben. Ich wette, Ted hat dir erzählt, dass es auf jedem Kontinent ein Mädchen gibt wie dich? Das war die Wahrheit. Oh ja. Wir haben ein Gerät erfunden, das übernatürliche Kräfte ortet und BÄM! Das war wahrhaftig ein Erfolgserlebnis.“ Er lenkt das Auto auf die Abfahrt. „Du bist die Erste, die ankommt. Die anderen sind noch nicht so weit. Und ich hab dich geholt! Weißt du, was das bedeutet!“ Er lacht laut. „Das ruft nach einer verdammten Beförderung!“

Während er sich selbst feiert versuche ich zu verarbeiten, was er mir gerade erzählt hat. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist Ted in dem Glauben aufgewachsen, auf einem Stern zu leben, genau wie ein Haufen anderer Menschen. Und der Anführer will mich und die anderen Mädchen mit übernatürlichen Kräften benutzen. Na super. Und ich hab mich freiwillig in die Höhle des Löwen begeben.
„Warum denkt Ted, dass euer seltsames Zentrum ein Stern ist?“
„Weil es ihm seit seiner Geburt eingeredet wird. Wusstest du, dass ihr am gleichen Tag Geburtstag habt? Er ist halt nur ein Jahr älter als du.“
Ich seufze.
„Aber was wollt ihr von mir? Ich meine, ich kann das ja nicht steuern, was ich sehe.“
Da dreht er seinen Kopf zu mir und schaut mich mit einem solch kaltem Blick an, dass sich alles in mir zusammenzieht.
„Dann lernst du es halt.“

Einige Stunden später hält Fred auf einem Parkplatz und holt einen Schal von der Rückbank.
„So. Ich werde dir jetzt die Augen verbinden. Reine Sicherheitsmaßnahme.“
„Wieso?“, zische ich.
„Na, damit du niemandem erzählen kannst, wo wir operieren.“
Er legt den Schal über meine Augen und zieht so fest zu, dass ich das Gefühl habe, mein Kopf würde platzen, aber ich sage nichts, diese Genugtuung gönne ich ihm nicht. Ich spüre, dass wir wieder los fahren und verfalle wieder in mein trotziges Schweigen. Meine Gedanken wandern zu Ted und Viola. Was sie wohl gerade machen? Wie wird der Lehrer reagiert haben, als ich plötzlich verschwunden war? Ob das einfach alle ignorieren?

Viola

„...und darum ist Valerie mitgegangen. Damit er mir nichts mehr tut.“
Der Polizist schaut sie zweifelnd an.
„Also hat dieser Kerl Sie einfach die ganze Zeit nur gequält? Einzig ihre beste Freundin wusste davon?“
„Ja, und Ted halt dann auch. Bitte, ich möchte nicht mehr darüber sprechen.“
„Gut, dann gehen sie zu ihren Eltern.“
Viola nickt und steht auf.
„Hören Sie, ich hoffe wirklich, dass Sie Fred finden.“
Der Polizist nickt und winkt sie genervt auf den Flur, auf dem Ted sitzt.

Als Viola aus dem Zimmer kommt, springt Ted sofort auf.
„Alles okay, Vi?“
Sie nickt, unfähig, einen Ton von sich zu geben und lässt sich müde gegen Ted sinken. Dieser schlingt seine Arme um sie und drückt sie fest an sich.
„Ich bring dich nach Hause. Carlos wartet bestimmt schon auf dich.“
„Ich will nicht nach Hause“, flüstert Viola da, kaum hörbar. „Ich will zu Val.“
„Wir finden sie.“ Er seufzt. „So ein Mist, dass wir die Polizei einweihen mussten.“
Viola nickt und beginnt dann zu weinen.

Es ist bloß ihre Schuld! Hätte sie Ted und Valerie früher von dem Kerl erzählt, Ted die Handynummer gezeigt, dann hätte Ted gewusst, dass es sein Bruder ist und er hätte Valerie viel besser schützen können!
Viola hatte einfach Angst davor, dass sie ausgelacht wird. Dass ihr gesagt wird, dass sie sich das alles nur ausdenkt – dass Valerie ihr nicht glaubt.
Wieso hatte sie Zweifel gehegt? Valerie war nun mal ihre beste Freundin. Nicht war, ist! Valerie ist ihre beste Freundin!
Sie spürt, wie Teds Hände über ihren Rücken wandern, sanft über ihr Haar streichen. Was tut sie da gerade eigentlich? Eigentlich ist doch Ted der, dem es total mies geht. Eigentlich muss sie ihn trösten, immerhin war es sein Bruder, der Valerie mitgenommen hatte, seine Freundin. Neben seinen Berührungen bemerkt sie jetzt auch, dass er was sagt.
Sie hört, wie er immer wieder flüstert, dass er Valerie aus den Armen seines Bruders befreit, und wenn es das letzte ist, was er tut. Vorsichtig hebt sie den Blick, schaut ihn an und flüstert dann:
„Ich werde dich begleiten, wenn du versuchst, sie zurückzuholen. Das bin ich ihr schuldig. Immerhin hat sie mir das Leben gerettet, indem sie mit ihm gegangen ist. Ich lass dich nicht allein, Ted.“

15.

Valerie

Bereits nach wenigen Sekunden wird mir schlecht. Es ist nicht gut, dass ich nicht sehe, wohin wir fahren. Ich fühle mich orientierungslos und bemerke, dass mein Mageninhalt sich den Weg nach oben bahnt.
„Fred!“, sage ich mit scharfer Stimme.
Aber der brummt nur etwas. Kurz darauf höre ich es rascheln und spüre dann, wie mir eine Plastiktüte in die Hand gedrückt wird.
„Kotz da rein. Keine Zeit anzuhalten.“
Viel zu schnell gehorche ich ihm und übergebe mich. Danach beginne ich zu weinen.
„Ach, halt die Fresse!“, tönt es von dem Fahrersitz, doch das lässt mich nur noch schlimmer weinen.
Wir sind jetzt fast einen Tag unterwegs und ich kann einfach nicht mehr! Ich will zu Ted, will mich in seine Arme flüchten, will mich an ihn schmiegen. Er soll mich halten, mir Sicherheit geben.

Und das ist der Moment, in dem es geschieht. Es fühlt sich im ersten Augenblick so an, als wenn ich ich eine Vision bekomme. Alles ist verschwommen, die Luft um mich herum wabert. Doch dann wird alles klar. Ich schaue mich um, ich schwebe über einem Feldweg und sehe, wie das Auto, in das ich heute Morgen gestiegen bin, sich entfernt. Ich spüre, dass mein Körper sich noch darin befindet und schaue an mir herunter. Erst erschrecke ich, doch dann macht es mir nichts mehr aus, dass ich keinen Körper habe. Ich schwebe nämlich ungefähr drei Meter über der Straße und bestehe nur noch aus winzigen Glitzerpartikeln, von denen ich mir sicher bin, dass sie das menschliche Auge nicht sehen kann.

Auch weiß ich, weshalb ich mich losgelöst habe. Wie vorhin im Auto denke ich an Ted – und bin sofort bei ihm.

