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Weimar


oder
Die Luftveränderung


Nein, wir sollen nicht immer das gleiche Milieu genießen, den gleichen Tagesrhythmus ablaufen lassen und die gleichen Menschen anhören. Wir müssen für Abwechslung sorgen, einmal andere Luft einatmen, andere Eindrücke sammeln, andere Menschen kennen- lernen - nur so bleibt unser Geist frisch und fröhlich!

Schon lange hatten wir vorgehabt, nach Weimar zu fahren, um wenigstens die Luft einatmen zu dürfen in der Nähe unserer berühmten Goethe, Schiller, Cranach, Liszt, Herder ... Sie befinden sich aber weit entfernt von uns in einer fremden Welt der Mauern, Kontrolleure und Grenzen. Schon im Reisebüro bezahlten wir für drei Nächte sechshundert DM und waren so wenigstens vom Zwangsumtausch befreit.

Heil angekommen am Bahnhof Friedrichstraße, musste Eberhard zwei S-Bahn-Fahrkarten zur Weiterfahrt nach Lichtenberg kaufen - kaufen mit 40 West-Pfennigen. Empört und verschüchtert antwortet die Schalter- mamsell: „Wir nehmen hier keine fremde Währung an.“

Es blieb uns nur noch eine halbe Stunde bis zur Abfahrt unseres Zuges von Lichtenberg nach Weimar. Was tun - ohne Karten fahren, ein zu großes Wagnis in einem so ungewöhnlichen und merkwürdigen Staat. Die Menschen, die ich ansprach und bat, mir für meine fünfzig West-Pfennige vierzig Ost-Pfennige einzutauschen, huschten verängstigt an mir vorbei und stellten sich stumm oder blöde.

Der geniale Einfall von Eberhard, in der Wechselstelle fünfzig West-Pfennige einzutauschen, war unsere Rettung. Er bekam eine Bescheinigung, mit der ein Rücktausch innerhalb eines Jahres offiziell und ohne jede Befürchtung möglich war - für den Fall, dass wir die fünfzig Ost-Pfennige nicht würden ausgeben können. Das beruhigte uns - und wir landeten voller Zuversicht und Hoffnung in Lichtenberg.

Unsere Freunde, Irmgard und Willy, die uns mit einer Flasche „Club-Cola“ samt Flaschenöffner begrüßten und uns gute Weiterfahrt wünschten, ließen wir mit wehenden Taschentüchern am Bahnsteig zurück. Mit uns fuhr Christine. Als Schauspielerin ist sie in Ost-Berlin tätig, darf aber nicht mit uns im „Inter- hotel“ wohnen, da die Zimmer nur für valuta-trächtige Besucher aus dem kapitalistischen Ausland reserviert sind. Die ersten drei Bahnabteile konnten wir wegen des erbarmungslosen Klogeruchs nicht belegen. Im vierten Abteil fanden wir ein nettes älteres Ehepaar aus Leipzig. Sie entnahmen wahrscheinlich unserer Garderobe und unserem westlichen Parfum, dass wir West-Berliner sind und begannen gleich eine Konversation ...

„In Berlin haben wir ein paar Bananen, Medikamente und Zitronen eingekauft. Bei uns in Leipzig gibt es fast nichts außer Brot und Weißkohl, Äpfel, fettem Schweinefleisch und Kartoffeln. Ich bin Bäcker, habe ein Haus und eine eigene Konditorei und verdiene sehr schön. Was aber mit den Geld anfangen?“, sagte der Herr.

Lila und gelbe Rauchwolken begleiteten uns ab Leipzig. „Wundere Dich nicht“, meinte Eberhard zu mir, „wir fahren durch ein schwer verseuchtes Indu- striegebiet“. „Gibt es denn keine Filter wie bei uns?“, fragte ich empört. „Natürlich, wir schicken Geld in die DDR, aber wohin das gelangt, wissen die Götter. Und außerdem ist die ganze Technologie derart veraltet, fünfzig Jahre zurückgeblieben gegen unsere, sodass die Filter auch nichts nützen würden,“ erklärte mit Eberhard - „bald erreichen wir das schöne Thüringer Land. Dort gibt es keine Industrie, keinen Rauch, nur viele grüne Täler und Wälder.“

