Ängstlich blickte ich mich um. Wo war meine Familie? „Amelie! Komm hier rüber!“, rief mein großer Bruder Lorenz mir zu. Schnell drehte ich mich in Richtung der Stimme und lief los. Als ich das Gebüsch erreichte, zog mich jemand hinein. Panisch begann ich zu kreischen. „Bist du verrückt geworden?! Du machst ja alle auf uns aufmerksam!“, flüsterte mein Bruder, während er mir den Mund zuhielt. Sauer riss ich seine Hand weg und zischte: „Spinnst du?! Du hast mich total erschreckt!“ Doch anstatt sich zu entschuldigen lachte er. „Das ist nicht witzig! Wo sind eigentlich die anderen?“, fragte ich, weil ich schon seit einer Viertelstunde niemanden gesehen hatte. Ich stand auf. Lorenz zeigte zum Strand und stand ebenfalls auf. „Wenn alle schon am Strand sind, weshalb muss ich dann leise sein?“, fragte ich. Lorenz zuckte mit den Schultern und meinte: „Angewohnheit! Außerdem sind noch nicht alle da. Mam und Dad wollen nicht, dass wir als Letzte kommen, weil wir dann die ganze Aufmerksamkeit auf uns ziehen würden. Wenn wir allerdings nicht bald losgehen, kommen wir trotzdem als Letzte an.“Er ging los und zog mich dabei mit. Plötzlich war ich viel zu aufgeregt um mich zu beschweren. Immerhin waren wir auf dem Weg zum Strand wo sich die übrigen vier Familien zum ersten Mal vollständig versammelt hatten.
Nach kurzer Zeit erreichten wir den Strand. Was ich sah versetzte mich in Panik. Gleichzeitig fand ich es aber auch überwältigend. Über 150 Menschen saßen vor einem Podest aus Holz. Die Menschenmenge hatte sich in vier Gruppen getrennt. Das waren die vier Familien. Ganz links saß meine Familie. Ich sah meine Mutter, die nach uns Ausschau hielt. Als sie uns sah winkte sie uns zu sich. Während wir zu ihr hinüber gingen standen die zwölf Vertreter der Familien auf und stiegen auf das Podest. Drei aus jeder Familie. Vorher hatten wir noch nie Vertreter. Die haben wir auch nicht gebraucht. Aber da es ein ganz schönes Durcheinander geben würde, wenn bei so einer großen Versammlung jeder etwas sagen wollte, hatten wir unsere Meinung einfach aufgeschrieben und unseren Vertretern gegeben.
Lorenz und ich setzten uns zu unserer Mutter und die Vertreter begannen mit der Versammlung. „Ihr wisst alle weshalb wir uns hier versammeln. Wir wollen uns an den Männern und Frauen auf diesem Schiff dort rächen!“, begann einer unser Vertreter, während er auf ein Schiff in etwa 100 Kilometern Entfernung zeigte.
„ Vor einigen Jahren haben sich unsere Familien bereit erklärt an diesem Projekt teil zu nehmen. Doch damals hat wahrscheinlich keiner geahnt, wie schrecklich es hier werden wird! Ich selbst kann mich nicht an mein Leben vorher erinnern, da ich noch zu klein war. Aber die Älteren von uns haben bestimmt jeden Geschichten über die wirkliche Welt erzählt. In diese Welt wollen wir alle zurückkehren. Doch das geht nicht so einfach! Zuerst müssen wir die Menschen auf dem Schiff ausschalten. Sie halten uns hier wie Tiere! Sie lassen uns gegen einander kämpfen und schauen sich unsere Kämpfe über Kameras an. Wenn wir nicht kämpfen, bringen sie jemanden um, der uns wichtig ist oder foltern uns! Jetzt ist es endlich an der Zeit, dass wir dem ein Ende setzen! Wer derselben Meinung ist hebt jetzt bitte die Hand."
Auffordernd guckten die Vertreter zu uns hinunter. Ich schaute meine Mutter an. Als sie mir zunickte, hob ich meine Hand. Neugierig sah ich mich um und sah, dass fast alle die Hand erhoben hatten.
Die Vertreter sahen zufrieden aus. Ein Vertreter der Familie Farin trat vor und sprach weiter: „Schön das so viele der gleichen Ansicht sind wie wir. Uns ist klar, dass es auch schief gehen kann. Viele werden sterben und es wird auch viele Verletzte geben. Doch ich bin der Meinung, dass es das wert ist! Sollten wir verlieren könnte es sein, dass sie uns alle umbringen. Allerdings sind wir ihnen überlegen, weshalb ich davon ausgehe, dass wir siegen und damit endlich wieder in Freiheit leben können! Natürlich ist uns klar, dass nicht alle kämpfen können oder wollen, aber wir hoffen, dass es genug mutige gibt. Diejenigen die kämpfen wollen kommen morgen bitte zur selben Zeit wieder her. Die anderen können Zuhause bleiben. Niemand wird euch etwas vorwerfen, wenn ihr morgen nicht kommt.“
Mein Onkel, der vor mir saß, schnaubte. Er war der Ansicht, dass jeder dazu verpflichtet war zu kämpfen. Die einzigen Ausnahmen die er gelten lassen würde wären: zu alte Leute, Kinder und Babys und Leute die gesundheitlich nicht in der Lage waren zu kämpfen.