Er sitzt auf meinem Bett und schaut auf die Decke. Ich schwebe zu ihm, versuche ihn zu berühren, doch es misslingt mir. Das macht mich traurig, sehr traurig. Da kommt Viola herein und setzt sich neben ihn.
„Hier, Ted, dein Tee.“
Er nickt, nimmt die Tasse entgegen und schaut sie an.
„Danke.“
Sie nickt auch und streicht ihm mit dem Handrücken über die Wange.
„Wir finden sie.“
„Ja?“, flüstert er.
Seine Stimme ist voller Schuldgefühlen, Angst, Verzweiflung und einem kleinem Hauch Hoffnung.
„Ja“, erwidert Viola und wischt ihm eine Träne weg, bevor sie ihn fest in den Arm nimmt. Ich sehe, wie er seine Hände auf ihren Rücken legt und sie dort genauso berührt, wie mich immer. Das macht mich eifersüchtig, brennend eifersüchtig. So eifersüchtig, dass ich meinen körperlosen Zustand nicht halten kann und rasend schnell zurück in meinen Körper gezogen werde.

„Sie sagt, sie kann ihre Visionen nicht kontrollieren.“
Das ist Freds Stimme. Ich spüre, dass ich auf etwas Hartem liege, ich vermute, es ist eine Pritsche oder etwas in der Art. Meine Augen lasse ich noch geschlossen. Es ist kalt, da wo ich bin. Ein leises Stimmengewirr, bestehend aus männlichen Stimmen, kommt näher. Erneut ertönt Freds Stimme.
„Was denken Sie darüber, Meister?“
„Jetzt sind wir einen schon mal erheblichen Schritt weiter. Danke, Mr. Bostwick. Ich schau mal, was sich für Sie tun kann.“
Fred lacht:
„Na ja, Sie sind der Boss hier!“
„Ich weiß.“ An der Stimme höre ich, dass der Mann grinst. „Wieso denkt sie, sie kann es nicht kontrollieren?“
„Keine Ahnung. Aber sie scheint fest davon überzeugt zu sein.“
„Hat Ihr Bruder Ihnen etwas darüber erzählt, Mr. Bostwick?“
„Nein, aus dem war ja kein Wort herauszubekommen. Ich glaube, er liebt sie wirklich, obwohl ihm ja immer eingetrichtert wurde, dass er das nicht darf.“
„Jaja, die Liebe... sie schlägt immer in den ungünstigsten Moment zu. Er sollte herkommen.“
„Das wird er nicht, wenn wir es wollen.“
„Dann sagen wir es ihm halt nicht! Sagen Sie ihm, dass seine Freundin bei uns ist.“
„Das weiß er bereits.“
„Gut, dann wird er nicht mehr lange weg bleiben.“
„Ist sie das?“, fragt eine andere Stimme, eine von denen, die vorhin noch weiter weg waren.
„Ja“, antwortet Fred.
„Wieso liegt sei da so?“
„Sie ist während der Autofahrt ohnmächtig geworden, aber jetzt ist sie schon wieder bei Bewusstsein, oder, Valerie?“
Die Stimme, die von Fred Meister genannt wurde, spricht mich direkt an. Ich öffne die Augen, da sie eh wissen, dass ich wach bin – nur um sie sofort wieder zuzukneifen. Himmel! Können die nicht ein anderes Licht über mir anmachen, eines, das nicht so verdammt hell strahlt? Ich gebe einen unwilligen Ton von mir, höre ein kurzes Gerangel und dann wieder Fred.
„Ich hab das Licht gedimmt.“
Mit dem Beschluss ihm mal zu glauben, schlage ich die Augen wieder auf. Diesmal sehe ich ihn, er hat sich über mich gebeugt und lächelt.
„Alles okay? Du warst ziemlich lange weg.“
Ich schaffe es schwach den Kopf zu schütteln und krächze:
„Ted.“
„Ted ist nicht hier, Val. Und außerdem liebt er dich doch nicht, erinnerst du dich? Er hat dich bloß belogen.“
„Nein. Liebt mich.“
Nach diesen Worten fallen mir die Augen zu und ich schlafe ein.

Als ich erneut erwache, befinde ich mich in einem anderen Raum. Hier ist es still, dunkel und es herrscht eine hohe Luftfeuchtigkeit. Ich versuche mich zu orientieren und bemerke ein schwaches Licht, das unter der Türe durchscheint. Das hilft mir schon mal ein wenig.

Ich habe Durst. Mein Mund ist staubtrocken. Vorsichtig setze ich mich auf, schaue mich um, warte, damit meine Augen sich an das schwache Licht gewöhnen, damit ich vielleicht eine Flasche Wasser oder meinetwegen auch einen Wasserhahn finden kann.

Aber nichts. Ich stehe auf, versuche ein paar Schritte zu gehen, doch mein ganzer Kopf dreht sich, vor Hunger, vor Durst, und meine Beine knicken weg, da ich sie wohl schon zu lange nicht mehr benutzt habe.

Ich bleibe einfach am Boden sitzen, habe keine Lust, wieder auf das Bett zu klettern. Will zu Ted. Meinem Ted. Was er und Viola wohl gerade machen? Ich schließe die Augen, konzentriere mich, doch dieses Mal will diese Körper-verlassen-Sache nicht so ganz funktionieren. Schade. Ich hätte ihn gerne gesehen. Versucht mit ihm Kontakt aufzunehmen.

Meine Augen werden wieder schwer, ich bemerke, wie mir ein lautes Gähnen entweicht. Wie ist das möglich? Also in letzter Zeit hab ich doch eigentlich deutlich genug geschlafen und mich ausgeruht. Die Frage, ob sie mir wohl was eingeflößt haben, drängt sich mir auf. Ist doch einfacher, mich in Schacht zu halten, wenn mir was Beruhigendes verabreicht wird, oder? Vielleicht ein wenig Baldrian oder so. Ach, ich hab doch keine Ahnung.

Ich will nach Hause. Will in mein weiches Bett, will Ted neben mir, Viola am liebsten auch, meine Eltern! Was meine Eltern wohl machen? Wie es ihnen wohl geht? Ob sie der Polizei erzählen, dass mich diese Menschen hier schon kurz nach meiner Geburt kaufen wollten? Vermissen sie mich? Wissen sie überhaupt, dass ich, mehr oder weniger, entführt wurde? Letztere Frage beantworte ich mir mit einem klarem Ja. Vi und Ted waren bei mir Zuhause und nicht irgendwo anders. Daher müssen sie es wissen. Und ich bin mir absolut sicher, dass sie mich retten! Das werden sie! Meine Eltern, Ted und Viola, alle gemeinsam!

Ich weiß nicht genau, wie ich die nächsten Tage genau verbringe. Ab und an bringt mir jemand ein Glas Wasser oder einen Brocken Essen. Ich dämmere vor mich her, bemerke, wie ich jeden Tag schwächer werde, wie meine Willenskraft jeden Tag sinkt. Es ist langweilig, darum schlafe ich viel. Wenn ich wach bin, weiß ich nicht, ob es Nacht ist oder nicht. Der einzige Gedanke, der mich die ganze Zeit über noch etwas aufmuntert, ist der, dass mich alle suchen, davon bin ich immer noch überzeugt. Wäre ja auch seltsam, wenn nicht. Immerhin lieben mich diese Menschen!