Weimar, 18.00 Uhr. Wir verließen den Zug und gerieten in eine Rauchwolke - natürlich die charakte- ristische Bahnhofskohlen-Atmosphäre. Vor dem Ausgang wartete eine große Menschenschlange auf ein Taxi. Nachdem wir erfahren hatten, dass Weimar nur 3 Taxis besitzt, nahmen wir den Bus, der bis ins Zentrum fuhr. Auch dort empfing uns die altbekannte Bahnhofsluft. Bis zu unserem Hotel „Zum Elefanten“ mussten wir durch eine Fußgängerzone laufen. Plötzlich blieb Eberhard mit unseren beiden Reise- taschen stehen. „Mir ist schwindlig, ich kann kaum weitergehen“. Mühselig schleppten wir uns die letzten Schritte bis zum Hotel. An der Rezeption erklärte uns hier ein sehr freundlicher Hotelangestellter, dass auch er täglich wegen der schlechten Luft schwindlig wird. Eine Dame, die unser Gespräch hörte, bestätigte seine Aussage: „In Weimar wird es jährlich schlimmer. Man heizt nur mit Braunkohle, die die Luft und unsere Lungen vergiftet. Es ist ein Jammer!“

Unser kleines Zimmer war ursprünglich als Einbett- zimmer konzipiert, jetzt hatte man aber zwei Betten hineingestellt, was den Devisenfluss fördert. Nur mit mühevollen Körperverrenkungen konnten wir die Badezimmertür erreichen. Welche nette Überraschung! Eine Badewanne, eine Toilette und zwei große Waschbecken, die Wände schwarz gekachelt und blitzsauber. So konnten wir uns bequem gleichzeitig - Eberhard und ich - die Hände waschen und auch die Zähne putzen. Das ersparte uns die lästigen Fragen: „Ist das Waschbecken frei? Hast Du die Hände schon gewaschen? Bist Du fertig mit dem Zähneputzen?“ Auch seidenfeines Toilettenpapier war für uns West-Berliner vorhanden. Der Braunkohlenduft aber nistete sich durch die Fensterritzen in unsere Stube und ins Badezimmer ein. Das war eben der Komfort, den uns unsere Ost-Brüder so großzügig boten.

Um der schlechten Luft auszuweichen, suchten wir das Hotelrestaurant auf. Ein hübsches junges Mädchen bediente uns äußerst freundlich. Die Speisekarte bot viele Gerichte, und das Essen schmeckte ausgezeichnet. Die bekannte Thüringer Küche war noch unversehrt geblieben. Und das angebotene westliche Trinkgeld nahm die kleine Kellnerin nicht an: „Es ist beschä- mend für uns alle, dass man in der DDR so korrupt geworden ist,“ sagte sie, „wir jungen Menschen leiden sehr in diesem Land. Es gibt bei uns in Weimar nur eine einzige Discothek, die auch von den Erfurtern besucht wird. Modische Kleidung bietet man für uns nur in den teueren 'Exquisit'-Läden an und auf eine Reise in die Bundesrepublik muss ich noch vierzig Jahre warten.“

Wir entschlossen uns, noch einen kleinen Abend- spaziergang in Weimar zu machen. Das Goethehaus am Frauenplan war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Trotzdem aber sah man schon in unmittel- barer Nachbarschaft die Löcher im Putz und die abgeblätterten Farben.

Auf einer engen, stillen und finsteren Gasse ertönte wie aus dem Himmel eine freundliche Stimme: „Geht Ihr noch so spät spazieren, Ihr Lieben?“ Wir sahen hinauf. Das große dunkle Haus mit einem winzigen beleuchteten Fenster ließ den Kopf einer alten Frau wie im Schattenriss erkennen. Uns erinnerte diese my- steriöse Erscheinung an die Erzählungen von Charles Dickens, und wir blieben auf der menschenleeren Straße stehen. „Ja ja, Sie meine ich. Ich bin aus Pommern, wohne viele Jahre hier. Mein Sohn ist Holzschnitzer und ich erinnere mich so gerne an meine Vergangenheit. Wohlhabend waren wir, die ganze Familie. Ein schönes herrschaftliches Haus und ein 'Opel'-Automobil mit Jalousien besaßen wir; heute bin ich 74 Jahre alt, höre und sehe gut, habe keine Schmerzen und freue mich täglich auf den Besuch meines Sohnes.“ Wir wünschten dieser guten Fee noch viel Freude und Glück und verließen sie.