„Wir müssen die Versammlung nun beenden, da Dajana und Alisha die Kameras nicht mehr länger täuschen können. Wir wünschen euch noch einen schönen Tag und hoffen viele von euch morgen zu sehen!"
Ich blickte zu Dajana und Alisha hinüber. Sie gehörten zu der Familie Malik und waren Zwillinge. Die zwei saßen an dem einen Rand des Podestes und hielten sich an den Händen. Sie hatten die Augen geschlossen und ihre Gesichter waren vor Anstrengung verzehrt. Schweiß lief ihnen über die Stirn. Ich fragte mich, wie vielen Kameras sie gerade Kämpfe und gewöhnliche Alltagssituationen vorspielten. Schon allein diese riesige Versammlung zu vertuschen musste extrem schwierig sein!
Nun meldete sich ein Vertreter der Familie Malik zu Word: „Es wäre nett wenn ihr SCHNELL in eure Positionen schlüpft!“
Jeder hatte eine bestimmte Position bekommen, in der er sich gerade laut Kamera befand. Ich musste in meine Hängematte und mein Buch lesen. Schnell sprang ich auf und lief mit meiner Familie nach Hause. Dort angekommen schnappte ich mir mein Buch und warf mich in die Hängematte. Mein Bruder stritt sich mit unserer Mutter und mein Vater schlief. Doch statt wirklich zu lesen dachte ich über den anstehenden Kampf nach. Ich würde gerne mitkämpfen. Das würde mein Vater aber nie zu lassen.
Als wir später Abendbrot aßen, sprach ich das Thema an. Natürlich konnte ich es nicht wirklich ansprechen, falls die auf dem Schiff es hören konnten. Also sprachen wir nur über einen Kampf innerhalb der Familie, den wir angeblich in ein paar Tagen machen wollten.
„Du machst da auf keinen Fall mit!“, rief mein Vater. Ich sah ihn zornig an: „Warum denn nicht? Soll ich hierbleiben und hoffen, dass ihr wieder kommt?“
„Ich habe gesagt du bleibst hier und dabei bleibt es auch!“
Zum Glück war mein Onkel auf meiner Seite. Ich hatte ihn extra deshalb zum Essen eingeladen.“Lass sie doch kämpfen! Umso mehr kämpfen, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir gewinnen und ihr nichts passiert!“
Jetzt mischte sich auch Lorenz ein: „Sie ist wirklich gut im Kämpfen! Und ich würde auch die ganze Zeit bei ihr bleiben! Sie würde hier durchdrehen, wenn wir alle gehen und sie hierbleibt. Dann würde sie bestimmt etwas Dummes tun, z.B. uns nach laufen.“ Ich nickte heftig.
Mein Vater seufzte. „Na gut. Aber du bleibst immer bei Lorenz und bringst dich nicht in Gefahr. Halt dich wenn möglich von den Kämpfen fern!“
„Danke!“, rief ich und fiel ihm um den Hals.
Ich durfte mit! Mann, war das toll! Und mit meiner Gabe konnte ich bestimmt gut helfen. Immerhin konnte ich alles verformen und herausreißen. Egal ob es aus Stahl oder Pappe war.
Am nächsten Tag war ich so aufgeregt wie lange nicht mehr. Heute würde der Kampf sein!
Als wir uns am Strand versammelten, sah ich, dass fast alle da waren.
Eine Sprecherin der Familie Patte trat vor und sprach: „Ich weiß, dass ihr es kaum erwarten könnt. Doch vorher müssen wir noch ein paar Dinge sagen. Erstens: wir Familien sind auf einer Seite und bekämpfen uns bei diesem Angriff nicht gegenseitig.
Zweitens: jeder hilft jedem! Egal aus welcher Familie derjenige kommt der Hilfe braucht. Ihr werdet ihm helfen.
Und drittens: keine allein Gänge! Wir sind ein Team. Niemand wird sich während des Kampfes oder nach dem Kampf als Helden oder alleinigen Bezwinger aufführen.