Nachdem ich gefühlte fünf Jahre in diesem Gefängnis verbracht habe, schlafe ich dann allerdings mit dem Gedanken ein, dass ich nicht mehr will. Es ist vorbei, ich kann nicht mehr. Ich möchte sterben.

Doch daraus wird nichts, denn ich werde, nachdem ich wirres Zeug geträumt habe, von einem Geräusch geweckt.
„Warum liegst du denn auf dem Boden?“, fragt mich eine mir wohlbekannte Stimme.
Arme, die ich überall erkennen würde, heben mich hoch und ein vertrauter Duft steigt in meine Nase.
„Oh nein, du bist ja ganz durchgefroren.“
„Ted“, hauche ich.
„Ich bin hier. Ich bin bei dir.“
Gemeinsam mit mir legt er sich auf das Bett, zieht die Decke über uns und beginnt meinen Körper warm zu reiben.
„Das hier war immer mein Zimmer. Entweder haben sie nicht damit gerechnet, dass ich komme, oder sie haben es provoziert.“ Seine Lippen ruhen kurz auf meiner Stirn, dann zieht er mich noch fester an sich. „Ich hol dich hier raus, Val.“
„Wie... wie lange bin ich schon hier?“
Ich frage mich, ob er mich versteht, meine Zähne klappern zu sehr, als dass ich ein vernünftiges Wort herausbekommen könnte.
„Drei Tage“, antwortet er mir. „Du musst nicht sprechen.“ Seine Stimme wird leiser, ich muss mir Mühe geben, um ihn zu verstehen. „Ich hol dich hier raus. Oh Gott, ich war so ein Idiot! Ich war so blind! Dass ich nicht gerafft habe, was sie hier wirklich tun...“
Ich spüre etwas Nasses an meiner Wange.
„Nicht weinen.“ Sanft wische ich ihm die Tränen weg. „Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch, Val. Es tut mir so leid, dass ich dich nicht vor all dem hier beschützen konnte.“
„Ist okay. Hol mich einfach hier raus, ja?“
„Ich verspreche es dir, Val. Egal, was es kostet, ich bring dich nach Hause.“

16.

Abends – ich vermute zumindest, dass es Abend ist – geht die Tür auf und Fred kommt herein.
„So, Valer...“ Er verstummt, als er bemerkt, dass ich nicht alleine in dem Bett liege und knurrt wütend. „Ted! Wer hat dich hereingelassen!“
Ted erhebt sich und grinst ihn an.
„Der Meister persönlich, Bruder. Er vertraut mir.“ Er wendet sich mir  zu. „Ich habe ihm erzählt, dass ich das alles so geplant habe. Also, dass Fred dich mitnimmt.“
„Das hat er dir nie geglaubt!“, mischt Fred sich ein und funkelt ihn tödlich an. „Er tut bloß so.“
„Woher willst du das wissen?“ Ted legt seine Hände auf Freds Brust und schiebt ihn langsam zur Tür hinaus. „Und jetzt verschwinde aus meinem Zimmer. Ich hab besseres zu tun, als mit dir zu diskutieren.“

Ted

Am liebsten würde er Fred an den Haaren packen und ihn immer und immer wieder in ein vollgeschissenes Klo tunken. Mit dem Kopf voran, versteht sich.
Er hat keine Ahnung, wie er Valerie hier raus bekommen sollte. Immerhin dachte der Meister jetzt, dass er das alles so geplant hätte. Dass er gewusst hätte, wie Fred handeln wird, falls er es nicht schafft, Val hierher zu bringen. Zum Glück hatte er ihm geglaubt. Er wollte gar nicht wissen, was passiert wäre, wenn er es nicht getan hätte. Und dann hatte er ihm alles über diese Einrichtung hier erzählt. Das Ziel der Gruppierung hier ist, so albern es klingen mag, die Weltherrschaft zu übernehmen. Und dafür brauchen sie Menschen wie Valerie. Menschen, die sich durch eine besondere Gabe auszeichnen, Menschen, die Dinge sehen können, Dinge tun können, die ihnen Macht verleihen. Der sogenannte Meister hatte den vorherigen 'Herrscher' umgebracht, weil er nicht schnell genug arbeitete, weil er keinen richtigen Plan hatte.
Die Sache mit dem Stern war bloß eine Erfindung gewesen, damit die Gesellschaft mehr Mitglieder bekam. Einige wurden eingeweiht, wenn sie sich als 'würdig' erwiesen, andere wurden nur – und man kann es nicht anders ausdrücken – zur Zucht benutzt.
Der 'Meister' hatte Ted am heutigen Tag für 'würdig' befunden. Durch die Lüge, die er ihm erzählt hatte.

Ted dreht sich zu Valerie, die mit angezogenen Knien auf dem Bett hockt und trüb vor sich hinstarrt. Vorsichtig geht er zu ihr und berührt sie leicht an der Schulter.
„Val?“
Sie hebt den Kopf.
„Hm?“
„Alles okay?“
Valerie erhebt sich und geht ein paar Schritte von ihm weg.
„Du hast es geplant.“
„Nein! Val! Das hab ich nicht!“
„Doch. Du hast es... geplant. Du hast nicht gelogen, als du es deinem 'Meister' erzählt hast.“
„Wie kommst du darauf, Val?“ Er geht auf sie zu und schließt sie in seine Arme. „Ich liebe dich.“

Sie senkt den Blick.
„Tut mir leid. Ich werde hier ganz... paranoid.“
„Ich weiß. Aber hey, ich hab herausgefunden, was sie vorhaben.“
„Was?“
„Sie wollen dich prüfen.“ Er setzt sich auf das Bett und hebt sie auf seinen Schoß. „Sie wollen herausfinden, ob sie das steuern könne. Deine Visionen.“
Sie schüttelt den Kopf.
„Wie soll das gehen? Wenn ich das könnte, hätte ich längst keine mehr...“
Ihr Körper zittert, ihre Zähne klappern. Er kann nichts dagegen tun, als sie zu halten. Ihr zu zeigen, dass er für sie da ist.

Er hat solches Mitleid mit ihr. Wenn er könnte, würde er all diese Lasten von ihr nehmen, nur damit es ihr besser geht. Valerie ist alles, wofür sein Herz schlägt, alles, was er zum Atmen braucht. Er kann an nichts anderes als an sie denken, egal, was er tut. Seine Gedanken wandern zurück zu der Nacht, in der sie miteinander geschlafen haben. Sie hat sich seltsam benommen an dem Abend. Er hatte es auf die Sternkonstellation geschoben, da der Stern, den er angeblich bewohnte, an diesem Tag direkt über seinem Haus stand, wie ihm mitgeteilt wurde. Daher hätten auch alle hier gewusst, dass er mit Valerie, seiner Prinzessin, geschlafen hatte.
Lügen. Nichts als Lügen.

Das hatten sie nur gewusst, weil sie Kameras in Teds Haus installiert hatten. Doch das würde er Valerie nie erzählen. Es ging ihm schon dreckig genug, weil er wusste, dass von dem Akt, den sie verübt hatte, eine Aufzeichnung existierte. Wenn sie es wüsste... er will sich gar nicht vorstellen, wie sie reagieren würde.

Sanft streicht er ihr übers Haar. Wieso sie sich an dem Abend wirklich so benommen hatte, weiß er nicht. Er weiß nur, dass er Valerie liebt. So sehr. Und er weiß, dass dieses Gefühl nie verebben wird.