Die Kohlenluft war so penetrant, dass wir ständig husteten. Zum Glück fanden wir hinter dem Schloss von Carl August den „Park an der Ilm“. Voller Andacht betraten wir die grüne Fläche wie eine Kirche und merkten, dass wir atmen, frei atmen durften. Dankbar umarmte ich einen der vielen alten Bäume. Eine ganze Weile lang genossen wir die schöne Luft und kehrten dann zum Hotel „Elefant“ zurück.

Die Matratzen aus Schaumgummi ließen uns bis fast auf den Boden durchsinken. Mit Rückenschmerzen wachten wir am nächsten Morgen auf.

Nach dem guten und reichlichen Frühstück besuchten wir das Goethehaus. Ein blonder, blasser, sehr bescheiden angezogener Jüngling wies uns den Rundgang. Da ich vor fünfzehn Jahren noch in Ost-Berlin wohnte und als Dolmetscherin tätig war, kannte ich das Goethehaus in- und auswendig. Meine Rückenschmerzen plagten mich nach dieser Nacht besonders stark; ich bat Eberhard, alleine mit Goethe Kontakt aufzunehmen und ersuchte den schmächtigen jungen Mann um einen Stuhl; äußerst freundlich bot er mit einen an, auf dem schon Goethe gesessen hat. Als Eberhard mich abholte, verabschiedete ich mich von dem gutwilligen Freund und gab ihm die Hand mit den Worten: „Meine Wirbelsäule bedankt sich bei Ihnen für Ihr Verständnis und Ihre Liebenswürdigkeit“. Dann schob ihm eine 5-DM-Münze in seine Hand. „Nicht doch, ich möchte das nicht von Ihnen an- nehmen, es war doch eine Selbstverständlichkeit. Falls Sie mir aber eine Freude bereiten möchten, schicken Sie mir aus dem Westen eine Ansichtskarte. Ich bin angehender Musikstudent, werde aber vorher noch meinen Armeedienst absolvieren müssen und verdiene mir bis dahin einige Groschen dazu.“

Nachmittags fuhren wir nach Erfurt. Es war ein schöner, sonniger Tag, das Thermometer zeigte 20°C. Man heizte nicht, und die Luft wurde erträglicher. Der Dom und die vielen Kirchtürme ergötzen uns, die Häuser waren aber ähnlich verfallen wie in Weimar. Gegen 15 Uhr bekamen wir Hunger und gingen ins neugebaute Hotel „Kosmos“, um zu speisen. Ich wusste, dass die deutschen Mägen ihre Mittags- nahrung nur zwischen 12 und 13 Uhr bekommen, und war überzeugt, einen freien Tisch zu finden. Und ich hatte recht: das große Restaurant war schön gedeckt und vollständig leer. Eine Kellnerin empfing uns mit den Worten: „Sind Sie Hotelgäste?“ „Nein“, antwortete ich, „wir sind keine Hotelgäste“. „Leider dürfen Sie bei uns nicht speisen, Sie sind doch DDR-Bürger.“ „Gottseidank nicht!“, lachte ich sarkastisch, „Wir sind Elefantengäste aus West-Berlin.“ „Oh Verzeihung. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt ...“ - und wir bekamen einen schönen Tisch am Fenster zugewiesen. Dank unserer Staatsangehörigkeit profitierte unsere Freundin Christine und konnte trotz ihrer DDR-Abstammung und Zugehörigkeit mit uns im „Interhotel“ am gleichen Tisch speisen. Das Essen schmeckte gut, uns es war auch relativ preiswert für uns.

Am Abend wollte ich Freunde in Ost-Berlin anrufen. Über eine Stunde warteten wir vergebens auf den Anschluss - ein Zürcher hingegen bekam sein Gespräch in die Schweiz sofort. Der zuständige Hotelangestellte an der Rezeption, ein sehr distin- guierter Herr, erklärte uns, dass es immer wieder solche Pannen im Telefonverkehr mit Ost-Berlin gibt. „Peinlich und unverständlich für einen normal denkenden Gast.“, meinte er und zuckte mit den Achseln.