O.k.? Wer nicht einverstanden ist, hat jetzt noch die Möglichkeit zu gehen. Sonst möchte ich euch bitten los zu schwimmen! Boote würden sie sehen. Also viel Glück und einen guten Sieg!“
Alle sprangen auf. Inzwischen war mir schlecht vor Aufregung. Meine Mutter nahm mich schluchzend in den Arm. „Falls mir was passiert, möchte ich, dass du immer daran denkst, dass ich dich liebe!“
Dann ließ sie mich los und umarmte Lorenz. „Und du, pass immer gut auf euch zwei auf! Ich liebe euch ja so!“ Inzwischen liefen auch mir Tränen über die Wangen.
Mein Vater kam auf mich zu und nahm mich wortlos in den Arm. Dann Lorenz.
Sobald meine Eltern losgegangen waren nahm Lorenz mich in den Arme.
„Du musst immer machen was ich dir sage und bei mir bleiben!“, flüsterte er eindringlich. Ich nickte. Dann nahm Lorenz meine Hand und wir liefen wie die anderen ins Meer. Wir waren unter den Letzten.
Sobald es ging tauchten wir unter. Es war unglaublich mit so vielen Leuten zu tauchen!
Als wir nach ein paar Minuten das Schiff erreichten, tauchten wir auf. Ab jetzt mussten wir schnell sein, da sie uns nun sehen konnten. Die ersten waren schon an Bord geklettert, von wo man verwunderte Schreie und Schüsse hörte.
Lorenz half mir beim hinauf klettern.
Als wir oben waren blieb ich erschrocken stehen. Überall lagen Leichen. Die meisten Leichen gehörten zu den Familien. Aber ich sah auch Leichen von normalen Menschen.
Plötzlich wurde ich zu Boden gerissen. Lorenz hatte mich gerade noch vor einem Speer gerettet. Dieser Speer gehörte zu den Familien. Als ich aufsah, sah ich, dass auch die Familien sich gegenseitig bekämpften. Das war ja klar gewesen!
„Komm! Wir müssen unter Deck! Hier oben sind keine Normalos mehr!“, brüllte mein Bruder gegen den Kampflärm an.
Ich nickte ihm zu und wir liefen zur Treppe. Auf dem Weg nach unten riss ich das Geländer ab und formte daraus Speere für Lorenz und mich. Grinsend nahm Lorenz seinen Speer.
Unten angekommen wurden wir sofort von einem der Familie Malik angegriffen. Ich rammte ihm gerade noch rechtzeitig meinen Speer in das Herz.
Lorenz erledigte inzwischen einen Normalo. „Ich hab einen getötet!“, rief er mir stolz zu. Ich zeigte ihm meinen Daumen.
Wir töteten noch drei weitere Normalos und ein paar Familienmitglieder der Familien.
Dann passierte es als Lorenz und ich uns gerade wegen einem weiteren toten Normalo abklatschten. Ich sah den Speer aus dem Augenwinkel, konnte aber nicht schnell genug reagieren. Der Speer landete direkt in Lorenz Bauch. Er sank auf die Knie.
„Lorenz!“, kreischte ich und zog den Speer aus ihm heraus.
Lorenz schlug auf dem Boden auf. Ich kniete mich zu ihm. Seine Lippen bewegten sich, doch es war zu laut. Ich hielt mein Ohr ganz nah an seinen Mund. Er sagte: „Immerhin hat mich keiner von den Normalos getötet. Du musst jetzt ohne mich weiter. Geh vom Schiff und bring dich in Sicherheit! Ich liebe dich kleine Schwester!“ Ich begann zu schluchzen.
„Ich liebe dich auch! Ich kann dich doch nicht zurück lassen!“
„Du musst! Bring dich in Sicherheit und erzähl deinen Kindern später Mal, dass ihr Onkel für ihre Freiheit gestorben ist.“
„Ja, ich verspreche es dir!“
Jetzt heulte ich richtig. Wie konnte das sein? Lorenz konnte doch nicht sterben! Um mich herum brach Jubel aus. Wir hatten den Kampf gewonnen. Doch nicht alle hörten auf zu kämpfen.
Ich presste mich an Lorenz und spürte wie das Leben aus ihm wich.
Minuten lang saß ich nur da und heulte. Dann stand ich auf um ihm seinen letzten Wusch zu erfüllen und mich in Sicherheit zu bringen.
Gerade als ich mich an der Treppe noch einmal umdrehte, um einen letzten Blick auf ihn zu werfen, spürte ich einen stechenden Schmerz in der Brust.
Ich sah hinunter. Aus meiner Brust ragte die Spitze eines Speeres. Ich starrte sie ungläubig an, bevor ich zusammen sackte.
Ich starb! Obwohl der Kampf eigentlich vorbei war und wir gesiegt hatten. Ich hätte ein freies und glückliches Leben haben können mit allem was ich mir je gewünscht hatte.
Mein letzter Gedanke war: Verzeih mir Lorenz!
Dann wurde alles um mich schwarz.
Tag der Veröffentlichung: 12.06.2012
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