Valerie

Als mein Zittern langsam nachlässt, gelingt es mir, wieder einen klaren Gedanken zu fassen.
„Wie werden sie es testen?“
Ted zuckt mit den Schultern.
„Ich denke, du wirst dem Scheißkerl seinen Tod voraussagen müssen.“
„Das kann ich nicht. Ich weiß nicht wie!“
„Weiß ich. Vielleicht... vielleicht denken sie, dass du doch keine Visionen hast. Vielleicht lassen sie dich gehen.“
„Nein.“ Ich schaue ihn an und schüttle deutlich den Kopf. „Ich weiß zu viel. Ich werde hier nie wieder rauskommen. Ich werde nie wieder die Sonne sehen!“
Er seufzt.
„Doch. Ich hab es dir versprochen.“
Er lässt sich langsam zur Seite sinken, drückt mich dabei an sich. Mein Bein legt sich um seine Hüfte, ich drücke mein Becken an seine Leistengegend.
„Lieb mich.“
„H..hier? Sicher?“
„Ja. Bitte. Ich möchte mich davon überzeugen, dass ich noch existiere. Ich möchte mich davon überzeugen, dass du echt bist.“
Er dreht mich auf den Rücken und rollt sich über mich. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, ich schließe die Augen, fühle mich gerade jetzt in diesem Moment gewollt.
„Ich fürchte, ich kann dir den Gefallen nicht abschlagen. Warte kurz.“
Ich spüre, wie er mich loslässt, höre etwas rumpeln, ein Türschloss. Dann liegt er wieder über mir. Meine Kleidung ist schneller weg, als ich seinen Namen sagen kann, kurz darauf spüre ich seine nackte Haut auf meiner, seine weichen, warmen Lippen, die meine umschließen. Er küsst mich erst zärtlich, doch dann wird es doch leidenschaftlicher.

Ein Vorspiel ist eigentlich nicht nötig, allein der Gedanke daran, Ted endlich mal wieder in mir zu haben, lässt mich feucht werden. Das bleibt ihm nicht verborgen, dennoch beginnt er meinen Körper zu küssen, bis er schließlich bei meinem heißen Zentrum ankommt. Dort leckt, knabbert und saugt er, bis ich komme, bis ich noch einmal komme, bevor er endlich, endlich in mich eindringt und sich in einem Rhythmus in mir bewegt, der mich auf einer Welle der Lust davon reiten lässt.

17.

Später liegen wir in Löffelchen-Stellung dort, Ted hinter mir. Er knabbert sachte an meinem Ohr, während meine Gedanken langsam abschweifen und ich versuche, eine Lösung für unser Dilemma zu finden.
„Wir müssen ihn töten.“
Ted zuckt zusammen.
„Du willst jemanden umbringen?“
„Euren Meister.“
„Nein. Val!“
Er setzt sich auf. Ich spüre sofort, wie die Kälte wieder in meine Knochen kriecht, als er sich von mir entfernt, die Kälte, die er abgehalten hat.

Ich glaube, damit will er mich für meinen Gedanken bestrafen und er hat eigentlich auch Recht damit. Wie komme ich darauf, an solch ein Verbrechen zu denken? Na ja, schwer ist die Antwort nicht. Ich hab Angst. So unglaubliche Angst. Vor dem, was sie mit mir tun werden, davor, hier nie wieder weg zu kommen.

Schnell setze ich mich auf und schlinge meine Arme um Teds Brust. Sofort geht es mir besser. Mein Körper dürstet so sehr nach Teds Nähe, dass es manchmal wehtut. Ich wüsste so gerne, was der Grund dafür ist. Wie zum Beispiel auf der Party, wo ich nicht ich selbst war. Da ich ja kein Sternenmädchen bin, kann Teds Theorie mit der Sternenkonstellation nicht stimmen. Es muss einen anderen Grund haben, weshalb ich mich so von ihm angezogen fühlte, aber mir fällt keine vernünftige Erklärung ein. Doch das ist im Moment auch nicht wichtig, jetzt geht es um was anderes.

„Es tut mir leid!“
„Denk da bitte nie wieder dran. Wir finden eine Lösung, die nichts mit etwas zu tun hat, wofür wir dann am Ende auf dem Stuhl landen, oder so.“
Ich nicke. Klar, was soll ich auch sonst machen? Ted seufzt.
„Ach, wenn es hier unten bloß Handyempfang geben würde. Dann könnten wir die Polizei rufen und alles wäre gut.“ Er erwidert meine Umarmung und drückt mich so fest an sich, dass mir beinahe die Luft wegbleibt. „Ich liebe dich so sehr, Val.“

Nach diesen Worten steht er auf und zieht sich an. Auch mir wirft er meine Kleidung zu, die ich mir angewidert überstreife. Ich stinke und jetzt schäme ich mich dafür, dass Ted mich so sehen muss. Und meine Zähne! Ich hab meine Zähne schon ewig nicht mehr geputzt! Schnell lege ich eine Hand über meinen Mund.

Ted grinst.
„Hey, Val, ich hab grad mit dir geschlafen. Ich find dich nicht eklig.“
„Woher weißt du, dass ich das gerade denke?“, nuschle ich.
 „Ich kenn dich.“ Er setzt sich neben mich und umarmt mich. „Du bist wunderschön, egal, wie lange du nicht mehr geduscht hast. Du wirst in meinen Augen immer die Schönste sein.“
Ich schmiege mich an ihn und denke eine Weile über seine Worte nach. Es ist irgendwie schmalzig, was er zu mir gesagt hat, aber ich liebe ihn ja auch so, wie er ist und finde, dass er perfekt ist und so. Dennoch entweicht mir nach einer Weile ein langer Seufzer.
„Ich hätte trotzdem gern eine Zahnbürste.“

Einige Stunden später, wir sind beide ein wenig eingedöst, hämmert es an der Tür und wir fahren erschrocken auseinander.
„Macht auf, ihr Waschlappen!“
Es ist Fred, wer sonst. Ted tut, was er sagt, dabei murmelt er irgendwas von wegen, dass es jetzt wohl losgeht.
Fred ist nicht allein, mit ihm stehen zwei Männer auf dem Flur. Sie sind ungefähr zwei Meter groß und haben eine Statue von einem Bodybuilder. Bah.
Ich hab ja kein Problem damit, wenn ein Kerl richtig schön trainiert ist. So wie Ted. Ein leichtes Sixpack, Bizeps, bei denen man darauf vertrauen kann, dass sie einen vor allem beschützen. Aber diese Bodybuilder... bäh. Ich finde es richtig widerlich, wie die manchmal aussehen.
Während ich über diese zwei Kerle nachdenke, reden Ted und Fred – die Namen irritieren mich immer wieder – darüber, was wohl als nächstes passiert. Das ist mir vollkommen egal, Hauptsache, ich kann endlich aus diesem Gefängnis raus.