Die Visite im Schillerhaus war für den nächsten Tag geplant. Ich kannte es schon gut, doch zu meinem Erstaunen sah ich neben dem alten Haus noch ein weiteres, neues Gebäude im Bungalow-Stil. Es ist ein Schiller-Museum und beherbergt Dokumente, aus denen unter anderem hervorgehen soll, dass Schiller eigentlich schon ein revolutionärer Vorläufer von Marx und Liebknecht gewesen sei. Diese Aussagen widerten mich derart an, dass ich auf Schiller verzichtete, Eberhard allein das Haus besuchte und ich mich in ein kleines Cafe setzte.

Plötzlich nahm an meinem Tisch eine Dame mit ihrem Töchterchen Platz. Beide waren wie versteinert und der Mutter standen Tränen im Gesicht. Erschüt- tert fragte ich, was geschehen sei und ob ich helfen könnte. „Helfen, helfen - es ist zu spät. Soeben erfuhren wir, dass meine Tochter an Lungentubercu- lose erkrankt ist, Lungentuberculose wegen der verschmutzten Luft und Avitaminose wegen dem Vitaminmangel, der seit Jahren bei uns besteht. Nur die Parteibonzen führen ein gutes Leben, für die gibt es besondere, versteckte Läden zum Einkaufen, Sonder- kliniken und noch viele andere Vergünstigungen. Wir sind am Boden in der sogenannten DDR.“ Ihre Stimme wurde immer lauter, und man sah uns von den anderen Tischen schweigend und zustimmend voller Mitleid an. Ich gab ihr sofort unsere zwei Bananen, die wir zum Frühstück nicht verzehrten und die nur wir im 'Interhotel' bekommen, zwei Tafeln Schokolade und noch einige DM. Die Mutter nahm voller Gier und Verzweiflung alles an sich und bedankte sich innigst. Ich verlangte noch ihre Adresse und versprach, ihnen beiden aus West-Berlin zu helfen. Dann verließ ich die zwei Unglücklichen, ohne Händedruck aus Angst vor Ansteckung.

Die tragische Begegnung raubte mir wieder die Nachtruhe, und am nächsten Morgen bekam ich höllische Kopfschmerzen.

Trotz alledem gingen Eberhard und ich noch zum Friedhof, um von den beiden Genies, Goethe und Schiller, Abschied zu nehmen.

Das Taxi, das uns gegen Mittag zum Bahnhof brachte, umgab sich mit Abgasen, die uns erneut schwindlig werden ließen.

Im Bahnabteil der 1. Klasse fanden wir zwei Personen. Aus ihrem beruflichem Gespräch konnten wir entnehmen, dass sie SED-Parteimitglieder waren und als Dozenten an der Humboldt-Universität in Ost- Berlin unterrichteten. Wir konnten unsere Empörung nicht für uns behalten und blätterten ihnen alles auf, was wir in den drei Tagen in Weimar erlebt hatten. Sie versprachen uns, der Sache nachzugehen. Sie seien über Derartiges bisher nicht informiert.

Im Stillen dachten wir: „Immer diese Lügen und Lügen - und die Verantwortungslosigkeit gegenüber den Menschen.“


Wir hatten tatsächlich Abwechslung, eine andere Luft eingeatmet, hatten andere Eindrücke gesammelt, andere Menschen kennengelernt - aber unser Geist wurde nicht frisch und fröhlich, er erstarrte und ist empört über die vergiftete Atmosphäre, die die noch lebenden Weimaraner und ihre großen Toten umhüllt. Wir weinen und bitten: ein „SOS“ für unser geliebtes Weimar!

P.S.:

Angekommen im S-Bahnhof Friedrichstraße wurden wir wieder einmal von einer älteren Dame angespro- chen. „Wie komme ich nach Lankwitz, bitte? Ich bin aus dem Erzgebirge, jeder zweite alte Mensch leidet wegen der vergiften Luft an Lungenkrebs. Ich besuche hier meine Schwägerin und will bessere Luft ein- atmen.“

Christine hatten wir die Umtauschbescheinigung gegeben, und prompt hat sie die fünfzig Ost- in fünfzig Westpfennige zurückgetauscht bekommen - zu ihrer und unserer Freude.



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Tag der Veröffentlichung: 21.04.2010

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