Plötzlich packt mich einer der Bodybuilder und hebt mich hoch. Ich schreie erschrocken auf und übertöne damit Teds Knurren. Fred lacht.
„Keine Sorge, Val, er tut dir schon nichts. Ich kann nur nicht riskieren, dass du wegläufst, verstehst du? Und so wird Ted uns folgen.“
Er geht voran und ich spüre, wie der Schrank mich über die Schulter wirft und sich auch in Bewegung setzt. Ted ist in meinem Blickfeld und er sieht wütend aus, sehr wütend. Ich zwinge mich zu einem Lächeln, versuche damit, ihn ein wenig zu beruhigen. Ich will nicht, dass er was Dummes tut. Das wäre  nicht so gut, in unserer Situation – wir sind die Gefangenen und sie können mit uns machen, was sie wollen.

Sie bringen uns in einen großen, fensterlosen Raum, an dessen Ende eine lange Tafel steht, an der sechs verschiedene Männer sitzen. Fred lächelt.
„Das sind unsere Vertreter aus Australien, Europa, Afrika, Asien und der Antarktis.“
„Der Antarktis? Oh Gott!“
Ein Mann von denen guckt mich wütend an, was mich sofort zum Schweigen bringt.
„Und wo ist der 'Meister'?“, fragt Ted mit teilnahmsloser Stimme.
„Er wird bald kommen“, erwidert Fred und lässt sich dann auf einem Stuhl nieder.

Ted und ich werden stattdessen weiterhin von den Schränken festgehalten. Während wir warten, suche ich seinen Blickkontakt, doch er starrt nur wütend vor sich her und scheint nachzudenken. Auch ich bin ein wenig verwirrt, weil er mir ja erzählt hat, dass er persönlich von diesem Mann, den sie Meister nennen, hereingelassen wurde. Und jetzt steht er neben mir, als Gefangener. Ich verstehe gar nichts mehr. Es ist alles so kompliziert! Wieder mal wünsche ich mir, jemand anderes zu sein. Nicht in die Zukunft sehen zu können. Kann mir nicht ein Mal ein Wunsch gewährt werden? Ich hasse mein Leben, hasse, hasse, hasse es!
Plötzlich spüre ich, wie mein Geist langsam abdriftet. Keine Vision, bitte! Nicht hier!

Sie hält seine Hand.
„Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch“, erwidert er lächelnd. „Ich werde dich heiraten, Baby, und dann bekommen wir ein oder zwei Kinder.“
Sie lacht glücklich.
„Ja! Einen Jungen und ein Mädchen... eeehm... Jack und Larissa!“
Er grinst.
„Darüber reden wir noch.“
Seine Lippen berühren die seiner Freundin. In diesem Moment hört man einen Schuss. Der junge Mann schreit kurz auf, prallt ein Stück nach vorne. Ihr Blick ist entsetzt, sie schaut ihn an. Auf seiner Brust breitet sich ein roter Fleck aus. Der Schuss muss ihn in den Rücken getroffen haben. Während sie spürt, wie er sich auf sie stützt, wie sich Panik in ihm ausbreitet, wirft sie einen Blick über seine Schulter. Sie sieht den Schatten eines Mannes, der gerade um die nächste Ecke verschwindet.
„Baby“, hört sie die Stimme ihres Freundes, voller Schmerz und Angst. „Baby.“
Sie lässt sich mit ihm auf den Boden nieder, streicht ihm das Haar aus dem Gesicht, tröstet ihn, bis er leblos in ihren Armen liegt. Dann beginnt sie zu weinen.

„Nein! Lasst sie in Ruhe!“, brüllt Ted.
„Vergiss es!“, höre ich Freds Stimme.
„Unglaublich, einfach unglaublich!“, eine dritte. Die dritte Stimme gehört demjenigen, den Fred 'Meister' nannte, als ich nach unserer Ankunft hier aufgewacht bin. „Einfach unglaublich. Was sie wohl gesehen hat?“
Ich spüre, dass er sich über mich beugt und dann eine feuchte Hand auf meiner Wange, die sofort einen Würgereflex in mir hervorruft.
„Finger weg!“, höre ich wieder Teds Stimme, dann Geräusche, die mich auf einen Kampf zurückschließen lassen.
Danach herrscht einen Moment Ruhe, den ich dazu nutze, meine Augen zu öffnen. Was ich sehe, beruhigt mich komischerweise. Der Mann hat dunkelblonde Haare und braune Augen. Seine Lippen sind nicht sehr voll, aber auch nicht schmal. Sie sind normal und passen gut in das schmale, männliche Gesicht, genau wie die Nase. Würde ich ihn auf der Straße treffen, würde mir sein Gesicht nicht lange im Gedächtnis bleiben. Dennoch ist er mir unsympathisch. Na gut, ich weiß auch, was er vor hat, aber trotzdem.

Vorsichtig setzte ich mich auf. Mein Kopf dröhnt, alles in mir schreit nach einem Glas Wasser. Doch ich bekomme selbstverständlich keines, denn die zwei Kerle, die Fred angeschleppt hat, zerren mich auf die Füße, zu dem Tisch und stoßen mich dann so heftig in die Richtung, dass ich auf die Knie falle. Dieser Meister-Typ hat inzwischen in der Mitte der Tafel Platz genommen und starrt jetzt kalt auf mich runter.
„Was hast du gesehen, Valerie Johnson?“
Ich öffne den Mund und versuche zu antworten, doch es kommt nur ein raues Husten aus meiner Kehle.
„Sprich!“, befiehlt er mir wütend.
Irgendwann schaffe ich es und krächze:
„Nichts.“
„Lügnerin!“, brüllt er.
Langsam erhebt er sich, kommt um den Tisch herum und gibt mir dann eine kräftige Ohrfeige, welche mir die Tränen in die Augen treibt.
„Ted!“, schluchze ich.
Der Kerl lacht.
„Dein Ted wird dir nicht mehr helfen können. Fred kümmert sich gerade um ihn und ich bin mir sicher, dass danach nicht mehr viel von ihm übrig ist.“
Mit einem ekelhaften Grinsen kommt er mit seinem Gesicht auf die Höhe von meinem.
„Und jetzt sag mir, was du gesehen hast. Oder du wirst den heutigen Tag nicht überleben.“

18.

Ich habe Angst. Mein Herz klopft wie wild, meine Hände schwitzen, mein Mund ist ganz trocken. Meine Gedanken kreisen nur um eines: Ted. Wo ist er? Was machen sie mit ihm?
Ich hoffe, dass es nicht so schlimm ist wie das, was sie mit mir tun.

Nachdem ich mich geweigert hatte zu reden, war dieser Meister total ausgetickt. Er hat rumgebrüllt und getobt. Trotzdem kam kein Wort über meine Lippen. Einerseits, weil ich nie, nie, nie erzähle, was in meinen Visionen passiert. Und vor allem nicht solchen Menschen. Und außerdem... ach, keine Ahnung. Ich will es halt nicht!
Er soll nicht wissen, was er tun wird. Denn ich bin sicher, dass er der Kerl mit der Pistole war. Wer sonst? Sonst käme nur noch Fred in Frage und der ist ein wenig muskulöser gebaut.

Nun ja, was sie mit mir tun, lässt sich in einem Wort beschreiben. Folter.
Sie haben mich auf eine Pritsche gelegt und meine Arme und Beine gefesselt. Erst bekam ich Schläge ins Gesicht, immer wieder, dann holte der Meister eine Peitsche und jetzt schlägt er mich mit dieser.
Ich bringe keinen Ton über meine Lippen, nicht einmal schreien tue ich. Die Schmerzen sind grauenvoll, doch nie werde ihnen die Gelegenheit geben, mit mir zu experimentieren oder mich zu benutzen.  

Ted

Eine warme Flüssigkeit tropft auf den Boden. Er hört das Geräusch des Aufkommens. Ein leises, stetiges 'Platsch'. Im Sekundentakt. Platsch. Platsch. Platsch...
Seine Glieder Schmerzen, er kann sich kaum bewegen. Doch er muss. Für Valerie. Er muss zu ihr und sie retten. Seine Valerie. Seine Prinzessin.Seine Hände zucken, aber er kann sich nicht aus den Fesseln befreien, die sein Bruder ihm angelegt hat. Sein eigener Bruder. Der Bruder, dem er eigentlich immer vertraut hat, dem er vor einiger Zeit noch sein Leben in die Hände gelegt hätte.
Er nutzt all seine Kräfte, doch sein Körper gehorcht ihm nicht mehr, nein, er entgleitet ihm. Auch sein Wille wird schwächer, er kommt nicht mehr gegen das an, was mit seinem Körper geschieht.
Kurz darauf  schlingen sich die Fäden der Ohnmacht um ihn und einen Moment später ist sein Geist nicht mehr anwesend.

Fred

Still beobachtet er, wie sein Bruder das Bewusstsein verliert. Er sieht schlimm aus. Am ganzen Körper hat er Wunden und aus jeder fließt Blut. Kein Wunder, dass er sich verabschiedet hat.
Mit einem Seufzer nimmt er ein Tuch aus seiner Tasche und geht zu seinem Bruder. Er reißt das Tuch in Streifen und beginnt die Wunden zu verbinden, damit Ted nicht noch mehr Blut verliert. Wieso er das tut, ist ihm in diesem  Moment schleierhaft, doch als er fertig ist, wird ihm bewusst, warum.

Ted ist sein Bruder.

Er liebt ihn. Er liebt diesen kleinen, unvorsichtigen Kerl. Und Ted ist alles, was er noch an Familie hat. Er lässt sich an der Wand heruntergleiten und schließt die Augen, um seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen zu lassen.

„Freeed!“, lacht der Junge. „Gib es mir wieder! Bitte!“
„Hol es dir doch!“, ruft der etwas Ältere und rennt mit einem breiten Grinsen davon.
Sofort nimmt der Kleinere die Verfolgung auf und schafft es tatsächlich seinen Bruder einzuholen. Dieser bleibt stehen und hält den Gegenstand, um den es geht, weit über seinen Kopf.
„Na, kannst du so hoch springen!“
„Klar!“, ruft der kleine Ted von sich überzeugt und springt hoch.
Doch wie erwartet schafft er es nicht, an sein Spielzeug zu kommen. Eine Weile versucht er es, dann gibt er auf und bleibt mit zittriger Lippe ruhig stehen.
„Fred, bitte“, flüstert er traurig.
Fred versteht sofort, dass es für Ted nun kein Spaß mehr ist und gibt ihm schnell, was er verlangt.
„Hier, Kleiner.“
„Danke!“
Ted lächelt glücklich, setzt sich auf den Boden und spielt weiter. Fred schaut sich kurz um, um zu überprüfen, ob jemand von seinen Freunden in der Nähe ist. Doch dies ist nicht der Fall, also kann er sich beruhigt neben ihn setzen und gemeinsam mit ihm spielen.

Etwa eine halbe Stunde später schallt die schönste Stimme der Welt zu ihnen: Die ihrer Mutter.
„Kommt rein, Kinder! Es gibt Essen!“
Fred und Ted springen auf und stürzen zu ihr, schmeißen sich in die liebevoll Umarmung ihrer Mama. Auch der Vater kommt dazu, umarmt seine Söhne.
Das Abendessen ist wie immer, alle reden durcheinander und sich gegenseitig rein. Hinterher müssen die Kinder Zähne putzen, bekommen eine Geschichte vorgelesen und sollen dann schlafen.

Fred wird am nächsten Morgen durch einen Schrei seines Bruders geweckt.
„MAMA!!! PAPA!!! WACHT AUF!!!“
Er stürzt dorthin, wo er Ted vermutet und sieht das Entsetzliche. Seine Eltern liegen am Boden, die Augen weit aufgerissen, eine Blutlache hat sich um sie herum gebildet. Sie sind tot.
Im nächsten Augenblick geht die Tür auf und derjenige, der sich in der Zukunft Meister nennt, kommt herein.
„Fred. Ted. Ihr seid jetzt meine Söhne.“

Heftig schüttelt Fred den Kopf. Woher kommt jetzt dieser Gedanke? Diese Zeit hat er schon lange aus seinem Gedächtnis verbannt. Es schmerzt zu sehr, daran zu denken. Ted hat tagelang geweint und Fred nicht gesprochen. Solange, bis der Meister begann, sie zu verprügeln, damit sie damit aufhören und sich wie 'normale' Kinder verhalten. Nicht wie Kinder, die ihre Eltern verloren haben und bei deren Mörder leben mussten.Erneut schüttelt Fred seinen Kopf. Wie konnte er verdrängen, dass der Meister ihm alles genommen hat? Seine ganze Kindheit zerstört hat? Doch die Antwort ist eigentlich eindeutig. Er wollte nicht auch noch zerstört werden. Er hat sich gefügt, im Gegensatz zu seinem Bruder. Einfach, weil er nicht getötet werden will.
Sein Blick schweift zu Ted und entschlossen steht er auf. Er wird nicht zulassen, dass sein kleiner Bruder stirbt. Der Meister kann ihm nicht auch noch den Rest seiner Familie nehmen. Er wird für Ted und Valerie kämpfen, ab jetzt, bis er sie gerettet hat und noch länger. Das ist er ihnen schuldig, nachdem er das Leben der beiden so kaputt gemacht hat.

Valerie

Irgendwann lassen sie von mir ab und gehen weg. Ich liege weiterhin dort, noch immer gefesselt, doch ich werde zufrieden gelassen und das tut mir gerade total gut. Okay, ich gebe zu, dass es mir noch besser gehen würde, wenn ich nicht hier läge und wenn ich nicht gefesselt wäre, sondern wenn ich zuhause in meinem Bett wäre, am besten noch mit Ted. Und nackt. Wenn er mich küssen würde  und seine Hände auf meiner Haut wären. Ich will spüren, wie er in mich eindringt und es mir macht und mich zum Höhepunkt bringt – was er bisher noch nicht geschafft hat, aber wir haben ja auch erst zwei Mal miteinander geschlafen – und mir sagt, dass er mich liebt. Er soll einfach bei mir sein! Ich will von ihm im Arm gehalten werden, ich will seinen Duft in meiner Nase haben!

Und plötzlich bin ich bei Ted. Ich hab es wieder geschafft meinen Körper zu verlassen, juhu! Ich schwebe zu ihm – nur um mit Entsetzen feststellen zu müssen, dass er im Sterben liegt. Oder besser hängt. Sie haben ihn mit den Armen nach oben gefesselt, die sind Beine gespreizt und auch gefesselt. Der ganze Körper ist verwundet und auch, wenn sich jemand die Mühe gegeben hat und ihn verbunden hat, ändert das nichts daran, dass Ted blutet und viel zu flach atmet. Meine Angst, die ich sowieso bereits empfinde, steigert sich ins Unermessliche. Mein körperloses Herz beginnt zu flattern und ich spüre, dass ich weinen muss. Und da geschieht es. Kleine, sehr kleine, Tropfen fallen von meinen Wangen auf Ted. Und überall, wo diese Tropfen ihn treffen, heilt seine Haut. Ich schluchze überrascht und versuche mehr dieser sonderbaren Tränen zu produzieren.
Eine Weile bleibe ich so, versuche Ted zu heilen, doch ich merke schnell, dass meine Tränen nicht ausreichen. Dennoch versuche ich es weiter.

Eine Weile später spüre ich ein Ziehen und höre ein leises Gemurmel. Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat, aber ich werde zurück in meinen Körper gezogen. Angekommen brauche ich erst einen Moment, um mich an die Schmerzen zu gewöhnen. Dann schlage ich die Augen auf – und sehe direkt in die von Fred.

19.

„Psst“, flüstert er, als ich meinen Mund öffne. „Ich hol dich und Ted hier raus.“ Er löst meine Fesseln, hilft mir, mich aufzusetzen und reicht mir dann einen Bademantel. „Zieh das an.“ Nervös fährt er sich mit der Hand durch die Haare. „Ich weiß noch nicht genau wie, aber ich schaff das. Ich... ich kann nicht zulassen, dass sie Ted weh tun.“
„Das fällt dir aber früh ein!“, zische ich.
„Oh, Valerie, du verstehst mich nicht.“
Seine Augen suchen meine und ich erwidere seinen Blick starr.
„Ich weiß, dass du ihn so zugerichtet hast.“
„Woher weißt du...“
„Sagen wir, ich habe Talente, von denen ich selbst nichts wusste.“
Er greift nach meiner Hand und zieht mich vorsichtig hinter sich her. „Wir gehen erstmal in mein Zimmer. Ich hab noch nicht wirklich einen Plan, wie wir ihn und dich retten sollen. Aber wir kriegen das hin! Heute Abend muss ich mit dem Meister essen, vielleicht ergibt sich was.“
„Bis dahin haben sie entdeckt, dass ich verschwunden bin.“
„Ach Mist, daran hab ich nicht gedacht. Kacke“, flucht er leise, während er mich in einen Raum zieht.

Freds Zimmer ist nichts besonderes. Es ist schlicht eingerichtet, ein schmales Bett und ein kleiner Schrank aus hellem Holz stehen darin. Das wars. Für mehr ist auch eigentlich kaum Platz, tatsächlich sieht es aus, wie bei Ted zuhause.
„Ihr habt einen ähnlichen Geschmack“, flüstere ich leise und lasse mich vorsichtig auf das Bett sinken.
Fred schaut mich an und lächelt dann leicht.
„Wir sind ja auch Brüder. Ja, es kommt wirklich spät. Es tut mir so verdammt leid, was ich die letzten Jahre getan habe.“
Ich nicke und befühle vorsichtig meine Wunden.
„Kannst du uns nicht einfach zur Polizei bringen, damit wir gegen deinen Meister aussagen können? Wie heißt der eigentlich richtig?“
„Ich hab keine Ahnung.“ Er setzt sich neben mich und schaut nachdenklich auf seine Füße. „Wenn ich ein Handy finde, das funktioniert, könnte ich theoretisch die Polizei rufen.“
„Weißt du, was sie hier wirklich vorhaben?“
„Es wird immer erzählt, dass sie die Weltherrschaft übernehmen wollen, aber ich kann das nicht wirklich glauben. Dass es noch mehr Mädchen gibt, die so aussehen wie du und was können, das stimmt, das hab ich dir ja schon mal gesagt. Es gibt auch auf jedem Kontinent so ein Gebäude wie das hier.“ Er schaut mich an. „Ich denke schon, dass sie die Welt regieren wollen. Wenn sie genug Leute hier haben, die solche Talente wie du haben, die in die Zukunft schauen können, die vorhersagen können, wer welchen Krieg gewinnt, einfach alles, das wäre revolutionär!“
Ich kann nicht anders, ich muss den Kopf schütteln.
„Ruf einfach die Polizei, ja? Ich will einfach nur noch nach Hause.“
Mein Blick heftet sich wieder auf den Boden.
„Mach ich. Ach und Val?“ Ich hebe meinen Kopf wieder und sehe ihn an. „Wenn mein Bruder stirbt, dann bist du nicht schuld, kapiert?“

Ich lasse mich nach hinten in die weichen Kissen sinken und genieße für einen Moment die Ruhe, während Fred verschwindet.
Es dauert nicht lange, da kommt er zurück und legt den geschundenen Ted neben mich. Sofort setze ich mich auf und beuge mich über ihn.
„Ted?“
„Er kommt bestimmt bald zu sich“, sagt Fred und zieht ein Handy aus der Tasche. „Auch, wenn ich mir eigentlich nicht so viel Hoffnung mache“, fügt er leise hinzu. „Aber für den Fall soll die Polizei am besten gleich einen Krankenwagen mitbringen. Oder mehrere. Ich hab nämlich so das Gefühl, dass es noch mehr Verletzte geben wird.“ Er wirft noch einen Blick auf Ted. „Pass gut auf ihn auf, ja? Ich weiß nicht, ob ich euch nochmal sehen werde. Ich gebe der Polizei die Raumnummer durch, ich selbst werde den Meister ablenken.“ Mit einem Schritt ist er bei mir und drückt mir einen Kuss auf die Wange. „Es war schön, dich kennenzulernen. Ich bin sicher, dass du Ted glücklich machen wirst.“
Nach einem letzten Blick auf Ted verschwindet er aus der Tür.
Ich schaue wieder meinen Freund an und seufze leise. Hoffentlich geht das alles gut! Mit dem Opfer, das Fred bringt, bin ich nicht wirklich glücklich, aber was soll ich tun? Hier versauern?

Plötzlich hör ich ein leises Geräusch neben mir. Es klingt schmerzlich, doch ich kann nicht anders, als mich auf Ted zu schmeißen. Tränen bannen sich den Weg über meine Wangen.
„Ted!“, schluchze ich. „Du lebst!“
„Val...“, flüstert er schwach.
Ich spüre, wie er versucht seine Hand zu heben, was mich dazu bringt, mich von ihm zu lösen.
„Tut mir leid, ich wollte dir nicht weh tun.“ Zärtlich schau ich ihn an und streiche ihm über die geschundene Wange. „Geht es soweit?“
„Wo ist Fred?“, fragt er, anstatt eine Antwort zu geben.
„Die Polizei rufen. Er ist... ihm ist eingefallen, wie sehr er dich eigentlich liebt und hat gesagt, dass er alles tut, damit wir gerettet werden.“
„Ich liebe ihn auch“, flüstert Ted leise und lächelt ganz leicht. „Aber dich noch viel mehr.“
„Du bist süß“, antworte ich genauso leise und lege mich vorsichtig neben ihn, schmiege mich leicht an ihn. „Ich liebe dich auch.“
„Heirate mich, Val.“ Seine Stimme ist fest, sein Blick ernst. „Heirate mich, wenn wir wieder zuhause sind.“
„Ja“, nicke ich und lächle ihn mit Tränen in den Augen an. „Ja, Ted. Ich werde dich heiraten.“
'Falls du das hier überlebst', füge ich in Gedanken hinzu und lege meinen Kopf vorsichtig auf seine Brust, in der Hoffnung, ihm nicht weh zu tun. Wenige Sekunden später, verliert Ted wieder das Bewusstsein.

Keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, in der ich Ted ununterbrochen beobachte, hoffe, dass er noch einmal aufwacht, als die Tür mit einem lauten Knall aufgeht. Vor uns steht ein seltsamer Typ, der mir ziemlich bekannt vorkommt. Nach einem kurzen Augenblick fällt mir auch wieder ein, wer es ist. Einer von Freds Schränken nämlich.
„Na“, grinst er. „Da sind die beiden Flüchtlinge ja. Hey, Kalle!“, brüllt er mit einer ohrenbetäubender Lautstärke über seine Schulter. „Hab sie!“
Der zweite Schrank kommt hinzu.
„Geil! Wir werden voll so befördert, Alter!“
„Ja, man! Krasse Sache, was?“
Ich bekomme währenddessen Panik und rutsche vor Ted. Lieber passiert mir was, als dass es ihm noch schlechter geht!
„Schau mal, das Kätzchen hat Angst, dass wir ihrem Stecher was tun“, lacht derjenige, der Kalle genannt wurde.
„Als ob! Sie ist doch die einzig Interessante!“, erwidert der andere und streckt seine ekligen Hände zu mir aus.
Er erreicht mich aber nicht, denn kurz bevor er es tut, ertönen vier laute Schüsse und kurz darauf breiten sich jeweils zwei Blutflecken auf den Brüsten der Schränke aus. Als sie zu Boden sinken, sehe ich den Verantwortlichen dafür – oder eher die Verantwortliche: Piper.

„Alles okay bei euch?“, fragt sie mit verbissenem Blick.
Ich nicke mit offenem Mund, doch dann schüttle ich den Kopf.
„Piper?“
„Ich weiß seit einer Weile, dass sie hinter dir her sind. Daher hab ich mich als Schülerin auf die Highschool geschmuggelt. Aber dass dieser Fred dich vom Schiff runter entführt, habe ich nicht mit eingerechnet.“ Sie geht zu Ted und streicht ihm vorsichtig über die Wange. „Ich ruf ein paar Sanitäter her.“ Während sie sich umdreht, spricht sie weiter. „Val, ich wollte mich dir gegenüber nicht so arschig verhalten, aber ich musste. Wenn wir Freunde gewesen wären, hättest du vielleicht irgendwann herausgefunden, wer ich wirklich bin. Tut mir echt leid.“
Damit verschwindet sie und ich bleibe total verwirrt zurück.

Es dauert nicht lange, bis die Sanitäter bei uns sind. Sie beschließen, dass Ted sofort ins Krankenhaus muss, da er anscheinend in Lebensgefahr schwebt. Auch ich muss mit. Die Verletzungen nach dieser Folter sind anscheinend nicht gerade leicht, auch wenn ich keinen Schmerz fühle. Ich kann nur als an Ted denken.

Ich hab Angst! Was mach ich, wenn er stirbt? Er darf das nicht! Ich habe ihn nicht sterben sehen! In keiner verdammten Vision! Er darf nicht.
Darf nicht.
Nicht.

...


Jeder meiner Herzschläge klingt viel zu laut für die leisen Flure des Krankenhauses. Nachdem wir angekommen sind, werde ich behandelt, während Ted in den OP geschoben wird. Sie geben mir keine Auskunft, ich sei immerhin keine Familienangehörige. Ich konzentriere mich nicht auf mich selbst, es gibt nur Ted in meinem Kopf.

Später liege ich im kalten Krankenzimmer, allein, denn meine Eltern brauchen noch eine Weile, bis sie hier sind, genau wie auch Viola und Carlos.
Was aus Fred geworden ist, weiß ich nicht, auch von der Polizei ist bisher keiner aufgetaucht. Auf mein Quengeln hin, wird mir gesagt, ich solle warten, sie schauen, was sie tun können.
Warten ist scheiße.
Ehrlich.
Jedes Mal, wenn ich ein Geräusch höre, horche ich auf, hoffe, dass es jemand ist, der mir mitteilt, dass Ted außer Lebensgefahr ist, dass es ihm gut geht. Aber meistens ist es nur eine gehetzte Schwester oder eine Putzfrau.
Die Uhr scheint zu stehen, dennoch vergeht die Zeit unglaublich schnell.
Plötzlich stehen meine aufgelösten Eltern und eine verweinte Viola vor mir, die mich in den Arm nehmen und sich versichern lassen, dass es mir gut geht.
Auf einmal beginne ich wieder zu weinen, obwohl ich es versucht habe zurückzuhalten.
„Ted! Es... es geht ihm nicht gut!“, schluchze ich.
Sowohl meine Eltern als auch Vi zucken zusammen, als sie mein verletzten Körper sehen. Meine Eltern überhäufen mich sofort mit ihrer Fürsorge, die mir zu dem Zeitpunkt relativ egal ist.
„Wie ist das passiert!“, ruft meine Mutter aus.
„Was hat er?“, fragt Vi mich stattdessen leise, da sie weiß, dass es mir momentan nur um Ted geht.
Sie ist halt meine beste Freundin. Schnell erzähle ich alles, was in diesem seltsamen Gebäude passiert ist. Alle erblassen und nehmen dann mit mir Platz.

Jetzt warten wir gemeinsam. Es ist auf einmal nicht mehr ganz so schlimm – auch, wenn die Zeit wieder nicht vergehen zu scheint. Erst, als die Sonne wieder aufgeht, kommt ein verwirrt wirkender Mann in mein Zimmer.
„Valerie Johnson?“
Heftig nicke ich.
„Mr. Bostwick fragt bereits nach ihnen.“
Erst seufze ich vor Erleichterung, doch dann werde ich wütend.
„Es hat uns niemand Bescheid gegeben! Wo ist er! WO!“, brülle ich den armen Mann an.
Kleinlaut nennt er mir die Zimmernummer und wendet sich dann meinen Eltern zu, während ich mich aus dem Bett hieve. Viola ist schnell an meiner Seite und hilft mir in einen Rollstuhl, um mich in Teds Zimmer zu bringen. Einen Moment brauchen wir, um den Raum zu finden, doch kaum sind wir dort, stürzen wir einfach hinein.
„Ted!“, rufe ich laut und schaue ihn besorgt an.

Ted schaut schwach zu mir und lächelt leicht. „Hey, Val. Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“
„Sie haben mir nicht Bescheid gegeben!“
Viola schiebt mich an den Bettrand und verschwindet dann. Ich beuge mich zu Ted und streiche ihm über die Wange.
„Wie geht es dir?“
„Geht so.“ Er nimmt meine Hand aus seinem Gesicht und zwischen seine Hände. „Ich liebe dich.“
„Ich dich auch“, flüstere ich und hauche ihm einen Kuss auf die Lippen.
„Morgen kauf ich dir einen Ring“, murmelt er, bevor er wieder einschläft, meine Hände fest in seinen verschlossen.

Impressum

Texte: A.-C. N.
Bildmaterialien: A.-C. N.
Tag der Veröffentlichung: 10.02.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Mama, die immer für mich da ist. Danke dafür.

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